Erfahrungen Hamburger Jugendlicher mit Gewalt und Delinquenz

Fakultät für Rechtswissenschaft Erfahrungen Hamburger Jugendlicher mit Gewalt und Delinquenz Ausgangslagen im Jahr 2008, vor Implementierung des Hamb...
Author: Oldwig Falk
0 downloads 4 Views 304KB Size
Fakultät für Rechtswissenschaft

Erfahrungen Hamburger Jugendlicher mit Gewalt und Delinquenz Ausgangslagen im Jahr 2008, vor Implementierung des Hamburger Handlungskonzepts gegen Jugendgewalt Kurzdarstellung der wesentlichen Ergebnisse repräsentativer Erhebungen bei Schülerinnen und Schülern in Hamburg: Rückmeldung für Hamburger Schulen

Ilka Kammigan, Dr. Dirk Enzmann, Olga Siegmunt Und Prof. Dr. Peter Wetzels

November 2010 Universität Hamburg Fakultät für Rechtswissenschaft Abteilung Strafrecht/Kriminologie – Institut für Kriminologie –

Ziele und Hintergründe der Schülerbefragung 2008/2009 Vorbemerkung: Ende 2008 und Anfang 2009 wurden durch das Institut für Kriminologie an

der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg repräsentative Stichproben von Schulklassen der allgemeinbildenden Schulen Hamburgs aus den 7. und 9. Jahrgangsstufen gezogen und die dort unterrichteten Schülerinnen und Schüler einschließlich ihrer (Klassen-) Lehrerinnen und Lehrer in standardisierter Form befragt. Diese Befragungen wurden in Kooperation mit der Beratungsstelle Gewaltprävention (BSG) am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung konzipiert. Diese Befragungen sind die ersten Erhebungen aus einer mindestens zwei Erhebungswellen umfassenden Begleituntersuchung zum Hamburger Handlungskonzept "Handeln gegen Jugendgewalt". Mit diesem Kurzbericht möchten wir den Schulleitungen und Lehrkräften Hamburger Schulen der Sekundarstufe I sowie den dort unterrichteten Schülerinnen und Schülern und deren Eltern, eine Rückmeldung über Ausgangspunkt und Zielsetzungen unserer Studie, wichtige Ergebnisse der Schülerbefragung 2008/2009 sowie die weiteren Planungen in diesem Feld zukommen lassen. Zugleich möchten wir die Gelegenheit nutzen, uns bei denjenigen Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulleiterinnen und Schulleitern, die sich mit ihren Schulen und Klassen an unserer Befragung beteiligt haben, für das in uns investierte Vertrauen zu danken. Nur durch Ihre Teilnahmebereitschaft und Unterstützung war es möglich, eine aussagefähige Datenbasis zu erzeugen. Bedanken möchten wir uns ganz besonders auch bei den Schülerinnen und Schülern, die an der Befragung teilgenommen haben, sowie bei ihren Eltern, die einer Teilnahme ihrer Kinder positiv gegenüberstanden und das Vorhaben so mit unterstützt haben. Nur so lassen sich Daten gewinnen und Analysen durchführen, die letztlich der Verbesserung der Gewaltprävention und damit auch der Optimierung von wichtigen Aspekten der Entwicklungsbedingungen junger Menschen in Hamburg dienen sollen. Diesen Dank verbinden wir mit der Hoffnung, dass die Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern und die Schülerinnen und Schüler sich möglichst zahlreich auch an den bevorstehenden, geplanten Fortsetzungen der Studie, hier den nächsten Erhebungen Ende 2010/Anfang 2011 beteiligen. Über diese erneute Befragungen wird ein erheblicher Wissenszuwachs im Vergleich zu früheren Untersuchungen ermöglicht: Mit dieser wiederholten Befragung können Erkenntnisse über Trends und Einflussfaktoren gewonnen werden, die wesentlich zur weiteren Optimierung von Kriminal- und Gewaltprävention im Bereich von jungen Menschen beitragen können. Ziele der Studie. Die Schülerbefragungen 2008/2009 verfolgten zwei Ziele: Zum einen sollte

damit, anknüpfend an unsere früheren Untersuchungen zur Jugenddelinquenz in Hamburg, die Analyse langfristiger Trends der Jugendkriminalität in Hamburg unter Einschluss von Dunkelfelddaten fortgeführt werden; insbesondere sollten mögliche Verschiebungen zwischen Hell- und Dunkelfeld untersucht werden. Als Anknüpfungsdaten stehen dazu vergleichbare 1

Befragungen von Schülern aus den 9. Jahrgangsstufen aus den Jahren 1998, 2000, 2005 zur Verfügung. Diese Datenbasis wird durch die neuen Erhebungen, welche Daten aus dem Jahr 2008 enthalten, erweitert. Es wurde in all diesen Studien die gleiche Methode eingesetzte, die Daten sind somit unmittelbar vergleichbar. Hintergrund: Notwendigkeit von Dunkelfeldstudien. Kontrastierende Einschätzung zur Bewertung der Kriminalitätslage im Hellfeld: Insbesondere dann, wenn es um Jugend- und Kinderkriminalität geht, also um das normabweichende Verhalten junger Menschen, erweist sich eine allein auf den offiziellen Hellfeldstatistiken basierende Einschätzung der Kriminalitätslage und ihrer Entwicklung als höchst fehleranfällig. Kinderkriminalität wird kaum erfasst: Strafunmündige Kinder unter 14 Jahren sind in den offiziellen Statistiken nur sehr lückenhaft erfasst, so dass hier der Rückgriff auf Daten aus Dunkelfelderhebungen nahezu der einzige Weg ist, um Trends und Risikokonstellationen einschätzen zu können. Jugendkriminalität: Auch für Jugendliche enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) lediglich den der Polizei angezeigten oder sonst bekannt gewordenen Teil der Kriminalität. Das Dunkelfeld polizeilich nicht registrierter Straftaten ist gerade hier enorm hoch, wie zahlreiche Studien aus der Vergangenheit zeigen. Veränderungen der Hellfelddaten müssen deshalb nicht unbedingt auch tatsächliche Veränderungen der Kriminalität widerspiegeln, sondern können ebenso Folge eines veränderten Anzeigenverhaltens in der Bevölkerung, einer veränderten Kontrollintensität der Strafverfolgungsbehörden oder aber auch von Änderungen der Gesetzeslage sein. Präventionsmaßnahmen beeinflussen Sichtbarkeit. Maßnahmen zur Gewaltprävention - wie die des Hamburger Konzepts gegen Jugendgewalt - können mit einem (scheinbaren) Anstieg der Jugendkriminalität im Hellfeld einhergehen, obwohl sie gerade auf eine Verminderung der Kriminalität zielen. So können Präventionsmaßnahmen in der Bevölkerung zu einer gesteigerten Sensibilität für das Thema Jugendgewalt führen, wodurch wiederum die Wahrscheinlichkeit steigen kann, dass Vorfälle angezeigt werden. Trotz positiver (kriminalitätsreduzierender) Effekte solcher Maßnahmen im Dunkelfeld kann daher eine vermehrte Registrierung von Delikten stattfinden, was zu einem Anstieg von Jugendkriminalität im Hellfeld führt, der allerdings nur ein scheinbarer Anstieg ist, dahinter kann sogar ein reales Absinken liegen. Aus diesem Grund sind bei der Intensivierung von Präventionsaktivitäten kriminologische Dunkelfeldstudien notwendig, um in Kombination mit den offiziellen Hellfelddaten ein realistischeres Bild von Jugendgewalt zu zeichnen, auf das Folgerungen gestützt werden können. Spezifische Fragestellungen. Weiterhin erlauben es Dunkelstudien eher als die offiziell verfügbaren Hellfelddaten, mögliche (ggf. auch regional spezifische) Ursachen und Risikofaktoren für delinquentes Verhalten Jugendlicher, aber auch räumliche Problemlagen zu erforschen und so gezielter Ansatzpunkte für wirksame Präventionsmaßnahmen auszumachen. Zudem lässt sich nur über Dunkelfeldstudien messen, inwieweit sich (neben Opfererlebnissen und Täterverhalten) auch individuelle Einstellungen zu Normen und Werten oder persönliche soziale Kompetenzen verändert haben. Diese Daten, aber auch Daten zu Person, sozialer Lage und sozialem Umfeld, sind zur Einschätzung der Entwicklungen wichtig. Solche Informationen sind aber auf Indvidiualebene in den offiziellen Statistiken aber überwiegend gar nicht enthalten.

Zum anderen, und das ist ihr zweites und zentrales Ziel, ist die aktuelle Studie ein wichtiger Baustein einer Untersuchung, mit der wir, vor dem Hintergrund der Implementation des Hamburger Handlungskonzepts "Handeln gegen Jugendgewalt", der Frage nachgehen, ob und inwieweit es im Zuge der Umsetzung des Handlungskonzeptes tatsächlich zu den beabsichtigten Veränderungen im Bereich der Jugendgewalt und der Kriminalprävention kommt. Dabei interessieren nicht nur tatsächliche Gewalthandlungen und Kriminalität begünstigende Faktoren, also ausgeübte delinquente Handlungen, sondern auch Einstellungen und Werte, hier u.a. Normakzeptanz, Einstellungen zu Gewalt sowie weiter soziale Kompetenzen der Jugendlichen und ihre Wertorientierungen. Über die Befragung der Schüler 2

(als Zielgruppe der Maßnahmen) wie auch der Lehrkräfte (als Anwender der Maßnahmen) zu ihren praktischen Erfahrungen mit den Maßnahmen des Konzepts und deren Bewertung sollen im Zuge der Fortführung der Befragungen im Jahr 2010/2011 außerdem Erkenntnisse zu den schulbezogenen Aspekten des Handlungskonzeptes gewonnen werden. Hintergrund: Das Handlungskonzept „Handeln gegen Jugendgewalt“ . Das Handlungskonzept gegen Jugendgewalt wurde vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg im Jahr 2007 auf den Weg gebracht. Es soll dazu beitragen, durch ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen Gewalt unter jungen Menschen zu reduzieren und delinquente Entwicklungen ("kriminelle Karrieren") früh zu verhindern. Die vorgesehenen Maßnahmen reichen von der Früherkennung verhaltensauffälliger Kinder unter der Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren, über gezielte Programme der Förderung und Prävention für Risikogruppen im Jugendalter bis hin zu einer effektiveren und schnelleren Strafverfolgung extrem auffälliger Jugendlicher und Heranwachsender. In dem Konzept ist ein großer Bereich der Gewaltprävention und Förderung sozialen Lernens an Schulen gewidmet. Es werden so neue Maßnahmen eingeführt aber auch bestehende verstärkt.

Design der Studie. Seit 1998 hat unsere Forschungsgruppe wiederholt mit gleicher Methodik

repräsentative Schülerbefragungen zum Thema Jugenddelinquenz und Jugendgewalt in Hamburger Schulklassen der 9. Jahrgangsstufen durchgeführt. Auf dieser Grundlage sind, unter Einschluss der aktuellen Studie aus 2008, nun für einen Zeitraum von nunmehr zehn Jahren Trendanalysen bezogen auf gleiche Altersgruppen (Schülerinnen und Schüler zwischen 14 und 17 Jahren) in verschiedenen Jahrgangskohorten möglich. Das Besondere der aktuellen Studie ist, dass durch die hier nun erstmals vorgesehene wiederholte Befragungen derselben Personen im Zweijahresabstand (hier im Jahr 2010/2011) auch Aussagen zu individuellen Entwicklungsverläufen möglich werden. Feststellbare Problembelastungen und Präventionserfahrungen werden in den Analysen mit Erkenntnissen zu Delinquenz und Normlernen verknüpft, was Ursachen und Hintergründe delinquenter Entwicklungen sowie Faktoren der Resilienz (Vermeidung von ungünstigen Entwicklungen trotz Belastungen) zu ergründen und in ihrem Zusammenwirken auf Mikro- und Mesoebene zu analysieren erlaubt. Um dieses Ziel zu realisieren wurden 2008 erstmals auch Schülerinnen und Schüler (und ihre Lehrerinnen und Lehrer) in der 7. Klasse in die Studie einbezogen. Diese sollen zwei Jahre später noch einmal (dann in der 9. Klasse) befragt werden. Die erste Befragungswelle der die Umsetzung des Handlungskonzepts begleitenden Untersuchung ist mit der Erhebung 2008/2009, deren Ergebnisse hier berichtet werden, abgeschlossen. Die zweite Welle soll Ende 2010/ Anfang 2011 folgen (vgl. Abbildung 1 zum Design der Studie). Mit diesem Design wird nach der zweiten Erhebungswelle auch erstmals nicht nur die Untersuchung individueller Entwicklungen ermöglicht. Durch die erneute Einbeziehung der 7. Jahrgangsstufen in die Erhebungen zu T2 wird die Analyse des Trends nun auch auf die die jünger Altersgruppe ausgedehnt, hier nun durch Vergleich der zwei Querschnittserhebungen in den 7. Klassen zu T1 und T2. Das erlaubt die Untersuchung der Frage, inwieweit sich Tendenzen der Gesamtentwicklung im Bereich der Strafunmündigen 3

ggfs. anders darstellen als es bei Beschränkung auf strafmündige Jugendliche der Fall ist, auf die sich die bisherigen Arbeiten national wie international stark konzentriert haben. Erstmals wird es für Hamburgmöglich sein, Aussagen über Kinder zwischen 12 und 14 Jahren zu machen, eine Gruppe, für die mit dem Handlungskonzept ebenfalls kriminal- und gewaltpräventive Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden (sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich).

Ende 2008/ Anfang 2009

Ende 2010/ Anfang 2011

Klasse 9 Standardisierte Befragung Repräsentative Stichprobe der Schüler/innen Standardisierte Befragung der zugehörigen Klassenlehrer/innen

Klasse 9 Veränderung von Umfang und Struktur der Jugendkriminalität Vergleich von zwei verschiedenen Geburtskohorten (14 - 17 Jahre alt)

z) n en vo nqu ng li r u (D e e d n än lte er r ha V lle Ve ue und d i v di en In ng u l l te ns Klasse 7 Ei Veränderung von Umfang und Standardisierte Befragung Struktur der Jugendkriminalität Repräsentative Stichprobe der Schüler/innen Vergleich von zwei verschiedenen Geburtskohorten Standardisierte Befragung der (12 - 14 Jahre alt) zugehörigen Klassenlehrer/innen

Standardisierte Befragung Repräsentative Stichprobe der Schüler/innen Standardisierte Befragung der zugehörigen Klassenlehrer/innen

Klasse 7 Standardisierte Befragung Repräsentative Stichprobe der Schüler/innen Standardisierte Befragung der zugehörigen Klassenlehrer/innen

Abbildung 1. Design der Studie zur Jugenddelinquenz in Hamburg 2008 bis 2010.

Zentrale Ergebnisse der ersten Erhebungen in Hamburg Im Folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse der ersten Befragungswelle unserer Begleitstudie zum Hamburger Handlungskonzepts "Handeln gegen Jugendgewalt" vorgestellt. Im Zentrum stehen dabei die Jugendlichen der 9. Jahrgangsstufe, da nur für diese Jahrgangsstufe bereits jetzt Vergleichsdaten aus früheren Befragungen zur Verfügung stehen. Diese Daten aus dem Jahr 2008 stellen prospektiv die Grundlage für zukünftige Vergleiche dar, die dann auch die 7. Jahrgangsstufe einschließen. In diesem Sinne umreißen diese Daten die Ausgangslage, wie sie vor der Implementierung des Handlungskonzepts gegen Jugendgewalt im Jahr 2008 bestand, welche sich im Zugend der Umsetzung des Handlungskonzeptes möglicherweise verändert, was als solches empirisch zu prüfen und zu erklären wäre. 4

Die Stichproben: Die erste Erhebungswelle der Studie konnte zwischen November 2008 und

März 2009 erfolgreich realisiert werden. Das dafür entwickelte Fragebogeninstrument hat sich nach den vorliegenden Erkenntnissen bewährt. Die erste positive Botschaft ist insofern, dass es gelungen ist, eine aussagekräftige, breite Datenbasis zu generieren, die verallgemeinerungsfähige Feststellungen zur Situation junger Menschen im schulpflichtigen Alter in Hamburg mit Blick auf Delinquenz, Normakzeptanz und Viktimisierungserfahrungen erlaubt. Insgesamt haben 1.948 Neuntklässler einen verwertbaren Fragebogen ausgefüllt. Diese stammen aus 92 Klassen der 9. Jahrgangsstufe die an 70 verschiedene Schulen angesiedelt sind. Weiter wurden 2.032 Schülerinnen und Schüler aus 93 Klassen der 7. Jahrgangsstufe (an 67 verschiedenen Schulen) befragt. Dies ist insgesamt ein guter Ausgangspunkt für die geplante Längsschnittstudie, mit der Entwicklungen im Zuge der Umsetzung des Hamburger Handlungskonzepts "Handeln gegen Jugendgewalt" analysiert werden können. Die Daten aus den Befragungen der Jugendlichen der 9. Jahrgangsstufe erlauben es, aktuelle Befunde bezogen auf das Jahr 2008 in Beziehung zu den Ergebnissen früherer Studien zu setzen. Damit können also Veränderungen und Entwicklungstrends der Jugendkriminalität abgebildet werden, wie sie von uns seit 1998 kontinuierlich beobachtet werden. Insofern lässt bereits die erste Erhebungswelle der Begleitstudie zum Hamburger Handlungskonzept einige wichtige Feststellungen zu, die für Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch für die Schülerinnen und Schüler und deren Eltern aufschlussreich sein können. Opfererfahrungen und Täterhandeln: Im Bereich der Gewaltdelikte sind in Hamburg

diesen Daten zufolge, (die ja Dunkelfelddelikte einschließen), seit 1998 unter Jugendlichen deutliche Rückgänge zu verzeichnen. Es handelt sich um längerfristige, seit 2000 erkennbare Trends, die entgegen den offiziellen Registrierungen der Polizei, die bei Raub zwar auch Rückgänge, bei Körperverletzung aber bis etwa 2008 Anstiege im Hellfeld feststellten, hier auf deutliche Verminderung der Jugendgewalt sowohl bei Raub und Erpressung als auch bei Körperverletzungsdelikten hinwiesen. Diese Trends setzen schon früher, etwa ab dem Jahr 2000, ein und blieben erfreulicherweise über das Jahr 2005 bis in das Jahr 2008 erhalten. Auffallend ist, dass dieser Trend sich sowohl auf der Ebene von Opfererlebnissen als auch auf der Ebene selbstberichteter delinquenter Handlungen zeigen lässt. Das unterstreicht, dass es sich hier nicht um Methodenartefakte handelt, z.B. Wirkungen von Antworttendenzen auf Fragen zu eigenem normabweichendem Verhalten. Die festzustellenden Entwicklungen im Dunkelfeld sind vielmehr mehrfach abgesichert. Sie zeigen positive Veränderungen auf, die sich so auch in anderen Städten sowie auch auf internationaler Ebene in mehreren Forschungsproojekten einhellig nachweisen ließen. In Hamburg gilt diesbezüglich in Opferperspektive: Jugendliche wurden 2008 seltener Opfer von Gewalt, als noch 1998, was vor allem für Raub und Erpressung gilt (vgl. Abbildung 2), während für Körperverletzung nur

5

leichte Schwankungen zu erkennen sind, in jüngster Zeit auch tendenzielle Rückgänge,

1998 2000 2005 2008

15 5

10

Prozent

20

25

keinesfalls jedoch relevante Anstiege.

7.8

6.3

6.7

6.6

5.7

4.3

5.8

5.6

6.1

6.1

14.2 14.8 15.6 14.1

25.3 26.5 23.3 20.7

KV ohne Waffen

Gewaltdelikte gesamt

0

10.4 11.2

Raub

Erpressung

KV mit Waffen

Abbildung 2. Entwicklung der Opferraten bei Gewaltdelikten in Hamburg 1998 bis 2008 (gewichtete Daten, Fehlerbalken: 95%-Konfidenzintervalle, Referenzzeitraum: letzte 12 Monate).

40

Jugendliche traten im Lauf der Jahre auch immer seltener als Täter in Erscheinung. Das gilt sowohl für Diebstahlsdelikte und Sachbeschädigungen als auch für Raub, Erpressung und Körperverletzungsdelikte (vgl. Abbildung 3). Die Absicherung dieses Befundes durch mehrere unterschiedliche Messinstrumente in Opfer- wie in Täterperspektive sowie die Bestätigung durch Befunde aus Studien in mehreren anderen Großstädten durch andere Forschergruppen sowie die entsprechenden Tendenzen internationaler Opferstudien, die damit im Einklang stehen, macht dieses Ergebnis besonders aussagekräftig.

20 10

Prozent

30

1998 2000 2005 2008

21.6 16.0 19.2 16.5

19.0 14.6 14.9 13.2

Ladendiebstahl

einfache KV

Vandalismus

7.1

5.3

5.1

4.8

10.2

5.6

5.4

6.5

0

38.3 28.4 23.2 20.5

schwerer Diebstahl

schwere Gewalt

Abbildung 3. Entwicklung der Prävalenzraten selbstberichteter Delinquenz in Hamburg 1998 bis 2008 (gewichtete Daten, Fehlerbalken: 95%-Konfidenzintervalle, Referenzzeitraum: letzte 12 Monate).

Angesichts der Normalität gelegentlicher und leichter Delinquenz ist es besonders erfreulich, dass die Quote der Mehrfach- und Intensivtäter ebenfalls rückläufig ist (vgl. Abbildung 4). 6

14 8 0

2

4

6

Prozent

10

12

1998 2000 2005 2008

13.3

7.0

5.0

Ladendiebstahl

3.9

4.9

3.6

3.3

einfache KV

2.6

5.2

4.1

3.3

Vandalismus

2.9

2.2

1.4

1.1

0.9

schwerer Diebstahl

3.5

1.7

1.7

1.5

schwere Gewalt

Abbildung 4. Entwicklung der Prävalenzraten selbstberichteter Mehrfachtäterschaft (5 und mehr Delikte in den letzten 12 Monaten) in Hamburg 1998 bis 2008 (gewichtete Daten, Fehlerbalken: 95%-Konfidenzintervalle).

Anzeigeverhalten und Polizeikontakte: Die Daten zum Anzeigeverhalten der Opfer

einerseits und Ergebnisse zu den polizeilichen Registrierungswahrscheinlichkeiten auf Täterseite andererseits lassen weiter erkennen, dass sich die Jugendkriminalität in Hamburg im Laufe der letzten zehn Jahre ganz erheblich vom Dunkelfeld in das Hellfeld der Institutionen der Strafverfolgung verschoben hat: Die Wahrscheinlichkeit, dass jugendliche Täter den Polizeibehörden wegen delinquenter Handlung tatsächlich bekannt werden, hat sich in diesen zehn Jahren nahezu verdoppelt: So hatten im Jahr 2000 nur 11.2% der Jugendlichen, die in den letzten 12 Monaten nach eigenen Angaben mit Delinquenz in Erscheinung getreten sind, einen delinquenzbedingten Polizeikontakt. Im Jahr 2005 waren es bereits 14.7% und im Jahr 2008 sogar 21.7%. Auffallend ist dabei, dass solche Zuwächse sowohl für Personen mit niedriger Delinquenzbelastung als auch für Mehrfach- und Intensivtäter zu erkennen sind.

7

Prozent

0

10

20

30

40

50

60

2000 2005 2008

3.9

7.6

1

9.5

6.9

9.4

20.6

13.4

16.9

2

3

23.9

17.9

34.8

4

46.8

41.6

47.4

64.0

5 und mehr

Abbildung 5. Prozent delinquenter Jugendlicher mit Polizeikontakt 2000-2008 in Abhängigkeit von a der Versatilität selbstberichteter Delinquenz(gewichtete Daten, 95%-Konfidenzintervalle, Referenzzeitraum: letzte 12 Monate). a

Versatilität ist ein Maß für die Anzahl unterschiedlicher Arten von Delikten, die jemand begangen hat (hier in den letzten 12 Monaten). Empirisch lässt sich zeigen, dass die Versatilität stark mit der individuellen Täterinzidenz (Anzahl an Delikten, auch unabhängig von der Art der Delikte, die ein Täter begangen hat) zusammenhängt. Die Versatilität spiegelt insoweit die Intensität delinquenten Handelns recht robust wider.

Nach wie vor wird ein relativ großer Anteil aller delinquenten Jugendlichen, etwa 80% (beschränkt auf die massiv delinquenten Jugendlichen etwa ein Drittel) im Hellfeld der Polizeibehörden nicht registriert. Diese Gruppen könnten im Zuge der Umsetzung des Handlungskonzeptes und damit verbundener intensiverer Präventionsmaßnahmen künftig durchaus vermehrt in den Blick von Behörden und Strafverfolgungsinstitutionen geraten. Die bislang schon feststellbaren Trends unterstreichen nachdrücklich, wie wichtig die Verfügbarkeit von Dunkelfelddaten ist, um die Lage im Bereich Jugendgewalt und – kriminalität angemessen einschätzen zu können. Schulschwänzen.

Positive Entwicklungen zeigten sich auch hinsichtlich des Schulschwänzens (vgl. Abbildung 6). Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, welches nicht nur in Bezug auf Bildungsverläufe und -karrieren, sondern auch im Hinblick auf Delinquenzrisiken wichtig ist, wie zahlreiche Studien zeigen. Insofern ist die Reduzierung des Schulschwänzens sowohl für langfristige Entwicklungsoptionen junger Menschen hoch relevant (über die Sicherung ihrer Bildung) als auch kriminalpräventiv bedeutsam. Die aktuelle Untersuchung belegt, im Einklang mit einer Reihe früherer Studien, den engen Zusammenhang von Schulschwänzen und Delinquenz: Jugendliche mit massiven Problembelastungen im Bereich der Familie, des Stadtteils oder auch auf schulischer und sozioökonomischer Ebene, zeigen eine deutlich erhöhte Tendenz, dem Schulunterricht fern zu bleiben. Diese Jugendlichen sind vermehrt Gelegenheiten und Anreizen zur Delinquenz ausgesetzt, während gleichzeitig ihre informelle soziale Kontrolle durch Bezugspersonen und ihre sozialen Bindungen geringer sind. Infolgedessen kommt es bei massiv schwänzenden Jugendlichen deutlich häufiger zu aktiver Delinquenz einschließlich einer erhöhten Quote an 8

Mehrfach-

und

Intensivtätern.

Konsequenterweise

richtet

sich

ein

Teil

des

40 20

30

Prozent

50

60

70

Handlungskonzeptes des Landes Hamburg in Kenntnis dieses in unseren früheren Studien bereits für Hamburg auch dokumentierten Zusammenhangs, auf die Reduzierung von Schulschwänzen.

10

60.4

69.8

40.3

57.5

56.2

39.9

56.4

58.8

46.4

60.1

52.9

39.4

54.9

62.1

50.0

0

2000 2005 2008

Haupt

IHR

Real

Gesamt

Gym

Abbildung 6. Entwicklung der Schulschwänzraten 2000 bis 2008 nach Schülerselbstberichten (gewichtete Daten, Prozentraten und 95%-Konfidenzintervalle).

Hinsichtlich der zu erwartenden Wirkungen des Handlungskonzepts sind die aktuellen Befunde zum Schulschwänzen in besondere Hinsicht bedeutsam: So hat sich in der aktuellen Untersuchung gezeigt, dass bereits jetzt schon viel geschehen ist. Offenkundig ist es den Schulen bereits vor der umfassenden Umsetzung des Handlungskonzeptes gelungen, das

30

Ausmaß des Schulschwänzens in Hamburg erheblich zu vermindern (bei den massiv schwänzenden Jugendlichen von 12.2 % im Jahr 2000 über 11.5 % im Jahr 2005 auf nur noch 5.6 % im Jahr 2008, vgl. Abbildung 7).

15 5

10

Prozent

20

25

2000 2005 2008

24.3

4.2

19.9

12.5

6.0

11.9

11.7

7.7

14.5

12.0

6.4

6.9

7.4

4.5

0

19.8

Haupt

IHR

Real

Gesamt

Gym

Abbildung 7. Entwicklung der Raten massiven Schulschwänzens (5 und mehr Tage) 2000 bis 2008 (gewichtete Daten, Fehlerbalken: 95%-Konfidenzintervalle). 9

Weiter bedeutet diese positive Botschaft aber auch, dass weitere Verbesserungen nur noch in kleineren Schritten zu erwarten sind, weil die Situation sich zum Ausgangszeitpunkt schon deutlich verbessert hat. Dies demonstriert, wie wichtig die Betrachtung längerfristiger Entwicklungstrends für die Bewertung künftiger Wirkungen des Hamburger Handlungskonzepts ist. Hinsichtlich des Schulschwänzens dürfen danach nicht alleine weitere substantieller Rückgänge, sondern auch die Konsolidierung der erreichten positiven Ergebnisse wesentlich sein. Gewaltprävention an Schulen. Etwas Ähnliches gilt für die in Schulen stattfindende

Gewaltprävention. Hier zeigen die Befragungen der in die Studien in mehrfacher Hinsicht aktiv einbezogenen Lehrerinnen und Lehrer, dass an Hamburger Schulen bereits vor Umsetzung des Handlungskonzeptes ein recht hohes Niveau des Engagements für Kriminalund Gewaltprävention festzustellen ist. Es gibt keine Schule mehr, in der Gewaltprävention nicht aktiv betrieben würde. Im Schnitt sind etwa 5-8 verschiedene Maßnahmen je Schule zu verzeichnen (vgl. Abbildung 8 zur mittleren Anzahl an Präventionsmaßnahmen in den

6

7.9

6.8

8.1

5.3

Haupt/IHR

Real

Gesamt

Gym

0

2

4

Anzahl

8

10

einzelnen Schulformen).

Abbildung 8. Mittlere Anzahl an Präventionsmaßnahmen nach Schulform (Lehrerangaben, ungewichtete Daten, Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervalle).

Es ist zu vermuten, dass die günstigen Entwicklungen der Daten zu Viktimisierung und Täterschaft Jugendlicher, wie sie seit 1998 von uns nachgewiesen wurden, nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sind, dass sich die Schulen bereits seit längerem für Gewaltprävention engagieren. Die Rückgänge im Bereich des Schulschwänzens dürften ebenfalls zu positiven Veränderungen im Bereich der Jugendgewalt und –delinquenz mit beigetragen haben. Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass Präventionsmaßnahmen auf schulischer Ebene bisher selektiv, d.h. nicht in allen Schulen gleichermaßen eingesetzt wurden. Es deutet sich an, dass vor allem jene Schulen und Klassen, in denen Lehrkräfte vermehrt Probleme mit Gewalt wahrnehmen, auch in erhöhtem Maße bestrebt sind, spezifische Maßnahmen auf den Weg zu bringen (vgl. Abbildung 9).

10

100 80 60 Prozent

40 20

nie selten regelmäßig 68.1

66.7

72.4

69.6

66.7

51.7

63.0

66.7

86.7

89.1

83.3

28.6

18.2

33.3

75.9

87.2

100

44.8

45.6

66.7

26.9

34.9

50.0

0

69.0

Unterricht

Projekte

Regelwerke

Streitschl./TOA

Spezialangebote

Cop4U

Fortbildung

Lernprogramme

Abbildung 9. Verfügbarkeit von Präventionsmaßnahmen nach beobachtetem Ausmaß an Schulgewalt (ungewichtete Daten).

Ein erstes Fazit In der Summe zeigen die Ergebnisse unserer Erhebungen, dass sich die Ausgangslage im Jahre 2008, also zu Beginn der Umsetzung des Handlungskonzeptes „Handeln gegen Jugendgewalt“, im Vergleich zur Lage um den Jahrtausendwechsel herum bereits deutlich verbessert hat. Insofern besteht kein Grund, in Hamburg die eigenen Erfolge, die positiven Entwicklungen und Verdienste klein zu reden. Die Daten lassen erkennen, dass es - trotz wirtschaftlicher Belastungen und Krisenerscheinungen - gelungen ist, die Jugendgewalt in Hamburg stetig zu reduzieren. Selbstverständlich finden sich auch in einer solchen Lage noch Bereiche, in denen Verbesserungen möglich sind. Diese beziehen sich auf z.B. die Bildungsoptionen und sozialen Chancen junger Migranten, die auch in Hamburg nach wie vor gegenüber ihren einheimischen Mitschülern benachteiligt erscheinen. Auch der Umgang mit Schulschwänzen wurde zwar verbessert, es zeigen sich aber auch hier noch gewisse Optimierungsmöglichkeiten Und schließlich hat zwar die Rate jugendlicher Gewalttäter abgenommen. Von dieser kleiner gewordenen Gruppe wird zudem heute ein größerer Teil polizeilich registriert. Nach wie vor bleibt aber die Mehrheit im Bereich des Dunkelfeldes. Selbst bei den besonders intensiv mit Delinquenz in Erscheinung tretenden Jugendlichen sind mehr als ein Drittel den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt. Hier liegt also nach wie vor ein enormes Potenzial an Fällen, die im Zuge präventiver Bemühungen vermehrt in das Hellfeld gelangen könnten und dort dann den fehlerhaften Eindruck vermeintlicher Problemverschärfungen erzeugen könnten. Hier liegt zugleich aber auch ein Potenzial der informellen, nicht justizförmigen Reaktion im Sinne einer gezielten Förderung von Prozessen

11

sozialen Lernens, die es im Idealfall überflüssig werden lassen könnten, den schwerfälligen Apparat von Strafverfolgung und –justiz in Bewegung zu setzen.

Ausblick und Fortgang Für den weiteren Fortgang des Projektes sind die verfügbaren Informationen zur Ausgangslage, wie sie mit den hier dargestellten Erhebungen gewonnen werden konnten, eine gute Ausgangsbasis, um aussagefähige Analysen der Entwicklungen im Zuge der Umsetzung des Hamburger Handlungskonzeptes leisten zu können. Es wird im Weiteren von entscheidender Bedeutung sein, auch Ende 2010/ Anfang 2011 eine große Anzahl von Schulen und Klassen, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften erreichen und zur Mitarbeit motivieren zu können. Besonders wichtig wird vor es allem sein, neben den 7. Jahrgangsstufen, die für neuerliche Querschnitte benötigt werden, möglichst viele der Klassen, die zum ersten Erhebungszeitpunkt in der 7. Jahrgangsstufe waren und die nunmehr also in der 9. Jahrgangsstufe sein werden, auch tatsächlich wieder zu erreichen, um die individuellen Entwicklungsprozesse bei möglichst vielen nachzeichnen zu können. Nur so können Wirkungen von Prävention nachvollziehbar gemacht und dokumentiert werden. Es bedarf hier einer gemeinsamen Anstrengung von Forschergruppe wie auch Schulleitungen, Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, um bei einer zweiten Erhebung eine hohe Beteiligung zu erzielen, weil nur so Entwicklungslinien zuverlässig nachgezeichnet werden können. Nur bei Einbeziehung sowohl der 7. als auch der 9. Jahrgangsstufe in einem ähnlichen Umfang, wie es für die vorliegende Studie gelungen ist, wird es möglich sein, Verschiebungen vom Dunkel- ins Hellfeld transparent werden zu lassen, die bei Erfolg von Präventionsbemühungen durch gesteigerte Sensibilität gegenüber Gewalt, vermehrter Anzeigebereitschaft und die Stärkung von Kontrollinstanzen zu erwarten sind. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass tatsächliche Erfolge von Präventionsanstrengungen als Anstiege von Jugendkriminalität fehlgedeutet werden. Um ungerechtfertigt dramatisierenden Szenarien scheinbar steigender Jugendkriminalität zu vermeiden, sind solche Befragungsdaten unverzichtbar. Solche Daten werden aber auch benötigt, um Lücken und Optimierungserfordernisse erkennen zu können, Fehlentwicklungen gegenzusteuern und so tatsächlich evidenzbasiert, d.h. auf der Grundlage von Erfahrungswerten, Konzepte fortschreiben und ständig weiter entwickeln zu können.

12