Einleitung

9

Tagtåglich kçmmern sich Millionen Angehærige um hilfe- und pflegebedçrftige Familienmitglieder. Dank ihrer Unterstçtzung kænnen Pflegebedçrftige trotz ihres Hilfebedarfs ein weitgehend selbstståndiges und selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wånden fçhren. Pflegende Angehærige erbringen damit eine Leistung, die von der Gesellschaft mehr oder weniger stillschweigend erwartet, in ihrer Bedeutung jedoch kaum angemessen gewçrdigt wird. Nur selten finden sie fçr ihre Probleme und Sorgen ein offenes Ohr. Wen interessiert es schon, wenn der demenzkranke Vater sich nicht mehr zurechtfindet und keinen Moment aus den Augen gelassen werden kann? Wer mæchte hæren, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege kaum noch mæglich ist? Mit wem kann man çber den Schmerz und die Trauer reden, die durch das langsame Abschiednehmen von einem geliebten Menschen zu bewåltigen sind? Das ståndige Gebundensein an den Pflegebedçrftigen fçhrt dazu, dass eigene Bedçrfnisse stark vernachlåssigt werden. Ein Groûteil der pflegenden Angehærigen ist ausgebrannt und erschæpft, ohne dass dies von ihrer Umgebung wahrgenommen wird. Dabei benætigen Angehærige selbst Unterstçtzung, um auf Dauer den Belastungen des Pflegealltags standhalten zu kænnen. Dem Pflegebedçrftigen kann es nur gut gehen, wenn es auch den ihn versorgenden Angehærigen gut geht. Um die Ressourcen und die Pflegebereitschaft von Angehærigen zu erhalten und zu færdern, bedarf es einer stårkeren Beachtung ihrer Bedçrfnisse sowie wirkungsvoller Unterstçtzungsmaûnahmen. Dazu gehæren Information und Schulung zur Færderung der Pflegekompetenz. Auf diese Weise wird den Familien der eigenverantwortliche und selbstbestimmte Umgang mit Krankheit und Pflegebedçrftigkeit im Alltag erleichtert. Ein weiterer Bereich ist die Beratung, z. B. zum Umgang mit problematischen Verhaltensweisen des Pflegebedçrftigen oder çber Mæglichkeiten der Selbstpflege und Entlastung. Letzteres ist besonders wichtig, da pflegende Angehærige oftmals regelrecht ermutigt werden mçssen, eigene Bedçrfnisse wahrzunehmen und zuzulassen. Eine zentrale Rolle in der Færderung der Pflegekompetenz von Angehærigen kommt der professionellen Pflege zu. Als græûte Berufsgruppe im Gesundheitswesen hat sie håufig den intensivsten Kontakt zu Pflegebedçrftigen und ihren Familien. Anliegen des Buchs ist es daher, professionell Pflegende stårker fçr die Situation betroffener Familien sowie fçr die Bedeutung der Kompetenzfærderung pflegender Angehæriger zu sensibilisieren. Auûerdem soll Pflegefachkråften

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

Einleitung

Einleitung

anwendungsorientiertes Wissen fçr die konkrete Ausgestaltung von Information, Schulung und Beratung an die Hand gegeben werden. Nach einer kurzen Einfçhrung in die Situation pflegender Familien werden zunåchst die rechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen der Angehærigenunterstçtzung vorgestellt. Der Hauptteil des Buchs ist den verschiedenen Bausteinen der Kompetenzfærderung gewidmet: In vier Kapiteln werden die Grundlagen der Information, Einzelschulung, Gruppenschulung sowie Beratung pflegender Angehæriger behandelt. Weitere Kapitel widmen sich der Gestaltung des Lernklimas, der Qualitåtssicherung, den verschiedenen Arbeitsfeldern der Angehærigenunterstçtzung sowie den dafçr erforderlichen Schlçsselqualifikationen. Abschlieûend soll die Bedeutung fçr die Professionalisierung der Pflege thematisiert werden. Das Buch richtet sich in erster Linie an Praktizierende in der Pflege. Zielgruppe sind Pflegefachkråfte der Alten- und Krankenpflege, die in Bereichen mit håufigen Angehærigenkontakten tåtig sind: in der ambulanten Pflege, im Krankenhaus- und Rehabilitationsbereich und in der stationåren Langzeitversorgung. Ebenso zur Zielgruppe gehæren Mentoren und Praxisbegleiter in der Pflegeausbildung sowie Pflegefachkråfte, die bereits im Beratungsbereich tåtig sind (Beratungsstellen, Pflegestçtzpunkte, Case Management etc.). Noch ein letzter Hinweis: In diesem Buch wird durchgehend der Begriff des Angehærigen verwendet. Damit sind nicht nur Familienmitglieder gemeint, sondern ausdrçcklich alle Personen, die sich ehrenamtlich um einen Pflegebedçrftigen kçmmern. Das kænnen auch enge Freunde, Bekannte, Nachbarn und Mitglieder eines freiwilligen Helferinnenkreises sein1.

1

In dem Buch wurde aufgrund der besseren Lesbarkeit håufig die maskuline Form gewåhlt. Hiermit ist jeweils immer auch die feminine Form mit eingeschlossen.

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

10

11

1 Situation pflegender AngehoÈriger

1

Situation pflegender AngehoÈriger

Zum besseren Verståndnis der Probleme pflegender Angehæriger soll in diesem ersten Kapitel ein kurzer Einblick in ihre Lebens- und Belastungssituation gegeben werden. Zugleich wird aufgezeigt, in welchen Bereichen Angehærige am dringendsten einer Unterstçtzung bedçrfen.

1.1

Pflege in der Familie PflegebeduÈrftige Menschen in Deutschland

Mehr als zwei Drittel der Pflegebedçrftigen (68 % bzw. 1,54 Millionen) werden zu Hause versorgt; ca. 700.000 Personen leben im Alter in Heimen. Von den håuslich Versorgten erhalten wiederum mehr als eine Million ausschlieûlich Pflegegeld, d. h. sie werden in der Regel allein durch Angehærige oder sonstige Pflegepersonen versorgt und betreut. 500.000 Pflegebedçrftige werden durch ambulante Pflegedienste unterstçtzt, aber auch hier ist es in vielen Fållen die Familie, die den Groûteil der Versorgung leistet. Hervorgerufen wird die Pflegebedçrftigkeit oftmals durch chronisch-degenerative Erkrankungen; viele der Betroffenen sind mehrfach erkrankt (Multimorbiditåt). Langjåhrige Krankheitsverlåufe sind keine Seltenheit, mit entsprechenden Konsequenzen fçr die Versorgungsgestaltung und das Leben der gesamten Familie (Schaeffer 2006). Der Hilfebedarf gestaltet sich håufig sehr umfangreich und umfasst die Hilfe bei der Haushaltsfçhrung, kærperbezogene Unterstçtzung und spezielle pflegerische Maûnahmen, Begleitung zu Arztbesuchen, Ermæglichung sozialer Kontakte, emotionale Unterstçtzung sowie ± im Falle kognitiver Beeintråchtigung ± eine mitunter permanente Beaufsichtigung.

Pflege zu Hause und im Heim

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

In Deutschland gelten 2,25 Millionen Menschen als pflegebedçrftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (Statistisches Bundesamt 2008). Seit 1999 ist aufgrund der demografischen Entwicklung ihre Zahl um rund 250.000 Personen angestiegen und die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft wird mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu fçhren, dass sich die Zahl der Pflegebedçrftigen in den kommenden Jahren weiter erhæht. Der weitaus græûte Teil der Pflegebedçrftigen sind åltere Menschen: 83 % von ihnen sind 65 Jahre und ålter, 35 % sind 85 Jahre und ålter. In der Gruppe der ab 90-Jåhrigen sind 62 % der Personen pflegebedçrftig (ebd.). Daran wird sichtbar, dass mit zunehmendem Alter das Risiko, pflegebedçrftig zu werden, steigt.

12

1 Situation pflegender AngehoÈriger StabilitaÈt haÈuslicher Pflegearrangements

Tab. 1: PflegebeduÈrftigkeit und Versorgungsform im Zeitvergleich (Statistisches Bundesamt 2008)

Die Pflegebereitschaft von Familien zeigt sich seit etlichen Jahren ungebrochen hoch. Betrachtet man die nachfolgende Tabelle, wird ein eindeutiger Trend zur professionellen Pflege in Pflegeheimen oder durch ambulante Pflegedienste nicht erkennbar: 1999 Pflegebedçrftige insgesamt

2001

2003

2005

2007

2.016.091 2.039.780 2.076.935 2.128.550 2.246.829

Zu Hause versorgt 1.442.880 1.435.415 1.436.646 1.451.968 1.537.518 allein durch Angehærige

1.027.591 1.000.736

986.520

980.425 1.033.286

durch ambulante Pflegedienste

415.289

434.679

450.126

471.543

504.232

Pflegebedçrftige in Heimen

573.211

604.365

640.289

676.582

709.311

Hauptpflegeperson

Im Durchschnitt sind in den Familien zwei Personen an der Betreuung eines Pflegebedçrftigen beteiligt, in mehr als einem Drittel der Fålle ist es sogar nur eine Person (Schneekloth/Leven 2003). Hierin spiegelt sich die soziale Verånderung unserer Gesellschaft: Immer kleiner werdende Familien und die råumliche Trennung der Generationen fçhren dazu, dass die ¹Last der Pflege`` sich auf eine Hauptpflegeperson konzentriert. Die Hauptpflegeperson gehært in aller Regel zum engeren Kern der Familie (Schneekloth/Leven 2003). Bei verheirateten Pflegebedçrftigen pflegt håufig der Ehepartner, bei verwitweten die Tochter oder der Sohn, bei pflegebedçrftigen Kindern ist es die Mutter, die sich fçr das Pflegegeschehen zuståndig zeigt. In etwa drei Viertel aller Fålle ist die Hauptpflegeperson weiblich. Allerdings nimmt der Anteil der Månner zu; er stieg im Zeitraum von 1991 bis 2007 von 17 % auf nunmehr 27 %. Mehr als 60 % der pflegenden Angehærigen sind ålter als 55 Jahre. Damit pflegt gar nicht mehr unbedingt die so genannte ¹SandwichGeneration``, also jene, die sowohl noch eigene, jçngere Kinder als auch die Eltern zu versorgen hat. Vielmehr findet Pflege hauptsåch-

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

Diese nçchternen Zahlen entkråften das hartnåckige Vorurteil, pflegebedçrftige Menschen wçrden håufig in ein Heim ¹abgeschoben``. Sie zeigen vielmehr, dass die meisten Pflegebedçrftigen so lange wie mæglich in der Familie versorgt werden und die håuslichen Pflegearrangements auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels bemerkenswert stabil sind. Inwieweit sie als Beleg fçr den Erfolg gesundheitspolitischer Maûnahmen im Sinne des Grundsatzes ¹Ambulant vor stationår`` gewertet werden kænnen, muss allerdings dahin gestellt bleiben, denn es ist weniger das Angebot an ambulanten Dienstleistungsstrukturen, welches den Verbleib Pflegebedçrftiger in der håuslichen Umgebung sichert, sondern die beeindruckend hohe Pflegebereitschaft von Familien.

13

1.2 Belastungserleben pflegender AngehoÈriger

lich innerhalb der ålteren Generation statt. Es sind in erster Linie Menschen in der ¹dritten Lebensphase``, die jene in der ¹vierten Lebensphase`` pflegen (Schneekloth 2006, S. 408). Dementsprechend steht der græûte Teil der pflegenden Angehærigen nicht (mehr) im Erwerbsleben. Allerdings sind es immerhin noch 40 % der Hauptpflegepersonen, die einer Berufståtigkeit nachgehen und damit einer Mehrfachbelastung von Arbeit, Familie, Haushalt und Pflege unterliegen. Die Ûbernahme der Pflege wird håufig als Selbstverståndlichkeit betrachtet. Zentrale Motive sind Liebe und Zuneigung zum Pflegebedçrftigen, Pflichtgefçhl sowie der Wunsch, etwas zurçckgeben zu wollen (Buijssen 1997). Eine Rolle kænnen aber auch die Erwartungen anderer spielen, sowohl die des Pflegebedçrftigen selbst als auch der çbrigen Familienmitglieder oder Nachbarn. Nur selten wird der Entschluss zur Pflege bewusst gefållt, insbesondere wenn Pflegebedçrftigkeit sich schleichend entwickelt. Geht es zunåchst nur darum, håufiger als frçher nach dem Rechten zu sehen oder Einkåufe zu erledigen, entwickelt sich allmåhlich ein immer umfassenderer Hilfebedarf bis hin zur Unterstçtzung beim Waschen, Anziehen oder Toilettengången. Aber auch bei plætzlicher Pflegebedçrftigkeit, z. B. bedingt durch einen Schlaganfall, ist die Ûbernahme der Pflege oftmals keine bewusste Entscheidung, vielmehr werden Angehærige mit der neuen Aufgabe færmlich çberrumpelt. Unter Umstånden liegt in dieser fehlenden Entscheidungsfreiheit bereits ein gewichtiger Faktor fçr die Schwere der empfundenen Belastung durch die Pflege.

1.2

Pflege als SelbstverstaÈndlichkeit

Belastungserleben pflegender AngehoÈriger

Zahlreiche Untersuchungen zur Situation von Pflegepersonen zeigen auf, dass es sich bei den pflegenden Angehærigen um eine vulnerable Personengruppe handelt, die vielfåltigen Belastungen ausgesetzt ist (u. a. Halsig 1998; Schneekloth/Mçller 2000). Zu den hauptsåchlichen Belastungsfaktoren gehæren:

.

zeitliche Belastung Die Versorgung eines Pflegebedçrftigkeiten ist håufig ein FullTime-Job: Durchschnittlich 36,6 Stunden pro Woche werden fçr Hilfe, Pflege und Betreuung aufgewendet (Schneekloth/Leven 2003). Weit mehr als die Hålfte der pflegenden Angehærigen stehen im Prinzip tåglich rund um die Uhr zur Verfçgung. Øuûerst belastend ist es, wenn regelmåûig die Nachtruhe gestært wird und keine Zeit fçr eine nachhaltige Regeneration zur Verfçgung steht. gesundheitliche Belastung Da ± wie bereits angesprochen ± ein Groûteil der Hauptpflegepersonen 55 Jahre und ålter ist, liegen in vielen Fållen bereits eigene gesundheitliche Beschwerden vor. Pflegebedingt kommen

Belastungsfaktoren © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

.

14

1 Situation pflegender AngehoÈriger

. .

83 % der Hauptpflegepersonen empfinden die Belastungen der Pflege als eher stark bis sehr stark (Schneekloth/Leven 2003). Als besonders hoch wird die Belastung empfunden, wenn es sich bei dem zu Pflegenden um einen demenziell erkrankten Menschen handelt (u. a. Adler et al. 1996; Gråûel 1998; Schaeffer 2001). Hierin zeigt sich, dass pflegende Angehærige keineswegs eine homogene Gruppe mit gleich empfundener Belastung und åhnlichen Unterstçtzungserfordernissen bilden. Die Erkenntnisse legen vielmehr nahe, ein differenziertes Bild dieser Zielgruppe zu entwickeln und Unterkategorien zu bilden, die sich z. B. auf das Verwandtschaftsverhåltnis zwischen der pflegenden und der pflegebedçrftigen Person oder die Art der gesundheitlichen Beeintråchtigung des Pflegebedçrftigen beziehen (Jansen 1999). So haben beispielsweise Eltern, die ein behindertes Kind pflegen, andere Belastungen und Unterstçtzungsbedçrfnisse als ein Ehemann mittleren Alters, der sich um seine schwer krebskranke Ehefrau kçmmert oder eine Tochter, die ihren demenzkranken Vater versorgt.

1.3

Notwendigkeit der UnterstuÈtzung pflegender AngehoÈriger

Trotz der vielfåltigen Belastungen kann insgesamt von einer hohen Bereitschaft der Familien ausgegangen werden, sich um ihre pflegebedçrftigen Mitglieder zu kçmmern. Sowohl die Angehærigen als auch die Pflegebedçrftigen selbst bevorzugen den Verbleib in der håuslichen Umgebung (Schneekloth/Leven 2003). Allerdings kann die Versorgung eines pflegebedçrftigen Menschen auf Dauer nur durch ein tragfåhiges und belastbares Familiensystem geleistet werden. Die Unterstçtzung pflegender Angehæriger ist notwendig, um:

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

Verschiedene Gruppen pflegender AngehoÈriger

u. U. physische und psychische Beschwerden wie Rçckenschmerzen, Herz- und Magenbeschwerden, Schlafstærungen, Erschæpfung, Gereiztheit oder Unzufriedenheit hinzu. emotionale Belastung Schwer zu ertragen sind oftmals Verånderungen der Persænlichkeit des Pflegebedçrftigen, wenn aufgrund einer demenziellen Erkrankung die geistigen Fåhigkeiten zunehmend beeintråchtigt sind. Belastend sind auûerdem Erfahrungen bei unausweichlich sich verschlechternden Krankheitszustånden, die Gefçhle der Hilflosigkeit und Trauer auslæsen. soziale Belastung Pflegende Angehærige haben oftmals wenig bis gar keine Zeit, um soziale Kontakte zu pflegen, Hobbys aktiv auszuçben oder gar Urlaub zu machen. Spontane Besuche bei Freunden sind nicht mehr mæglich. Einladungen kænnen nicht wahrgenommen werden, wenn niemand anderes zur Verfçgung steht, der sich in dieser Zeit um den Pflegebedçrftigen kçmmert. Soziale Isolierung und Spannungen im Familienleben kænnen die Folge sein.

. .. . .

15

1.4 UnterstuÈtzungsbedarf pflegender AngehoÈriger

die eigene Gesundheit und die Lebensqualitåt der Angehærigen zu erhalten, familiale Pflegebereitschaft zu erhalten und zu færdern, Autonomie und Selbstbestimmung von Familien zu stårken, Eigenverantwortung der Familie im Umgang mit Krankheit und Pflegebedçrftigkeit zu færdern, eine bedarfs- und bedçrfnisgerechte Versorgung der Pflegebedçrftigen sicherzustellen und ihre Lebensqualitåt zu erhalten.

Auch ækonomische Grçnde spielen eine Rolle: Pflege in der Familie ist fast immer kostengçnstiger als in einer stationåren Pflegeeinrichtung, wo die Kosten fçr Pflege und Unterbringung im bundesdeutschen Durchschnitt bei 2.770 Euro liegen (Statistisches Bundesamt 2008). Volkswirtschaftlich betrachtet macht es also durchaus Sinn, Angehærige zu stçtzen und zu stårken, um den Verbleib von Pflegebedçrftigen so lange wie mæglich in der Familie sicher zu stellen. Und noch ein weiterer Grund spricht fçr die Unterstçtzung pflegender Angehæriger: Die demografische Entwicklung mit der abnehmenden Zahl junger Menschen wird auch Auswirkungen auf die Beschåftigten in der Pflege haben. Professionelle Pflegefachkråfte werden in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr in hinreichender Anzahl zur Verfçgung stehen. Bereits jetzt gestaltet sich beispielsweise die Personalgewinnung fçr stationåre Pflegeeinrichtungen schwierig, da die Zahl und Qualifikation der Bewerber abnimmt (Weidner et al. 2003). Ausbildungseinrichtungen der Alten- und Krankenpflege vermelden einen Rçckgang der Ausbildungszahlen. Bei gleichzeitiger Zunahme der Pflegebedçrftigen zeichnet sich eine prekåre Entwicklung ab, die mehr denn je den Erhalt des Pflegepotenzials in der Familie erforderlich macht.

UnterstuÈtzungsbedarf pflegender AngehoÈriger

Trotz des erheblichen Belastungspotenzials der håuslichen Pflege nimmt bislang nur ein kleiner Teil der pflegenden Angehærige professionelle Hilfe in Anspruch: Lediglich ein knappes Drittel der Familien nutzen die Unterstçtzung durch ambulante Pflegedienste in Form von Pflegesachleistungen oder Kombinationsleistungen. Leistungen der Tagespflege oder Kurzzeitpflege werden ebenfalls nur in geringem Ausmaû angenommen, und gerade einmal 16 % der Hauptpflegepersonen besuchen einen Pflegekurs (Schneekloth/Leven 2003). Der Nichtinanspruchnahme von Hilfen liegen verschiedene Ursachen zugrunde, wie Kostengrçnde, Informationsdefizite oder Unzufriedenheit mit der Qualitåt von Leistungen (Mestheneos/Triantafillou 2005). Einer der wesentlichen Grçnde kann darin gesehen werden, dass das vorhandene Angebot nicht der Hilfe entspricht, die Angehærige eigentlich benætigen oder erwarten. Immer noch

Inanspruchnahme von Hilfen

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

1.4

RuÈckgang der professionellen Pflege

16

1 Situation pflegender AngehoÈriger

steht bei vielen professionellen Akteuren der Pflegebedçrftige im Mittelpunkt, wåhrend die Bedçrfnisse und Wçnsche der Familien kaum wahrgenommen oder berçcksichtigt werden (Zeman 1997; Bçscher 2007). Externe Hilfe kann in den Augen von Angehærigen sogar eine zusåtzliche Belastung darstellen, wenn beispielsweise die eingespielte Tagesroutine gestært wird oder Verånderungen der Wohnumgebung die Folge sind. Pflegende Angehærige nehmen Hilfe nur an, wenn sie ihnen eine echte Entlastung im Pflegealltag bringt. Ist dies nicht der Fall, werden sie versuchen, die ¹Stærung`` ihres Alltags durch professionelle Helfer so gering wie mæglich zu halten. Merke: Gleichwohl wçnschen sich pflegende Angehærige Unterstçtzung. In einem von der Europåischen Union gefærderten Projekt zur Untersuchung der Situation pflegender Angehæriger in sechs europåischen Låndern (EUROFAMCARE) wurde deutlich, welche Unterstçtzung Angehærige vordringlich benætigen:

.. .

Entlastung und Erholung, Information, Beratung und Training pflegerischer Fertigkeiten sowie Mæglichkeiten der Aussprache

(Mestheneos/Triantafillou 2005).

Will man das familiale Pflegepotenzial erhalten, mçssen die Wçnsche der pflegenden Angehærigen verstårkt Berçcksichtigung finden. Dringend erforderlich sind der Ausbau von Beratungs-, Qualifizierungs- und Unterstçtzungsangeboten, gekoppelt mit der Ermutigung von Familien, Hilfen anzunehmen. Hier kann die professionelle Pflege mit ihrem unmittelbaren und intensiven Kontakt zu Pflegebedçrftigen und ihren Familien eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehært jedoch zuallererst ein verstårktes Bewusstsein fçr die Bedeutung einer familienorientierten Pflege ± sowohl im ambulanten als auch im stationåren Bereich (Gehring et al. 2001). Familienorientierte Pflege bedeutet,

.. . .

pflegende Angehærige wertzuschåtzen, sie als Partner im Pflegegeschehen zu begreifen, ihre eigenen Wçnsche und Bedçrfnisse zu erfassen und sie mit in den Pflegeprozess zu integrieren, sie als Experten ihrer Lebenssituation zu akzeptieren und zu respektieren.

Familienorientierte Pflege bedeutet auch, Familien bei der Bewåltigung von Krankheit und Pflegebedçrftigkeit zu unterstçtzen und ± im Sinne von Primårpråvention ± zum Erhalt und zur Færderung der Gesundheit pflegender Angehæriger beizutragen.

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

Bedeutung der professionellen Pflege

1.4 UnterstuÈtzungsbedarf pflegender AngehoÈriger

17

© 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart

Zusammenfassung Trotz aller gesellschaftlichen und sozialen Verånderungen wird immer noch der weit çberwiegende Teil pflegebedçrftiger Personen zu Hause durch die Familie betreut. Die Versorgung eines Pflegebedçrftigen stellt håufig eine groûe Herausforderung fçr die Angehærigen dar, insbesondere wenn die Last der Pflege auf einer einzigen Person ruht und diese sich ebenfalls im hæheren Lebensalter befindet. Und dennoch: Viele Familien sind bereit, sich um ihre hilfe- und pflegebedçrftigen Mitglieder zu kçmmern. Sie wollen dies nicht nur zu Hause, sondern auch, wenn der Pflegebedçrftige sich im Krankenhaus befindet oder in ein Altenheim çbergesiedelt ist. Sie darin zu unterstçtzen, ist jetzt und zukçnftig eine der vordringlichsten Aufgaben der professionellen Pflege in nahezu allen pflegerischen Settings.