ENTER

the real

world

Kleine Humboldt Galerie 21. bis 31. Juli 2015

Humboldt-Universität zu Berlin, Lichthof Ost

Michel Aniol Anna Calabrese Martin Chramosta Mark Dion Friedemann Heckel Christian Jankowski Leif Randt Venus Electra Ryter Isabell Šuba Zeynep Tuna Mark Wallinger Ming Wong

Kuratiert von Rahel Schrohe

Vorwort und Dank

ENTER the real world Kunst zeigen. Wer etwas zeigt, positioniert und profiliert sich im Akt des Zeigens. Dabei beeinflussen Auswahl, Anordnung und Anbringung der Objekte im Ausstellungsraum die Möglichkeiten ihrer Interpretation. Auch eine thematische, programmatische Rahmung reduziert die Komplexität des einzelnen Werkes. Jede neue Gegenüberstellung ist wirkungsverändernd. So ist die Rezeption stets abhängig von der Art und Weise der Sichtbarkeit und damit vom Modus des Zeigens. Diese kuratorischen Überlegungen werden in einemAusstellungsprojekt der Kleinen Humboldt Galerie, das als Kunstfestival im Lichthof Ost der Humboldt-Universität zu Berlin stattfindet, real erprobt. ENTER the real world macht die subjektiven Prozesse des Kuratierens und Rezipierens zum Thema. Die Ausstellung als Experiment. Im Ausstellungsraum findet eine Präsentation künstlerischer Arbeiten verschiedenster Medien statt, die zu keinem Zeitpunkt vollständig ist, sondern sich während der Laufzeit entwickelt. Die Ausstellung eröffnet mit Wenigem: einer Zeichnung Mark Dions und dem Screening einer halbstündigen Videoarbeit Ming Wongs. Tag für Tag kommen weitere Arbeiten hinzu, die ihre Position verändern, sodass sich durch die räumlichen Verschiebungen immer neue Konstellationen, Bezüge und Lesarten ergeben. Es finden fünf aufeinanderfolgende Events statt, die weitere Screenings sowie eine Lesung des aufstrebenden Autors Leif Randt einschließen. Indem Auf- und Abbau beobachtet und eine tatsächliche Veränderung der Ausstellung nachvollzogen werden können, erfolgt ein Offenlegen ausstellungsbedingter Zeigeverhältnisse und damit ein Aufbrechen des Displays. Dieser bleibt nicht glatt und abgeschlossen, sondern wird einsehbar und involviert die Rezipientinnen und Rezipienten ins Geschehen. Jeden Tag passiert etwas Neues – man muss anwesend sein, um es zu erleben.

Grenzen der Dokumentation. Der vorliegende Katalog ergänzt in Bild und Text das ephemere Medium der Ausstellung. Er gibt einen Überblick über die versammelten Werke sowie das kunsthistorische Interesse an und den kuratorischen Umgang mit ihnen. In dieser Form der Bündelung und Ordnung suggeriert der Katalog eine Form der Vollständigkeit und Gleichzeitigkeit, die in der Ausstellung zu keinem Zeitpunkt anzutreffen war. Das zusammengetragene Bildmaterial soll diesem Eindruck unter dem Verzicht auf statische und/oder scheinbar allgemeingültige Installationsansichten entschieden entgegenwirken. Die ausgewählten Fotos aus Anna Calabreses Arbeit Proof [entertherealworld.com] spiegeln den wechselhaften Charakter von ENTER the real world wider, indem sie – mit Blick auf Details, das Unfertige und Fragmentarische, die Bewegungen im Raum – singuläre Momente zwischen dem Aufbau und der Finissage dokumentieren. Besonderer Dank gilt allen beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, Galerien und Studios, dem Team der Kleinen Humboldt Galerie, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Humboldt-Universität zu Berlin sowie allen weiteren Unterstützerinnen und Unterstützern: Rafael Jakob, Antonia Wolff, Anna Calabrese, Christos Acrivulis, Michel Aniol, Ines Bartsch-Huth, Prof. Dr. Claudia Blümle, Lothar Brink, Franziska Grosse u. calier I gebauer, Lee Chichester, Martin Chramosta, Detlef Damis, Mark Dion, Thomas Fischer, Frederiek Weda u. Galerie Thomas Fischer, Klaus Gadow, Friedemann Heckel, Dr. Steffen Hofmann, Viktor Hömpler, Johanna Hutmacher, Christian Jankowski u. Laura Helena Wurth, Rebecca John, Dr. Angelika Keune, Franzi Knoll, Judith Lau, Marie-Luise Lorena Mayer u. KubaParis, Julia Modes, Dagmar Oehler, Ying Sze Pek, Basti Peter, Michael Rambow, Leif Randt, Venus Electra Ryter, Elena Sánchez, Monika Simm, Jessica Schmidt u. dem Team von bln.fm, Liz Stumpf, Isabell Šuba, Kersten Thomas, Zeynep Tuna, Mathias Völzke, Mark Wallinger und Studio, Anna Wiese, Nico Wittenberg und der Firma Mietzner, Ming Wong u. Marko Schiefelbein.

Michel Aniol Refresh

Michel Aniol, Intercontinental-Travel-FountainRefreshment-Center (Piece #2 for Draft for an Occiriental Lounge), 2015. Styropor, Fliesenkleber, Sand, Pigmente, Epoxidharz, Silikon, Sprühlack, Förderpumpe, PVC, Ultraschall-Nebler, LED, japanischer Ahorn (acer palmatum Jerre Schwartz), Wasser, Zeitschaltuhr, 74 x 70 x 225 cm. Courtesy Michel Aniol.

Bei Michel Aniols Intercontinental-Travel-Fountain-Refreshment-Center handelt es sich um einen etwa 2 m hohen, Wasser fördernden Brunnen von mattem, violett-braunem Äußeren, an dessen Spitze eine kleine natürliche Pflanze sitzt. Die Oberfläche der Skulptur ist aufgeraut, ungleichmäßig, voller Einkerbungen und Ausbuchtungen. Ihre Materialität lässt sich visuell schwer erfassen. Es ist nicht zu erkennen, ob es sich um gegossenes, besprühtes Plastik oder bearbeiteten Stein handelt. In der Aufsicht ist Fountain fast quadratisch. Auf der unteren, etwa zwei Drittel einnehmenden, rechteckigen Spiralform, liegt ein schmalerer, felsartiger Block auf. Austretend aus einer kleinen Höhle in diesem oberen Fels fließt kontinuierlich Wasser. Durch die Becken der Spirale läuft es hinab und wird durch das Innere der Skulptur wieder hinaufbefördert. Über dem Wasserlauf strömt feiner Nebel, aus der Höhle tritt ein gedämpftes, farbiges Licht. Auf den ersten Blick erweckt Fountain den Eindruck, er stamme aus dem Gartencenter eines Baumarktes und sei ein industriell gefertigtes Produkt. Doch verbinden sich in dieser installativen, raumbezogenen Arbeit in einer einzigartigen Weise Skulptur und Malerei, technisches Handwerk und Natur. In einem aufwändigen Prozess wurde der Grundbaustein des Fountain aus Styropor geschnitten und mit einer Mischung aus Fliesenkleber und Sand so lange in Form gebracht, bis die nun vorliegende, raue, steinartige Oberfläche in Erscheinung tritt. Das steinerne Aussehen der entstandenen Skulptur wird überdies verstärkt durch den Einsatz von Pigmenten, die in einem malerischen Prozess aufgetragen und mit Sprühlack fixiert wurden. Fountain ist mit einem komplexen, im Inneren verborgenen Pumpsystem ausgestat-

tet – von Aniol entwickelt und sorgsam mit Epoxidharz und Silikon abgedicht. Der Wasserkreislauf ist fragil, anfällig für Störungen und muss auf die Verhältnisse des Raumes abgestimmt werden. Das Wasser verdunstet, verstärkt durch die Nebel erzeugende Maschine, und muss stets in Bewegung und im Gleichgewicht bleiben. Die Installation von Fountain ist ohne die Inbetriebnahme des Künstlers schwer möglich. Auch der kleine japanische Ahorn an der Spitze des Brunnens bedarf der sorgsamen Pflege und ausgewogener Lichtverhältnisse. Im fensterlosen White Cube würde die acer palmatum Jerre Schwartz – die auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit einer Marihuana-Pflanze hat – nicht überleben. Aniols Intercontinental-Travel-FountainRefreshment-Center ist Teil eines größeren Projektes, an dem der Künstler seit einiger Zeit arbeitet und das in den kommenden Jahren umgesetzt werden soll. Sie ist das zweite Objekt für den Entwurf einer Occiriental Lounge. Diese Lounge soll an Transitorten, an Flughäfen oder Fernbahnhöfen, installiert werden, um dort An-, Ab- und Durchreisende verschiedenster Kulturen in Empfang zu nehmen und für eine kurze Zeitspanne zu beherbergen. Westliche und östliche Kultur, okzidentale und orientalische Einflüsse fusionieren innerhalb der Lounge in mehreren Objekten. Sie umfasst Mobiliar wie Sitzmöglichkeiten und Teppiche, beinhaltet aber auch eine Bibliothek sowie Skulpturen, Aquarien und Vitrinen. Hinzu kommen Bilder und Bildschirme, mittels derer eine Zusammenführen der Kulturen thematisiert wird. Obgleich die Objekte dieser Occiriental Lounge Kunstwerke sind, sollen sie durch ihre Installation im halböffentlichen Raum der Tran-

sitorte dem sonst üblichen Ausstellungskontext enthoben werden und in einen außergewöhnlichen Funktionszusammenhang eingehen. Sie sind dann gleichermaßen Gegenstände des Gebrauchs, Objekte der Kunst sowie Mittel einer interkulturellen Verständigung. Im Rahmen von ENTER the real world nimmt der Ausstellungsgegenstand des Intercontinental-Travel-Fountain-RefreshmentCenter verschiedene Rollen ein. Zum einen ist Fountain eine für sich selbst stehende, ortsspezifische künstlerische Arbeit. Zum anderen nimmt es in seiner Funktion als Gebrauchsgegenstand Bezug auf das kuratorische Konzept der Ausstellung. Fountain erscheint zum Eröffnungstag als eine ironische Bemerkung zum Event der Vernissage – munter plätschert das Wasser vor sich hin, kaum hörbar im Stimmengewirr; feiner Nebel strömt unbeirrt aus. Aus der kleinen Höhle blinkt abwechselnd rotes, blaues Licht, das die Gesichter der Vorübergehenden erhellt.

Michel Aniol (*1983 in Tychy, Polen, lebt und arbeitet in Berlin) ist selbst ein Reisender. Immer wieder unterwegs, verlässt er Berlin und begibt sich an Orte, die mit Fremdheit und Andersartigkeit, mit Aussteiger- und Hippietum assoziiert sind. Konzeptuell wie materiell finden Inspirationen und Erlebnisse, Mitbringseln und Überbleibseln dieser Reisen Eingang in Aniols künstlerische Arbeit. Von 2005–13 Studium der Freien Kunst und Malerei an der Kunsthochschule BerlinWeißensee; Meisterschüler von Prof. Antje Majewski. 2014 Gründung des Neuköllner Projektraums Stay Hungry, zusammen mit Meike Kuhnert. 2012 Kunst-Minerva-Preis, 2013 Atelierförderung BBK Berlin e.V.

Anna Calabrese Proof

Anna Calabrese, Proof [entertherealworld.com], 2015, iPad 2 und Kabel. Courtesy Anna Calabrese.

Anna Calabrese stellt mit Proof [entertherealworld.com] eine ortsspezifische Arbeit her, die eng an das kuratorische Konzept gebunden ist. Mit ihrer über das im Ausstellungsraum befindliche iPad zugänglichen Website, die selbstverständlich auch unabhängig von dem Gerät online einsehbar ist, schafft sie eine fotografisch-künstlerische Online-Dokumentation der Ausstellung. ENTER the real world ist ephemer und wird in diesem Zustand auch in Calabreses Arbeit gespiegelt. Tag für Tag wird Proof [entertherealworld.com] durch das Hinzufügen neuer Aufnahmen aktualisiert und erweitert. Die Bilder zeigen Detailaufnahmen des Ausstellungsraumes, der dort präsentierten künstlerischen Arbeiten, der Galeriebesucher. Es sind Bilder des Geschehens, des Prozesses. Wegen der ständigen Neuordnung der Werke im Raum ist ein regelmäßiger Besuch der Ausstellung unabdingbar. Nur so kann man eine zunehmend vollständige Einsicht in die kuratorischen Entscheidungen erhalten. Die Notwendigkeit tatsächlich körperlich anwesend zu sein, drückt sich auch in Proof [entertherealworld.com] aus, indem die Website nur Details und Momente (in niedriger Auflösung) zeigt und nie ein vollständiges, eindeutiges, scharfes Bild der Ausstellung.

Anna Calabrese Cats & Cars

Anna Calabrese, Is it cold outside? I + II, 2014, Visitenkarten und Papier auf Holz unter Glas, Aluminiumrahmen, 41 x 50,5 cm. Courtesy Anna Calabrese.

Unabhängig von Proof [entertherealworld.com] sind zwei ältere Arbeiten der Künstlerin Anna Calabrese ausgestellt. Die beiden Collagen Is it cold outside? I + II, 2014 zeigen gefundenes Material innerhalb eines neu zusammengesetzten Bildes. Mit kleinen Kätzchen bedruckte Visitenkarten von Autohändlern (dubiosen Import-Exporthändlern), welche die Künstlerin bei ihren Streifzügen durch Leipzig auf der Straße gefunden hat, werden dicht an dicht in einem Raster zusammengesetzt und mit je einem großen aus Katalogseiten ausgeschnittenen Bild eines Autos kombiniert. So entsteht eine Arbeit, die Werbung, Kitsch und Häuslichkeit zum Thema hat. Katzen und Autos, die auf ihre je eigene Art für Privatheit stehen, können gleichermaßen zur Schau gestellt werden: Die hauseigenen Katzen gelangen durch fotografische Bilder in den Außenraum, finden sich auf Youtube und in sozialen Netzwerken wieder; das Auto existiert als Profilierung im öffentlichen Raum. Dass mit beiden Motiven für die Anschaffung desselben Gegenstandes, nämlich eines Autos, geworben wird, zeigt sich als humorvolle Gemeinsamkeit.

Die deutsche Künstlerin Anna Calabrese (*1989 in Frauenfeld, Schweiz) studiert in Berlin Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie Philosophie und bewegt sich – nach einem kurzen Fotografie-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, währenddessen sie sich mit digitaler Selbstdarstellung beschäftigte – zwischen den Bereichen einer institutionalisierten Auseinandersetzung mit Kunst und einer eigenen Kunstproduktion.

Martin Chramosta Kitsch

Martin Chramosta, Burg I–V, 2015, Keramik, glasiert, 14 x 15 x 18 cm (Burg gelb), 21,5 x 17 x 15 cm (Burg rosa-blau), 21 x 14 x 15,5 cm (Hund), 16 x 12 x 15,5 (Burg türkis), 22 x 15,5 x 18 cm (Burg rosa). Courtesy Martin Chramosta.

Martin Chramostas fein glänzend glasierte Keramiken Burg I–V sind pastellfarbene Miniaturen real existierender Hüpfburgen. Während das erste Modell der Serie noch als mehrfarbige, schnell modellierte Hunde-Hüpfburg daherkommt, sind die anderen ausgereifter und haben eine sorgsam bearbeitete, glattere Oberfläche. Sie wirken aufgeblasen und leicht. Die Vielfalt der Hüpfburgen reicht vom mintgrünen Traumschloss bis zum ironisch rosafarbenen Minarett – zu lesen als Verweis auf eine Schweizer Volksabstimmung. Hüpfburgen sind die aufblasbaren Träume kleiner Kinder. Verlockend spielerisch und gleichermaßen utopisch stehen sie für die absolute Kommerzialisierung einer Spaß- und Vergnügungsindustrie. Als pastellfarbene Miniaturen echt/unechter Schlösser verweisen sie zudem auf einen ganz bestimmten Ort kommerzialisierter Vergnügungskultur – Disneyland. Auf Hüpfburgen kommen Menschen hüpfend, stolpernd und kugelnd zusammen. Sie erscheinen als Traumschlösser im Rahmen von imaginären Welten, werden auf Jahrmärkten, auf Freizeit- und in Themenparks aufgestellt, wo sie für einen kurzen Zeitraum installiert, d.h. aufgeblasen werden, um dann ihre restliche Lebenszeit verpackt in Kartons zu lagern. In der Kulturindustrie treten sie ebenfalls in Erscheinung, etwa im Rahmen des internationalen Performing Arts-Festivals Foreign Affairs 2013 in Berlin. Dort wurde mit William Forsythes White Bouncing Castle unter dem Motto „As soon as you enter the castle you begin to dance“ eine monumentale choreografische Installation für eine kulturinteressierte Öffentlichkeit erlebbar.

Jede Besucherin und jeder Besucher wurde mit Betreten des White Bouncing Castle zum Performer und so zu einem dezidiert aktiven Bestandteil des Festivals. Chramostas Miniatur-Hüpfburgen hingegen stehen als vollkommen unbenutzbarer Verweis im Ausstellungsraum. Sie erscheinen zunächst als harmlose Elemente der Sinnverneinung und werden in einer zweiten Rezeption in ihrem pastellfarbenen Kitsch zu einem Bild der Kulturkritik. Eine später angefertigte Serie dieser Hüpfburgen befindet sich in der Sammlung der Credit Suisse. Martin Chramosta (*1982 in Zürich, lebt und arbeitet in Basel) bewegt sich mit seiner künstlerischen Arbeit zwischen den verschiedensten Medien. Er macht eigene Performances, bzw. gibt Anweisungen zu Performances, er schafft raumfüllende Installationen und kleinere Werke, wie die hier ausgestellten Keramiken. Studium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel und der Hochschule der Künste Bern. 2012 Residency Fonderie Darling, Montréal, 2013 Nomination Swiss Art Award und Residency Rotationsatelier, Kunsthaus Aussersihl, Zürich.

Mark Dion Apostel

Mark Dion, Apostles, 2010, Buntstift auf Papier, 15,2 x 15,2 cm. Privatsammlung, Berlin.

Die Buntstiftzeichnung Apostles (2010) des amerikanischen Künstlers Mark Dion leitete meine Überlegungen für ein erstes Konzept der Ausstellung. Dion, der sich in seinem künstlerischen Werk auf objektive, naturwissenschaftliche Arbeitsme-thoden, Ordnungssysteme und Visualisierungsstrategien bezieht, stellt mit Apostles seine persönlichen 12 Apostel vor. Mit der Versammlung dieser zwölf Forscher und Wissenschaftlerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts – vom Philosophen Michel Foucault über den Land Art-Künstler Robert Smithson, die Meeresbiologin Rachel Carson bis hin zum Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau – benennt Dion diejenigen historischen Figuren, die ihn und seine künstlerische Arbeit inspirieren. Er thematisiert seine Interessen, intellektuellen, künstlerischen und theoretischen Hintergründe und gibt, so scheint es, einen Schlüssel zu seinem Werk und zu dessen Interpretation, indem er durch die vorgenommene Setzung eine direkte Verbindung zwischen den Abgebildeten und sich selbst herstellt. Es entsteht ein ganz subjektives und persönliches System, das zugleich höchst berechnend arrangiert ist und außerdem vermessen erscheint. Denn der, der seine Apostel benennt, besetzt selbst die messianische Position; sind Apostel doch Verkünder, Boten, Gesandte, die eine mediale Funktion innehaben. Indem man etwas zeigt, positioniert und profiliert man sich selbst. Für die kuratorische Arbeit lässt sich daraus Folgendes ableiten: Das Gezeigte weist – im Sinne eines Mediums – immer auch auf diejenige zurück, die es auswählt. Die getroffene Auswahl dirigiert die Betrachtung, sie ist stets berechnend, vermessen, hyperbolisch und hier: pseudosystematisch.

Das medial vielfältige Ouevre des dauerreisenden amerikanischen Künstlers Mark Dion (*1961 in New Bedford, Massachusetts, USA, lebt in New York und arbeitet weltweit) befindet sich in allen wichtigen Sammlungen zeitgenössischer Kunst (u.a.: MoMA, New York; Tate Gallery, London; Centre Georges Pompidou, Paris). Die kleinformatige Zeichnung Apostles, 2010 ist von großer Bedeutung für sein künstlerisches Schaffen und Selbstverständnis.

Friedemann Heckel Oberfläche

Friedemann Heckel, Untitled und Trophäe, beide 2015, Gravur auf Glas, Pastell auf Papier, Aluminiumrahmen, 160 x 120 cm. Courtesy Friedemann Heckel und Galerie Thomas Fischer.

Zwei großformatige Bilder, auf je zwei kleinen Höckerchen stehend, lehnen an der Wand. Verborgen unter ihren spiegelnden, von Ritzzeichnungen überzogenen Glasoberflächen, liegen zwei sorgsam bearbeitete Farbflächen. Bei Trophäe handelt es sich um ein je nach Betrachterposition farbveränderndes Schwarz, in das sich der helle Abdruck eines Gebisses einprägt. Bei Untitled ist es ein violetter Farbverlauf, zur Mitte hin heller werdend, an den Rändern ausdunkelnd. Denken wir uns für einen Moment die spiegelnde Glasoberfläche weg. In einem zeitaufwändigen Prozess wurde mit den Fingerkuppen Pastellkreide auf einen robusten Karton aufgetragen und eingerieben. Die Pigmentschicht verbindet sich mit dem Trägermaterial. Kein Fingerabdruck, keine Spuren menschlicher Einflussnahme sind noch erkennbar. Die entstandene fragile Oberfläche ist in ihrer Erscheinung matt und hochgradig porös. Vergleichbar der amerikanischen Farbfeldmalerei der 1960er Jahre bewirkt sie ein auratisches Farberlebnis, welches das Bild in der Betrachtung in einen schwebenden Zustand befördert. Der beschriebene Bildträger wird mit einer gleichgroßen Glasfläche bedeckt. Diese spiegelnde Schicht ist gleichermaßen Schutz wie verbergendes Element. Damit wird die Farbwirkung ausgesetzt, der Akt der Herstellung unkenntlich. Das untergründig Handwerkliche des Bildes wird verdeckt von der glänzenden Oberfläche, in der sich der umgebende Raum und die Betrachterin spiegeln. Die Materialität des Trägermediums wirkt weniger malerisch denn technisch erzeugt. Trophäe erscheint als Röntgenbild, Untitled als leicht körniger Farbdruck. In einer Abbildung der Arbeiten lässt sich dies schlecht erkennen. Notwendig ist ein tatsächliches Erleben, ein

Wirken der Arbeit im Ausstellungsraum. Die in die Oberfläche der aufliegenden Glasplatte eingeritzten Zeichnungen verweisen auf die unvermittelt aufgetragene Handschrift des Künstlers. Obgleich es sich um minutiös vorgenommene Einschreibungen handelt, erwecken sie den Eindruck eines spontanen Ausdrucks. Sie verweisen – eine biografische Anekdote – auf die Graffiti-Vergangenheit ihres Urhebers. Sie rücken die Signatur in den Vordergrund – und damit etwas von ökonomischem Wert. Sie überdecken die darunterliegende Form der Einschreibung, die wesentlich unvermitteltere Berührung von Haut und Material. Beide Werke erfordern eine bewegte Form der Betrachtung, verändern sie ihre Wirkung doch aus den verschiedenen Blickwinkeln. Von einem einzigen eingenommenen Standpunkt lassen sich weder die einzelnen Zeichnungen noch die je unterschiedlichen Farbverläufe erkennen. Die Betrachterin muss immer wieder an ihrem eigenen Spiegelbild vorbeisehen, um Trophäe und Untitled in ihrer Ganzheit wahrnehmen zu können. Friedemann Heckel (*1986 in Hamburg, lebt und arbeitet in Berlin) organisiert neben seiner künstlerischen Arbeit selbst Ausstellungen und ist an Publikationsprojekten beteiligt. 2006–11 Studium an der Universität der Künste Berlin bei Lothar Baumgarten und Michaela Meise. 2010 Studium an der Universidade de Belas Artes Lissabon. 2012 Meisterschüler von Prof. Michaela Meise. 2013 Berlin Art Prize shortlisted.

Christian Jankowski Tiere & Magie

Christian Jankowski, Mein Leben als Taube, 1996, 5 Siebdrucke auf Rivoli 120 g, je 85,5 x 68 cm. Courtesy Helga Maria Klosterfelde Edition, Hamburg. Christian Jankowski, Mein Leben als Taube, 1996, Video von Performance auf DVD, 5'41'', Farbe, Ton. Serie von 5 Siebdrucken, je 85,5 x 68 cm. Christian Jankowski, Direktor Pudel, 1998, Super-8-Film von Performance transferiert auf Video auf DVD, 8'31'', Farbe, Ton. Christian Jankowski, Flock, 2002, 16-mm-Film von Performance transferiert auf Video auf DVD, 12'15'', Farbe, Ton.

Christian Jankowskis Magic Circle umfasst drei Performances aus den Jahren 1996– 2002, die auf 16-mm-Film fixiert wurden und heute transferiert auf Video vorliegen sowie zu jeder Videoarbeit eine zugehörige Serie von fünf Siebdrucken. Innerhalb der drei Performances – Mein Leben als Taube, Direktor Pudel und Flock – werden Akteure des Kunstbetriebs in Tiere verwandelt. Anregung zu diesen Vorhaben war, so berichtet Jankowski, eine Ermahnung seines Professors Werner Büttner: „Macht nie Arbeiten mit Kindern oder Tieren.“ Im ersten Teil des Magic Circle, Mein Leben als Taube, ist es der Künstler selbst, der vor den Augen des Publikums von einem Magier in eine weiße Taube verwandelt wird. Jankowskis ununterbrochene dreiwöchige Präsenz als Taube im Käfig ist sein Beitrag für eine frühe Ausstellung in Antwerpen 1996. In absoluter Abhängigkeit von den Ausstellungsbesuchern ist die Taube darauf angewiesen, regelmäßig gefüttert und kurzzeitig in die Freiheit entlassen zu werden. Im zweiten Teil der Serie, Direktor Pudel, 1998, wird Stephan Schmidt-Wulffen, von 1992–2000 Leiter des Hamburger Kunstvereins, für die Dauer der Ausstellung Fast Forward: Body Check auf eigenen Wunsch hin in einen Pudel verwandelt. Flock, 2002, der jüngste Beitrag zu dieser Verwandlungsserie, zeigt die Vernissagegäste der Site Gallery in Sheffield, die nach und nach von einem Magier in eine Horde blökender Schafe verwandelt werden. In der Videodokumentation dieser Performance können die Herdentiere dabei beobachtet werden, wie sie teilnahmslos durch die Galerie ziehen. In seiner künstlerischen Arbeit verfolgt Christian Jankowski kollaborative Strategien, die sich auf konkrete Auftraggeber oder Aus-

stellungsangebote beziehen. Er entwirft Situationen und gibt mit seinen Anweisungen einen Prozess vor, in dem zwei divergente Felder – das der Kunst sowie ein Bereich jenseits davon – und die dazugehörigen Personen zusammengebracht werden. Er involviert Kunstfremde, die üblicherweise Profis in ihrem Bereich sind – wie hier den Magier. Diese Experten eines anderen Gebietes behalten ihre Profession bei und lassen so – zumeist vor Publikum und/oder laufender Kamera – ein Kunstwerk entstehen. Auch die eigene Person bringt Jankowski in sein Werk ein und dies stets auf eine Weise, die ein Hinterfragen der Rolle des Künstlers im zeitgenössischen Kunstbetrieb und dieses Betriebs selbst veranlasst. Der Künstler agiert als Strippenzieher und Animateur, der im Sinne einer „Real Life“-Kunst die eigene Wirklichkeit inszeniert. Mittels subversiver Affirmation bzw. affirmativer Subversion nistet er sich in bestehende mediale Strukturen ein oder imitiert Formate mithilfe von Profis aus den jeweiligen Bereichen (oft mit Hilfe eines Rollentauschs), wodurch es ihm gelingt, diese Systeme in ihrer Spezifik und in ihren Eigenheiten zu durchleuchten und mit viel Humor ad absurdum zu führen. Christian Jankowski (*1968 in Göttingen, lebt und arbeitet in Berlin) ist einer der bedeutendsten Video-Künstler im deutschsprachigen Raum, seit 2005 Professor für Bildhauerei (Installation, Performance, Video) an der Kunstakademie Stuttgart und bereitet derzeit die Manifesta 2016 vor.

Leif Randt Hyperrealität

Leif Randt, Planet Magnon, 2015, Roman / Lesung.

Innerhalb der laufenden Ausstellung sollen die Objekte im Raum weder in ihrer Interpretation noch in ihrer Positionierung eindeutig festgelegt sein. Es geht vielmehr darum, durch immer neue Gegenüberstellungen andere Gemeinsamkeiten und Kollaborationen zwischen dem Ausgestellten hervorzuheben. Was mich an Leif Randts Texten besonders interessiert, ist die außergewöhnlich präzise Beschreibung von Oberflächen, von Haltung, Stil und Pose von Personen ebenso wie von Objekten, Landschaften, Design. Diesen Oberflächen wohnt eine Täuschung oder Enttäuschung inne, weil sie doch etwas anderes sind, als sie im ersten Moment zu sein scheinen – was (obgleich formal anders) an die Arbeiten von Michel Aniol und Friedemann Heckel erinnert. Seine Texte formulieren, insbesondere sein neuester Roman Planet Magnon, utopische, zukunftsgerichtete Gedanken, die viel über die eigene Gegenwart und gesellschaftliche Situation aussagen. Die Welt des Romans erscheint als Parallelwelt zur eigenen. Neben der Lesung aus Planet Magnon zeigt Randt eine zweieinhalbminütige Videoarbeit, die als eine Art Trailer für seinen Roman zu verstehen ist und manchmal als Zwischenspiel im Rahmen von Lesungen gezeigt wird. Zusammengesetzt aus vorgefundenem Youtube-Material (Bild und Ton) spannt sich innerhalb dieser bewegten Bilder ein eigenes Universum auf, in welchem die abgebildete Natur vollkommen beherrscht erscheint. Es sind aufgeräumte, cleane Bilder, die, vergleichbar den Werbebotschaften, denen sie entnommen sind, auf eine merkwürdig hyperrealitistische, simulierte zukünftige – und dabei doch längst eingetroffene – Welt verweisen. Diese found footage-Videoarbeit wird innerhalb der Aus-

stellung explizit den formal ähnlichen Arbeiten von Zeynep Tuna, Mark Wallinger und Anna Calabrese gegenübergestellt. Leif Randt (*1983 in Frankfurt am Main), Absolvent des Studiengangs „Kreatives Schreiben“ der Universität Hildesheim, gehört seit seinem viel beachteten Roman Schimmernder Dunst über CobyCounty (2011) zu den stilbildenden Autoren der jüngeren Generation in Deutschland. 2010 Nicolas-Born-Debütpreis. 2011 ErnstWillner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. 2012 Düsseldorfer Literaturpreis. 2013 Stipendium der Villa Aurora in Los Angeles.

Venus Electra Ryter Alles ist sehr einfach

Venus Electra Ryter, Alles ist sehr einfach, 2015, Buch (Grafik: Anna Calabrese) / Lesung.

Venus Electra Ryters Texte haben im Rahmen von ENTER the real world unter dem Titel Alles ist sehr einfach ihren ersten, langersehnten Auftritt. Präsentiert werden sie zum einen als Lesung, zum anderen in einer ausliegenden, eigens für die Ausstellung geschaffenen Publikation, die von Anna Calabrese gestaltet und durch Zeichnungen ergänzt wurde.

Die Schweizerin Venus Electra Ryter (*1988 auf Ibiza, Spanien, lebt und arbeitet in Berlin und Basel) studiert Germanistik und Philosophie, mit Spezialisierung auf die Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels.

Isabell Šuba Enter

Isabell Šuba, Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste, D 2013, Dokufiktion, 83'00''.

2012 wird Isabell Šuba mit einem Kurzfilm zum Festival nach Cannes eingeladen und entschließt sich, dort ein neues Projekt zu realisieren. Es entsteht ihr Langspielfilmdebut Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste, eine Dokufiktion, in der sie sich zum einen mit dem Filmbetrieb in Cannes auseinandersetzt und zum anderen, damit gleichermaßen verknüpft, die Beziehung zu ihrem Produzenten David Wentlandt (Matthias Weidenhöfer) beleuchtet. Für das Filmprojekt engagiert Šuba eine Schauspielerin, Anne Haug, die bei allen offiziellen und inoffiziellen Veranstaltungen als sie selbst auftritt, Applaus und Kritik entgegennimmt, Interviews gibt, mit Sponsoren spricht, mit Frauen flirtet. Wie Männer und Frauen in Cannes nicht gleichberechtigt sind (keine Frauen in der Jury oder als Preisträger), entpuppt sich auch das Verhältnis von Šuba/Haug zu Wentlandt als durchaus angespannt. Der „Macho“-Produzent Wentlandt wirft der homosexuellen Regisseurin allerlei an den Kopf und umgekehrt. Dieses mitunter komische Geschehen zu beobachten, ist gleichermaßen unterhaltsam wie erhellend, gewährt es doch einen Einblick in sonst eher abgeschlossene, unzugängliche Systeme. Interessant ist es, wie Šuba/Haug und Wentlandt sich in dieser (scheinbar) professionalisierten, in sich geschlossenen Welt versuchen zurecht zu finden und eine selbstbestimmte Position einzunehmen.

Von Isabell Šuba (*1981 in Berlin, lebt und arbeitet ebenda), Absolventin der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, wird im Rahmen der Ausstellung ihr Langspielfilmdebut Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste gezeigt. International Torino Film Festival, Internationale Hofer Filmtage, Zürcher Film Festival.

Zeynep Tuna Dorf

Zeynep Tuna, Nachleben (Welcome back!), 2015, Video, 6'32'', Farbe, Ton. Courtesy Zeynep Tuna.

Die türkische Künstlerin Zeynep Tuna beschäftigt sich derzeit im Rahmen ihrer künstlerischen Forschung mit dem Topos Dorf und der medialen Glorifizierung des ländlichen Lebens. Das erste Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist Nachleben (Welcome back!), eine 6-minütige, inhaltlich und formal außergewöhnlich komplexe Videoarbeit, die Formen der Dorfromantik in der Türkei und in Deutschland thematisiert. Nachleben (Welcome back!) stellt einen visuellen Vergleich an zwischen der Darstellung von Alpendörfern im deutschen Heimatfilm der 1950er Jahre und dem türkischen Heimatdorf der Künstlerin, Kadıkuyusu (das als solches in ihrem Pass vermerkt ist, obgleich sie nie dort gelebt hat). Vorgefundenes wird selbstgedrehtem Filmmaterial gegenübergestellt, die Farbgebung angepasst und vereinheitlicht, die Bilder werden durch Effekte verändert. In einem ersten Teil zeigt Nachleben (Welcome back!) Ruinen des größtenteils verlassenen Kadıkuyusu (2011 von Zeynep Tuna aufgenommen), türkische neben alpinen Landschaftsaufnahmen, landwirtschaftliche Arbeitsgeräte, Tiere auf dem Feld und vor verlassenen Häusern. Nach und nach werden diese Bilder belebt, Feldarbeiter und Bauern sind zu sehen, vor den ruinösen Gebäuden hängt die Wäsche zum Trocknen. Ein Bus fährt eine Reisegruppe ins Bild, ein Fest beginnt – und damit der zweite Teil der Arbeit. Nun folgen Aufnahmen, die Tuna im Mai 2015 in Kadıkuyusu drehte. Es sind die Bilder eines großen, alljährlichen Zusammenkommens; ein Fest, zu dem alle Generationen anreisen, um bei einem gemeinsamen Essen etwas Zeit miteinander zu verbringen. Die kurzen Sequenzen, aus denen sich das Video zusammensetzt – allesamt Außen-

aufnahmen – sind narrativ geordnet und in mehreren Abschnitten durch schwarze Blenden und den Sound einer computerverzerrten Stimme („Welcome back!“) voneinander getrennt. Zwischenzeitlich werden sie mit einer irritierend zerhackten Tonspur unterlegt, die den deutschen Heimatfilmen entnommen ist. Die Bilder sind deutlich aufgehellt. Im zweiten Teil der Arbeit wird eine weitere deutliche Bearbeitung der medialen Oberfläche vordergründig. Das Kamerabild selbst wird von einer Bewegung ergriffen; als würde der Film auf einer Leinwand ablaufen, die ein Windzug erfasst. Der Hintergrund von Nachleben (Welcome back!) ist eine konkrete historische Entwicklung. Während 1923, im Gründungsjahr der türkischen Republik, noch 80% der Bevölkerung in Dörfern lebten, waren es Ende der 1950er Jahre infolge der Industrialisierung nur noch 65%. Aufgrund von wirtschaftlichen Überlegungen wirkte die türkische Regierung der Landflucht mit einem Programm zur Förderung eines Verdörflichungsprozesses (köycülük) entgegen. Köycülük sollte das Dorf als Herkunftsort der türkischen Volksseele beschreiben. Zwischen den Diskussionen um köycülük und deutschen Heimat-Konzepten bemerkte Tuna interessante Gemeinsamkeiten und Differenzen, denen sie nun nachgehen will.

Zeynep Tuna Sex

Zeynep Tuna, Gebrochene Sinnlichkeit, 2013, Video, 18'00'', Farbe, Ton. Courtesy Zeynep Tuna.

Neben dieser neuen Produktion präsentiert die Ausstellung eine ältere Videoarbeit von Zeynep Tuna. Gebrochene Sinnlichkeit, 2013, Abschlussfilm ihres Studiums an der Berliner Universität der Künste, ist ein 18-minütiges Video, das sich ausschließlich aus vorgefundenem, nicht selbstgedrehtem Filmmaterial (Bild und Ton) zusammensetzt. Online und in der Raubkopierszene Istanbuls hat Tuna in einem längeren Rechercheprozess digitale Kopien von etwa 50 türkischen Sexfilmen der 1970er Jahre ausfindig gemacht. Dieses Filmmaterial ist kulturgeschichtlich von großer Bedeutung. Trotz strenger Zensur wurden in der Türkei zwischen 1974 und 1980 um die 300 Sexfilme gedreht, die allein für männliche Augen bestimmt waren. Die Produktion und der Vertrieb dieser Filme wurden bis zum Militärputsch vom 12. September 1980 weitestgehend geduldet. Grund dafür war ein findiger Umgang mit dem Gesetz: Als Komödien oder Melodramen getarnt schmuggelte man die Filme durch die Zensur auf die Kinoleinwand, indem alle Szenen sexuellen Inhalts vor der Genehmigungsprozedur herausgeschnitten und hinterher wieder eingefügt wurden. In eher zahme Filme wurden explizitere Sexszenen, sogenannte „parça“ (Inserts) eingefügt, um das männliche Publikum anzulocken. In einigen Kinos schnitten die Vorführer die zu zeigenden Filme eigenhändig um, was überraschende Erlebnisse der die Kinos besuchenden Regisseure zur Folge hatte. Ausgehend von dieser Produktionsund Aufführungsästhetik stellt Gebrochene Sinnlichkeit Tunas eigene Rekonstruktion eines türkischen Sexfilms dar, der sich jedoch nicht an ein rein männliches Kino-Publikum richtet, sondern an die Besucherinnen und Besucher von Kunstausstellungen. Nachvollziehbar wird

so, wie die türkischen Sexfilme Erotik und Sexualität, den männlichen Blick und den weiblichen Körper inszenieren. Die mutige found footage-Videoarbeit Gebrochene Sinnlichkeit ist jedoch nicht nur anspruchsvolle dekonstruierende Montagekunst, sie besitzt auch einen großen archivarischen Wert. Die analogen Zelluloid-Kopien der Sexfilme, die schon in den 1970er Jahren eher Gebrauchsgegenstände als archivierungswürdige Kulturgüter waren, sind heute weitestgehend verschollen, zerfallen oder zerstört. Indem Tuna das historische Material sichtet, archiviert, neu sortiert und kategorisiert, trägt sie dazu bei, diesen Teil türkischer Kulturgeschichte zu bewahren, zu analysieren und öffentlich zu machen. Die türkische Künstlerin Zeynep Tuna (*1985 in Eskişehir, Türkei, lebt und arbeitet in Berlin) bewegt sich mit ihrer künstlerischen Arbeit zumeist im Bereich des Films. Für ENTER the real world fertigt sie eine neue Video- Arbeit an, die im Rahmen eines Screenings gezeigt wird. Bachelor of Fine Arts in Film an der Bilgi University in Istanbul, 2009, Master Art in Context an der Universität der Künste, Berlin. Gebrochene Sinnlichkeit war 2014 beim Underdox Film Festival in München zu sehen.

Mark Wallinger Magie der Dinge

Mark Wallinger, The Magic of Things, 2010, Video auf DVD, 10'32'' (Loop), Farbe, ohne Ton. Courtesy carlier | gebauer, Berlin.

Für die Videoarbeit The Magic of Things hat Mark Wallinger mit found footage, also mit vorgefundenem Material gearbeitet. Chronologisch geordnet, werden hier all jene „übernatürlichen“ Szenen der US-amerikanischen Serie Bewitched (dt. Verliebt in eine Hexe, ausgestrahlt von 1964–72) aneinander geschnitten, in welchen sich die Gegenstände ohne menschliche Einflussnahme durch die Wohnung bewegen. Absurde Szenen – ein Auto fährt aus der Wand – treffen auf Momente der Zerstörung – Glas zerspringt, Vasen und Büsten gehen zu Bruch, Gas explodiert. Albernes wird Gruseligem gegenübergestellt: Ein Skelett tanzt singend durch den Raum, eine geisterhafte Puppe schwebt die Treppe hinauf. Mal sind es Kleinigkeiten – ein Schlüssel dreht sich im Schloss, ein Kerzendocht entzündet sich – mal ist es das ganze Wohnzimmer, das unter magischem Zutun ins absolute Chaos gestürzt wird. Die Dinge sind in Bewegung, doch es ist kein Mensch zu sehen, der sich verantwortlich zeichnet. Arbeiten die Gegenstände im Interesse der Bewohner dieser Wohnung oder gegen sie? Agieren sie miteinander? Verfolgen sie überhaupt irgendeine Form von Sinn mit ihrem Handeln? Obgleich die einzelnen Szenen von The Magic of Things chronologisch aneinandergereiht wurden (und damit einer bestimmten Systematik folgen), entfaltet sich in der Montage eine eigene Form poetischer Narration. Auf spielerische Weise reflektiert die Videoarbeit kulturwissenschaftliche Diskussionen um ein Eigenleben der Dinge oder einer Magie der Alltagsgegenstände.

Mark Wallinger (*1959 in Chigwell, Essex, lebt und arbeitet in London), Turner-Preisträger 2007, zählt zu den bedeutendsten britischen Künstlern der Gegenwart. Wallinger arbeitet medial ausgesprochen vielfältig und bringt neben Video, Fotografie und Installation auch Malerei und Skulptur zum Einsatz.

Ming Wong Sprache

Ming Wong, Whodunnit?, 2003/2004, EinkanalVideo-Installation, 32'00'' (Loop), Farbe, Ton. Courtesy Ming Wong, Vitamin Creative Space, Guangzhou und carlier | gebauer, Berlin.

„No crime has been committed.“ Im (beigen) Mantel der Staatsgewalt bewegt sich ein Detective durch den Salon eines englischen Landhauses, um den Mörder oder die Mörderin unter der dort versammelten Gruppe von Menschen verschiedener Generationen und Ethnien ausfindig zu machen. Ming Wongs Whodunnit?, 2003/4, gibt sich in Ambiente und Figurencharakteristik als klassisch britische Murder Mystery. Doch anstatt dass es um die Auflösung des Mordes ginge – „No crime has been committed.“ – werden innerhalb der Befragung ganz andere Dinge zum Thema gemacht: werden unter gegenseitigen Anschuldigungen Klischees diskutiert und Identitätsfragen gestellt. Unter dem Motto „Someone in this room is pretending to be someone or something that he or she is not“ werden alle Figuren in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten in Frage gestellt. Die Figuren repräsentieren diejenigen ethnischen Minderheiten, deren Projekte – wie auch Wongs Whodunnit? – das Kulturdiversitätsprogramm des Arts Council England fördert, um kulturelle Vielfalt zu sichern.

Gespielt werden sie von britischen Schauspielerinnen und Schauspielern der zweiten oder dritten Generation, deren Familien aus Afrika, (Ost-) Asien, der Karibik, Osteuropa, Griechenland und Irland stammen. Die Schauspieler bringen ihre persönliche Biografie mit auf die Bühne, sprechen abwechselnd zunächst in RP (received pronunciation), also dem British English-Standart, dann in den Akzenten ihrer Eltern- und Großelterngeneration; in Akzenten, die sie vielleicht kennen, die jedoch nicht ihre eigenen sind. Für die Figuren im Raum sind es die gesprochene Sprache und der Akzent, die ihre Rolle festlegen und ein Machtgefüge (zwischen den Figuren und dem Detective) artikulieren. Der Film verhandelt damit die Ambivalenz von Sprache, die – obgleich sie Kommunikation und interkulturellen Austausch ermöglicht und fördert – diskriminiert oder aufgrund derer diskriminiert wird.

Whodunnit? Nach einem ersten 16-minütigen Durchlauf wird die Auflösung des Falls um eine zweite Runde aufgeschoben. Dabei wiederholt sich exakt dieselbe Szenenfolge allerdings mit veränderter Tonspur. Während im ersten Teil noch anhand einer Affektlogik nachvollziehbar ist, wann die Figuren Akzent sprechen und wann nicht, löst sich das Sprachspiel im zweiten Durchgang mehr und mehr vom dargestellten Geschehen, wirkt erwartungsenttäuschend und verursacht, verstärkt in einem Spannungsverhältnis mit Maskerade und theatralischer Gestik, bei der aufmerksamen Zuhörerin deutliche Irritationen. Whodunnit? bringt – dem Klischee nach – real existierende Rollen auf die Bühne, bestätigt, unterläuft, entgrenzt sie performativ. Die Rollen sind, so diskutieren es die Figuren auch selbst, vor- und eingeschrieben. Gleichzeitig wird in der Form sprachlicher Selbstreflexion stetig betont, dass der Status dieser Rollen zwischen Schein und Realität, zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Theater und Leben changiert: „It's absurdly theatrical – it has to be real“, „the dream is over – it's everything in my mind.“ Whodunnit? wurde mit Unterstützung des London Artists Film & Video Award von Film London für die Aufführung in einem Theatersaal produziert und wird im Rahmen von ENTER the real world erstmals in Berlin gezeigt.

Ming Wong (*1971 in Singapur, lebt und arbeitet in Berlin und Singapur), der 2009 den Pavillon Singapurs auf der Biennale di Venezia bespielte, setzt sich in seinen Filmen mit gendertheoretischen Themen wie Identität, Geschlecht und Rollenzuschreibungen auseinander. Er bespricht Klischees sowie den damit einhergehenden Rassismus und stellt dabei medienreflexive Überlegungen an, die Filmgenres und Filmklassiker betreffen.

Werkliste

Michel Aniol Intercontinental-Travel-Fountain-RefreshmentCenter (Piece #2 for Draft for an Occiriental Lounge), 2015, Styropor, Fliesenkleber, Sand, Pigmente, Epoxidharz, Silikon, Sprühlack, Förderpumpe, PVC, Ultraschall-Nebler, LED, japanischer Ahorn (acer palmatum Jerre Schwartz), Wasser, Zeitschaltuhr, 74 x 70 x 225 cm. Courtesy Michel Aniol. Anna Calabrese Is it cold outside? I + II, 2014, Visitenkarten und Papier auf Holz unter Glas, Aluminiumrahmen, 41 x 50,5 cm. Proof [entertherealworld.com], 2015, iPad 2 und Kabel. Courtesy Anna Calabrese. Martin Chramosta Burg I – V, 2015, Keramik, glasiert, 14 x 15 x 18 cm (Burg gelb), 21,5 x 17 x 15 cm (Burg rosa-blau), 21 x 14 x 15,5 cm (Hund), 16 x 12 x 15,5 (Burg türkis), 22 x 15,5 x 18 cm (Burg rosa). Courtesy Martin Chramosta. Mark Dion Apostles, 2010, Buntstift auf Papier, 15,2 x 15,2 cm. Privatsammlung, Berlin. Friedemann Heckel Untitled, 2015, Gravur auf Glas, Pastell auf Papier, Aluminiumrahmen, 160 x 120 cm. Trophäe, 2015, Gravur auf Glas, Pastell auf Papier, Aluminiumrahmen, 160 x 120 cm. Courtesy Friedemann Heckel und Galerie Thomas Fischer. Christian Jankowski Mein Leben als Taube, 1996, 5 Siebdrucke auf Rivoli 120 g, je 85,5 x 68 cm. Courtesy Helga Maria Klosterfelde Edition, Hamburg.

Christian Jankoswki Mein Leben als Taube, 1996, Video von Performance auf DVD, 5'41'', Farbe, Ton. Serie von 5 Siebdrucken, je 85,5 x 68 cm. Direktor Pudel, 1998, Super-8-Film von Performance transferiert auf Video auf DVD, 8'31'', Farbe, Ton. Flock, 2002, 16-mm-Film von Performance transferiert auf Video auf DVD, 12'15'', Farbe, Ton. Courtesy Christian Jankowski. Leif Randt Planet Magnon, 2015, Roman/Lesung. Venus Electra Ryter Alles ist sehr einfach, 2015, Buch (Layout: Anna Calabrese)/Lesung. Isabell Šuba Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste, D2013, Dokufiktion, 83'00''. Zeynep Tuna Nachleben (Welcome back!), 2015, Video, 6'32'', Farbe, Ton. Gebrochene Sinnlichkeit, 2013, Video, 18'00'', Farbe, Ton. Courtesy Zeynep Tuna. Mark Wallinger The Magic of Things, 2010, Video auf DVD, 10'32'' (Loop), Farbe, ohne Ton. Courtesy carlier | gebauer, Berlin. Ming Wong Whodunnit?, 2003/2004, Einkanal-VideoInstallation, 32'00'' (Loop), Farbe, Ton. Courtesy Ming Wong, Vitamin Creative Space, Guangzhou und carlier | gebauer, Berlin.

Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung ENTER the real world Humboldt-Universität zu Berlin, Lichthof Ost

Ein Projekt der Kleinen Humboldt Galerie kuratiert von Rahel Schrohe 21. bis 31. Juli 2015

Herausgeber Text und Gestaltung Lektorat Druck Auflage

Kleine Humboldt Galerie, Berlin Rahel Schrohe Rafael Jakob Humboldt-Universität zu Berlin 50 Stück

Fotonachweis

S. 1 o.r., 12, 14, 15, 24, 36, 66, 68: © MarieLuise Lorena Mayer für KubaParis S. 1, 12, 26, 28, 53, 74: © Mathias Völzke alle weiteren Fotografien: © Anna Calabrese, aus: Proof [entertherealworld.com].

Leihgeber

Studio Anna Calabrese & Venus Ryter, Berlin/ Basel; Michel Aniol, Berlin; calier I gebauer, Berlin und Mark Wallinger Studio, London; Martin Chramosta, Basel; Galerie Thomas Fischer und Friedemann Heckel, Berlin; Studio Christian Jankowski, Berlin; Zeynep Tuna, Berlin; Studio Ming Wong, Berlin

Copyright Publikation / Text

© Rahel Schrohe & Kleine Humboldt Galerie Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin

Copyright Abbildungen

© die Leihgeber / Fotografen

Weitere Informationen

www.kleinehumboldtgalerie.de

Ermöglicht wurde die Ausstellung ENTER the real world durch die großzügige Unterstützung der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft.