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Modul 1 Textarten 9 Textarten 5 Textarten 5.1 Arbeitsschritte und -aufträge 5.1.1 Arbeitsschritt 1; Arbeitsmaterial M 1 1. Erläutern Sie, na...
Author: Carin Hofer
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Modul 1 Textarten

9

Textarten

5

Textarten

5.1

Arbeitsschritte und -aufträge

5.1.1

Arbeitsschritt 1; Arbeitsmaterial M 1 1.

Erläutern Sie, nach welchen Kriterien die Auswahl einiger prominenter SZLeser erfolgt sein könnte.

2.

Beschreiben und erläutern Sie das jeweilige Interesse an der SZ bzw. die jeweilige Motivation der o.g. Prominenten die SZ zu lesen. • • •

3.

5.1.2

Warum wird die SZ gern gelesen? Was wird gern in der SZ gelesen? Wie gern wird die SZ gelesen? Welchen Platz/Stellenwert nimmt die SZ im Lebensalltag der aufgeführten Personen ein? Befragen Sie Mitschüler/innen, Freunde, Eltern, wie oft sie im Laufe eines Tages/einer Woche eine Zeitung in die Hand nehmen und zu welchem Zweck.

Arbeitsschritt 2; Orientierung bekommen Wenn Schülerinnen/Schüler das erste Mal eine Ausgabe der SZ in den Händen halten, fühlen sie sich von Umfang und Gewicht möglicherweise überfordert: „Und das soll ich jetzt jeden Tag lesen?!“ Auf diese Situation können Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden. Eine wichtige Orientierungshilfe gibt die Kenntnis von Textarten. Um nicht gleich mit der „Tür ins Haus zu fallen“ und die Merkmale journalistischer Darstellungsformen zu konjugieren, dient die folgende Analogie „Straßenwesen“. Nach dieser Übung zur Einstimmung kann das Vorwissen der Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Textarten abgerufen werden und einer ersten Systematisierung zugeführt werden.

5.1.3

5.1.4

5.1.5

Arbeitsaufträge zur Einstimmung 1.

Autobahnen – Bundesstraßen – Landstraßen – Kreisstraßen – Grüne Planwege – Baustellen – Straße in Planung Beschreiben Sie, welche Vorstellung Sie in Bezug auf die genannten Arten von Straßen haben.

2.

Erläutern Sie, warum es erforderlich ist, in einem Straßenatlas diese Straßenarten zu unterscheiden.

Arbeitsschritt 3; Arbeitsmaterial M 2 1.

Arbeiten Sie die Kernaussage heraus.

2.

Erläutern Sie an einem selbstgewählten Beispiel, welche Orientierungshilfe durch die Kenntnis von Textarten entsteht.

Arbeitsschritt 4; Arbeitsmaterial M 3 und M 4 1.

Halten Sie nach Zahl und Art fest, welche Texte Sie im Laufe einer Woche/eines Tages lesen.

2.

Im Folgenden sind häufig gebrauchte Textarten aufgeführt. Vergleichen Sie diese Aufzählung mit dem Ergebnis Ihrer Untersuchung.

3.

Versuchen Sie, die aufgeführten bzw. die von Ihnen gesammelten Textarten in Gruppen zusammenzufassen. Nach welchen Kriterien könnten Sie diese ordnen? (vgl. Arbeitsmaterial 4)

10

Textarten

5.1.6

Arbeitsschritt 5; Arbeitsmaterial M 5 Die vier Texte sind so gestaltet, dass sie auf den Leser ganz unterschiedlich wirken. 1. Erläutern Sie die Wirkung der einzelnen Texte auf Sie. Halten Sie Ihre Eindrücke in Stichworten zu den einzelnen Texten schriftlich fest. 2. Untersuchen und erläutern Sie, auf welche sprachlichen und inhaltlichen Gestaltungsmittel diese Wirkungsunterschiede zurückzuführen sind. 3. Erläutern Sie Ihren Zugewinn an Textartenkompetenz durch diese erste praktische Analyse. 4. Verfassen Sie zu einer Nachricht, die Sie aus der Süddeutschen Zeitung ausgewählt haben, einen „menschlichen“ und einen „angstmachenden“ Beitrag. 5. Erläutern Sie Ihren Zugewinn an Textartenkompetenz durch diese ersten Textproduktionen.

11

Textarten

01

Material 1: Prominente Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung (SZ) – Eine Auswahl

M1

„Als Leser, der nicht nur aus Pflicht, sondern mit neugierigem Interesse zur Süddeutschen greift, gibt es für mich täglich nicht nur eine, sondern eigentlich mehrere Süddeutsche Zeitungen in einem Mantel, unter dem sich Stoffe unterschiedlicher Farbe und Zuschnitte befinden.“ Edmund Stoiber, Ministerpräsident „Daß mir die SZ an meinem Urlaubsort in Frankreich täglich 10 Francs wert ist, sagt eigentlich alles. Sie erscheint mir als tägliche Lektüre (fast) unverzichtbar.“ Klaus Doldinger, Jazzmusiker „Ich fasse morgens auf dem Flughafen meistens ins Leere, weil das Fach mit der Süddeutschen schon ausgeräumt ist. Notgedrungen muß ich mir dann eine kaufen.“ Manfred Krug, Schauspieler „Mich überzeugen Eure politische Grundeinstellung, Euer Schreibstil und die genialen Verrisse über Berti Vogts.“ Campino, Rockmusiker „Liebe SZ, ich habe Dich sehr gern, wenn Du weiterhin in Deinem sehr schönen Feuilleton so kluge Kritiken bringst.“ Leander Haussmann, Regisseur „Ich lese die SZ, weil sie mir den Eindruck großer Seriosität vermittelt. Den Sportteil schätze ich besonders wegen seiner Unabhängigkeit, Objektivität und seines Weitblicks.“ Jürgen Klinsmann, Ex-Fußballer „Eine gute Zeitung ist wie ein Zuhause. Wenn sie ausbleibt, fehlt einem am Morgen der Kick in den Tag. Ich ziehe mir aus der SZ immer als erstes das Feuilleton und genieße als extra Bonbon jeden Donnerstag die grandiose Filmseite.“ Caroline Link, Filmregisseurin aus: SZ-intern, 1998, S. 4

12

Textarten

02

Material 2: Textartenkompetenz

M2

„Es war einmal ein alter...“ Woran haben Sie erkannt, um welche Textart es sich handelt? In diesem Text ist bereits die Eingangsformel ,,es war einmal“ aufschlussreich für den Leser. Sie gehört zu jenen Textmerkmalen, die ihn dazu veranlassen, eine vorläufige Bestimmung der Textart vorzunehmen und dem Text gegenüber eine bestimmte Lesehaltung einzunehmen, d.h. den Text mit der Erwartungshaltung zu lesen: „Dies ist ein Märchen“. Ähnlich ist z. B. bei Gedichten schon die Druckanordnung, bei Werbeanzeigen schon das Layout, die typografische Gestaltung auf den ersten Blick von Mitteilungswert für den Leser. Man lernt, einen persönlichen Brief anders zu schreiben als einen Zeitungsartikel oder eine Eingabe an die Stadtverwaltung; man lernt, Werbung anders aufzunehmen als eine Nachricht oder ein Gesetz. Die Einteilung von Textarten ist kein Selbstzweck, sondern Hilfe zur Orientierung in Lebenssituationen. Die Gewohnheit, sich an erlernten Mustern zu orientieren, ist von ökonomischer Funktion für das Verstehen und Verfassen von Texten; sie erleichtert die Wahl der sprachlichen Mittel und bedeutet bei der Aufnahme von Texten eine Entlastung. Textartenkompetenz hat den Sinn, dem Adressaten die Einschätzung zu erleichtern, was ein Text bestimmter Art von ihm will, und dem Verfasser die Wahl der sprachlichen Mittel zu erleichtern, damit sein Text den ihm zugedachten Verwendungszweck erfüllt. Damit der Empfänger einem Text nicht ausgeliefert ist, damit er ihm mit der „richtigen“ Einstellung begegnet, muss er möglichst zu erfassen suchen, was ein Text bestimmter Art von ihm will. Entlehnt aus: Heinz König, Gustav Muthmann (Hrsg.): Wort und Sinn. Arbeitsbücher Deutsch. Sekundarstufe II. Paderborn. 1980, S. 119-134

03

Material 3 — Textarten

M3

Abkommen, Aktennotiz, Anleitung, Anekdote, Anordnung, Antrag, Anzeige, Aufruf (Appell), Autobiographie, Ballade, Begriffserklärung, Bekanntmachung, Bericht, Beschreibung, Beschwerde, Bewerbung, Bildtext, Biographie, Brief, Buchbesprechung (Rezension), Bulletin, Charakteristik, Erzählung, Einladung, E-Mail, Erörterung, Ereigniskommentar, Essay, Fabel, Fahndung, Feature, Flugblatt, Formblatt, Fundmeldung, Gebet, Gebrauchsanweisung, Gegenstandsbeschreibung, Gesetzestext, Geschäftsbrief, Geschäftsbericht, Gespräch, Glosse, Gutachten, Historische Darstellung, Inhaltsangabe, Inserat, Interview, Katalogtext, Kommentar, Kommunique, Kurzgeschichte, Kritik, Lebenslauf, Leserbrief, Leitartikel, Lexikonartikel, Lobrede, Memoiren, Nachricht, Notiz, Parabel, Parteiprogramm, Polemik, Porträt, Predigt, Protokoll, Rede, Reklame, Reportage, Roman, Rundfunknachricht, Sachbericht, Sachbuchtext, Satzung, Schilderung, Sonett, Statement, Tagebuch, Telefonat, Vertragstext, Waschzettel (Klappentext), Werbetext, Wetterbericht ...

13

Textarten

04

Material 4: Schaubild (Bühlersches Organonmodell als Lösungsansatz für Arbeitsschritt 4)

M4

Aus: Heinrich Biermann, Bernd Schurf (Hrsg.): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe, 1999 Cornelsen Verlag Berlin, S. 482

14

Textarten

05

Material 5: Hans Schulte-Willekes: Ein Ereignis – vier Texte

M5

„Nachrichtlich“ „In der Nacht zum Freitag stießen bei Nebel auf der Nordsee zwei Tanker zusammen. Das eine Schiff fing Feuer, ein Matrose verbrannte. Aus dem anderen Tanker liefen zehn Tonnen Altöl aus.“

„Menschlich“ „Gestern Nacht kam bei einer Tankerkollision auf der Nordsee (zehn Tonnen Altöl flossen dabei ins Meer) der Matrose Frank Z. (28) grausam ums Leben. Der Matrose hatte an der Reling gestanden, als sich die Schiffe im Nebel rammten. Der blonde Junggeselle aus Cuxhaven wurde gegen die Kajütenwand geschmettert und brach sich die Beckenknochen. Dann auch noch Feuer in einem Tank. In der Panik hörte niemand die verzweifelten Hilferufe des Matrosen. Rettungsmannschaften fanden ihn erstickt auf. Frank Z. wollte in Hamburg für immer von Bord gehen, um seine Braut Manuela L. (22) zu heiraten.“

„Angstmachend“ „Nach einer schrecklichen Tankerkatastrophe auf der Nordsee, bei der ein Matrose den Tod fand, wälzt sich seit gestern Nacht schmutziger, stinkender Ölschlamm auf die nordfriesische Küste zu. Tausende Liter Altöl sind bei der Kollision ins Meer geflossen. An der Küste ist Öl-Alarm gegeben worden. Viele Urlauber sind schon aus den Seebädern abgereist.“

„Reportagehaft“ „Als Tankerkapitän Hans Petersen gestern Nacht um 23.17 Uhr den grauen Schatten im Nebel sah, war es schon zu spät. Krachend und splitternd bohrten sich zwei Schiffsriesen auf der Nordsee ineinander. Feuer brach aus. Für den Matrosen Frank Z. (28) gab es keine Rettung mehr. Eine Stunde später: Öl-Alarm an der ganzen Nordseeküste...“ Aus: Schlagzeile. Ein Zeitungsreporter berichtet. Reinbek: Rowohlt 1977

15

Textarten

5.2

Reportage: „Die Seite Drei“

5.2.1

Arbeitsvorschläge für „Die Seite Drei“ Die Lehrkräftehandreichung lässt mehrere Herangehensweisen zu, gerade auch weil sie miteinander kombinierbar sind. In aufsteigender Reihe nehmen Dauer und Intensität der Bearbeitung zu. Quantitative, komparative Analyse

Zugriff A, B

Textsorten – Analyse I

Zugriff C

Inhaltliche Analyse je nach fachlichem Zugriff: Deutsch, Geschichte, Politik, Religion ...

Zugriff D

Textanalyse (Rhetorische Stilmittel: Lexik, Komposition, Syntax)

Zugriff E

Zugriff A (für Sachfächer wie z.B. Politik)

Zugriff B (für Sachfächer wie z.B. Politik)

Zugriff C (insbesondere für das Fach Deutsch)

Material 1: Untersuchen Sie die Beiträge unter der Rubrik „Die Seite Drei“ in Bezug auf folgende Aspekte: Themenvielfalt, Themenschwerpunkte, Themenkonzentration, Autorenschaft, Intention, Haltung.

Material 1: Stellen Sie für 2 bis 3 Wochen der laufenden Projektphase in einer Übersicht die Beiträge unter der Rubrik „Die Seite Drei“ zusammen.

Material 1: Wählen Sie drei inhaltlich unterschiedliche Beiträge aus, die unter der Rubrik „Die Seite Drei“ veröffentlicht wurden.

Untersuchen Sie die Beiträge auf folgende Aspekte: Themenvielfalt, Themenschwerpunkte, Themenkonzentration, Autorenschaft, Intention, Haltung.

Untersuchen Sie, inwiefern man bei allen drei Beiträgen von einer gemeinsamen Textsorte sprechen kann (vgl. Material 3). Erläutern Sie funktionale Zusammenhänge zwischen Text- und Bildmaterial.

Arbeiten Sie die typischen Gestaltungsmerkmale der Überschriften heraus.

Material 2: (Aufgabenstellung s.u.)

Material 2: (Aufgabenstellung s.u.)

Nehmen Sie zu folgender These begründet Stellung: „Die Seite Drei“ spiegelt stärker die Meinung der SZ-Redaktion wider als z.B. die Auswahl des Aufmachers für die Titelseite.

Nehmen Sie zu folgender These begründet Stellung: „Die Seite Drei“ trägt stärker die Handschrift der SZ-Redaktion als z.B. die Auswahl des Aufmachers für die Titelseite.

Material 2: (Aufgabenstellung s.u.) Nehmen Sie zu folgender These begründet Stellung: „Die Seite Drei“ trägt stärker die Handschrift der SZ-Redaktion als z.B. die Auswahl des Aufmachers für die Titelseite.

Aufgaben zu Material 2: Arbeiten Sie heraus, was Sie erfahren über Arbeitsinhalte, Arbeitsbedingungen und Arbeitsergebnisse einer SZ-Reporterin/eines SZ-Reporters. Schreiben Sie eine Charakteristik (Anforderungsprofil) für eine SZ-Reporterin/einen SZReporter: Über welche Fertigkeiten und Qualifikationen muss sie/er verfügen? Prüfen Sie, ob sich Ihre Auswertungen zu Material 1 im Inhalt von Material 2 widerspiegeln. Untersuchen Sie, ob der Text in Material 2 eine Reportage ist. 16

Textarten

5.2.2

Klausurvorschläge für Zugriffsweise C unter Arbeitsvorschlägen A: Materialvorlage: Reportage „Die Seite Drei“ B: Aufgabenvorschläge I

II

III

IV

Fassen Sie den Text in seinen Kernaussagen zusammen.

Aus redaktionellen Gründen müssen Sie den Textbeitrag von 6 auf 5 Spalten reduzieren. Begründen Sie, wo Sie Kürzungen vornehmen konnten.

Fassen Sie den Text in seinen Kernaussagen zusammen.

Fassen Sie den Text in seinen Kernaussagen zusammen.

Erläutern Sie, welche Intention die Autorin / der Autor verfolgt. Belegen Sie Ihre Aussagen am vorgelegten Material.

Vergleichen Sie die ursprüngliche Vollversion mit der von Ihnen hergestellten Kurzversion: Erläutern Sie, ob es Unterschiede in Bezug auf Solidität, Anschaulichkeit des Beitrags sowie Konturierung des Sachverhaltes gibt.

Erläutern Sie, welche Intention die Autorin / der Autor verfolgt. Belegen Sie Ihre Aussagen am vorgelegten Material.

Erläutern Sie, welche Intention die Autorin / der Autor verfolgt. Belegen Sie Ihre Aussagen am vorgelegten Material.

Prüfen Sie, ob es sich bei dem vorgelegten Text als Textsorte um eine Reportage handelt.

Erläutern Sie die Aufgabe / Funktion einer Journalistin / eines Journalisten beim Verfassen einer Reportage für „Die Seite Drei“ der Süddeutschen Zeitung.

Prüfen und erläutern Sie, ob das in der Materialvorlage zugeordnete Bildmaterial für den Textbeitrag sowie den jugendlichen Leser im Alter von 16 Jahren als Adressaten geeignet ist.

Prüfen und erläutern Sie, welches Bildmaterial aus den Ergänzungsmaterialien für den Textbeitrag geeignet(er) ist.

V Fassen Sie den Text in seinen Kernaussagen zusammen. Bestimmen Sie Intention und Haltung der Autorin / des Autors. Definition von Dieter Wagner (Material 3) Prüfen und erläutern Sie, ob die vorgelegte Reportage die vorgesehenen Funktionen für eine Reportage erfüllt.

+ Fotos zur Auswahl als Ergänzungsmaterial

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Textarten

5.2.3

M1

Ausgewählte Beispiele (Material 1: Übersicht) Nr.

Erscheinungsdatum 2002 30. April / 1. Mai

Autorin / Autor

Schlagzeile

Obertitel

Untertitel

Themenfeld

Herbert RiehlHeyse

Missverständnisse zwischen zwei Welten

4. / 5. Mai

Reymer Klüver

Sieben Gebote gegen den großen Knall

3

7. Mai

Hermann Unterstöger

Sprachlos mit vielen Worten

4

23. Mai

Jakob Augstein

Die Affäre Kutzner

5

5. Juni

Karin Steinberger

Das ewige Mantra der Ehre

6

13. Juni

Holger Gertz

Magisches Ballett mit dem Ball

7

19. Juni

Hans Leyendecker

Masche und Macht

50 Jahre Bild-Zeitung: „Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht“

Die Kritik der Deutschen an der Palästina-Politik Israels geht unter die Haut – unverhüllte Feindseligkeiten wecken schmerzhafte Erinnerungen Klassenrat, Streitschlichter, Runde Tische – warum sich Lehrer und Schüler in Mümmelmannsberg um mehr als nur kaputte Treppengeländer kümmern Er braucht kein politisches Programm und kein philosophisches System – der Münchner Kabarettist bewegt sich gerne im Unterholz des Banalen Sie seien intellektuell nicht in der Lage, ihre Töchter großzuziehen, befanden die Ämter. Der Streit hat die Eltern bis zu den Richtern in Straßburg geführt Die Menschen in den Straßen von Delhi reden von der nuklearen Bedrohung wie vom Wetter – und Warnungen aus dem Ausland empfinden viele als koloniale Arroganz Er streichelt das Leder wie Figo oder Zidane – Wie der Torschützenkönig aus der Pfalz den Deutschen wieder zu glanzvollen Momenten verhilft Betont einfach ist ihr Strickmuster, aber es hat sich millionenfach bewährt – was macht es da schon, wenn gelegentlich jemand fallen gelassen wird

Internationale Politik

2

Verstörende Begegnungen und Gespräche mit Juden in München: „Die Stimmung ist radikal gekippt“ Kinder und Konflikte – Lektionen an einer Hamburger Gesamtschule: „Das Klima ist anders hier“ „Preisgekrönter Experte bajuwarischer Lebens- und Wesenart“: Gerhard Polt feiert 60. Geburtstag Eine Familie kämpft um das Sorgerecht für ihre Kinder: „Eine Chance haben sie durch eine neue Beelterung.“ Noch nie stand Indien so nah am Rande eines atomaren Konflikts: „Madame, wir sind zu beschäftigt, um uns um den Krieg zu kümmern“ Miroslav Klose – Annäherung an ein Phänomen: „Sein Spiel ist doch fast wie Tanzen“

8

25. Juni

Reymer Klüver

Im Schatten der Selbstgerechtigkeit

Der frühere SS-Mann Friedrich Engel, angeklagt wegen Massenmordes: „Ich habe mich eher zu verstecken versucht“

1

„Henker von Genua“ wird er genannt, weil er den Tod von 59 Menschen angeordnet haben soll – aber er ist offenbar überzeugt, kein Verbrecher zu sein

Soziales Leben Gewalt(prävention) in Schulen Kultur

Soziales Leben / Familie / elterliches Sorgerecht / Europa Internationale Politik

Sport

Printmedien in Deutschland

Zeitgeschichte / Naziverbrechen / Versuch der Aufarbeitung

18

Textarten

9

26. Juni

Cathrin Kahlweit

Ein quälendes Geheimnis

10

27. Juni

Karin Steinberger

Lynchjustiz unter safrangelbem Banner

11

6. / 7. Juli

Evelyn Roll

Der Westfale mit der Löwennummer

12

9. Juli

Thorsten Schmitz

Ein Nein aus der stillen Reserve

13

11. Juli

Dagmar Deckstein

Ein Mann ist ein Mann ist eine Frau

14

12. Juli

Wolfgang Görl

Das Preisgeheimnis in der Eiskugel

Ein Leben als Analphabet und die ständige Angst vor der Entdeckung: „Wenn ich Buchstaben sehe, bin ich total blockiert“ Der Massenmord an Muslimen im westindischen Gujarat: „Wir haben hier nur ein großes Problem, und das sind die Politiker“ Der Aufstieg des PorscheChefs Wendelin Wiedeking zum erfolgreichen Automanager Verweigerer in der israelischen Armee: „Wir kämpfen nicht, um eine ganze Bevölkerung zu erniedrigen“ Das Geschlechts-Los in der Lotterie des Schicksals – die Transsexuelle Vera Freyberg blickt zurück: „Als Frau stehst du tiefer“ Kleine KonjunkturkrisenErforschung in Miltenberg am Main: „Hier in Deutschland sind alle krank vom Euro“

Schätzungsweise vier Millionen Deutsche können nicht lesen und nicht schreiben – und werden damit zum Proletariat der technischen Zivilisation

Bildung

Fanatische Hindus setzten mit ihrem Pogrom den Bundesstaat in Flammen – und könnten ihn damit in ein zweites Kaschmir verwandeln

Internationale Politik

Ein erprobter Sanierer, der vom Staat nichts geschenkt will, sieht sich durch die Vorschläge der Hartz-Kommission in seinen Konzepten bestätigt Warum die Regierung um das Image der Armee bangt – immer mehr Soldaten lieber ins Gefängnis gehen, als in den besetzten Gebieten zu dienen Am anderen Ufer des Lebensflusses stellt sich die Erkenntnis ein, dass der Graben zwischen Männlich und Weiblich gar nicht so tief ist, wie viele denken Im Modegeschäft und im Restaurant bleibt die Kundschaft aus, nur die Sparkasse hat Zulauf – den Deutschen ist die Lust am Geldausgeben vergangen

Wirtschaft

Internationale Politik

Soziales Leben / Toleranz / Geschlechterrollen

Wirtschaft

19

Textarten

5.2.4

Werkstatt-Beitrag M2

Lachsroter Anzug – mitten im Schlamassel Wenn die Weltgeschichte buchstäblich über sie hereinbricht, wird es für jene, die am Mythos „SZ – Reportage“ mitwirken, nicht selten lebensgefährlich, manchmal grotesk – ein Beitrag für Seite Drei ist es in jedem Fall Von Herbert Riehl-Heyse Seinen größten Erfolg feierte der Reporter Rudolph Chimelli – er sitzt heute für uns in Paris – am 5. Juni 1967. Er hatte, erinnert er sich, die Nacht in einem Hotel in Amman verbracht und gerade noch schwimmen gehen wollen vor dem Frühstück, da sei plötzlich ein Kellner bei ihm vorbeigekommen: „Please Sir“, habe der gesagt, „gehen Sie jetzt nicht schwimmen, der Krieg hat gerade angefangen.“ Dann geht alles wahnsinnig schnell, hektisch, aufregend: Aus Jordanien habe er kein Wort übermitteln können, also springt er ins Auto, fährt zurück nach Beirut, dreihundert Kilometer in abenteuerlicher Fahrt. Am Berg Hermon sieht er israelische Jagdbomber, am Rand von Damaskus ist Kanonendonner zu hören, im Radio gibt es arabische Siegesmeldungen über die Riesenverluste der Israeli. Kurz vor Schließung der Grenzen wird der Libanon erreicht, der Reporter rast weiter nach Beirut, wo er als erstes den Diplomaten eines befreundeten Landes trifft, der gute Geheimdienstkontakte hat. „Alles ist gelaufen“, sagt der. „Die Israeli haben in einem Erstschlag die arabischen Luftstreitkräfte vernichtet, die ägyptischen, die syrischen, die jordanischen.“ Sogar genaue Zahlen hat der Mann. Der Krieg ist entschieden, ohne daß die Welt es mitbekommen hat – jetzt hängt für Chimelli nur noch alles davon ab, ob er die sensationelle Meldung rechtzeitig vor Redaktionsschluß nach München durchbringen kann. Und wirklich, es klappt, mit letzter Kraft: Der Taxifahrer fährt wie um sein Leben zur Hauptpost, Chimelli lügt sich an der Zensur vorbei, die – Gott sei Dank! – kein Deutsch kann, „szmuenchen“ bestätigt fernschriftlich den Empfang. Freudensprünge des völlig erschöpften Reporters, der Kraftakt hat sich also doch gelohnt.

Agentur als Konkurrent Fast. Zehn Tage lang bekommt der Berichterstatter in Beirut keine Zeitung zu sehen; dann trifft die Ausgabe der SZ vom 6. Juni endlich ein. Sie teilt – der Reporter liest es erbleichend – dem Leser mit, daß die Araber große Siege errungen hätten,

während man von seiten der Israeli noch nichts habe erfahren können. Als er bei seinem nächsten Besuch in München wissen will, was um Himmels willen da passiert sei, hört er von der Redaktion: „Wir dachten, Sie würden die Lage nicht so überblicken. Haben deshalb lieber die Agenturmeldungen genommen.“ So ist es, das aufregende, nervenzerfetzende, immer erfüllende Leben des SZReporters und jedes anderen Reporters auf der Welt – so kann es jedenfalls in seinen schlimmsten Momenten sein. Zum Beispiel, weil folgende Regel gilt: Agenturberichte sind was Offizielles, die kommen sogar über Radio und Fernsehen, sind also irgendwie wahr, auch für den Redakteur zu Hause am Schreibtisch. Wir dagegen – wir sind eben nur wir, von uns kennt man alle Macken, uns haben die Kollegen Redakteure schon oft dabei zugesehen, wie wir in der Konferenz einem Kollegen den Vogel gezeigt oder uns sonst kindisch benommen haben. So wie wir sieht kein Reporter der Windrose aus und schon gar keiner des Satans, erfreulicherweise. Wir sind nur Reporter der Süddeutschen Zeitung, deren Verlag uns freundlicherweise gegen Unfälle versichert, unsere Spesen bezahlt und unser Gehalt, auch wenn er das alles natürlich nicht übertreiben kann. Einmal wollte einer unserer Kollegen, weil es im Libanon gerade drunter und drüber ging, für die Arbeit unter diesen Bedingungen Gefahrenzulage. Das hat ihm der damals zuständige Chefredakteur mit dem unschlagbaren Argument ausgeredet: „Die Gefahr wird doch nicht geringer, wenn ich Ihnen eine Zulage gebe.“ Diese Geschichte gehört für jeden SZReporter zum festen Erinnerungsschatz, genauso wie für jeden Redakteur der Seite 3, für welche – von Gernot Sittner bis Giovanni di Lorenzo, um nur mal zwei Eckpunkte zu nennen – wir unsere Reportagen schreiben, immer hoffend, daß wir den Ansprüchen der Damen und Herren genügen können. Erinnerungen dieser Art sind es, in denen wir kramen, wenn wir uns an den Lagerfeuern treffen und die alten Heldentaten ... Quatsch: Wenn wir, aus Anlaß eines Jubiläums mit ein paar

20

Textarten

Kollegen darüber reden, was wir uns denn so gemerkt haben aus all den Jahren.

Tage zum Heulen Jetzt aber erst mal eine seriöse Auskunft: Unser Beruf kann ja wirklich wunderbar, er kann aber auch gräßlich sein, wir haben alles erlebt in dieser Zeitung. Jeder von uns hat Tage gehabt, an denen er am liebsten seinen Presseausweis verbrannt und den Kugelschreiber weggeworfen hätte – angesichts des Elends, das er zu sehen bekam und über das er dann auch noch einen Artikel verfassen mußte, obwohl er am liebsten geheult hätte. Gerd Kröncke zum Beispiel, unser Mann in London, wird sich für immer an den Tag erinnern, an dem er im Victoria Hospital in Belfast – von den 3200 Opfern des irischen Bürgerkriegs sind allein 500 dort gestorben – das 13jährige Mädchen Joanna in seinem Bett liegen gesehen hat. Das Kind lag stumm da, hatte schreckliche Angst, daß man ihm ein Bein abnehmen würde, wollte ganz einfach nicht mehr reden; am Fußende des Bettes saßen aufgereiht ein paar Puppen und ein Teddybär. Die IRA hatte ein paar Tage zuvor einen Schulbus in die Luft gesprengt; es war ein Versehen gewesen, gewissermaßen nicht so gemeint. Manchmal sieht der Reporter die Katastrophen nur, manchmal betreffen sie ihn selbst. Der allerschwärzeste Tag unserer Zeitung war ganz gewiß der, an dem unser Kollege und Freund Egon Scotland in der Nähe von Zagreb (vermutlich von Cetniks) ermordet worden ist, als er einer Journalistin helfen wollte. Egon hatte in den ersten Monaten des Krieges im auseinanderbrechenden Jugoslawien einige der hellsichtigsten und einfühlsamsten Reportagen geschrieben, die damals zu diesem Thema in deutschen Zeitungen erschienen sind; dann kosteten ihn sein Mut und seine Leidenschaft das Leben. Andere Kollegen sind am Tod mehr als einmal vorbeigeschrammt, nicht weil sie solche Helden wären oder Hasardeure, sondern weil plötzlich die Weltgeschichte derart über sie hereinbrach, daß sie sich nur noch bücken konnten, buchstäblich: Carl Buchalla zum Beispiel, der wie kein anderer von uns sein Leben lang von einem Kriegsgebiet ins nächste geschleudert wurde, hat wochenlang in seiner Beiruter Wohnung direkt an der Grenze zwischen den Bürgerkriegsparteien gewohnt: 50 Meter neben ihm saßen auf dem Dach die Scharfschützen der Moslems, direkt gegenüber die der Gegner. Einmal fegten zwei MG-Kugeln in sein Bücherregal, über seinen Stuhl hinweg, an dem er soeben noch gesessen hatte. So interessant können die Geschichten, die in solchen

Tagen entstehen, gar nicht sein, daß sie die Todesangst rechtfertigten, die ihr Schreiber dafür ausgestanden hat. Viele Reporter können solche Geschichten erzählen, mehr oder weniger dramatische – und schön werden sie, wenn überhaupt, nur dadurch, daß man sie dann doch überstanden hat. Kurt Kisters Lieblingsgeschichte – er ist einer unserer erprobtesten Mitglieder der „weltweiten Bruderschaft der Kriegsberichterstatter“, wie er das formuliert – spielt am Schatt al Arab, im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran. Irgendwie waren die Reporter, wieder ein Versehen, an einen Frontabschnitt geraten, wo sie plötzlich in 300 Meter Entfernung von den persischen Stellungen lagen. „Der Schlamassel“, sagt er, „begann, als ein französisches Fernsehteam aus dem Graben geklettert war und munter mit der Kamera hinüber zu den Iranern schoß, die ihrerseits zurückzuschießen begannen – leider nicht mit Kameras, sondern zuerst mit MGs, dann mit Granatwerfern und wenig später mit Artillerie.“ Die nächste halbe Stunde muß man sich ziemlich dramatisch vorstellen, mit mannshohen Granat-Löchern in dem Graben, in dem die Reporter von einer Stelle zur anderen hechteten. Aber grotesk war sie auch: Mittendrin im Schlamassel befand sich nämlich ein Kollege („der hatte gedacht, wir würden uns nur in Bagdad aufhalten“) im lachsroten Anzug – ein prima Ziel abgebend für die persischen Scharfschützen. „Irgendwann kauerte er neben mir, guckte mich mit großen Augen an und fragte: Worauf schießen die denn? Auf uns, schlug ich vor“, erzählt Kister und fügt herzlos hinzu: Zur falschen Zeit am falschen Ort seien wir Reporter ja leider häufig. Aber nie wieder habe er jemanden gesehen, der zur falschen Zeit am falschen Ort so falsch angezogen gewesen sei wie jener Mensch im lachsroten Einreiher. Immerhin hatte der Lachsrote später zu Hause etwas zu erzählen, mehr als all die anderen, die immer große Staatsbesuchreisen mitmachen – aber, wenn sie ehrlich sind, nur erzählen können, daß im Flugzeug nach Tel Aviv einmal der Bundespräsident durch die Reihen gegangen sei und beinahe neben ihnen angehalten habe. Grundsätzlich gilt, von Ausnahmen abgesehen, die Regel: Je organisierter ein Ereignis, desto langweiliger ist es für den Reporter (dessen ganzer Ehrgeiz es dann sein muß, den armen Leser diese Langeweile nicht auch noch spüren zu lassen). Erinnern wird er sich selbst eher an die Überraschungen, die das Berufsleben manchmal bereithält.

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Textarten

Von Stefan Klein, unserem Mann in Asien und früher in Afrika, stammt die schöne Geschichte, die von dem Tag handelt, an dem er mit sieben Kollegen – vom Interview mit einem Rebellenführer kommend – auf einem Lastwagen durch die sudanesische Wüste fuhr, welche sich leider über Nacht durch eine mittlere Sintflut in ein Meer verwandelt hatte, in welchem der Wagen aber weder schwimmen noch fahren konnte, als mit einem Mal der Anlasser zu röcheln begann. Reporter Harden von der Washington Post hatte ein Zweimannzelt dabei, nebst Stecken zum Aufhängen der triefenden Kleider, Reporter Klein ein paar Beutel mit Pfefferminztee, ein dritter Kollege Spaghetti. Eine Nacht verging, ein Tag, noch eine Nacht, noch ein Tag – und mitten in der südsudanesischen Savanne hätte man die ganze Zeit über sieben nackte Reporter der Weltpresse sehen können, vor einem Zelt nebst Lagerfeuer, auf dem die Vertreter der Weltpresse Pfefferminztee aus abgekochtem Sumpfwasser tranken, das sie mittels einer Baumwollunterhose gefiltert hatten. Romantisch, schon klar – vor allem, weil irgendwann doch der Mechaniker von der Rebellenarmee kam und nach zwei Minuten den russischen Laster wieder in Gang brachte. Überhaupt freut es ja den Reporter wie jeden anderen Menschen am meisten, wenn er es irgendwie trotzdem geschafft hat. Kollege Axel Hacke zum Beispiel hat es trotzdem geschafft, an einem bestimmten Morgen, präzise am 18. März 1990, den ersten freien Wähler in der DDR zu interviewen, ganz wie man ihn beauftragt hatte. War um 3.30 Uhr aufgestanden, hatte sich zum „Feierabendheim Dr. Günther Hesser“ am Ostberliner Stadtrand begeben, wo das Wahllokal 027 A um fünf Uhr morgens seine Kabinen öffnen sollte. Alles war prima ausgedacht, alles funktionierte auch prima. Eine Blaskapelle war da und eine Warteschlange von Volkskammer-Wählern, an deren Spitze ein Herr mittleren Alters stand, jener erste eben, den nun gleich die fünf Journalisten interviewen wollten, deren Redaktionen die selbe schöne Idee gehabt hatten. Dann kompliziert sich die Sache ein wenig. Reporter Hacke bittet den Herrn um ein paar Auskünfte zu seiner Person, der aber antwortet wie folgt: „Wir stehen kurz vor der Einführung der Marktwirtschaft, also kostet jedes Wort von mir 20 Mark, spenden Sie das bitte für behinderte Kinder. Soviel Geld werden Ihre Medien doch aufbringen.“ Auf so etwas ist der Reporter nun doch nicht gefaßt, schon gar nicht, wenn er von

einer Tageszeitung kommt, die sehr enge Vorstellungen davon hat, wieviel Geld man Informanten (und wann überhaupt) bezahlen darf. Der Mann hat sich, nach langem Hin und Her, dann doch überzeugen lassen, auch weil Journalisten, wie Hacke sagt, „sehr ruppig sein können, besonders um fünf Uhr morgens“. Jemand erläutert dem Herrn, wenn er nicht bald zwei, drei Sätze sage, könne man gerne auch den zweiten aus der Schlange nehmen. Hacke: Daraufhin sahen wir uns in der Lage, der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, der erste freie Wähler der DDR sei ein lediger Physiker namens Dieter Fischer und beabsichtige im Anschluß an die Wahl seine Eltern im Süden der DDR zu besuchen, weshalb er nun ganz schnell weg müsse, um seine Bahn nicht zu versäumen. ... Ich verließ das Wahllokal 027 A gegen 6 Uhr 30 im Bewußtsein, etwas Unwiederholbares erlebt zu haben.“

Historische Momente Das ist ja überhaupt eine der Besonderheiten des Reporterlebens, um die uns manche Leute nicht immer zu Unrecht beneiden: daß man gelegentlich dabeisein kann, wenn die Musik spielt. Zwar und einerseits: Es gibt Ereignisse, wie Olympische Spiele, von denen bekommt jeder Fernsehzuschauer inzwischen zehnmal soviel mit wie der arme OlympiaReporter, der zusammen mit zehntausend Kollegen in einem riesigen Pressesaal an seinem Laptop kaut und verzweifelt hofft, er könne irgend eine Geschichte erzählen, die nicht schon jeder kennt. Andererseits gibt es die berühmten historischen Momente, bei denen das Reporterherz wirklich lacht. Zum Beispiel, wenn man – wie der Kollege Klaus Brill, der heute für uns in Rom sitzt – dabeisein hat können am frühen Morgen des 10. November 1989, am Grenzübergang Lübeck-Schlutup. Nie im Leben, sagt er, sei er unter So vielen ausgelassenen, toleranten, großzügigen Menschen gewesen, noch dazu lauter Leuten, die über alle Maßen gesprächig waren, was der Reporter nun mal besonders schätzt. Irgendwann sah er dann noch zwei Damen und Herren in einem Wartburg bei der Lübecker Polizei vorfahren, die als Abgesandte der Staatsbank der DDR 700 000 Mark in einem Koffer bei sich trugen, um sie in einem Hinterhof von den ortsansässigen Metzgern und Wirten in Münzen und kleine Scheine wechseln zu lassen, weil doch der DDRBürger Anspruch hatte auf je DM 15 von seinem Staat. Solche Geschichten, wußte Brill, werde ihm später wieder niemand glauben – nur seine Leser erfreulicherweise, die nun einmal wissen, daß ein SZReporter niemals lügt.

22

Textarten

Glanz von 1960 Jeder von uns hängt so gelegentlich an einem Zipfelchen irgendeines Bekleidungsstücks der Geschichte. Einer von uns hat Geschichte sogar gemacht. Die Erinnerung daran, daß Hans Ulrich Kempski durch sein Interview mit dem Fallschirmjäger-General Massu eine Revolte auslöste, die beinahe Charles de Gaulle sein Amt gekostet hätte, darf schon deshalb in unserem Zusammenhang nicht fehlen, weil ein wenig von ihrem Glanz auch auf uns andere abstrahlt. Im Jahre 1960 ist das gewesen, Kempski war damals schon elf Jahre lang der Chefreporter der SZ, als der er auch später, quer durch alle Erdteile, Staatskrisen und Gipfelkonferenzen, Wahlkämpfe und Befreiungskriege beschrieben hat. Aber nie mehr vorher und nachher hat er oder ein anderer deutscher Reporter so präzise am eigenen Leibund durch die eigene Feder erfahren, was Journalismus im extremsten Fall bewirken kann – zum Beispiel auch 25 Tote und 140 Verwundete gleich am ersten Tag nach dem Interview. Rudolf Augstein hat das später so formuliert: „Wäre de Gaulle gestürzt, hätte Kempski ein weltbewegendes Ereignis initiiert. Der Journalist löst zuweilen dadurch, daß er seiner Profession leidenschaftlich genug nachgeht, Wirkungen aus, die er nicht vorhersehen kann und die er nicht beabsichtigt.“

Zorn und Demut So ist das nicht alle Tage - erfreulicherweise, die Verantwortung wäre sonst doch zu groß. Der Alltag des Reporters ist ohnedies dramatisch genug - wobei sich die meisten seiner Abenteuer an Schauplätzen abspielen, – von denen der Leser lieber nichts erfahren soll: Vor dem stummen Hoteltelephon spielen sie sich ab, wenn der Reporter, irgendwo in China sitzend, einen Text durchgeben will und die Hotelzentrale, die auch kein Englisch spricht, keine Verbindung zustande bringt. Und ganz bestimmt immer wieder im Kopf, vor dem leeren Blatt Papier, vor der Schreibmaschine, vor dem Laptop, auf dessen Schirm kein vernünftiger Satz Gestalt gewinnen will. Der Kollege Peter Sartorius, bescheiden wie er ist, erzählt am liebsten die Geschichte, wie er einmal mit großem Aufwand beschreiben wollte, wie der riesige Frankfurter Flughafen funktioniert. Unglaublich habe er recherchiert, erinnert er

sich, frühmorgens bei den Putzfrauen, spätnachts in der Disko und viele, viele Stunden an den Rollbändern, bei den Dispatchern, in Lounges und Imbißstuben, Wetterämtern und der Flughafenkapelle. „Und als ich heimfuhr“, sagt er, „im Zug, weil ich kein Flugzeug mehr sehen konnte, fragte ich mich, was ich denn nun eigentlich erfahren hatte und was zu beschreiben war.“ Die Pointe ist grausam, aber sehr aus unserem Leben gegriffen, Zu Hause in München erklärt der Reporter kleinlaut der Redaktion, leider sei die Geschichte des Molochs Flughafen nicht zu schreiben, von niemandem. Dann vergehen noch ein paar Wochen – und die Zeitschrift Geo erscheint mit einer Titelgeschichte über den Moloch Rhein/Main-Flughafen, für die der Reporter bei Putzfrauen, Lotsen und in den Diskos recherchiert hat. Er habe sie, sagt Sartorius, vor lauter Zorn über sich selbst nur in Etappen lesen können. Das musste er aber schon deshalb, weil er – der dreifache KischPreisträger– auch noch das Pech hatte, die Laudatio halten zu müssen, als der GeoReporter genau diesen Kisch-Preis bekam für seine Flughafen-Geschichte. So etwas machte demütig, wenn wir das nicht ohnehin schon alle wären. Was den besonders demütigen Reporter RiehlHeyse angeht, so ist er am nachhaltigsten in seine Grenzen verwiesen worden, als er einmal die Idee hatte, für die Seite 3 einen Surfkurs auf dem Gardasee zu machen. Selten im Leben hab ich mich mehr geniert als in den vielen Stunden, in denen ich im Dienste der Zeitung vergebens versucht habe, das sogenannte Rigg richtig aufzuzäumen und mich anschließend so auf das Brett zu stellen, daß ich wenigstens eine halbe Minute lang nicht ins Wasser falle. Während draußen am Ufer meinzehnjähriger Sohn verzweifelt irgendwo hingeschaut hat, damit niemand auf die Idee käme, der Mann im Wasser könne sein Vater sein, wußte ich eines: Reporter ist ein Traumberuf, aber nur, wenn man die Alpträume dazuzählt. Immer noch besser als arbeiten, mag an dieser Stelle vielleicht ein mißgünstiger Leser denken. Dazu sagen wir jetzt mal gar nichts.

50 Jahre Süddeutsche Zeitung. Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 230 vom 6. Oktober 1995, S. 34-36

23

Textarten

5.2.5

Merkmale: „Die Seite Drei“ = Textsorte Reportage M3

Als Tafelanschrieb: •

• • • • • • •

• •



Exemplarischer Ansatz: Beitrag macht im singulären Einzelfall etwas Allgemeines sichtbar; Mensch bzw. Problemlage werden konturiert Autorin / Autor verarbeitet mehrere, unterschiedliche Quellen: Distanz zum Vordergrundgeschehen; Hintergrundinformation Autorin / Autor spricht mit Zeitzeugen, Betroffenen persönlich: Nähe, Authentizität Autorin / Autor meidet persönliche Stellungnahmen, hilft aber die Leserin / den Leser sich beurteilungsfähig zu machen Textbeitrag in Kombination mit Bildmaterial (meistens 1 Foto) Evtl. Karte vermittelt räumliche Orientierung Foto setzt singulären Einzelfall in Szene Oberzeile / Schlagzeile / Unterzeile geben Inhaltskern des Beitrags sowie Intention und Haltung der Autorin / des Autors wieder Situativer, offener Einstieg Fach- / Sachprobleme erscheinen in Kontur, damit nicht nur mit Sachdetails vertraute Fachexperten den Beitrag nachvollziehen können Schlusspointe

24

Textarten

5.2.6

Definition im Sinne einer Funktionsbeschreibung „Die Reportagen ... sollen helfen, die Diskrepanz zwischen steigendem Informationsangebot, mangelnder Zeit sowie fehlender Bewertungsmöglichkeit einer immer größer werdenden Leserschaft zu überbrücken. Dem Fernsehen zum Trotz ist jene Art der beschreibenden, hintergründigen und psychologisierenden Berichterstattung das, was die Zeitung immer wieder lesenswert machen wird.“ Dieter Wagner, ehemaliger Ressortleiter der Süddeutschen Zeitung, zit. im Nachruf, SZ v. 8.6.1972

5.3

„Das Streiflicht“

5.3.1

Arbeitsvorschläge zur Rubrik „Das Streiflicht“ Die Lehrkräftehandreichung lässt mehrere Herangehensweisen zu, die miteinander kombinierbar sind. Die Lehrkräfte behalten damit die Souveränität über die benötigte und verfügbare Bearbeitungszeit selbst zu entscheiden. Intensität und Dauer der Bearbeitung nehmen aufsteigend zu: • • •

5.3.2

Deduktives Verfahren zur Analyse der Merkmale der Textsorte: Analyse I: Zugriff A Induktives Verfahren zur Analyse der Merkmale der Textsorte: Analyse II: Zugriff B Textanalyse (Rhetorische Stilmittel: Lexik, Komposition, Syntax; Argumentation): Analyse III: Zugriff C; vgl. Materialien 5 und 6

Wie entsteht ein „Streiflicht“? „Selbstverständlich wird das ‘Streiflicht’ täglich von der gesamten Redaktionskonferenz verfasst. Anders wäre schließlich nicht erklärbar, dass gerade unter diesem Artikel nie ein Autorenname steht. Die Namen aller Redaktionsmitglieder nähmen einfach zuviel Platz weg.“ Herbert Riehl-Heyse

25

Textarten

Zugriff A: Deduktives Verfahren 1.

2. 3. 4.

5. 6.

7.

8.

9.

Zugriff B: Induktives Verfahren

1. Inventarisieren Sie in einer ÜberBestimmen Sie mit Hilfe von Material 1 sicht (vgl. Material 3) für 2 bis 3 die Merkmale (Form / Inhalt / Funktion) der Textsorte Glosse. Wochen der laufenden Projektphase die Beiträge unter der RubVeranschaulichen Sie die Merkmale in rik „Das Streiflicht“. einem Schaubild (vgl. Material 2). Überprüfen Sie an Material 3 die erarbei- 2. Versuchen Sie im individuell Auffälligen Gemeinsames, Typisches teten Merkmale. festzustellen und in einem DefiniAn welchen Textstellen wird sichtbar, tionsversuch festzuhalten. dass das „Streiflicht“ „feuilletonistisch“ ist; „epigrammatisch“, die „subjektivste Mit Material 1 weiter wie im Zugriff Form der Kommentierung“? A 1 ff Von welchem „blitzenden Einfall“ ist das ausgewählte „Streiflicht“ geprägt? Erläutern Sie, welche Einsichten die Metaphern („Farbtupfer“; „Streiflicht“, „Seitensprung des Ernstes“) zur Funktion der Glosse und zum Profil der Süddeutschen Zeitung vermitteln. Erläutern Sie, warum „Das Streiflicht“ anonym, ohne individualisierenden Titel auf der Titelseite der SZ platziert ist (vgl. Material 7). Prüfen Sie, ob es auch für die „subjektivste Form der Kommentierung“ Grenzen gibt, die nicht überschritten werden. Prüfen Sie, ob Streiflichter im Ton polemisch, aggressiv, Scham verletzend ... gehalten sein können.

Zugriff C / Variante 1: Textanalyse

Zugriff C / Variante 2: Textanalyse

1.

1.

2.

3.

Geben Sie dem vorgelegten Streiflicht eine das Thema der Glosse bzw. der Intention der Autorin / des Autors treffende Überschrift. Analysieren Sie formale und inhaltliche Gestaltungsmittel und erläutern Sie deren Funktion. Prüfen Sie im Hinblick auf Thema, inhaltliche und sprachliche Gestaltung, ob die vorgelegte Glosse für einen jugendlichen Leser im Alter von 16 Jahren geeignet ist.

2.

3.

4.

Bestimmen Sie den prägenden „blitzenden Einfall“ im vorgelegten „Streiflicht“. Analysieren Sie sprachliche und inhaltliche Gestaltungsmittel und erläutern Sie deren Funktion. Bestimmen und erläutern Sie Besonderheiten in der Argumentation. Erörtern Sie, ob die vorgelegte Glosse als sog. leichte Kost für einen jugendlichen Leser im Alter von 16 Jahren einzustufen ist.

Arbeitsvorschläge zu Material 7: • •

Wie entsteht ein „Streiflicht“? Welche Elemente eines Streiflichts sind im Werkstattbericht wieder zu erkennen?

26

Textarten

5.3.3

Klausurvorschläge für Zugriffsweise C A: Materialvorlage: Glosse „Das Streiflicht“ Aufgabenvorschlag 1: • •



Geben Sie dem vorgelegten „Streiflicht“ eine das Thema der Glosse bzw. eine die Intention der Autorin bzw. des Autors treffende Überschrift. Erläutern Sie die Wahl Ihrer Überschrift. Vergleichen Sie die Wirkung des von Ihnen vorgeschlagenen individualisierenden Titels mit dem von der Redaktion der Süddeutschen Zeitung benutzten kategorisierenden Titels. Prüfen Sie im Hinblick auf Thema, inhaltliche und sprachliche Gestaltung, ob die vorgelegte Glosse für einen jugendlichen Leser im Alter von 16 Jahren geeignet ist.

Aufgabenvorschlag 2: • • •

Bestimmen Sie den die vorgelegte Glosse prägenden „blitzenden Einfall“. Analysieren Sie sprachliche und inhaltliche Gestaltungsmerkmale und erläutern Sie deren Funktion. Erörtern Sie, ob die vorgelegte Glosse als sog. leichte Kost für einen jugendlichen Leser im Alter von 16 Jahren einzustufen ist.

Aufgabenvorschlag 3: •



Als Redakteurin/Redakteur liegen Ihnen zwei Texte vor. Einer davon soll als Glosse in der Rubrik „Das Streiflicht“ veröffentlicht werden. Wählen Sie einen Text aus und begründen Sie differenziert Ihre Entscheidung (Auswahl) unter Berücksichtigung von Form / Inhalt / Funktion. (Ergänzungsmaterial 2)

Aufgabenvorschlag 4: • • •

Bestimmen Sie den die vorgelegte Glosse prägenden „blitzenden Einfall“. Analysieren Sie die Argumentationsstruktur (Argumentationstypen, gedankliche Verknüpfungen, Wortwahl). Setzen Sie sich mit der Argumentationsstruktur wie auch mit der These des „Streiflichts“ kritisch auseinander.

Aufgabenvorschlag 5: •

Vergleichen Sie den Kernbeitrag mit dem mit ihm korrespondierenden „Streiflicht“. Zeigen Sie den „blitzenden Einfall“ der Glosse auf, machen Sie Unterschiede in der Argumentation wie in der stilistischen Gestaltung deutlich. Begründen Sie, welchen Beitrag Sie für sich als Leser/in besser finden: — Grad der persönlichen Vorinformiertheit und Urteilsfindung — Grad der Solidität — Art der Kommentierung

27

Textarten

5.3.4

Definition Textart Glosse M1 Die Glosse ist der Farbtupfer, das Streiflicht oder der „Mückenstich“ unter den Meinungsstilformen: ein Sammelbegriff vor allem für kurze Meinungsartikel. Allgemeine Kennzeichen: zugespitzte Form der Argumentation (die in eine Pointe mündet) und die Konzentration auf einen bestimmten Aspekt (bei der politischen Leitglosse auf den wichtigsten Aspekt). Im engeren Sinne bezeichnet Glosse (gr.: glotta = Zunge) die Meinungsstilform mit einer verhältnismäßig ausgeprägten feuilletonistischen Sprache, mit epigrammatischer Eleganz der Formulierung. Relativ häufig – wenn auch noch nicht häufig genug – verwendet sie Ironie und Satire als Stilmittel; sie bedient sich, besonders in der Form der Sprachglosse, auch ungewöhnlicher, origineller Wörter, einschließlich Umgangssprache, Mundart, Dialekt. Glossen, die ihre Adressaten zum Lachen reizen wollen, bedürfen der blitzenden Einfälle. Diese blitzen aber nur, wenn sie wie zufällig hingetupft erscheinen, und daher glauben viele, die Glosse entstehe aus einem Überfall des Zufalls, einem Seitensprung des Ernstes. Das trifft gelegentlich sogar zu. Aber wer, wie die Süddeutsche Zeitung, eine ständige Rubrik „Streiflicht“ einrichtet, muß bereit sein, hauptamtliche Schwerstarbeiter für leichte Formulierungen einzustellen. Das hat, außer der Süddeutschen Zeitung, offenbar niemand bedacht. Außerdem verlangt die lachende Glosse Liberalität; denn die Rösselsprünge des Humors sind unberechenbar. Schließlich bezieht das „Streiflicht“ einen Teil seiner Wirkung auch daraus, daß die Süddeutsche Zeitung ihre Glosse – wie die Frankfurter Allgemeine ihren Leitartikel – auf der ersten Seite plaziert. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg.): Publizistik. Massenkommunikation, Fischer Lexikon, Frankfurt/Main, 6. Auflage 2000; S. 112-113

28

Textarten

5.3.5

Merkmale: „Das Streiflicht“ = Textsorte Glosse

01

Definition (vgl. Material 1)

M2

Merkmale als Tafelanschrieb •







Ganzheitliche metaphorische Beschreibung: „Farbtupfer“; „Streiflicht“; „Seitensprung des Ernstes“; „unberechenbarer Rösselsprung des Humors“ Form: kurz, ohne Autorenkennzeichnung (anonym), ohne individualisierende Überschrift, Platzierung auf Seite 1; Ironie, Satire, unkonventionelle Syntax, Komposition Inhalt: kritische Randbemerkung zu einer Nachricht, die ebenfalls in der Zeitung abgedruckt ist, subjektiv kommentierend, nicht gebunden an Sachlichkeit und Ausgewogenheit in der Argumentation, Argumentation kann überspitzen, darf aber z.B. nicht schamlos sein; unkonventionelle Ausdrucksweisen (Metaphern, ...) Funktion: Soll zum Lachen, zum Nachdenken reizen; verlangt Liberalität (vom Leser, innerhalb der Redaktion); lädt zum vergnüglichen Lesen ein

29

Textarten

5.3.6

M3

Ausgewählte Beiträge (Übersicht) Erscheinungsdatum 2002

Thema

Themenfeld

Auffälligkeiten (Stil / Inhalt / Erzählton) [Argumentation]

Intention

Bezugstext

1 2

8. / 9. Juni 13. Juni

Politik Sport

3

18. Juni

Alle Kreter sind FDP-ler 8:0 Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der WM Bayern Nr.1 in Pisa-Studie

Kultur

[Analogie; Autorität, Evidenz, Paradoxon,] bajuwarisierte Latinismen, verschiedene Sprachebenen, antithetisch, Zitate, Fazit / Zuspitzung; Ironie; Satire

Riesenbratling als Ferment des sozialen Stoffwechsels

Kultur

[Autorität, Evidenz, Faktum, indirekte Argumente, Paradoxon], Zitate, bildhafte Redewendungen, Anspielungen, Wortneuschöpfungen; Vergleiche, Klimax; Ironie, Satire, Schlussfazit

Relativierung der Aussagekraft von statistischen Erhebungen; Warnung vor Verallgemeinerungen; bayrischen Regionalpatriotismus nicht übertreiben Warnung vor verkrampften, sog. Kunstaktionen

4

22. / 23. Juni

SZ vom 10. Juni, Seite 3: Beim Flug der Frikadelle, von Reymer Klüver

5 6

24. Juni 25. Juni

Bild – Jubiläum Impulse für deutsche Wirtschaft durch deutschen Sieg bei der Fußball WM Technikbegeisterung

Medien Wirtschaft / Sport

7

26. Juni

8 9

3. Juli 9. Juli

10

15. Juli

Sommerloch – Meldungen Umzug des Denkmals von General Franco Badetauglichkeit der Elbe

Technik / Wirtschaft Medien Politik Umwelt

[Analogie, Autorität, Evidenz] antithetisch, Alliterationen, Ironie durch Überhöhung, Zitate, ungewöhnliche Wortwahl, Ellipsen, Einwortsätze, Fazit = Zuspitzung

Warnung vor kommerzieller Ausbeutung einer sich regenerierenden Flusslandschaft; vor ökonomischen Nutzen dienender Flussbegradigungen

SZ vom 15. Juli 2002, Seite 3: In einem Flüsslein helle, von Reymer Klüver

30

Textarten

5.3.7

Klausurmaterial

01

Walther von La Roche: Die Glosse

M4

Sie ist die schwerste Darstellungsform, gerade weil sie so leicht daherkommt. Wer mit einer Glosse wirklich treffen will, muß sich genauso gut vorbereiten und auskennen wie der Kommentator, zusätzlich aber braucht er noch die Kunst „einer verhältnismäßig ausgeprägten feuilletonistischen Sprache mit epigrammatischer Eleganz der Formulierung“.1 „Ein verhängnisvoller Irrtum“ wäre es nach Meinung von W. E. Süskind 2 „zu glauben, die Glosse sei von Haus aus weniger seriös, sie sei spielerischer und unverbindlicher als der Kommentar, und man müsse von vornherein bestimmte Gegenstände „leichterer“ Art der Glosse vorbehalten und andere Gegenstände (etwa grundsätzlich diejenigen der Politik) dem Kommentar“. Durch Ironie zu wirken statt durch direkte Bezeichnung der Umstände ist das am häufigsten verwendete Stilmittel der Glosse. Wer ironisch schreibt, bestätigt scheinbar die Annahmen und Vorurteile seiner Leser oder Hörer und weckt gleichzeitig den Zweifel, ob diese Annahmen und Vorurteile wirklich so richtig sind. Meistens sind wir auf die Doppelbödigkeit der Ironie nicht vorbereitet; wohl jeder Glossenschreiber kann berichten, daß er schon begeisterte Zustimmung von Lesern oder Hörern erhalten hat, die den Text nur in seiner Vordergründigkeit verstanden, die Glosse also mißverstanden haben. Die Versuchung, einen Sachverhalt zu glossieren, ist groß – gute Glossenschreiber gibt es wenige. Glossenschreiben läßt sich deshalb so schwer erlernen, weil zur Beherrschung der Form jene Portion Mutterwitz und Boshaftigkeit hinzukommen muß, die unter den Journalisten nicht gleich verteilt ist. Daß der Themenkreis aktueller Glossen unbegrenzt, der Kreis geeigneter Mitarbeiter aber begrenzt ist, bezeugt die Süddeutsche Zeitung mit ihrem täglichen „Streiflicht“. Der Glanz des „Streiflichts“ hängt davon ab, ob wenigstens einem aus dem halben Dutzend ständiger Autoren für morgen etwas einfällt. Walther von La Roche, Einführung in den praktischen Journalismus. München. List 1975, S. 162 Arbeitsaufträge: • •

1 2

Fassen Sie den Text in seinen Kernaussagen zur Form der Glosse und zu den Voraussetzungen der Schreibfertigkeit zusammen. Erläutern Sie an Hand Ihrer Kenntnisse in Bezug auf die Textsorte „Glosse“ und an Hand eigener Leseerfahrungen die Wirkung von Beiträgen unter der Rubrik „Das Streiflicht“ auf Seite in der Süddeutschen Zeitung.

Stichwort „Journalistische Stilform“ in: Fischer Lexikon Publizistik. Frankfurt a. M. 1971. S. 74. W. E. Süskind: Glosse und Kommentar. In: Praktischer Journalismus. o. J. S. 129

31

Textarten

5.3.8

Glosse — Arbeitsbogen 1 zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln M5 (1) Inhalt

(2) Text

Zitat Kracauer

Das Streiflicht (SZ) „An das Nichtmalenkönnen werden, seit es eine eigene Kunstform geworden ist, immer höhere Anforderungen gestellt.“ Dieser Satz stammt von Siegfried Kracauer und ist in seiner fein geschliffenen Bosheit natürlich tausendmal schöner als die Standardkritik des Pfahlbürgers beim Sehen und Erleben zeitgenössischer Kunst: „Das kann doch jeder Aff !“

Künstler sollten zumindest mit dem Material, mit dem sie arbeiten, umgehen können.

(3) Argumentation

(4) Stil

(5) Funktion

Paradoxon

Hohe Stilebene, Hypotaxe

Autorität

Vergleich Metapher

Äußerung von Kritik,Darstellu ng der eigenen Position; Leser ist amüsiert, fühlt sich angesprochen

Metapher

Evidenz

Redensart

Wenn wir dieses Urteil trotzdem leise anklingen lassen, dann nicht, um dem

Konditional / Einräumung

Wortwahl

Affen in uns allen Zucker zu geben, sondern aus der Überlegung heraus, dass Kunst

Adversativ

Metapher

zwar vielleicht nicht unbedingt von Können kommt, dass man dabei aber trotzdem etwas können sollte – nämlich mit dem Material umgehen.

Doppelte Einräumung; Paradoxon

These 1

Vermittlung eines Bildes zur Form der hohen Kritik. Pfahlbürger mit eingeschränktem Weitblick; Kontrast zwischen Standardund Hochkritik Ironie, da die zwei vorgeschalteten Argumente nichts leises und dezentes an sich haben. Anspielung darauf, dass Glosse nicht einer allgemeinen Zurückhaltung gegenüber sog. moderner Kunst das Wort redet, aber auch keine Vorurteile schüren will. Dient der Zuspitzung der Kritik an der WuuulAktion.

32

Textarten

Vergleich zwischen Wuuul – Michelangelo

Künstlergruppe Wuuul verdient nicht das Prädikat „Kunst“

Sachverhaltsskizze

Anspruch auf Kunst, von Kunstaktivisten Wuuul selbst in Abrede gestellt

Gesetzt Michelangelo hätte seinen Moses erst dem siebzehnten Steinblock abgerungen, weil vorher sechzehn zu Bruch gegangen wären: Der Papst hätte ihm was geflüstert!

Nun wäre bei Michelangelo möglicherweise selbst das Scheitern großartig gewesen, und die Kunstwelt würde sich die Finger abschlecken, hätte sie sechzehn Moses-Torsi. Was jedoch jetzt in Hamburg geschah, hat mit Scheitern in Würde nichts mehr zu tun. Die Künstlergruppe „Wuuul“ war mit dem Vorsatz angetreten, aus Dinkel, Hirse und Grünkern eine etwa 800 Kilo schwere Frikadelle zu braten und diese dann mit einem Katapult in die Elbe zu schleudern. Dagegen ist wenig zu sagen, zumal da die Wuuuls den Riesenbratling zum „Ferment des sozialen Stoffwechsels“ erklärt und so der Kunstdiskussion elegant entzogen hatten:

Potentialis – Möglichkeit

Emphatische Satzstellung

Anspielung

Vergleich, Emphase dienen der Zuspitzung der Kritik an der WuuulAktion.

Verhaltene Kritik an Lebensmittelvernichtung durch Wuuul-Aktion.

Konjunktiv Metapher Kommentierung / These 2

Anspielung, dass in der WuuulAktion weder wahre Sinnesfreuden noch wahre Gaumenfreuden befriedigt wurden.

Faktum

Einräumung Verstärkung = Paradoxon

Indirektes Argument

Anspielung

Sog. Kunstobjekt eignete sich nur dafür weggeworden zu werden. Intuitiv haben die Wuuuls ihre mangelnden Fähigkeiten richtig eingeschätzt

33

Textarten

Bratling zerfiel bereits auf dem Weg zum Katapult

Selbstverständnis von Wuuul

Verzehr- oder Schieß-Bratling ?

Rezeptur für den Verzehr-Bratling

Wer ist schon gegen einen gut fermentierten sozialen Stoffwechsel? Leider versagte der Fermentklops auf eine bei Laienköchen nicht ungewöhnliche Weise. Als die Künstler ihn am Donnerstagabend abschießen wollten, zerfiel er bereits auf dem Weg zum Katapult, was bei den Zuschauern statt zu der angestrebten „Bewusstseinserwei terung“ zu Spott und Hohn führte. Das Interesse von Wuuul gilt der „Auslotung neuer Formen des Zusammenarbeitens als künstlerisches Plural“. Auch diese Kolumne versteht sich als künstlerisches Plural, weswegen sie sich die Freiheit nimmt, Folgendes kooperativ anzumerken.

Beim Bratling macht es einen gewaltigen Unterschied, ob er gegessen oder verschossen werden soll. Der zum Verzehr bestimmte darf durchaus locker sein, ja er gewinnt Zauber daraus, dass er vor der Gabel zerfällt, sich förmlich anbietet. Ungeübte Köche sind selten souverän genug, mit dieser Lockerheit zu leben. Sie geraten bereits bei Prüfung der Teigmasse in Panik, greifen zu alten Semmeln oder Paniermehl,

Faktum

Adversativ

Wiederholung; Rhetorische Frage Wortwahl

Kontrast, emphatische Satzstellung

Ironie durch Anspielung auf realen Stoffwechselprozess.

Abwertung

Ziel / Anspruch und Realität kontrastiert. Misserfolg wird betont.

Faktum

Faktum

Wiederholung

Faktum / Evidenz

Antiklimax

Ellipse Alliteration Correctio

Evidenz / Faktum

Alliteration Kontaktwiederholung

Ironie durch Kontrast zwischen äußerlichen Ähnlichkeiten und inhaltlichen Unterschieden zwischen Wuuul und Streiflicht. Ironie: Statt künstlerischer Aspekte wird für den Alltagsgebrauch eine bewusst banale Rezeptur dargestellt.

Mangelnde Souveränität der Wuuul – Aktivisten in Bezug auf Umgang mit gewähltem Material.

34

Textarten

Rezeptur für den Schieß-Bratling

das sie oft auch noch mit Gries verwechseln, und wenn die Gäste später sagen, damit könne man einen Bären erlegen, sind sie beleidigt. Wenn denn, o künstlerisches Plural Wuuul, Kunst echt von Können kommt, so merke Dir: Für den 800Kilo-Schießbratling nie weniger als 400 Kilo Semmelbrösel nehmen. Eher mehr.

Einräumung

Interjektion Persönliche Anrede

Fazit

SZ 22. / 23. Juni 2002

Emphatische Satzstellung, Ellipse

Gebrauchsanleitung auf handwerklichem Niveau, damit sie von Wuuul-Aktivisten nachvollzogen werden kann.

(6) Einschätzung der Argumentation und Gestaltung Im Gesamtaufbau fällt eine Antiklimax auf, die zwischen Einstieg und Schlussfazit sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht aufgebaut wird. „Das Streiflicht“ wertet deutlich die als Kunst deklarierte Aktion von „Wuuul“ ab. Hierzu wird das gesamte Register gezogen von Anspielung, Abwertung, Ironie: Die Wuuul-Aktivisten beherrschen nicht einmal auf handwerklicher Ebene ihr Gestaltungsmaterial. (7) Gesamteindruck „Das Streiflicht“ macht in einer kunstvollen, fast lyrischen Form deutlich, dass es ein klassisches Verständnis von Kunst und handwerklichem Geschick gibt, die beide von den Wuuul-Aktivisten nicht erfüllt wurden.

35

Textarten

5.3.9

„Das Streiflicht“ — Arbeitsbogen 2 Zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln (1) Inhalt

Lateinunterricht in bayerischen Kindergärten

Bayern ist anderen deutschen Bundesländern in allen Lebenslagen Vorbild

Bayerische Schulen vorbildlich

Ursachen des Bildungshochstands in Bayern

(2) Text „Das Streiflicht“ (SZ), 18. Juni 2002 Der Lateinunterricht in den bayerischen Kindergärten ist zwar spielerisch, aber nicht verspielt. Er führt bereits im ersten Jahr zu Sinnsprüchen wie diesem: „Extra Bavariam non est vita, et si est vita, non est ita“

M6

(3) Argumentation

(4) Stil

(5) Funktion

Beispiel

Kontrast zwischen Behauptung und Realität

Inhalt soll nicht ganz ernst genommen werden: Ironie

Adversativ / Einräumung

Klassisches Latein

(Außerhalb Bayerns gibt es kein Leben, und wenn doch, dann kein vergleichbares), und wenn die Kindergartenkinder das analysieren, kommen sie nicht selten zu der Erkenntnis: „Un die Ssulen dlaußen sin auch Sseiße!“

Beispiel

Da lachen die Kindergärtnerinnen, die Latein geben, sagen „Bene dixisti, Xaverl, guad gsagt!“ und schicken die Kinder in den Sandkasten zur meditativen Nacharbeit.

Temporal

Davon und von den Laptops, die bayerische Kinder sozusagen mit der Muttermilch einsaugen, kommt der hiesige Bildungshochstand, den man sich so vorstellen muss:

Folge = These

Konditional / Temporal

Hyperbel Litotes für häufig

Beispiel

Kontrast latinisierte Bildungssprache versus umgangssprachliche Kindersprache Kontrast Behauptung / Realität; Vermischung von Stilebenen Hyperbel

Katachrese

Behauptete Ernsthaftigkeit Hehrer Anspruch: Bildung lässt sich nicht auf Sinnsprüche reduzieren: Ironie

Überzogene Leistungsansprüche. Ironie: KigaKinder sind nicht fähig zu rationaler Analyse. Ironie, um Überzogenheit der Ansprüche zu markieren Ironie

Komik Überzogene Darstellung der Funktion des Spiels im Sandkasten. Unvereinbarkeit von Realität und Anspruch: Ironie

Analogon

36

Textarten

Bayerische Archetypen in der bayerischen Volksliteratur

Das Gefälle zur Bildung in den SPDregierten Ländern ist so groß, dass man, wären da Kraftwerke, mit der überschießenden, zu Tal donnernden bayerischen Bildung den Strom für alle Gesamthochschulen erzeugen könnte. Jahrhundertelang hat die Forschung ja fast nur auf die körperliche Beschaffenheit der Bayern „abgehoben“, im Einklang mit der einschlägigen Dichtung.

Ganghofer etwa gibt einem seiner Bauernburschen „Beine wie Säulen und Arme wie Dreschflegel“ mit, und wenn dieser Bursch den Arm biegt oder die Knie durchdrückt, denkt man, „das sind eiserne Scharniere mit fest angezogenen Schrauben“. Doch hören wir, wie Ganghofer fortfährt: „Eine schmale scharfe Nase mit ungewöhnlich beweglichen Nüstern stach heraus, die erweiterten Augen blitzten wie polierter Stahl.“

Im Bilde soll die Vorbild- und Motorfunktion Bayerns für Deutschland veranschaulicht werden.

„Faktum“

Hyperbel

Wortneuschöpfung

Übertreibung, Bayern habe schon immer im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Anspielung auf „einschlägige Literatur“ erzeugt Ironie: Das Gesagte ist nicht ernst gemeint

Autorität Vergleiche

Ausdruck von Kraft und Vitalität

Katachrese

Autorität

Pluralis maiestatis Bildhafter Vergleich

Katachrese

Ironie: Wenn der geschilderte Zustand real wäre, gäbe es keine Kraftübertragung Bayerischer Bildungshochstand veranschaulicht Ironie, da polierter Stahl kaum Ähnlichkeiten mit hohem Bildungsgrad aufweist..

37

Textarten

Vergleich Bayern / Deutschland

Siena-Studie

Das läuft schnurgerade auf den nationalen Teil der PisaStudie zu, von dem bis jetzt kein Mensch Genaueres weiß, dessen entscheidende Passagen jedoch dem Streiflicht vorliegen. Daraus geht hervor, dass die Nüstern der Kinder in den Stadtstaaten, im Saarland und in Niedersachsen bei weitem nicht so beweglich sind, wie man dort bisher (und aus verständlichem Eigeninteresse) angenommen hatte, und die blitzenden Augen findet man in dieser Deutlichkeit in den restlichen Bundesländern überhaupt nicht – nicht einmal in BadenWürttemberg, obwohl sie dort dank Frau Schavans Wirken klar erweitert sind. Es gibt übrigens neben der Pisaauch die SienaStudie, eine internationale Erhebung zur Schönheit der Menschen. Darin steht Deutschland auf Platz 84. Im nationalen Teil führt Bayern, erstaunlicherweise zusammen mit Hessen.

DemDetail, dass innerhalb Bayerns die Oberpfälzer die Schönsten sind, hatte man bisher wenig Beachtung geschenkt. Nun aber wurde der Oberpfälzer Joachim Federer „Mister Germany“, und

Folgerung

Hyperbel

Folge ad absurdum Katachrese

Was noch keiner weiß, weiß das „Streiflicht“: Das Folgende ist nicht ernst gemeint.

Aktualisierung des bildhaften Vergleichs dient der Ironie: Vergleich ist unpassend, aktuelle pauschale Folgerungen sind unpassend.

„Autorität“

Emphase

Kommentar

Aussparung (Parallelismus)

Nicht nachprüfbar, nicht ganz ernst zu nehmen Ironie durch Kontrast zwischen Hervorhebung und der Relevanz des Hervorgehobenen. Wie bei den Ausführungen zu PISA wird verschwiegen, wie Bayern im internationalen Vergleich platziert wäre.

Einräumung Wendung ins Parteipolitische

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Textarten

CDU / CSU Kompetenzteam

seitdem wissen sie bei der CSU nicht genau, was zu tun ist: Sollen sie sagen, dass Stoibers Wurzeln in der Oberpfalz liegen, oder sollen sie Federer, wofür auch immer, in Stoibers „Kompetenz-Team“ holen?

Pointe

Doppelte Abschlussfrage rhetorischen Musters

Mindestens eine Frage ist zu bejahen, um das allgemein Herausragende des Bayerischen zu betonen: Am bayerischen Wesen soll Deutschland genesen.

39

Textarten

(6) Einschätzung der Argumentation und Gestaltung „Das Streiflicht“ reiht willkürlich Fakten aneinander, deren vermeintliche Faktizität mit Ironie und Augenzwinkern dargestellt wird. Geprägt wird dieses Streiflicht in seiner Argumentation durch Beispiele, Analogien, deren Gültigkeit verabsolutiert wird, wie es in Wahlkampfzeiten Politiker auch tun. Der Glossenschreiber schränkt aber diese Gültigkeit immer wieder mit deutlicher Ironie ein. (7) Gesamteindruck „Das Streiflicht“ macht deutlich, dass in Zeiten des Bundestagswahlkampfs von Politikern eine sachlich nüchterne Auswertung wissenschaftlicher Untersuchungen nicht erwartet werden kann, sondern dass Befunde wie auch vermutete Befunde nur dazu benutzt werden, die Kompetenz der Wir-Gruppe für den Wähler ins Rampenlicht zu stellen.

40

Textarten

5.3.10

Werkstatt-Beitrag M7

Vom Plunder zum Wunder Nach fast fünfzig Jahren muß sie heraus: Die Wahrheit über das „Streiflicht“ Wie es erdacht wird – wie es gemacht wird – wieviel Zeilen es hat Ein Werkstattbericht Von Hermann Unterstöger Ein Werkstattbericht wie dieser wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Damals hing man der „GenieDoktrin“ an, welche die Existenz der Streiflichter, sehr verkürzt gesagt, auf den Musenkuß zurückführt, in diesen Texten also ein irgendwie unerklärbares schöpferisches Prinzip, etwas gewissermaßen Numinoses, walten sieht bzw. ahnt. Der Welt war die Doktrin in vielerlei Ausformungen geläufig: Daß ein einziger Mensch (Enzensberger war im Gespräch, seltener auch Augstein) alle Streiflichter schreibt; daß alltäglich vom Himmel eine Taube naht und ausgewählten Redakteuren 73 Zeilen einbläst; daß die Texte vom Anbeginn der Zeit her vorgeschrieben sind und der jeweils auf den Tag passende nur noch aus einer Vorratskammer geholt werden muß; und was der Theorien sonst noch waren.

Keine Stunde zu früh Nach 50 Jahren SZ und 49,3 Jahren Streiflicht stehen wir auf dem Standpunkt, daß es für die Wahrheit keine Stunde zu früh ist. Es lautet aber diese Wahrheit: Streiflichter werden geschrieben. Sie werden in einem sehr handgreiflichen, ja handwerklichen Sinn „gemacht“, man könnte sogar sagen, sie werden „erstellt“, insofern, als man unter dem Begriff „erstellen“ durchaus Ehrenwertes subsumieren kann: ein Haus erstellen, eine Urkunde erstellen. Mag sein, daß die vermeintlich banale Richtigstellung bei Anhängern des poetischen Prinzips Enttäuschung auslöst. Andererseits könnte das „Wunder Streiflicht“ nach einem Werkstattbericht gefestigter dastehen als je zuvor – „ein Wunder, sicher, doch in erster Linie ein Mirakel“, wie in Verfasserkreisen gern geulkt wird. Wohlan denn, wie kommt ein Streiflicht zustande? Wahllos greifen wir in die Fülle der Begebenheiten, und es bleibt uns in der Hand eine dpa-Meldung vom 13. Juni dieses Jahres: In Kiel bedrohte ein maskierter Räuber die Verkäuferin einer Bäckerei mit einer Gaspistole; diese jedoch „bewarf ihn so lange mit Schokoküssen, bis er das Weite suchte“. Das also ist der Rohstoff unseres Werkstücks; innig

wie selten fühlen wir uns dem Dichter Antoine de Saint-Exupery verbunden, der vom Streiflicht einmal sagte, daß „nur der Geist, wenn er den Lehm behaucht“, es erschaffen könne. Das Behauchen des dpa-Lehms beginnt im Archiv. Der Stoff wird eingekreist, und zwar mit Hilfe der Materialmappen „Kommunen“ (Kiel), „Schleswig-Holstein / Kriminalität“ (ebenfalls Kiel), „Bewaffnete Kriminalität“ (Räuber), „Dienstleistungsgewerbe“ (Verkäuferin), „Handwerk“ (Bäckerei), „Handfeuerwaffen“ (Gaspistole) und „Lebensmittel / Süßigkeiten“ sowie „Erotik allgemein“ (Schokoküsse). Der Autor nimmt alle Mappen unter den Arm und schlendert damit durch belebtere Korridore, was seinen Ruf als besonders gründlicher Rechercheur festigt. Ist er in seinem Zimmer, fällt die Pose nicht selten in sich zusammen. Die erste Krise ist da, und er fragt sich in seinem Herzen, warum er nicht die Meldung „Manager kennen Bierpreis besser als Zinsen“ (Reuter) genommen hat. Das schriebe sich gewissermaßen von selbst: Nieten in Nadelstreifen und so weiter!

Erste Krise – kein Zurück Bei diesem Stand der Dinge kommt meistens von irgendwo ein Lichtlein her, in unserem Fall aus dem Wörterbuch. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß sich aus dem Wort „kielholen“ ein scherzhafter Funke schlagen läßt – schließlich wollte auch der Räuber seine Beute in „Kiel holen“. Viel ist das noch nicht, zugegeben, aber es reicht dafür aus, daß der Verfasser ans Gerät geht und das erste Wort, das allen Streiflichtern gemeinsame „(SZ)“, in den Bildschirm tippt. Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr. Die Disposition des Textes ist noch das einfachste. Sie folgt dem Schema jener Dreiteiligkeit, die sich auch im Schriftbild widerspiegelt. Drei Absätze: Einleitung, Hauptteil, Schluß. Das hat sich bewährt, das schafft die Verbindung sowohl zum Schulaufsatz als auch zu den Triptychen alter Meister. Läßt sich die Räubergeschichte nach diesem Muster aufbereiten? Wahrscheinlich. Man müßte in der

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Textarten

Einleitung die Story rekapitulieren, witzig natürlich, sodann im Hauptteil eine Art Philosophie des Räuberwesens unter besonderer Berücksichtigung der plunderreichen norddeutschen Bäckereien ausbreiten und im Schluß noch einmal zu der Nachricht zurückkehren. Das wäre dann auch der Ort, um den Leser mit dem „Kielholen“ oder einer anderen schönen Pointe zu erfreuen, vielleicht mit einer aus dem Fachwort „Plunder“ geborenen Assoziation zu „plündern“, eventuell sogar zur „Flunder“, wobei freilich zu klären wäre, ob es, analog zur Kieler Sprotte, auch eine Kieler Flunder gibt. Das Streiflicht verspricht gut zu werden.

Risikolos oder unerhört? Der Einstieg zu Räuber-Streiflichtern ist schwer. Man kann mit dem Räuber Kneißl beginnen, der, als er an einem Montag gehängt werden sollte, sagte: „Die Woche fängt ja schon wieder gut an!“ Nach diesem Auftakt kommt man allerdings nur noch schwer zum Thema. Die zweite Möglichkeit geht etwa folgendermaßen: „(SZ) Im Rahmen unserer lockeren Serie Der Räuber und wir entführen wir Dich, geneigter Leser, heute in den hohen Norden, nach Kiel, wo ...“ Abgesehen davon, daß der „geneigte Leser“ seit längerem ein striktes Auftrittsverbot hat, ist dieser Anfang zwar risikolos, aber auch nicht direkt preisverdächtig. Man wird also das Ausgefallene suchen, das nie Dagewesene, das Unerhörte. Unsere Erfahrung geht dahin, daß etwas Klassisches den Leser immer wieder fesselt und ins Streiflicht hineinzieht. Wir greifen deshalb oft zu Goethes Gesprächen mit Eckermann, was den Vorteil hat, daß man, wenn sich nichts Einschlägiges findet, mit einigem Stilempfinden das Passende nachdichten kann.

delbischen Kirche oder im Institut für Meereskunde säße, als in Kieler Bäckereien seinem Broterwerb nachzugehen. „Brot“-Erwerb! In Bäckereien! Das wird morgen früh in der U-Bahn wieder so manches Schmunzeln und „Kuck mal, was die da schreiben“ geben, da kann man Gift drauf nehmen.

73 widerborstige Zeilen Eine letzte Recherche noch, betreffend die „Schokoküsse“: bei der Kieler Bäckerinnung nachfragen, ob sie womöglich identisch sind mit unseren „Negerküssen“, die aber heutzutage aus Gründen der political correctness anders heißen und deshalb im Text allenfalls zwischen den Zeilen aufscheinen sollten. Überlegenswert in diesem Zusammenhang auch, ob die Verkäuferin den Räuber mit Handküssen vertrieb, aus denen die Agentur in euphemistischer Liebedienerei Schokoküsse machte. Der Rest ist Handarbeit. Vor uns Tastatur und Bildschirm, hinter uns der drohende Redaktionsschluß, links der Rechtschreib- Duden, rechts der Duden der „sinn- und sachverwandten Wörter und Wendungen“, über uns eine völlig unkooperative Muse und nach uns die Sintflut. Der Text muß 72 Zeilen haben. Um ihre Widerborstigkeit und Unabhängigkeit in geistigen Belangen zu demonstrieren, füllen die meisten Autoren 73 Zeilen, manchmal – von Freitag auf Samstag zum Beispiel – sogar 74. Soweit in Kürze die Wahrheit über das

Streiflicht.

Aus: 50 Jahre Süddeutsche Zeitung, Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 230. 6. Oktober 1995, S. 92-93

Die Räuber-Philosophie im Hauptteil ist etwas leichter, aber beileibe kein Kinderspiel. Hier gilt es der Versuchung zu widerstehen, daß man allerlei Präzedenzfälle und Parallelen heranzieht und darüber das Räuberische als solches aus den Augen verliert, das Prinzip Raub sozusagen, dieses ewige Stehlen und Gestohlenwerden (von wo aus sich wie von selber ein feines Wortspiel mit „kann uns gestohlen bleiben“ ergibt). Daß wir den Räuber als Glied der bunten menschlichen Gesellschaft sehen, versteht sich. Andererseits muß man auf der Hut sein, zeigt doch die Praxis, daß man sich aus Menschenliebe oft unversehens mit dem verbrüdert, den zu geißeln man sich vorgenommen hat: in dem Fall mit dem Räuber, der ja auch sein Bündel zu tragen hat und sicher lieber im Kirchenamt der Nor-

42

Textarten

5.4

Das journalistische Interview

5.4.1

Arbeitsvorschläge

01

Arbeitsschritt: Einstieg 1. Woher kennen Sie Interviews? 2. Können Sie sich an Beispiele erinnern? Falls ja, charakterisieren Sie diese kurz. 3. Stellen Sie dar, was Sie von einem Interview erwarten. 4. Erläutern Sie: Worauf stützt sich Ihrer Meinung nach die Beliebtheit von Interviews sowohl unter der jugendlichen wie unter der erwachsenen Leserschaft?

02

Arbeitsschritt: Arbeitsmaterial M 1 1. Arbeiten Sie die Merkmale der Textart „Journalistisches Interview“ heraus. 2. Untersuchen Sie, ob das „Journalistische Interview“ eher eine informative oder kommentierende Darstellungsform darstellt. 3. Strukturieren Sie die Textarten-spezifischen Merkmale in einem aussagekräftigen Schaubild.

03

Arbeitsschritt: Arbeitsmaterial M 3 1.

Rekapitulieren Sie den Inhalt: Was erfahren Sie aus dem Interview zur Person des Interviewten? Wie beurteilen Sie nach der Lektüre die Person des Interviewten?

2.

Welche Fragen sind „informativ“?

3. Welche Fragen gestatten eine Selbstdarstellung des Interviewten? Untersuchen Sie hier die entsprechenden Aussagen des Interviewers näher: Achten Sie auf Inhalt, Umfang, Sprache. 4. Nehmen Sie eine Zuordnung des in M 3 vorliegenden Interviews in das Spektrum der Textart „Journalistisches Interview“ vor und begründen Sie Ihre Klassifizierung.

04

Arbeitsschritt: Interviewvorbereitung M 3 Dem Gespräch mit Jürgen Baumann (vgl. M 3) ist zu entnehmen, dass die Interviewer gut vorbereitet waren und Vorinformationen besaßen: • •

über die Person des Informanten, über das Thema des Interviews.

Finden Sie die Stellen, an denen man das erkennt.

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Textarten

05

Arbeitsschritt: Längsschnitt 1 (Quantitative, komparative Auswertung): M 4 1. Sammeln Sie aus den aktuellen Ausgaben der Süddeutschen Zeitung Zeitungsartikel der Textsorte „Journalistisches Interview“. 2. Prüfen Sie, • • •

06

ob in einem Zeitungsteil der Süddeutschen Zeitung (bevorzugt) „reine“ Interviews stehen ob es hinsichtlich der Informanten Auswahlkriterien (Status, Funktion ...) festzustellen gibt ob es hinsichtlich der Auswahl von Interviewer/in Regelmäßigkeiten festzustellen gibt.

Arbeitsschritt: Längsschnitt 2 Sammeln Sie aus den aktuellen Ausgaben der Süddeutschen Zeitung Zeitungsartikel der Textsorte „Journalistisches Interview“. Prüfen Sie, ob in einem Zeitungsteil der Süddeutschen Zeitung (bevorzugt) „reine“ Interviews stehen. Was erfahren Sie über den Anlass des Interviews; über die Atmosphäre im Interview? Untersuchen Sie die Fragetechnik: 1. Welche Fragen bringen Ihrer Meinung nach die interessantesten Ergebnisse zutage? Warum? 2. Wo wird auf direkte Fragen direkt geantwortet? 3. Wo wird ausgewichen? Aus welchen Gründen vermutlich? 4. Wo wird verdeckt geantwortet? 5. Welche Gefahr bergen Entscheidungsfragen (Ja/Nein-Fragen)? Wann lassen sie sich schwer umgehen? 6. Nehmen Sie eine Zuordnung des in M3 vorliegenden Interviews in das Spektrum der Textart „Journalistisches Interview“ vor und begründen Sie Ihre Klassifizierung. 7. Prüfen Sie, inwiefern das ausgewählte Interview in Form und Diktion der Interviewtechnik kompatibel ist zur Linie der SZ-Redaktion.

5.4.2

Klausurvorschläge 1. Analyse eines Interviews entsprechend der Aufgaben, wie unter Längsschnitt 2 dargestellt. 2. Vergleich von zwei Interviews in Bezug auf Gesprächsatmosphäre, Fragetechnik: • • •

Beschreiben Sie, wie die Eröffnungsfrage, die Thema-Einführung (inhaltlich und sprachlich) erfolgt. Entscheiden und begründen Sie, welches Interview überwiegend informativ oder argumentativ oder dekuvrierend durchgeführt wurde. Untersuchen Sie Verhalten und Temperament von Informant und Interviewer ( Witz / Humor, Flexibilität, Dominanz, usw.)

44

Textarten

5.4.3

Projektvorschlag 1: Selbst ein Interview führen; Material 5

01

Die Vorbereitung eines Interviews: Vorinformation und technische Mittel Welches Thema?

Relevanz / Brisanz / Aktualität

Wen fragen wir?

Suche nach einem Informanten, Interviewpartner: Neue Lehrkraft, Schulleiter/in, Leitung eines Jugendtreffs, örtliche Parteivorsitzende

Was fragen wir?

Katalog von Fragen

Wie fragen wir?

Gliederung des Fragenkatalogs gemäß der Zielsetzung. Es gibt Fragen, die man nicht direkt stellt, sondern „einkleidet“. Durch solche „eingekleideten“ Fragen können Sie oft mehr heraus bekommen als durch direkte Fragen.

Beispiel:

02

SPIEGEL:

Herr Professor May, Sie haben ein Automobil?

May:

Jawohl, ich habe.

SPIEGEL:

Mit dem fahren Sie auch in die Hamburger Innenstadt?

May:

Auch das, ja.

SPIEGEL:

Das dürfen Sie eigentlich nicht, wenn Sie sich selbst beim Wort nehmen wollten. Ihr Motto lautet: ’Autos, raus aus der Innenstadt’!

Die Durchführung eines Interviews Die Gesprächseröffnung müssen Sie sorgfältig planen. Es gilt, den Interviewpartner für die beabsichtigten Fragen zu gewinnen oder, wie man sagt, dafür zu erwärmen („warming-up“). In einer gelockerten, freundlichen Atmosphäre lässt sich besser sprechen als in einer gespannten. Die Gesprächsbereitschaft des Interviewpartner ist die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen des Interviews. Überlegen Sie sich, ob Sie gleich zu Beginn des Interviews einen Katalog von Fragen vorlegen oder ob Sie nach und nach einzelne Themen entwickeln. Letzteres erfordert natürlich eine geschickte Fragetechnik. Es geht im Interview nicht darum, dem Interviewpartner Auskünfte zu geben, sondern darum von ihm Auskünfte zu erhalten; es geht im Interview nicht darum, den Befragten zu belehren, sondern seine Meinung zu erkunden. Daher sind Informationen von Ihrer Seite nur dann am Platze, wenn sie sich dazu eignen, die Informationen des Befragten abzuklären (also etwa als Einwand). Lassen Sie es nicht dazu kommen, dass der Gesprächspartner den Spieß umdreht und er zum Interviewer wird.

03

Die Auswertung eines Interviews Tonband und schriftliches Protokoll liegen vor. Was machen Sie nun damit? Es liegt nahe, für die Auswertung an eine Veröffentlichung in Form eines „dialogischen Gesprächs“ zu denken. In diesem Fall sollte man dem Befragten Gelegenheit zu redaktionellen Änderungen geben, denn die gesprochene Sprache liest sich häufig schlecht. Diese Darstellungsform hat aber auch Nachteile, vor allem, wenn der Informant lange, monologähnliche Partien liefert (was auch an Ihrer Fragetechnik liegt). Die Form des „dialogischen Gesprächs“ sollte – gegebenenfalls auszugsweise – nur dann gewählt werden, wenn tatsächlich Argument und Gegenargument rasch aufeinander folgen. Als zweite Form der Veröffentlichung bietet sich die Reportage an. Hier haben Sie die Möglichkeit, bloß informative Partien knapp darzustellen und nur die entscheidenden Aussagen als Zitate zu bringen. Ein Interview kann darüber hinaus Stoff für fast alle journalistischen Textsorten liefern, vor allem für Berichte, Leitartikel, Glossen.

45

Textarten

5.4.4

Projektvorschlag 2: Vergleich von Interviewtechniken

01

Gruppenarbeit 1 Die Gruppen prüfen, welche Arten von Interviews in Zeitungen, Zeitschriften, in Rundfunk und Fernsehen im Laufe einer Woche vorkommen. Sie untersuchen, in welchem Zusammenhang (Zeitungsteil, Sendungsart) sie stehen.

02

Gruppenarbeit 2 Verfolgen Sie eine der nächsten Magazinsendungen des Fernsehens, und diskutieren Sie in der Klasse die dort bei einzelnen Beiträgen praktizierte Interviewtechnik.

5.4.5

Definition: Textart Journalistisches Interview M1 Das Interview ist nicht nur eine Darstellungsform, sondern auch eine Methode des Recherchierens. Durch Nachfragen bei Augenzeugen, Fachleuten, Politikern usw. (oft per Telefon) wird ein erheblicher Teil des Nachrichtenrohstoffs beschafft (Materialsammlung). Solch formlose Interviews gehören zum selbstverständlichen Handwerkszeug der Journalisten. Das wissenschaftliche Interview, das Interview der Sozialforschung [...] , ist zwar im Prinzip auch ein Verfahren der Erhebung von Tatsachen, Meinungen und Einstellungen, es folgt aber doch meist strengeren Regeln der Formulierung und Auswertung als das journalistische Interview. Wie aus der Befragung eine Darstellungsform wurde, hat Haller (1991) beschrieben. Das Interview will entweder „die Haltung einer Person zu bestimmten Sachfragen ergründen oder die Persönlichkeit eines Menschen darstellen“ [...] . Selbstverständlich gibt es auch die Mischform. [...] Geformt ist das Interview aber vor allem in den Pressemedien. Auch Zeitungsleute können außer der gerafften Wiedergabe des Gesprächs eine Charakterisierung der befragten Person und eine Schilderung ihrer Aufgaben und ihrer Umgebung versuchen. Aber sie müssen durch Beschreibung ersetzen, was das Fernsehen an unmittelbaren Eindrücken vermittelt. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum das geformte Interview in der Presse selten vorkommt. Beliebt bei Lesern ist allerdings das zum Porträt verarbeitete Interview. Dokumentarischen Wert kann das dialogische Interview erreichen, bei dem der Wortlaut des Gesprächs protokolliert (vor der Veröffentlichung allerdings meistens gestrafft und stilistisch geschönt) wird. Vor allem der Spiegel pflegt diese Form. Michael Haller, der Redakteur beim Spiegel und bei der Zeit war, schreibt: „Interviewen heißt: Antworten einfordern.“ [...] . So ist es. Gelegentlich ist dem Spiegel-Gespräch vorgeworfen worden, es wolle nicht informieren, sondern dekuvrieren, es sei kein Gespräch, sondern eine Inquisition. In Ausnahmefällen wird auch die journalistische Inquisition ihre Berechtigung haben. Oft ist sie aber nur die Übertreibung des Wunsches, den Gesprächspartner zu einer „wesentlichen“ Reaktion zu zwingen. Ein Interview soll keine Vergewaltigung sein, sondern höchstens ein Zweikampf, ein fairer Zweikampf. Schüler des Projekts „Zeitung in der Schule“, die Bundeskanzler Kohl bei einem Interview, wie sie sagten, „auf den Rücken legen“ wollten, sahen sich bald selbst auf dem Rücken liegen - ohne daß es jemandem genutzt hätte [...] . Aus einem Interview sollten beide Gesprächspartner einen Nutzen ziehen, vor allem aber das Publikum.[...] Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg.) : Stichwort: Interview in: Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main , 2000, 6. Auflage, S. 105-107

46

Textarten

5.4.6

Schaubild zu Merkmalen der Textart Journalistisches Interview

47

Textarten

5.4.7

Interview mit Dieter Baumann M3

Dieter Baumann, Olympiasieger mit Faible für die SZ Der Leichtathlet aus Tübingen würde gern einmal die Geheimnisse des Streiflichts lüften

Warum interessieren Sie sich für den Sportteil der Süddeutschen Zeitung? Ich finde es am schönsten, wenn man montags und dienstags die Nachbetrachtungen der Spiele des FC Bayern München liest. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wieviel Häme und Spott eine heimische Zeitung für den heimischen Klub hat.

Aber das kann ja nicht alles sein? Nein, Spaß beiseite. Es ist eine tolle Mischung für mich, der ja auch Insider ist, hier diese Hintergrundberichterstattung zu haben, über Sportpolitik die Tiefe zu erhalten, die dieser Sportteil hat, wie auch die gesamte Zeitung die Tiefe besitzt. Das macht sie für mich interessant.

Gibt es trotzdem etwas, was Sie stört, was Sie anders machen würden, was Sie vermissen? Es ist ein ganz persönliches Problem, weil ich in Tübingen weit weg bin von der Heimat der Süddeutschen Zeitung. Ich bekomme immer nur die Fernausgabe der SZ, und hier bin ich insofern im Nachteil, als sie nicht unbedingt aktuell ist und als dann Artikel, die eben aktuell geschaltet werden für die Nahausgabe, in der Fernausgabe auch einen Tag später nicht mehr gedruckt werden. Das ist natürlich schade. Aber damit kann ich leben.

Wie sind Sie überhaupt auf die Süddeutsche Zeitung gekommen, seit wann sind Sie Abonnent? Ich denke, so 1991 oder 1992 muß das gewesen sein. Es war eigentlich ein Notbehelf. Ich konnte unser heimisches Blatt nicht mehr lesen. Ich nenns Revolverblatt: Es nimmt eine Zwitterstellung ein zwischen Bild und seriös, die Berichterstattung war unbefriedigend. Dann habe ich mich entschlossen, eine große Überregionale zu nehmen, und da fiel verständli-

cherweise die Wahl auf die Süddeutsche Zeitung. Ich wohne in Süddeutschland, und das ist eben schon eher mein Kulturbereich.

Es ist bekannt geworden, daß Sie mal kurz reinschnuppern möchten in die Redaktionsarbeit. Das würde mich auf jeden Fall interessieren, und ich hoffe, daß ich es auch umsetzen kann. Das ist für mich natürlich manchmal problematisch. Solange ich mit dem Sport plane, könnte es sein, daß die Redakteure mit mir verzweifeln. Ich habe schon die Ankündigung gehört: Ja, wenn er kommt, dann muß er aber arbeiten. Ein schreckliches Wort: arbeiten. Aber sehen wir mal von dem Umstand ab, daß man arbeiten muß, würde es mich trotz allem reizen. Was ich am schönsten finde in der SZ, ist das Streiflicht, und da würde ich gerne seine Geheimnisse lüften. Die große Frage bewegt mich: Wo entsteht das Streiflicht?

Unsere jüngsten Informationen dazu besagen: in einem abgeschlossenen Raum. Oder im Biergarten.

Sie besitzen keinen Fernsehapparat und sind vielleicht noch mehr als andere auf die Informationen einer Tageszeitung angewiesen. Sie genügen Ihnen offensichtlich? Absolut. Unsere Welt ist ja wahnsinnig. Ich hab mal über einen Professor gelesen, der genau dies thematisiert hat, wobei es ums Internet ging. Aber man kann es auf alles Mögliche übertragen. Das Internet liefert Informationen. Überall kann man mittlerweile Informationen aufnehmen, sammeln, lesen, hören, sehen. Wir werden totgeschlagen von Informationen. Das Problem ist, wir können sie nicht mehr analysieren. Wir haben zu viele. Deswegen reicht mir eine Tageszeitung, und dann setze 48

Textarten

ich mit den dort angebotenen Artikeln auseinander. ich muß auch gestehen: Jeder, der ein Kind hat, oder womöglich noch mehr, und der berufstätig ist, kann mich darin bestätigen, daß manchmal die Zeit fehlt, sogar nur die Zeitung zu lesen.

In der Beschränkung zeigt sich wieder, einmal der Meister? Es ist natürlich so, wenn ich unterwegs bin, kann mir den Spiegel kaufen oder eine andere Tageszeitung, und all das reicht aus, um den Trend

des Zeitgeistes zu erkennen. Man muß nicht jede Zeitung jeden Tag von vorne bis hinten lesen, um seinen Wissensdurst zu stillen. Manchmal – das kann ich jedem empfehlen – soll er rausgehen in den Wald und spazieren gehen, und ich glaube, die Erkenntnisse dort sind viel reicher, als eine Zeitungslektüre sie gelegentlich zu bieten vermag. Interview: Robert Hartmann; Aus: SZ-intern 1998, S. 8

49

Textarten

5.4.8

M4

Ausgewählte SZ-Interviews Rubrik

Seite

Informant

1

Erscheinungsdatum 2002 25. Juli

Interviewer / Interviewerin Joachim Käppener

Nachrichten

5

2

25. Juli

Feuilleton

13

3

25. Juli

Bayern

29

Petra Roth, Präsidentin des deutschen Städtetages Philippe Arlaud, Regisseur der Bayreuther Wagner Festspiele Michael Kemmer, Hypo-Vereinsbank Bilanzchef

4

26. Juli

Nachrichten

6

Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident

Philipp Grassmann

5

27. / 28. Juli

Feuilleton

15

Christopher Schmidt

6

29. Juli

Feuilleton

14

Helmut Schödel

Das Leben – eine Bodenlosigkeit

7

30. Juli

Nachrichten

10

Jürgen Flimm, Schauspielchef der Salzburger Festspiele Peter Turrini, Dramatiker für Salzburger Festspiele Peter Hain, britischer Europaminister

Es gibt neue Hiobsbotschaften. Einbruch der Gewerbesteuer noch dramatischer Rebellion mit jungen Hasen auf dem Schnürboden Wir sind nicht der Watschenmann. Warum zahlt die Hypo-Vereinsbank keine Gewerbesteuer? Für Argumente darf kein Geld fließen. Klare Regeln für den Umgang von Politikern mit Vertretern von Wirtschaft und Verbänden Der Abteilungsleiter

Christian Wernicke

8

30. Juli

Medien

35

Bush soll Europa anrufen. London will der EU einen Präsidenten bescheren Keine Dorfzeitung

9

31. Juli

Feuilleton

13

10

1. August

Film

12

11

3. / 4. August

Feuilleton

11

12

3. / 4. August

Sport

39

13

3. / 4. August

Nachrichten

8

14

3. / 4. August

Nachrichten

3

Kristina Maidt- Zinke Martin Hammer

Uwe Vorkötter, Chef der Berliner ZeiOliver Gehrs tung Claus Peymann, Intendant des Berliner Christine Dössel Ensembles Michel Serrault, Schauspieler Marcus Rothe Wladimir Sorokin, der Pornografie bezichtigter Schriftsteller Ingo Schultz, 400-m-Favorit bei der EM Peter Hartz, VW- Vorstandsmitglied und Vorsitzender der HartzKommission zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit Hans Ulrich Kempski, langjähriger SZChefkorrespondent

Sonja Zekri

Überschrift

Alles bleibt anders. Über Vertragsverlängerung, geplatzte Träume und alte Irrtümer Der Duft der Dinge. Über Künste und die Eliten Ich fühle mich wie ein Held von Kafka

Robert Hartmann, Thomas Hahn

Ich bin gerne groß

Oliver Schumacher, Jonas Viering

Mit ewigem Bedenken kommen wir nicht weiter

Tanja Rest, Stefan Kornelius, Alexander Gorkow

Es gibt nichts Schöneres, als ein Zeitalter zu beschreiben. Werte und Glanz eines Reporterlebens

50

Textarten

5.4.9

M5

Überblick: Drei Schritte eines Interviews

Schritt 1: Vorbereitung – Planung

Schritt 2: Durchführung

Klärung des Bedarfs: Überprüfen der anstehenden Themen auf: Aktualität / Brisanz / Relevanz • Wen fragen wir? • Wer hat Sachkompetenz? • Wer hat großen Bekanntheitsgrad? Klärung des Vorwissens: • Welche Art von Interview ist geboten (Situation, Interviewpartner, Redaktionslinie)? • Was weiß ich schon? Zusammenfassung des Vorwissens in Thesen, Arbeitshypothesen als Gesprächsziele

Tonband – Mitschnitt Protokoll – Mitschrift Fotos

Klärung des Informationsbedarfs: • Was weiß ich noch nicht? • Wo hat mein Material Lücken? • Was möchte ich herausfinden?

Klärung der Vorgehensweise Suche nach Ansatzpunkten, um Hypothesen überprüfen zu können: • Für welche Phasen sind direkte Fragen geeignet? • Für welche eingekleidete Fragen? • Sammeln der Leitfragen • Gliedern der Leitfragen Technisches • Terminvereinbarung mit Informanten • Festlegen einer Gesprächseinleitung • Überlegungen zur Sitzordnung Festlegung der Arbeitsteilung: • Wer fragt? Wer schreibt auf? Wer macht Fotos? • Wer überprüft, ob alle Fragen angesprochen und geklärt sind? Probedurchlauf mit Teammitgliedern (als Rollenspiel)

Auf den Interviewpartner einstellen: • Angemessene Kleidung • „Warming up“ • Angemessen auf evtl. Zeitdruck reagieren • Klärung des Zeitrahmens • Evtl. Überblick über Fragebereiche geben Souveränes Verhalten: Freundliches, aber bestimmtes Nachhaken Wahrung der Rolle des Interviewers: nicht in Rolle des Interviewpartners drängen lassen

Flexibel reagieren, falls der Befragte interessante Themen anschneidet, an die man vorher nicht gedacht hat

Das Interview beenden, wenn der Befragte sich nur noch wiederholt und vielleicht aus Zeitgründen unruhig wird

Schritt 3: Nachbereitung – Auswertung

Nachbereitung 1: Zügiger Abgleich zwischen Notizen / Erinnerung Überprüfen der Ausgangshypothese

Nachbereitung 2: Was hat der Interviewpartner wirklich gesagt? Sind die Ausgangshypothesen zu korrigieren? Zu modifizieren? Gibt es noch Rückfragen an den Gesprächspartner? Nachbereitung 3: Kurzer Dankesbrief, evtl. mit redigiertem Interviewwortlaut zwecks Bestätigung und redaktioneller Überarbeitung durch den Befragten.

Auswertung: Reines Interview = Form des dialogischen Gesprächs Eingekleidetes Interview = Form der Reportage

51

Textarten

5.5

Die Meinungsseite – Der Kommentar

5.5.1

Arbeitsvorschläge Die Arbeitsaufträge sind in ihren Ansprüchen durchaus verschieden, so dass für Lerngruppen unterschiedlicher Altersstufen und Interessen geeignete Vorschläge zu finden sein sollten. Die folgenden Arbeitsaufträge sind sowohl geeignet für: • Frontalunterricht bzw. lehrkraftorientierten Unterricht • Arbeitsgleiche Kleingruppenarbeit • Arbeitsteilige Kleingruppenarbeit Vorstellbar sind •







01

Deduktive Zugriffsweisen: Der Unterricht geht z.B. aus von der Definition der Textsorte. Kern der folgenden Unterrichtsarbeit ist es, diese allgemeingültigen Merkmale in den konkret vorliegenden Materialien wieder zu finden. Induktive Zugriffsweisen: Der Unterricht geht z.B. aus von zwei Kommentaren. Kern der Unterrichtsarbeit ist es, die Gemeinsamkeiten in Form und Inhalt herauszuarbeiten. Längsschnitte: Die Bekanntheit mit einer Textsorte wird vorausgesetzt. Kern der Unterrichtsarbeit ist es, evtl. Typisches, charakterisierendes in der Redaktionslinie der SZ durch die Untersuchung einer Textsorte über einen engeren Zeitraum zu entdecken. Querschnitt: Der Unterricht geht von der Bekanntheit des Aufbaus einer Meinungsseite aus. Kern der anschließenden Unterrichtsarbeit ist es zu untersuchen, ob in dem exemplarischen Zugriff evtl. Typisches für die Struktur dieser Seite sichtbar geworden ist.

Die Bearbeitung eines einzelnen Kommentars vgl. Material 5 und Material 6 1. Inhaltsanalyse eines Kommentars •

Welcher Vorgang (aktuelles Ereignis; Entwicklung) wird angesprochen? Welche Meinung soll untersucht werden? • Warum ist es zu diesem Vorgang gekommen? • Welche Folgen / Auswirkungen könnte der Vorgang haben? 2. Spalte zur Wiedergabe des Kommentars 3. Argumentationsanalyse: Argumentationsweise; gedankliche Verknüpfung. 4. Analyse von inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln 5. Funktion der inhaltlichen und formalen Gestaltungsmittel sowie der Argumentationsweisen 6. Einschätzung von Argumentation und Gestaltung 7. Gesamteindruck, den der vorgelegte Kommentar bei der Leserin / beim Leser hinterlässt. • •

Will der Kommentar einen Sachverhalt erläutern / bewerten / kritisieren ...? Ist die Haltung des Verfassers distanziert / wohlwollend / ermutigend / verhalten optimistisch ...?

52

Textarten

8. Nehmen Sie Kürzungen an einem vorgelegten Kommentar vor. Vergleichen Sie Ihren Kürzungsvorschlag mit denen Ihrer Mitschüler/innen. Diskutieren Sie Wirkungsunterschiede zwischen der ursprünglichen Vollversion und den Kürzungsvarianten.

02

Längsschnitt I in der Bearbeitung / Vergleich von Kommentaren 1. Sammeln Sie 6 Kommentare aus 6 verschiedenen SZ-Ausgaben. 2. Untersuchen Sie, ob diese Kommentare einem gemeinsamen / verwandten Themenfeld zuzuordnen sind. 3. Arbeiten Sie heraus, wodurch das Kommentar-Thema in das aktuelle Blickfeld geraten ist. 4. Prüfen und erläutern Sie, ob / inwiefern in der gegebenen Auswahl Ausgewogenheit herrscht in Bezug auf die Geschlechter der Autorinnen / Autoren sowie der Kommentator(inn)en. 5. Untersuchen Sie, ob diese Kommentare bei der Leserin / beim Leser einen vergleichbaren Gesamteindruck hinterlassen auf Grund der Argumentationsweise, der Komposition, der Haltung der Verfasserin / des Verfassers.

03

Längsschnitt II in der Bearbeitung / Rubrik „Blick in die Presse“ 1. Sammeln Sie für mehrere Tage die unter der SZ-Rubrik abgedruckten Pressestimmen. 2. Untersuchen Sie, ob aus bestimmten Presseorganen bevorzugt zitiert wird (national / international). 3. Untersuchen Sie, in welchem Verhältnis die Meinungen, die in den abgedruckten Pressestimmen zum Ausdruck kommen, zur Meinung der SZ-Redaktion stehen (Gegenmeinungen, Bestätigungen).

04

Längsschnitt III in der Bearbeitung / Rubrik „Im Profil“ 1. Sammeln Sie für eine Woche die „Im Profil“-Beiträge. 2. Prüfen und erläutern Sie, ob / inwiefern es in der gegebenen Auswahl Themenschwerpunkte festzustellen gibt. 3. Erarbeiten Sie inhaltliche Gemeinsamkeiten in der gegebenen Auswahl von „Im Profil“-Beiträgen. 4. Arbeiten Sie heraus, wodurch die „Im Profil“-Person in das aktuelle Blickfeld geraten ist. 5. Prüfen und erläutern Sie, ob / inwiefern die Platzierung dieser Beiträge auf Seite 4 „Meinungsseite“ berechtigt ist. 6. Prüfen und erläutern Sie, ob / inwiefern in der gegebenen Auswahl Ausgewogenheit herrscht in Bezug auf die Geschlechter der Autorinnen / Autoren sowie der „Im Profil“-Personen.

53

Textarten

05

Querschnitt 1. Untersuchen Sie die Struktur der Meinungsseite. •

2.

Wie viele Möglichkeiten Meinungen zur Darstellung zu bringen, sind auf der Meinungsseite zu erkennen? • Gibt die Platzierung eines Beitrags einen Hinweis auf die innere Struktur des Beitrags? • Untersuchen Sie, ob es z.B. im Laufe von einer Woche zu Verdichtungen kommentierter Themen kommen kann. Arbeit an Material 3 •

• •



06

Bestimmen und erläutern Sie das Bild, das die SZ-Redaktion von sich selbst in Bezug auf die Struktur der Meinungsseite entwirft. — Warum wird auf Seite 4 die Bündelung von Meinungstexten vorgenommen? — Warum wird auf den ersten vier Seiten auf Werbung verzichtet? — Welche Überlegungen und praktischen Erfordernisse führten zur beschriebenen Struktur der Meinungsseite? Prüfen Sie an Hand Ihrer eigenen Querschnittsanalysen das von der SZRedaktion entworfene Selbstbild. Erläutern Sie mit Hilfe von Material 4 die Funktion des Impressums. — Welche Angaben werden im Impressum aufgeführt? — Warum besteht die gesetzliche Pflicht, ein Impressum abzudrucken? — Warum werden Redakteure namentlich genannt? — Welche redaktionellen Zuständigkeitsbereiche (=Ressorts) führt das Impressum auf? Erläutern Sie die Platzierung des Impressums auf Seite 4.

Arbeit an reflektierenden Texten Was ist kennzeichnend für einen Kommentar?

54

Textarten

5.5.2

Klausurvorschläge Thema 1 Analyse und Bewertung eines Kommentars: vgl. Material 5 und Material 6 Thema 2 1. Aus redaktionellen Gründen müssen Sie den Kommentar von drei auf zwei Spalten reduzieren. Begründen Sie, wo Sie Kürzungen vornehmen konnten. 2. Vergleichen Sie die ursprüngliche Vollversion mit der von Ihnen hergestellten Kurzversion: Erläutern Sie, ob es Unterschiede in Bezug auf die Verdeutlichung von Zusammenhängen sowie Bewertung des Vorgangs gibt. Thema 3 1. Arbeiten Sie die Kernaussagen heraus und bestimmen Sie die Intention des Verfassers. 2. Prüfen und erläutern Sie, ob Sie als Redakteur der Süddeutschen Zeitung den vorgelegten Text unter die Rubrik „Leitartikel“ oder „Kommentare (Editorial)“ platzieren können. Thema 4 Gegeben sind mehrere Materialien, die zum einen mehr Klatsch und Tratsch als Angaben zu einer Biographie vermitteln, zum anderen mehr polemische Äußerungen darstellen als auf eine ausgewogene Argumentation abgestimmt sind. Prüfen und erläutern Sie, welchen der vorgelegten Texte Sie als Redakteur der Süddeutschen Zeitung unter die Rubrik „Im Profil“ und/oder „Kommentare (Editorial)“ platzieren können.

55

Textarten

5.5.3

Definition Textart Kommentar M1 Der Kommentar interpretiert und bewertet aktuelle Ereignisse und Meinungsäußerungen. Gegenüber dem Leitartikel ist er, wenigstens scheinbar, eine nicht so subjektive, eine eher sachbezogene Meinungsstilform. Die Sprachwurzel mens des lateinischen Wortes commentari (— überdenken) deutet darauf hin, daß der Kommentar mit Verstand zum Verstehen führen will: Er argumentiert, indem er Tatsachen in Zusammenhänge stellt, das Entstehen von Meinungen untersucht und deren Bedeutung diskutiert. Er ist die Meinungsstilform, die eher Fragezeichen als Ausrufezeichen setzt. Allerdings sollte er auch nach Antworten suchen. Von den sieben nachrichtlichen W`s (Wer, Was, Wann, Wo, Welche Quelle, Wie, Warum) ist für ihn das Warum besonders wichtig. Hinzu kommt als achtes W: Welche Schlußfolgerung (whence)? Weil der Kommentar sowohl Tatsachen (erläuternd, interpretierend) als auch Meinungen (begründend, beweisend, widerlegend) erörtert, wird der Begriff Kommentar häufig für meinungsbetonte Formen überhaupt verwendet (etwa in der Gegenüberstellung „Nachricht und Kommentar“). Diesem Begriffswandel kommt auch die Tatsache entgegen, daß die Funkmedien in der Bundesrepublik nur „Kommentare“ bringen (soweit sie öffentlich-rechtlichen Status haben, sind sie gehalten, verschiedene Meinungen, aber nicht eine einheitliche Stellungnahme „der“ Redaktion auszustrahlen). Der Leitartikel ist eine spezifische Stilform der Presse geblieben. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg): Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main, 2000, 6. Auflage, S. 108 - 110

5.5.4

Merkmale: Kommentar als Meinungsbeitrag Was ist Gegenstand?

Was leistet der Kommentar?

• Aktuelle Ereignisse • Tatsachen • Entwicklungen

• Gibt Orientierungshilfe — Interpretation, Erläuterung — Verdeutlichung von Zusammenhängen — Bewertung

• Warum? • Welche Schlussfolgerung?

• Meinungen

• Gibt Orientierungshilfe — Beweis: Verifikation — Widerlegung: Falsifikation — Bewertung

• Warum? • Welche Schlussfolgerung?

Argumentationsmerkmale • Inhaltlich getrennt von Nachricht • Nachvollziehbar • Intersubjektiv überprüfbar

M2

Antwort auf folgende W-Fragen:

Platzierung • Räumlich getrennt von Nachricht

56

Textarten

5.5.5

Werkstattbeitrag zur Struktur der Meinungsseite der SZ M3 Im Angelsächsischen heißt die Meinungsseite einer Zeitung editorial page. Frei übersetzt bedeutet dies soviel wie die Seite der Redakteure. Das entspricht der guten, alten angelsächsischen Tradition der Trennung von Nachricht und Meinung. In den Nachrichten, Berichten und Reportagen hat die Meinung der Redakteure nichts zu suchen. Da sollen sie so objektiv wie möglich die Fakten zusammentragen. Die Bewertung der Nachrichten und Hintergründe gehört auf eine eigene Seite, optisch getrennt vom Rest der Zeitung. Diese klare Unterscheidung ist in die deutsche Presse erst nach dem Krieg eingezogen. Die räumliche und auch optische Abhebung der Meinung hat sich aber bis heute nicht allgemein durchgesetzt. In vielen Zeitungen stehen Leitartikel noch auf der ersten Seite, gleich neben den wichtigsten Nachrichten. Auch die SZ hat bis zur Mitte der sechziger Jahre den Leitartikel auf der ersten Seite veröffentlicht. Die Einrichtung der Meinungsseite, der Seite 4, erfolgte mehr aus praktischen Erwägungen als aus prinzipiellen Überlegungen. Nicht nur schwoll der Nachrichtenstoff immer mehr an, mit der Vergrößerung des eigenen Korrespondentennetzes wuchs auch die gründliche Darstellung der News. Also mußte auf der ersten Seite Platz geschaffen werden. Die Kommentare, bis dahin auf die Seite drei verbannt, waren den Reportagen und Features im Wege. So lag es nahe, die Meinungsartikel nach angelsächsischem Vorbild auf einer Seite zusammenzufassen. Als einzige große deutsche Zeitung hat die SZ damit Nachrichten (auf den Seiten 1, 2, 5, 6, 7 und folgende), Reportagen (Seite drei) und Meinungen (Seite vier) klar getrennt. Als einzige große deutsche Zeitung hält sie auch die vier ersten Seiten völlig frei von Anzeigen. Es wäre mit ihrem Verständnis von Unabhängigkeit völlig unvereinbar, wenn auf der Meinungsseite mit einer Anzeige Ansichten der Redaktion konterkariert werden könnten. Diese Seite ist die Seite der Redakteure, das Allerheiligste der Zeitung: nicht weil wir unsere Meinung so wichtig nehmen, sondern weil wir uns vorbehalten, auf dieser Seite unsere Meinung zu sagen. Deshalb dürfen auf der Meinungsseite nur Redaktionsmitglieder oder – in Ausnahmefällen – langjährige feste Mitarbeiter schreiben. Außenseitern bleibt sie verschlossen. Der Grund ist einfach: Hier schreibt die SZ. Warum sind die Artikel dann mit Autorennamen oder -kürzeln gezeichnet? Der Autor soll sich nicht in die Anonymität zurückziehen. Er soll hinter der Meinung sichtbar werden, er soll sie vertreten. Heißt das aber, daß er schreiben muß, was die Redaktion will? Nein, natürlich nicht. Bedeutet es dann, daß er schreiben kann, was er will? Nein, natürlich auch nicht. Eine Redaktion ist ein komplizierter Organismus. Sie muß sich nicht nur auf einige unabdingbare Grundsätze verpflichtet wissen, sondern auch in der Lage sein, einen Minimal-Konsens in politischen Streitfragen zu entwickeln. Daraus ergibt sich die Bandbreite der Meinungen, aber auch die Bereitschaft der Redakteure, die veröffentlichten Ansichten von Kollegen mitzutragen. Bei einem liberalen Blatt wie der SZ ist diese Bandbreite sicher größer als bei Zeitungen mit Links- oder Rechtssympathien. Liberal wird bei der SZ deshalb mit einem kleinen „l“ geschrieben, das heißt, sie hat auch mit der sich so etikettierenden Partei nichts zu tun. Sie nimmt Partei, aber sie ist kein Parteiblatt. Sie kommentiert kritisch und unabhängig nach gründlicher Abwägung des Für und Wider. Die Meinungsseite soll nicht langweilig sein. Deshalb enthält sie täglich eine Karikatur und seit 1988 auch „Im Profil“ das Kurzporträt einer Persönlichkeit, die „in the news“ ist. Auch die Karikatur ist ein Kommentar, und zwar ein kompromißloser. Nach einem Bonmot des berühmten englischen Karikaturisten Low besitzt die Zeichnung gegenüber dem Leitartikel einen unschätzbaren Vorteil - man kann darin nicht einerseits und andererseits sagen. Aus: Süddeutscher Verlag (Hg.): 50 Jahre Süddeutsche Zeitung Eine Chronik. München 1995, S. 67 f 57

Textarten

01

Zum Impressum der Süddeutschen Zeitung (1)

M4

Das Impressum gehört zu den festen, vom Gesetz vorgeschriebenen Bestandteilen einer Zeitung. Das war nicht immer so. In Zeiten der staatlichen oder kirchlichen Unterdrückung und Bevormundung der Journalisten bot Anonymität einen Schutz gegen Verfolgung und Bestrafung wegen kritischer Veröffentlichung – wo niemand als verantwortlich genannt war, konnte niemand zur Rechenschaft gezogen werden. Eine kuriose Erscheinung war der sogenannte „Sitzredakteur“. Nur er wurde als „verantwortlich“ genannt und hatte keine andere Aufgabe, als im Falle einer rechtlichen Beanstandung oder Verurteilung der Zeitung die Strafe gleichsam stellvertretend „abzusitzen“. Diese Zeiten sind vorbei. In der Demokratie, die Presse- und Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich sichert, gehört es zu den Spielregeln, aber auch zur juristischen „Waffengleichheit“ zwischen den Journalisten und ihren „Opfern“, daß die Zeitung im Impressum detailliert die Verantwortlichen angibt. Im Bayerischen Pressegesetz heißt es zum Impressum unter anderem: „Auf jedem in Bayern erscheinenden Druckwerk muß der Drucker und Verleger, beim Selbstverlag der Verfasser und Herausgeber genannt sein. Zeitungen und Zeitschriften müssen auf jeder Nummer außerdem den Namen und die Anschrift des oder der verantwortlichen Redakteure enthalten. Sind mehrere verantwortliche Redakteure bestellt, so muß ersichtlich sein, für welches Sachgebiet ein jeder verantwortlich ist. Auch für den Anzeigenteil muß eine verantwortliche Person benannt werden.“ Das Impressum der SZ entspricht diesen Vorschriften. Doch das Impressum erfüllt noch zwei weitere Funktionen. Es ist die Visitenkarte der SZ, gibt Einblick in den inneren Aufbau der Redaktion, benennt deren Repräsentanten. Daneben ist es eine Art Anschriftenverzeichnis: Wer immer mit der Redaktion, dem Verlag oder der Anzeigenabteilung in Kontakt treten möchte, findet hier die richtige Adresse. Aus: Süddeutscher Verlag (Hg.): Von der ersten bis zur letzten Seite – Süddeutsche Zeitung. München 1989, S. 34

02

Zum Impressum der Süddeutschen Zeitung (2) Lateinisch für „Das Ausgedruckte“. Das Impressum ist für allgemeine Druckerzeugnisse presserechtlich vorgeschrieben. Es benennt den verantwortlichen Verleger und die Firma des Druckers. Bei periodischen Druckwerken wie Zeitungen oder Magazinen enthält es auch die Namen des oder der verantwortlichen Redakteure. Manche Publikationen veröffentlichen auch die komplette Namensliste der Redaktion. Wo nur ausgewählte Redaktionsmitglieder ins Impressum aufgenommen werden, ist dies auch ein Statussymbol und deswegen besonders begehrt. Aus: SZ-intern 1998, S. 4

58

Textarten

5.5.6

Kommentar — Arbeitsbogen 1 Zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln (1) Inhalt

1. Welcher Vorgang wird angesprochen?

Erwartete Dollar / Euro Parität eingetreten. Furcht vor Wettbewerbsnachteilen von EUProdukten auf Weltmarkt

2. Warum ist das Geschehen eingetreten? Euro ist nicht selbst stark. Euro scheint nur stark angesichts der Schwäche des Dollars.

Kausalursachen

(2) Text Märkte ohne Vertrauen Ein Euro kostet wieder einen Dollar - hoffentlich hält sich die Aufwertung in Grenzen Von Nikolaus Piper; SZ 16. Juli 2002 Seit Tagen hatten Politiker, Händler und Spekulanten darauf gewartet – am Montag war es nun so weit: Der Euro hat zum ersten Mal seit fast zweieinhalb Jahren wieder die magische Marke von einem Dollar überschritten. Die Stimmung in Europas Wirtschaft ist zwar schlecht, aber zumindest der Euro ist heute stark, so stark, dass manche Exportfirmen bereits um ihre Wettbewerbsfähigkeit fürchten. Tatsächlich ist an den Devisenmärkten zurzeit weniger eine Euro-Stärke als eine DollarSchwäche zu beobachten. Zweifel am Aufschwung in Amerika, Zweifel an der Zukunft der Wall Street und Sorgen wegen des noch völlig ungeklärten Ausmaßes von Bilanzfälschungen und Insiderhandel in großen Unternehmen

(3) Argumentation

(4) Stil

(5) Funktion

Situationsfeststellung

Tempuswechsel Aufzeigen der Protagonisten

Betonung einer zeitlichen Entwicklungslinie Allg. Wichtigkeit, da mehrere Gruppen betroffen

M5

Wdhlg. temporal Konjunktion Alliteration Herausstellung der Besonderheit der Situation Kontaktwiederholung

These 1

Faktum Faktum

Faktum

Vergleich zwischen Emotion und Sachlage Wortwiederholung; Parallelismus Metapher / Sinnbild Fachterme additive Reihung

Verstärkung

Herausstellung der Stimmung Veranschaulichung, Verkürzung der Darstellung Verkürzung der Darstellung

59

Textarten

Kausalursachen

Kausalursachen

Kausalursachen

Kausalursachen

lassen ausländische Anleger zögern, im bisherigen Umfang ihr Kapital in die Vereinigten Staaten zu bringen. Außerdem verstehen sie die Signale aus der amerikanischen Regierung und der Notenbank so, dass man in Washington mit Rücksicht auf die eigene Konjunktur nicht mehr an einer starken Währung interessiert ist. Daher haben sich die Vorzeichen auf den Devisenmärkten umgekehrt: Nicht mehr der Euro, sondern der Dollar leidet unter der Vertrauenskrise. Der größte Risikofaktor hinter den Wechselkursen ist ein riesiges Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft, das sich in dem historisch einmaligen Handelsdefizit der Vereinigten Staaten äußert. Bisher profitierten alle von dem Ungleichgewicht: Amerika finanzierte seinen Aufschwung mit dem Kapital der Welt und zog gleichzeitig die Weltkonjunktur mit. Weil der Dollar teuer war, konnten Porsche und BMW ihre Luxusautos billig jenseits des Atlantiks verkaufen, Amerika schaffte einen Aufschwung ohne Inflation.

Faktum

Folgerung

Anspruch auf umfassende Erläuterung

Adversativ

Fazit

Faktum

Adjektive / Superlative

Umkehrung der Sachlage

Dramatisierung

Faktum

Tempuswechsel

Rückblende / Vergleich

Faktum

60

Textarten

Mit dem Ende des Booms haben sich die Voraussetzungen des Spiels geändert: Dem Defizit entsprechen nicht mehr hohe Investitionen, Amerika finanziert seinen Konsum auf Pump. Dieser Zusammenhang ist den Währungsspekulanten nicht verborgen geblieben. Bisher ist die Abwertung des Dollars nicht dramatisch, sondern eher die Rückkehr zur Normalität. EuroKurse von 90 USCent und weniger hatten nichts mehr mit dem tatsächlichen Verhältnis der Kaufkraft zu tun, sondern waren Teil der New-EconomySpekulationsblase. Bislang gilt es als unwahrscheinlich, dass die europäische Gemeinschaftswährung wieder zu jenen 1,18 Dollar zurückkehren wird, mit denen sie am 1. Januar 1999 gestartet ist. Die meisten Händler rechnen für die nahe Zukunft mit einem Kurs nahe der Parität – ein Dollar für einen Euro, schon weil das so einfach zu rechnen ist.

Faktum

These 2

Tempuswechsel

Wdhlg: Bisher, Bislang

Blickorientierung auf gegenwärtige Lage

61

Textarten

3. Welche Folgen / Auswirkungen könnte das Geschehen haben?

Rückkehr zu einer normalen Bewertung von Dollar und Euro

Mögliche zukünftige Entwicklungen

Der teurere Euro macht Exporte teurer und Importe billiger, das eine ist für die heimische Wirtschaft von Nachteil, das andere von Vorteil. Bricht der DollarKurs regelrecht ein; ist der Aufschwung am Ende, noch ehe er richtig begonnen hat. Hält sich die Entwicklung aber in Grenzen, dann überwiegen die Vorteile; die Inflation geht weiter zurück und die Europäische Zentralbank hätte sogar den Spielraum, um noch einmal die Zinsen zu senken.

Faktum

Temporalkonjunk tionen

Faktum

Hinweis auf sich wandelnde Situation

Faktum

Adversativ These 3 Konsekutiv

Konjunktiv Konsekutiv

Vergleich von zwei möglichen Trends Verdeutlichung eines möglichen Handlungszusammenhanges Chance, Möglichkeit

(6) Einschätzung der Argumentation und der Gestaltung Der Text ist in seiner Argumentation klassisch aufgebaut: These – Argument – Beispiel. Die Ausführungen sind also klar strukturiert und deshalb gut nachvollziehbar. Statt der Beschreibung verwirrender Details werden relevante Zusammenhänge verdeutlicht. Temporale und adversative Aspekte werden betont, so dass mit der Gegenüberstellung der alten und der neuen Lage eine Entwicklung nachvollziehbar wird. (7) Gesamteindruck Der Kommentar ist sachlich, abwägend in Bezug auf zukünftige Trends. Im Ton verhalten optimistisch.

62

Textarten

5.5.7

Kommentar — Arbeitsbogen 2 Zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln (1) Inhalt

BverfG-Leitsatz: Grundrechte zur Abschiebung gelten auch für Ausländer und Asylbewerber

Im Realvollzug der Abschiebung von Ausländern und Asylbewerbern wurde seit 1993 verstärkt gegen rechtstaatliche Grundregeln verstoßen

(2) Text Eins plus eins gleich zwei. Auch Ausländer sind Menschen. Warum oberste Gerichte Selbstverständlichkeiten sagen müssen; Von Heribert Prantl; SZ vom 17. Juli 2002 Es mag auch in Vorlesungen über höhere Mathematik gelegentlich vorkommen, dass der Professor seine Studenten auf die simplen Grundlagen des Faches hinweisen muss – auf die vier Grundrechenarten also. So etwas ähnliches hat soeben auch das Bundesverfassungsgericht getan. Das oberste deutsche Gericht hat im Leitsatz eines Beschlusses zum Asyl, Ausländer- und Abschieberecht den deutschen Staatsgewalten erklären müssen, dass die Grundrechte auch für Ausländer und Asylbewerber gelten, selbst dann, wenn sie ausreisepflichtig sind. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch das Selbstverständliche ist, wenn es ums Ausweisen und Abschieben geht, schon lange nicht mehr selbstverständlich. Verwaltungsbehörden, Polizei und Haftrichter haben offensichtlich die

(3) Argumentation

(5) Funktion

Wortwahl (simpel) Emphatische Satzstellung

Um den Gehalt des anzusprechenden Problems im Feld der deutschen Rechtsordnung zu veranschaulichen, wird eine (Schul- / Universitäts-) Alltagserfahrung herangezogen.

Analogie Evidenz

Faktum

Vergleich

Emphase

Paradoxon These 1

M6

(4) Stil

Wiederholung

Anspielung auf das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive. Durch die Endstellung werden die Zielgruppen herausgestellt.

Damit wird das Unerhörte im regelmäßigen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundregeln verdeutlicht. Die paradoxe Formulierung stellt auch das Kernproblem heraus.

63

Textarten

Beispiel für „Realvollzug“

Definition von „unverzüglich“

Das Bundesverfassungsgericht

Verkürzung des Asylgrundrechts im Jahr 1993 als generelles Signal verstanden, dass man es in diesem Bereich mit den rechtsstaatlichen Grundregeln nicht so genau nehmen muss. Es ist nämlich üblich geworden, dass man die Leute auch ohne Abschiebehaftbefehl zwangsweise aus dem Land schafft, ja ohne dass ein Richter die Leute überhaupt noch einmal zu Gesicht bekommt. „Realvollzug“ nennt sich das in der Verwaltungssprache: Die Polizei klingelt morgens um fünf bei der ausländischen Familie, dann geht es mit Mann und Maus ins Gefängnis und von da aus ab nach Ghana oder in die Türkei. Unter die Räder kommt dabei der Artikel 104, Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen“. Das Verfassungsgericht hat nun den Behörden das Wort „unverzüglich“ so engelsgeduldig erklärt wie Analphabeten das Alphabet. Unverzüglich heißt:

Folgerung Correctio

Metapher, Alliteration, Metapher Autorität

Vergleich Analogie

Emphase Parallelismus

Zuspitzung der als unerhört zu betrachtenden Verstöße.

Redewendung zur Umschreibung der komplexen Veränderungen, die durch eine Abschiebung für die Betroffenen entstehen.

Vergleich soll verdeutlichen, dass die Ausführungsbehörden wissen mussten, was rechtens war. Wiederholung in betonter Satzan-

64

Textarten

fassungsgericht hat der Verrohung rechtsstaatlicher Sitten Einhalt geboten

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Zum Fall Mehmet

Man darf nicht erst warten, bis das Flugzeug mit den Abgeschobenen in der Luft ist. Unverzüglich heißt, dass der zuständige Richter nicht erst einmal am Freitag um vier ins Wochenende geht. Ein Bereitschaftsrichter muss den Fall rechtzeitig prüfen – bei Menschen, die wegen Straftaten verhaftet werden, ist das selbstverständlich, bei Menschen, die wegen Ausreisepflicht verhaftet wurden, jedoch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat solcher Verrohung rechtsstaatlicher Sitten nun Einhalt geboten. Der Beschluss gehört in eine Reihe ähnlicher Judikate, in denen Karlsruhe verhindert, dass mit Floskeln wie „Gefahr im Verzug“ die Grundrechte bagatellisiert werden. Hierher gehört auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Mehmet: Die bayerischen Behörden hatten 1998 den kriminellen Jugendlichen mit einer juristisch windigen Begründung nach Istanbul abgeschoben, obwohl der Bub in Deutschland geboren und hier aufgewachsen war.

mus

fangstellung. In syntaktischen Parallelen lassen sich inhaltlich unterschiedliche Verhaltensweisen kontrastieren.

These 2 / Fazit 1

Fachterminus

Unterstreicht Kompetenz des Kommentators.

Kommentierung

Kommentator bezieht eine klare Position.

Wertung

Kommentator bezieht eine klare Position.

65

Textarten

Furcht vor einem Schüren von Vorurteilen

Diese Entscheidung wird nun revidiert, die Richter stützten sich auf den Assoziationsvertrag mit der Türkei. Man kann es auch deutlicher begründen: Die Behörden können Menschen nicht wie Sondermüll behandeln, den man, weil gefährlich, am besten ins Ausland schafft. Die Strafe der Verbannung gibt es nicht mehr; man kann sie auch nicht an Kindern und Jugendlichen praktizieren, die in Deutschland groß und straffällig geworden sind. Es liegt nur am alten, mittlerweile geänderten Staatsangehörigkeitsgesetz, dass Mehmet keinen deutschen Pass hat. Es ist zu befürchten, dass dieses Mehmet-Urteil die Union zu einer Anti-Ausländerkampagne animiert nach dem Motto: Es darf nicht sein, dass ein Gericht die Tür für junge Kriminelle öffnet.

Autorität

Analogie

Das Unangemessene im Verhalten der staatlichen Instanzen gegenüber Menschen wird deutlich.

Anspielung Klimax

Ironie durch den angespielten Kontrast zwischen Mittelalter und Neuzeit. Grundlagen für die exekutiven Fehler waren legislative Unterlassungen, die die Union fortschreiben will.

Fazit 2

66

Textarten

Auswirkungen von halbherzigen Reformen

Die Union wird triumphierend darauf verweisen, dass sie deshalb wohlweislich Klage gegen das Zuwanderungsgesetz erhoben hat. Dieses Gesetz hat allerdings, entgegen den Forderungen der Süssmuth-Kommission, die Ausweisung der Mehmets weiterhin zugelassen – weil Innenminister Schily Angst vor Unions-Kampagnen hatte. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist deshalb auch ein Rüffel für den Bundesinnenminister.

Folgerung

Paradoxon

Schlusspointe

Ablehnende Haltung der Union zum Zuwanderungsgesetz wird in einen Kontext gestellt. Klage der Union gegen Zuwanderungsgesetz ist genauso zeitfremd wie das Verhalten der Bundesregierung uncouragiert.

(6) Einschätzung der Argumentation und Gestaltung Ein Kommentar, der fach- und sachkundig für die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien eintritt und dabei seine Position in z.T. drastischen Vergleichen vermittelt. Der Kommentator lockt damit wider den Stachel populistischer Stammtischparolen. Er liefert fundierte Argumente, die auf die Verfassung (Grundgesetz), internationale Abkommen und höchstrichterlichen Entscheidungen aufbauen.

(7) Gesamteindruck Eine mutige Schelte der Exekutive, der Bundestagsopposition sowie untergeordneter judikativer Instanzen in Bezug auf die Abschiebpraxis. Ein klares Votum für das geplante Zuwanderungsgesetz, in dem aber noch deutlicher rechtsstaatliche Prinzipien berücksichtiget werden müssten.

67

Textarten

5.6

Die Meinungsseite – Der Leitartikel

5.6.1

Arbeitsvorschläge Angesichts der Materiallage bietet sich die deduktive Vorgehensweise besonders an. 1. Stellen Sie (nach Material 1, Z. 23 ff) die verschiedenen Gruppen des Leitartikels zusammen und veranschaulichen Sie diese Varianten bzw. dieses Spektrum in einem Schaubild 2. Arbeiten Sie aus den Materialien 1, 2, 4 die Aussagen zu Merkmalen, Image, gegenwärtig vorherrschende Funktion eines Leitartikels heraus. Erläutern Sie die These (vgl. Material 4, Z. 1): „Der Leitartikel ist die Flagge der Zeitung“ 3. Untersuchen Sie am Material 3, welche Variante und Ausformung des Leitartikels der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung Hans Werner Kilz favorisiert / bevorzugt / als SZ-Redaktionsmaßstab setzt. 4. Sammeln Sie einige SZ-Leitartikel. Untersuchen Sie diese insbesondere unter folgenden Arbeitsaufträgen: • • • •

5.6.2

„Besonders zu pflegen ist der Anfang“ „Der Leitartikel betreibt Meinungswerbung“ „Der Fachmann weiß es besser, aber der Leitartikler sagt es besser“. „Die SZ lebt von der Vielfalt der Meinungen, von unterschiedlichen Auffassungen und journalistischen Temperamenten. Das macht die Zeitung für den Leser lebhaft und attraktiv“ (Hans Werner Kilz, Material 3, Schlusssatz)

Klausurvorschläge Thema 1 Analyse und Bewertung eines Leitartikels: vgl. Material 7 und Material 8 Thema 2 1. Aus redaktionellen Gründen müssen Sie den Leitartikel kürzen. Begründen Sie, wo Sie Kürzungen vornehmen konnten. 2. Vergleichen Sie die ursprüngliche Vollversion mit der von Ihnen hergestellten Kurzversion: Erläutern Sie, ob es Unterschiede in Bezug auf die Verdeutlichung von Zusammenhängen sowie Bewertung des Vorgangs gibt. Thema 3 1. Arbeiten Sie die Kernaussagen heraus und bestimmen Sie die Intention der Verfasserin bzw.des Verfassers. 2. Prüfen und erläutern Sie, ob Sie als Redakteurin bzw. als Redakteur der Süddeutschen Zeitung den vorgelegten Text unter die Rubrik „Leitartikel“ oder „Kommentar (Editorial)“ platzieren können.

68

Textarten

5.6.3

Definition 1, Textart Leitartikel

01

Material 1: Der Leitartikel (Emil Dovifat)

M1

Die Meinungswerbung wird ausgeübt durch die Beweiskraft des Gedankens und der Tatsachen. [...] Maßgebend für Haltung und Ansatz ist zunächst immer das werbestärkste Moment, „der Lassowurf“ um den Hals des Lesers, wie man es genannt hat. Dieses werbestärkste Moment muß gefunden werden. Nach ihm wird das übrige ausgerichtet. Es kann eine Tatsache, ein neuer Gedanke, kann aber auch eine menschliche, anekdotische Betrachtung sein und selbstverständlich auch eine Nachricht, aber nicht nur Nachrichten. Führende Leitartikler verdanken ihren Ruf der Unmittelbarkeit, mit der sie ansprechen, ihre Argumente bebildern, ihren Wortspielen Grazie und ihren Beweisen anekdotische Form geben. Der beste Leitartikler aber wird immer ein markantes Zeitereignis gleichzeitig zur lese- wie zur meinungswerbenden Wirkung kommen lassen. [...] Hier ist alles dem publizistischen Ziel untergeordnet. Was dazu dient, ist heraufgehoben, herausgestellt, unterstrichen, vielleicht auch heraufgespielt. Nebenwege, Abschweifungen, erstickende Fülle von Mannigfaltigkeiten gibt es nicht oder nur insoweit, als sie sich in das Streben nach dem geistigen Ziel einordnen lassen und den Fluß der Handlung nicht aufhalten. Denn der Leitartikel denkt und erwägt nicht so sehr: er handelt. Er kann eine Tat sein! Besonders zu pflegen ist der Anfang. Er faßt den Leser an und läßt ihn dann bis an das Ende nicht mehr los. Gelingt es der Einleitung, diese Spannung herzustellen, dann braucht der Leitartikel den Leser keineswegs billig zum Schluß kommen zu lassen. Er kann, hat er ihn gefaßt und kann er ihn halten, Ausführliches sagen, solange die Lesewerbung nicht schwindet und die Aufmerksamkeit nicht sinkt. So lange, aber nur so lange kann er kurze Umwege gehen und Material und Erlebnisse vermitteln und komplizierte Vorgänge so durchleuchten, daß man sagt: „Der Fachmann weiß es besser, aber der Leitartikler sagt es besser.“ Zu diesem Ziel, zu dieser engsten Verbindung von Lese- und Meinungswerbung, sind viele Stilformen brauchbar. [...] Er ist heute kurz, regsam, schlagend und nimmt seinen Stoff aus allen Lebensgebieten, um so wirksamer, je mehr er die Unmittelbarkeit des Lebens und des Erlebens ausstrahlt. In grober Gruppengliederung können wir unterscheiden: den kämpfenden Leitartikel, der angreift, fordert, hinreißt, Aktion ist und politische Tat sein kann; den stellungnehmenden und begründenden Leitartikel, der überzeugen möchte aus treffender Argumentation und zwingender Logik; den erläuternden und unterrichtenden Leitartikel, der eine Sache klarlegt, schwierige Zusammenhänge aufknotet und abwickelt; den rückschauenden Leitartikel, der sagt, was geworden ist und wie es wurde, oft mit der leichten oder scharf geäußerten Genugtuung, „es schon immer gesagt zu haben“. Gegenstand besonderen journalistischen Könnens sind die Gedächtnisartikel. Sie verlangen sprachliche Würde ohne falsches Pathos, Takt und, wo es der Mann und seine Sache verdienen, menschliche Wärme. Der vorschauende Leitartikel, der ohne Prophetie glaubhaft sagt, was kommen wird; der betrachtende Leitartikel schließlich, der Gefahr läuft, in die Plauderei abzusinken, aber eben darum gern gelesen wird, wenn er gut geschrieben ist. Emil Dovifat: Zeitungslehre I, Berlin 1967, S. 139 ff

69

Textarten

02

Material 2: Leitartikel (dtv-Wörterbuch)

M2

Leitartikel. Sonderform des (Zeitungs- und Zeitschriften)-Artikels und wichtigster Bestandteil der redaktionellen Sparte Kommentar. Der Leitartikel unterscheidet sich (in der Regel) a) durch seine allgemein interessierende Thematik, b) den meinungswerbenden (Dovifat) Anspruch und c) durch seine Länge von anderen Kommentarformen, z.B. von Glosse, Entrefiler, Column (in der amerikanischen Presse). Eine besondere Gattung Leitartikel hat die angelsächsische Publizistik mit dem Editorial (franz. editoriale) geschaffen. Das Wort Artikel ist offensichtlich der Verwaltungs- und Rechtssprache entliehen, denn die frühen Zeitungen kannten zunächst lediglich Nachrichten und Bekanntmachungen (Avisen, Relationen etc.). Die ersten Zeitschriften verwendeten meist lateinische Ausdrücke wie Contributio, Dissertato, Tractatio oder Inseratum sowie das deutsche Wort Beytrag. [...] Die Stellung des Leitartikels in der Gegenwartspublizistik ist umstritten. Einige große Blätter (z. B. die „FAZ“) räumen ihm immer noch einen Platz auf der Seite 1 ein. Gewöhnlich aber ist der Leitartikel, wie der Kommentarteil insgesamt, auf die Innenseiten verdrängt worden. Die Nachricht dominiert. Der Leitartikel will auch keineswegs mehr - von den verschwindend wenigen reinen Parteiblättern abgesehen politisch-propagandistisches Führungsmittel sein, sondern Interpretationshilfen geben, zuweilen auch Mahnungen und Belehrungen erteilen, einen Appell an den Leser richten oder im weitesten Sinne politisch aufklärend wirken. Kurt Koszyk u. Karl H. Pruys (Hrsg.): dtv-Wörterbuch zur Publizistik, München 1969; S. 193 f

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Textarten

5.6.4

Werkstatt-Beitrag M3

Mut zur Meinung Von Hans Werner Kilz

Über die Wirkung oder, besser gesagt, die Wirkungslosigkeit von Leitartikeln ist schon viel nachgedacht und zu Papier gebracht worden. Der Sprach- und Gesellschaftskritiker Karl Kraus spottete besonders gern über Kommentatoren, die sich zu wichtig nahmen. ,,Was Redaktionen beschlossen haben“, schrieb er Anfang des Jahrhunderts, ,,vergelten und büßen Nationen.“ Er warf den Leitartiklern vor, die eigentlichen Urheber des Ersten Weltkriegs zu sein, und er geißelte ,,die Epoche, die geneigt ist, die Extra-Ausgabe für das Ereignis zuhalten“. Wie sieht es heute aus? Sind die verantwortlichen Redakteure zurückhaltender, seriöser geworden? Von Nietzsche wissen alle Leitartik1er, daß sie dann, wenn sie zu starker Übertreibung neigen, bei den Einsichtigen zwar ihre Wirkung verlieren, aber umso stärker auf die Nicht-Einsichtigen einwirken, die bei einer sorgsamen und maßvollen Darstellung gleichgültig geblieben wären. Da zudem die Nicht-Einsichtigen bedeutend in der Überzahl sind und stärkere Willenskräfte sowie ungestümere Lust zum Handeln in sich verspüren, gibt allein die Übertreibung den Anstoß zur Veränderung. Wer bei diesen philosophischen Gedanken irgendwelche unzulässigen Rückschlüsse auf SZ-Kommentatoren zieht, muß wissen, daß klare Wertungen ein Merkmal guter Leitartikel sind. Es geht dem Kommentator wie dem Bürger in der Wahlkabine. Er muß sich entscheiden, auch wenn ihm die Entscheidung schwerfällt: Sollen die Asylgesetze verschärft oder gelockert werden? Müssen Sozialleistungen gekürzt oder beibehalten werden? Dürfen deutsche Soldaten in Krisengebieten dienen, oder sollen sie nur an der Heimatfront zur Waffe greifen? Wer über solche Streitthemen bloß berichtet und Nachrichten schreibt, lebt in einer Zeitung ungefährdet. Die Autoren von Mei-

nungsbeiträgen hingegen, die bissig formulieren, leben gefährlicher. Sie erregen überall Anstoß, beim Leser, bei den Kollegen, bei all denen, die am liebsten nur ihre eigene Meinung im Blatt sähen. Wer nun aber glaubt, von Journalisten erwarten zu müssen, daß sie ihren Beruf mit dem Kampfesmut eines Helden und der Bedürfnislosigkeit einer Mutter Teresa ausüben, liegt falsch. Ein Journalist kann die ihm übertragene demokratische Aufgabe, sein Wächteramt, nur erfüllen, wenn die materiellen Bedingungen stimmen. Das setzt eine Vielfalt an Eigentümern von Presseorganen voraus, ohne die es eine Vielfalt der Meinungen nicht geben kann. Nach leidvollen Erfahrungen als Kommentator, die ihn einst den Job kosteten, formulierte der Publizist Paul Sethe den bitteren Satz: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Journalisten, die diese Meinung teilen, finden sich immer.“ Mutiger, verantwortlicher Journalismus und das Gewinnstreben privat-wirtschaftlich strukturierter Verlage schließen sich nicht aus, können aber immer wieder zu Konflikten führen. Zeitungshäuser sind Wirtschaftsunternehmen mit öffentlicher Verantwortung. Eine Zeitung muß wirtschaftlich gesund sein, wenn sie Meinungsfreiheit garantieren will. Pressefreiheit gehört nicht allein den Verlegern, und sie gehört nicht den Journalisten, sondern allen, den Lesern, die in der demokratischen Öffentlichkeit das Publikum sind. So wächst der Druck auf die Medien, daß sie der Pressefreiheit etwas schulden und verantwortlich handeln. Wie das Publikum bestimmte Nachrichten zu werten hat, welche Meinung zu gelten hat, bestimmen die Kommentatoren und Leitartikler. Sie schreiben ihre Meinung möglichst einprägsam, um Leser für diese Meinung zu gewinnen. Es gibt Kommen71

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tatoren, die das Für und Wider ihres Themas erörtern und nach abwägender Argumentation zu einer bedächtigen Wertung finden. Andere Autoren schätzen den pointierten, von Emotionen geprägten Kommentar, der nach ausführlichem Pro und Contra zu einem eindeutigen Urteil kommt. Wer nicht argumentiert, wer nur seinen Gefühlen nachgibt, zündelt zwar, überzeugt aber nicht. Kommentieren kann das Recherchieren und Informieren nicht ersetzen. Die Chefredaktion bestimmt täglich, in Absprache mit den leitenden Redakteuren, was Thema des Leitartikels wird. Meist übernehmen Ressortleiter das Schreiben, oder sie be-

auftragen einen Redakteur. insofern verraten Leitartikel einiges über die innere Hierarchie der Zeitung. in den deutschen Blättern stehen Leitartikel in der Rangordnung der Beiträge ganz oben, auch wenn längst erwiesen ist, daß die Leser das Lokale oder das Vermischte stärker beachten. Aber Leitartikel sind der Identitätsausweis der Zeitung, eine Art Qualitätsprodukt, das die politische Haltung der Zeitung begründet. Die SZ lebt von der Vielfalt der Meinungen, von unterschiedlichen Auffassungen und journalistischen Temperamenten. Das macht die Zeitung für den Leser 1ebhaft und attraktiv. SZ-intern, 1998, S. 4

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5.6.5

Definition III: Textart Leitartikel M4 Der Leitartikel ist Quintessenz oder „die Flagge der Zeitung“ [...] , eine „Kundgebung der Redaktion“. Am deutlichsten wird das dort, wo er, wie in der New York Times, nicht namentlich gezeichnet wird: Das besagt, daß er nicht die Meinung eines einzelnen, sondern die der Mehrheit der Redaktion wiedergibt [...] . Die größeren Abonnementzeitungen veröffentlichen in jeder Nummer einen Leitartikel. Ursprünglich stand er, um seine Bedeutung herauszustreichen, immer an einleitender Stelle der ersten Seite, an einer Art „Ehrenplatz“ des Presseorgans, meist auch graphisch durch Schriftgrad, Schrifttype oder Kasten hervorgehoben. Viele Zeitungen sind allerdings dazu übergegangen, die erste Seite für Nachrichten und Fotos zu reservieren und den Leitartikel zusammen mit weiteren Kommentaren auf einer besonderen Meinungsseite im Innern des Blattes zu plazieren (New York Times, Süddeutsche Zeitung). Zeitungen, die, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Leitartikel immer noch auf der ersten Seite veröffentlichen, glauben damit eine um so stärkere Wirkung zu erzielen. Und wirken will der Leitartikel, er ist die Stilform mit den meisten Imperativen. [...] In der regelmäßig erscheinenden Presse bürgerte sich der Leitartikel zuerst dort ein, wo die Pressefreiheit sich am frühesten durchsetzte. Daher ist es kein Zufall, daß der in England seit Anfang des 19. Jahrhunderts gebräuchliche Ausdruck leading article auch in Deutschland übernommen worden ist. [...] Manchmal heißt es heute kurz und häßlich „Leiter“. Die „Leitartikler“ formulieren die Linie der Zeitung. Den kämpfenden Leitartikel, der „angreift, fordert, hinreißt, Aktion ist und politische Tat sein kann“ (Dovifat), gab es vorwiegend in politischen Spannungszeiten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein klassisches Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit bilden die einflußreichen Leitartikel von Theodor Wolff im Berliner Tageblatt. Der F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Tern schrieb, es brauche die volle politische Leidenschaft, den Mut vor den Bedrückern, den Widerwillen gegen das Unrecht, um Leitartikel zu schreiben: Das mache den Stil aus, der überzeuge. Wo es des Muts nicht bedarf, geht die Faszination des Leitartikels verloren. Tern glaubte denn auch, daß der Vorrang des Leitartikels fragwürdig geworden sei. Viele Journalisten waren daher in den sechziger Jahren zu indirekten Formen der Beeinflussung zum Beispiel in der Reportage [...] übergegangen, andere wollten überhaupt nicht mehr beeinflussen, sondern nur noch erläutern. Der begründende oder erklärende Kommentar verdrängte vielfach den Leitartikel. Bedenklich wird diese Tendenz, wenn Zeitungen ihre Meinung nicht mehr offen in meinungsbetonten Darstellungsformen kundtun, sondern in Reportagen, ja in Nachrichten verstecken; will man mit Inhaltsanalysen die Haltung solcher Zeitungen feststellen, muß man statt der Leitartikel die Nachrichten untersuchen. Beeinflussen lassen sich Rezipienten am leichtesten, wenn sie die Absicht nicht bemerken und der Nachricht unterstellen, daß sie nicht lenken, sondern informieren will. Dabei kann man durch Nachrichtenauswahl wie durch das Hervorheben oder Weglassen bestimmter Aspekte in einer Nachricht Meinungen manipulieren [...] . Im Sinne einer demokratisch unabhängigen Meinungsbildung liegt das selbstverständlich nicht. Leser, Hörer und Zuschauer sollten also nur dort mit Beeinflussungsversuchen konfrontiert werden, wo sie sie erwarten. Deshalb ist es zu begrüßen, daß der Leitartikel wieder an Kraft gewonnen hat. Viele Leser schätzen eine offene Stellungnahme sogar dann, wenn sie die darin geäußerte Meinung nicht teilen. Originelle Argumente nehmen sie wie Informationen auf. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg): Stichwort „Leitartikel“ in: Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main, 2000, 6. Auflage, S. 108 - 110

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Textarten

5.7

Der Leitartikel Erörtert Geschehnisse über die Tagesaktualität hinaus. Eine klare Meinung ist gefragt, doch die Argumente wollen wohl abgewogen sein. Aus: SZ-intern 1998, S. 4

5.7.1

Merkmale des Leitartikels: „Spektralanalyse“ – „Variantenanalyse“ M5

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Textarten

5.7.2

Image, Funktion, Merkmale des Leitartikels (Textarbeit Materialien 1 bis 4) M6

Text / Zeile M 1; Z 1, 10 Z 16 Z 10-17 Z 3, 13 Z8 Z 26 M 4; Z 11 M 2; Z 15 ff

M 4; Z 1f M 4; Z 45 f M 2; Z 1 f

Merkmale des Leitartikels Meinungserbung = alles wird dem publizistischen Ziel untergeordnet „denkt und wägt nicht so sehr ab“ Lesewerbung Ansatz = „der Lassowurf um den Hals des Lesers“ Unmittelbarkeit Kurz, regsam, schlagend Stoff aus allen Lebensgebieten Will wirken, Stilform mit den meisten Imperativen Gegenwärtig vorherrschende Funktion „Der Leitartikel will auch keineswegs mehr – von den verschwindend wenigen reinen Parteiblättern abgesehen – politisch-propagandistisches Führungsmittel sein, sondern Interpretationshilfen geben, zuweilen auch Mahnungen und Belehrungen erteilen, einen Appell an den Leser richten oder im weitesten Sinne politisch aufklärend wirken.“ Image „Flagge der Zeitung“ „Kundgebung der Redaktion“ „Viele Leser schätzen eine offene Stellungnahme sogar dann, wenn sie die darin geäußerte Meinung nicht teilen“ „Wichtigster Bestandteil der redaktionellen Sparte Kommentar“

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Textarten

5.7.3

Leitartikel — Arbeitsbogen 1 Zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln (1) Inhalt

Weltpolitik kann nicht mit einfachen USDenkmustern analysiert und betrieben werden.

Führungsanspruch der USA als Weltmacht.

(2) Text Die Faszination des Bösen von Wolf Lepenies, SZ vom 8./9. Juni 2002 In den „terribles simplificateurs“ hatte Jacob Burckhardt Ende des 19. Jahrhunderts eine Gefahr für Europa gesehen, weil es immer stärker unter den Einfluss Amerikas geriet. Auch heute fürchten europäische Politiker, dass die amerikanische Regierung in die Falle ihrer eigenen Schlagworte tappt und über dem Schwarz-Weiß ihrer Grundüberzeugungen vergisst, dass in der Weltpolitik das Denken in Nuancen seine Bedeutung nicht verloren hat. Seit George W. Bush zum Kreuzzug gegen den Terror aufrief und von der Achse des Bösen sprach, gilt der US-Präsident vielen Europäern als „schrecklicher Vereinfacher“, der damit das unrühmliche Erbe seines Vaters und Ronald Reagans angetreten hat. Entsprechend grob zieh der frühere französische Außenminister Hubert Védrine die amerikanische Politik der „Simplizität“. Weniger verärgert als ironisch reagierte Außenminister Colin Powell: Das amerikanische Imperium denke nicht daran, eine europäische Mittelmacht um Erlaubnis zu fragen,

(3) Argumentation

(4) Stil

(5) Funktion

Autorität

Parallelismus

Gegenüberstellung der Situation vom 19. Jahrhundert mit Gegenwart.

M7

Kausalverknüpfung These

Redewendung

Antithesen

Fakt

Metapher

Abwertung

Zur Verdeutlichung der Emotionen, mit denen Weltpolitik von relevanten Protagonisten gedacht wird.

Parallelismus

Widerholung von „Simplifikation“.

Metapher

Autorität; Folge

Abwertung

Faktum Antithese + Vergleich

Leitartikler unterstreicht seine eigene Position.

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Textarten

wenn es große Worte benutzen wolle, um die Ziele seiner Politik zu beschreiben.

USPolitikwissenschaft liefert einfache Formeln zur Analyse der weltpolitischen Entwicklung.

Intellektuelle und Politiker insbesondere der USA zeichnen ein falsches Bild vom Islam als Modernisierungsgegner.

George W. Bush ist gewiss kein Meister des differenzierten politischen Denkens. Ungerecht aber ist es, ihm oder seiner Regierung allein „schreckliche Vereinfachungen“ vorzuwerfen. Nach 1989 ist die Sicht auf die Gegenwartswelt von zwei simplen Formeln geprägt worden, die wirken wie Holzschnitte im Internet: „Der Krieg der Kulturen“ und „Das Ende der Geschichte“. Sie stammen von Professoren amerikanischer Eliteuniversitäten, die in der BushAdministration nur selten anzutreffen sind. Wirkungslos sind diese fixen Ideen nicht geblieben. Sie hätten – nach einfacher Umkehrung der Vorzeichen für Gut und Böse – auch den Islamisten, aus deren Umkreis die Selbstmordattentäter des 11. September stammen, als Leitlinie dienen können. Nach wie vor wird im Westen von Intellektuellen wie Politikern ein Bild des Islam gezeichnet, dessen Konturen von Hochmut und Überheblichkeit bestimmt werden. Dieser schadenfrohen Wissenschaft gilt der Islam als Synonym für Rückständigkeit und Verfall.

Litotes Faktum

Mit Antithese + Vergleich wird der Führungsanspruch der USA als Weltmacht betont. Kontaktwiederholung zu „Simplifikation“.

Faktum

Faktum

Vergleich

Metaphern

Vergleich zeigt die Unangemessenheit der Vereinfachungen bildhaft auf. Leitartikler hält selbst nichts von Simplifikationen der US-Politikwissenschaft.

Abwertung

These 1

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Textarten

Für retardierende Entwicklungen in islamischen Ländern ist der Westen mitverantwortlich.

Ob es sich um die Durchsetzung des Rechtsstaates, die Herausbildung der modernen Marktgesellschaft, die Ausbreitung der Demokratie und des politischen Gleichheitsstrebens oder die Trennung von Kirche und Staat und damit die Säkularisierung des sozialen Lebens handelte – immer stand angeblich „der“ Islam abseits oder bremste und steuerte zurück. Muslime sind aus Sicht dieser überheblichen Westler geborene Modernisierungsgegner. Die Verfallsgeschichte des Islam hat ihren Ursprung im Okzident. Doch schon bald wurde sie von Muslimen selbst nacherzählt – die heute von amerikanischen Politikern besonders gerne zitiert werden. Der Verfall des in Europa einst so mächtigen Islam erscheint wie ein Naturereignis. Der Einfluss von Kolonialismus und Imperialismus wird auf diese Weise weitgehend ausgeblendet. Wer aber scheinheilig danach fragt, warum in fast allen Ländern des Mittleren Ostens demokratische Neigungen nur schwach ausgeprägt sind, muss daran erinnert werden, dass sich der Westen im Umgang mit diesen Ländern stets mehr von ökonomischen Interessen als von demokratischen Missionswünschen leiten lässt.

Abwertung

Abwertung

Leitartikler wendet sich gegen ein falsches Bild des Westens vom Islam.

These 2

Paradoxon

Bittere Ironie: Verachtete halten Grundlagen der Verachtung für wahr.

Faktum

Vergleich

Vergleich verdeutlicht, wie unhistorisch und unpolitisch der Zustand in islamischen Ländern vom Westen aus betrachtet wird.

78

Textarten

Muslime entwickeln ein modernes kulturelles Selbstbewusstsein und frische politische Kraft.

Dass Iran keine Demokratie ist, liegt nicht nur am Ayatollah Khomeini, sondern auch am frühen Sturz des Ministerpräsidenten Mossadegh, den die CIA und der britische Secret Service mitverantworteten.

Faktum

Dass sich in SaudiArabien ein autoritäres Regime an der Macht hält, hat weniger mit der Natur des Islam als mit der Macht des Öls und mit den strategischen und ökonomischen Interessen Amerikas zu tun. Die Kehrseite der Überheblichkeit ist das Ressentiment. Diese Erkenntnis erklärt die Beziehungen vieler Muslime zum Westen. Jetzt aber scheint sich - nicht nur in Europa und im Maghreb, sondern auch in „Schurkenstaaten“ wie Iran - ein entscheidender Wandel zu vollziehen. Die Attentate des 11. September sind nicht die Ursache dieses Wandels, haben ihn aber erheblich beschleunigt. Nach einer Zwischenphase des Schocks und des Verstummens gehen muslimische Intellektuelle von der diffusen Selbstanklage zur präzisen Selbstkritik über, schöpfen daraus ein neues kulturelles Selbstbewusstsein und frische politische Kraft.

Faktum

Parallelismus

Gleichartige Satzanfänge unterstreichen Mitverantwortung des Westens am Verfall des Islam.

Metapher

Bildhafter Ausdruck für die wechselseitige Beziehung zwischen Westen und Islam.

Faktum; Adversativ

Adversativ

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Textarten

Zunächst einmal beharren sie auf der Pluralität des Islam. „Den“ Islam gibt es nicht. Vehement kritisieren gerade Muslime den primitiven Islam der Wahhabiten, der sich im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel ausbreitete und seit dem Jahre 1932 der Sippe Ibn-Sauds zur religiösen Absicherung ihres feudalen Herrschaftssystems dient. Muslime weisen mit feiner Ironie darauf hin, dass die Mischung aus demonstrativem Konsum und rigorosem Glaubensfundamentalismus, die für die Gesellschaften der Golfregion prägend ist, mit dem „American Way of Life“ durchaus Gemeinsamkeiten hat. Saudi-Arabien, der wichtigste Verbündete Amerikas in der arabischen Welt, bleibt ein Hort des Fundamentalismus. Gerade muslimische Intellektuelle werten es nicht als Zufall, dass die Wahhabiten dort an die Macht kamen, als sich in Europa die Aufklärung durchsetzte. Damit verabschiedete sich der Islam von Traditionen, die er mit dem christlichjüdischen Europa geteilt hatte. An ihre Stelle trat die Amerikanisierung der Welt, die Muslime mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination verfolgten.

Wandel im Islam wird herausgestellt.

These 3

Faktum

Alliteration

Leitartikler ist ein Befürworter des modernen Islam.

Abwertung Westen mit seiner Selbsteinschätzung der eigenen kulturellen Überlegenheit wird der Spiegel vorgehalten.

Faktum

Betonung der Rolle SaudiArabiens für Weltmacht USA.

Paradoxon

Parenthese

Amerikanisierung der Welt liegt nicht im Interesse Europas. Antithese

80

Textarten

Der moderne Islam spürt z. Zt. seine demokratischen und säkularen Traditionen auf, um sein Überleben in der modernen Welt zu sichern.

Die Zeit für ein alternatives Projekt scheint gekommen: die Rückbesinnung darauf, dass es innerhalb der islamischen Welt ernsthafte Versuche zu einer Demokratisierung und Säkularisierung der Gesellschaft gegeben hat. Der Westen hat solche Versuche immer nur halbherzig unterstützt. Jetzt machen Muslime aus einem geistigen wie politischen Erbe, das auch ein Teil der europäischen Geschichte ist, ein Zukunftsprogramm. Es sind nicht zuletzt iranische Theologen, die darauf beharren, dass der Islam nur dann eine Zukunft hat, wenn er ohne Wenn und Aber die Menschenrechte respektiert. Hier liegt eine große Chance für Europa. Selbstbewusst sehen Muslime in der Wiederannäherung ihrer Gesellschaften an ein säkulares Europa keinen Akt der Entfremdung, sondern die Rückkehr zu einer eigenständigen Tradition. Sie wenden sich gegen autoritäre Regime, die den Islam missbrauchen. In demokratischen und säkularen Traditionen muss ein moderner Islam die Wurzeln suchen, die sein Überleben in der modernen Welt sichern werden.

Parallelismus

(Satzbau gleichartig; Inhalte gleichwertig) dient der Verstärkung der Hoffnung auf den sich anbahnenden Wandel.

Kontrastierung Haltung des Westens zur Modernisierung im Islam

These 4 Adversativ

Emphase

Verstärkung der Hoffnung (s.o) Scheinbar Unvereinbares kann sich zusammenfügen. „Säkular“, „modern“ in Verbindung mit „Islam“, „Europa“.

Wiederholung

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Textarten

Das vereinte Europa hat alle Möglichkeiten für eine zunächst kulturpolitische, wissenschaftliche Kooperation mit Muslimen.

Europa mit seiner islamischen Prägung von Mittelalter und Mittelmeer hat alle Möglichkeiten, mit den „schrecklichen Vereinfachungen“ ein Ende zu machen. Jenseits von Überheblichkeit und Ressentiment bietet sich eine Kooperation mit Muslimen an, die zunächst in Kultur und Wissenschaft fruchtbar sein könnte. Sie wird ihre Auswirkungen auf die Politik nicht verfehlen. Diese Annäherung erfordert Mut. Gerade in Zeiten des Terrors liegt darin die größte kulturpolitische Herausforderung für das vereinte Europa.

Fazit

Alliteration

Indirekter Appell an europäische Politiker

Parataxe

Emphase

Raum-ZeitGefüge der islamischeuropäischen Gemeinsamkeiten wird betont.

Klare Aussagen in kurzen Sätzen sollen Appell verstärken.

Wort „Europa“ stets in Betonungsstellung.

(6) Einschätzung der Argumentation und Gestaltung Klare, auf Faktenargumenten basierende Argumentation zur Vermittlung von vier Thesen und einem Fazit. Strukturelle Hintergründe der vielfältigen aktionsgeladenen Oberfläche der Tagesweltpolitik werden vom Leitartikler mit Geschichtsverständnis aufgezeigt, um vorangegangene Entwicklungen nahvollziehbar werden zu lassen und die weltpolitische Verantwortung eines vereinten Europa für die friedliche Entwicklung der Weltgemeinschaft deutlich werden zu lassen. Einige Fakten hält der Leitartikler wohl für allgemein bekannt, so dass er sie nicht näher beschreibt. (7) Gesamteindruck Alles in einer Sprache, die sehr wohl historisch-politische Fachterme benutzt in einer auch für den fachwissenschaftlichen Laien nachvollziehbaren Diktion (Wortwahl, Syntax, Anschaulichkeit). Das Fazit enthält keine präzisen handlungsorientierten Projektvorschläge, wie sich Europa gegenüber den USA in Zeiten des islamischen Terrors seine kooperative Politik mit den Bestrebungen des modernen Islam durchsetzen könnte.

82

Textarten

5.7.4

Leitartikel — Arbeitsbogen 2 Zur Aufnahme der Analyseergebnisse zu Inhalt, Argumentation, inhaltlichen und formalen Gestaltungsmitteln (1) Inhalt

(2) Text

(3) Argumentation

Menschen töten, Waffen auch von Kurt Kister; SZ 30. April 2002

Hilflose Reaktionen auf Massaker in Erfurt.

Das Massaker von Erfurt hat uns hilflos zurückgelassen. Im Schrecken über die Bluttat hat eine Debatte eingesetzt, die sich von der elterlichen Verantwortung über die Einstellung zur Gewalt bis hin zu den Feinheiten des Waffenrechts erstreckt. Die Politiker bekräftigen, „Erfurt“ eigne sich nun wirklich nicht für den Parteienstreit, werfen aber im übernächsten Satz dem jeweils anderen vor, dies verzögert und jenes blockiert zu haben. Sie sind allerdings auch in der unglücklichen Lage, dass viele Bürger von ihnen Antworten erwarten, die es vielleicht gar nicht gibt.

M8

(4) Stil

(5) Funktion

Anspielung

Anspielung auf Slogan der NRA. Vor allem im Satzbau wird eine Akzentverschiebung in Bezug auf individuelle Verantwortbarkeit deutlich. Verständnis für Situation der politisch Verantwortlichen, von denen Orientierung erwartet wird.

Faktum

Faktum

Metonymie

Aufzeigen eines Dilemmas. Adversativ + Folgerung

83

Textarten

Zwei zentrale Fragen.

Robert Steinhäuser war psychisch krank.

Trauer aber ist auch immer eine Zeit des Nachdenkens darüber, was war und was kommen wird. Die vielen Fragen, die sich alle stellen, lassen sich in zwei entscheidende Fragen zusammenfassen: Warum hat er das getan? Wie kann man so etwas verhindern? Auf die erste Frage gibt es eine Antwort, die so simpel ist, dass sie nicht ausreichen kann:

Der Mordschütze war krank oder, weniger vornehm ausgedrückt, verrückt. Man kann dabei trefflich über die Ursachen spekulieren: Frustration; die Gefangenschaft in einer von Mordvideos und Ballerspielen konstituierten Kopfwelt; nach außen projizierter Selbsthass. Jedenfalls haben sich in der Psyche des Robert Steinhäuser die Grenzen so sehr verrückt, dass er die Verzweiflungstat Selbstmord herostratisch als Massenmord inszenierte.

Alliteration

Markieren einer inhaltlichen Schnittstelle.

Wortwiederholung

Leitartikler gibt Orientierung. Er macht deutlich, dass er keine rhetorischen Fragen stellt, die nur die Aufmerksamkeit fördern sollen. Antworten können Ursachen nicht erschöpfend darstellen, da unmittelbar aus der Situation heraus gegeben. Ursachenforschung in Bezug auf Täter nicht endgültig. Verstärkung der inhaltlichen Aussage.

Einräumung

These 1

Correctio

Dreierfigur

Paradoxon

Substantivischelliptisch knappe verdichtete Antwort, wodurch Raum geschaffen wird für Beantwortung von These 2. Paradoxon dient dazu, die innere Zerrissenheit des Täters auf einen Punkt zu bringen.

Wortwahl = ehrgeizig

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Textarten

Allgemeine Vorkehrungen, um Massakern vorzubeugen.

Absolute Sicherheit auf Wirkung der allgemeinen Vorkehrungen gibt es nicht.

Gründe, warum Täter sich legal besondere Waffen zulegen konnte.

Kann man „Erfurt“ in Zukunft verhindern? Man kann wohl allgemein entgegenwirken. Die Politik kann Stellschrauben anziehen und im übrigen darauf hoffen, dass der gesellschaftliche Steuermechanismus – Familie, Schule, Freunde, Kirchen, Staat – bei möglichst vielen Gefährdeten zumindest bewirkt, dass aus ihnen keine Täter werden. In Einzelfällen aber wird nichts zu machen sein. Wer so weit aus dem, was wir als Normalität empfinden, herausgestürzt ist, dass er sich und andere umbringen will, der wird Wege und Mittel dazu finden.

These 2

Die Mittel: Da beschafft sich ein 19Jähriger ganz legal zwei Waffentypen, die von Polizei und Spezialeinheiten als besonders effizient im Nahkampf gegen Terroristen und Gewaltverbrecher eingesetzt werden. Weil er Mitglied in einem Schützenverein war, durfte Steinhäuser sowohl die Pumpgun als auch die 17schüssige Pistole der Marke Glock besitzen. Das Waffenrecht operiert mit dem Begriff Bedürfnis. Von einem Menschen, der Schießen als Sport in der mehr oder weniger kontrollierten Umgebung eines Vereins betreibt, wird angenommen, dass er

Faktum

Kausalverknüpfung

Rhetorische Frage Kontaktwiederholung

Motiviert zum Weiterlesen.

Metonymie Metapher

Im Bilde kann Funktion von sozialen Einrichtungen so knapp wie anschaulich vorgetragen werden.

Antithese zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall Kontaktwiederholung,

Ellipse

Von den allgemein notwendigen Vorkehrungen darf nicht erwartet werden, dass sie jeglichem Einzelfall vorbeugen.

An die Redewendung „Wege und Mittel finden“ wird angeknüpft.

Die Ellipse dient der Verdichtung, der Hinführung auf wesentliche Sachaussagen.

Wortwahl

Faktum, Autorität

„legal“, „legitim“, „dürfen“: Betonung, dass es nicht ill l W /

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Textarten

Gründe für die geltende Ausprägung des deutschen Waffenrechts.

Kein Grund für allgemeine Verdächtigungen gegenüber Privatpersonen, die Waffen besitzen dürfen.

ein legitimes Bedürfnis nach einer begrenzten Zahl von Waffen hat. Die Schützen, Jäger und Waffensammler begründen ihr Tun so: Kontrollierter Waffenbesitz ist ein Bürgerrecht und hängt mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit zusammen. Mit legal erworbenen Waffen werde außerdem nur ein Bruchteil aller Straftaten begangen. Und schließlich hört man auch immer wieder das, was die amerikanische National Rifle Association in den Satz kleidet: guns don`t kill, people do (nicht Waffen töten, sondern Menschen). Die vielen Hunderttausende organisierten und registrierten Waffenfreunde fühlen sich von einem, im internationalen Vergleich scharfen Waffenrecht gegängelt. Wann immer ein spektakuläres Verbrechen mit Schusswaffengebrauch stattfindet, wähnen sie sich unter Generalverdacht.

um illegale Wege / Mittel der Waffenbeschaffung geht. Faktum, Autorität

Aufzählung, Perspektivwechsel

Anspielung auf Umfang legal möglicher Waffenbeschaffung. Sichtweise der Waffenbesitzer wird eingenommen, ohne für deren Anliegen Partei zu ergreifen.

Faktum

Leitartikler fasst Stimmungen aus der Distanz heraus zusammen.

Fazit

Konditional

Perspektivwechsel

Wortwahl

Einräumung, dass sich registrierte Waffenbesitzer zu Unrecht durch Einzelfälle in Frage gestellt sehen oder weitere allgemeine Sanktionen fürchten.

86

Textarten

Vergleich von zwei Positionen zum Waffenbesitz als Bürgerrecht.

Der Streit um den privaten Waffenbesitz ist in allen Ländern unseres Kulturkreises, am meisten in Amerika, ein stark ideologisierter Streit. Für die einen ist die Waffe auch ein Symbol persönlicher Freiheit. Viele Schützen im weiteren Sinne haben zu den Instrumenten ihres Hobbys ein stark emotionales Verhältnis, was sie aber oft vehement abstreiten, um nicht als „Waffennarren“ verteufelt zu werden. Den Interessen der schießenden Minderheit steht in Deutschland eine Mehrheit gegenüber, die Waffenbesitz heute eben nicht mehr als Bürgerrecht versteht. Zu ihr gehören einerseits jene, denen es völlig fremd ist, dass jemand überhaupt fasziniert sein kann von Waffen, deren ursprünglicher Zweck das Töten von Tieren oder Menschen ist. Andererseits gibt es sehr viele, die weder den Jägern ihr Gewehr noch den Schützen ihre Scheibenpistolen streitig machen wollen. Aber sie verstehen nicht, wozu ein Privatmann, und sei er noch so reif und unbescholten, eine Glock oder eine ähnliche, auf das schnelle, möglichst nachladefreie Schießen (und Töten) hin optimierte Waffe braucht.

These 3

Faktum Parenthese Faktum

Sonderrolle der USA.

Zwei ambivalente Positionen im Widerstreit.

Alliteration dient der zahlenmäßigen Kontrastierung der Gruppierungen.

Adversativ Faktum

Komposition

Einräumung

Vergleich von zwei antagonistischen Positionen zum Waffenrecht. Durch den Aufbau gewinnt Position der Waffengegner an Gewicht. Die Einräumung dient der Zuspitzung der Einwände.

87

Textarten

Forderungen nach restriktiven Änderungen im deutschen Waffenrecht.

Im Waffenrecht müssen eindeutig einige Stellschrauben angezogen werden. Dazu gehört zum Beispiel das Mindestalter zum legalen Erwerb von Waffen. Heranwachsende mögen unter Aufsicht schießen, aber sie sollten das Gerät nicht aus dem Schießstand heraustragen dürfen. Außerdem ist es, auch wenn Erfurt hoffentlich ein singuläres Ereignis bleibt, höchste Zeit, Privatleuten den Besitz bestimmter Waffentypen zu verbieten. Dies verringert eine spezifische, der Allgemeinheit nicht mehr zumutbare Gefährdung. Es gibt gute Gründe, warum der Besitz von Sturmgewehren oder Maschinenpistolen seit langem verboten ist. Ja doch, dies hilft wenig gegen den illegalen Waffenmarkt. Aber es trägt dazu bei, Menschen wie Steinhäuser vor sich und uns alle vor jenen Waffen zu schützen, die in der Hand solcher Außenseiter eben doch töten. Das geltende Waffenrecht ist keine Ursache der Morde von Erfurt, aber es hat sie erleichtert.

These 4

Alliteration, Metapher

Umfang geforderter pluraler Maßnahmen wird betont. Zur Restriktion gibt es keine Alternative. Durch die Metapher wird eine Verschärfung postuliert.

Adversativ Konditional

Durch inhaltlichen Ausschluss von Möglichkeiten wird die allgemein geforderte Verschärfung des Waffenrechts an Beispielen veranschaulicht.

Folge

Einräumung

Einräumung = Fazit

Ellipse

In verkürzter Form werden potentielle Einwände berücksichtigt. Damit macht der Leitartikler deutlich, dass Vorschläge kein Allheilmittel mit Garantiewirkung sein können. Das Fazit ist in seiner Form zugleich eine Warnung vor monokausalen Erklärungsversuchen.

88

Textarten

(6) Einschätzung der Argumentation und Gestaltung Bei allem Vorbehalt in Bezug auf den vier Tage nach dem Massaker von Erfurt gewonnenen Erkenntnisstand ein Leitartikel, der maßvoll im Ton sachliche Orientierungshilfe gibt, was zu untersuchen bleibt, was konkret in puncto Überarbeitung des deutschen Waffenrechts an Restriktionen erforderlich ist. Mit dieser gewollten Focussierung auf das Waffenrecht werden andere Ursachenbündel ausgeblendet bzw. nur numerisch benannt. (7) Gesamteindruck In der Gestaltung wie im Inhalt dominiert Sachlichkeit, auf Effekthascherei und Dramatisierung wird verzichtet. Die Forderungen sind klar formuliert und begründet, ohne Emotionen, Vorurteile zu schüren.

89

Textarten

5.7.5

Die Nachricht

5.7.6

Arbeitsvorschläge für Lerngruppen Den Arbeitsvorschlägen für den Unterricht liegt die Annahme zu Grunde, die Lerngruppen könnten partiell die Arbeit einer Redaktion simulieren. Im Zuge dieser Simulation müssen Entscheidungen getroffen werden, die auf Sachkenntnissen beruhen müssen. Also sind auch entsprechende Informationen für den simulierten Verwendungszweck strukturiert aufzuarbeiten. Im zweiten Teil kommt die gelegentlich geäußerte Sorge vor der Manipulation durch die Presse zur Sprache.

01

Arbeitsschritt 1; Arbeitsmaterial 1, 7 Als Hinweis für Schüler/innen: Alle vorgelegten Nachrichten wurden in der Süddeutschen Zeitung publiziert. Deswegen liegt Ihnen auch deren Endfassung vor. Bei der Auswahl dieser Nachrichten haben sich die Redakteure der / an den oben stehenden Kriterien a) bis f) orientiert. Aufgaben 1. Notieren Sie neben jeder Nachricht mit a) bis f) das – nach Ihrer Einschätzung – für die Auswahl durch die SZ-Redaktion den Ausschlag gebende Kriterium. 2. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit denen Ihrer Mit-Schülerinnen und MitSchüler und erörtern Sie abweichende wie übereinstimmende Einschätzungen. 3. Wählen Sie aus der aktuellen Tagesausgabe der Süddeutschen Zeitung Nachrichten aus, die nach Ihrer Einschätzung nicht den sechs genannten Kriterien entsprechen. 4. Begründen Sie im Plenum der Klasse kurz Ihre Auffassung und führen Sie die Diskussion bezüglich der Gültigkeit der Publizitätskriterien von Nachrichten.

02

Arbeitsschritt 2; Arbeitsmaterial 2, 7 Aufbauprinzip der Nachricht: Umgekehrte Pyramide Aufgabe: Nachrichten müssen im Allgemeinen nach dem Aufbauprinzip „Umgekehrte Pyramide“ aufgebaut sein. Überprüfen Sie diese These an ausgewählten Textbeispielen (Arbeitsmaterial 7; Aktuelle SZ).

03

Arbeitsschritt 3; Arbeitsmaterial 3 Lead und Body der Nachricht; Begründung für Ranking der W-Fragen Aufgaben: 1. Zur Vertiefung Ihrer Kenntnisse in Bezug auf die Komposition von Nachrichten dienen folgende Bearbeitungsaufträge: •

Arbeiten Sie historische und sachliche Gründe heraus, warum Nachrichten überwiegend das Aufbauprinzip der umgekehrten Pyramide zu Grunde liegt. • Erläutern Sie das Ranking in den W-Fragen. • Erläutern Sie die Vorzüge der Lead-Body-Komposition von Nachrichten für die Arbeit in der Redaktion. 2. Arbeiten Sie inhaltliche Merkmale der Textsorte „Nachricht“ heraus.

90

Textarten

04

Arbeitsschritt 4; Arbeitsmaterial 4 Dreiecksschema des Lead-Stils: Aufbau und Adressatenbezug bei der Textsorte „Bericht“ Aufgaben: Überprüfen Sie an dem Ihnen vorliegenden Nachrichtenmaterial folgende Behauptungen auf Ihre Richtigkeit: • •

05

Der Lead-Stil kommt der Interessenvielfalt der Zeitungsleser entgegen; er ist Dienst am Kunden Nachrichten-Überschriften erfüllen den Anspruch „Monogramm des Inhalts“ zu sein.

Arbeitsschritt 5; Arbeitsmaterial 10 Hauptthese: Die Leserschaft wird durch die Presse manipuliert These: Im Wandel der Schlagzeilenformulierung wird die sich in kurzer Zeit verändernde Einstellung der Redaktion sichtbar Aufgaben: 1. Erläutern Sie an ausgewählten Beispielen, wie in den Schlagzeilen die sich verändernde Einstellung zur Rückkehr Napoleons zum Ausdruck kommt. 2. Untersuchen Sie Schlagzeilen von Nachrichten, Berichten in der Süddeutschen Zeitung zu Ereignissen, Personen, Meinungen darauf hin, ob sich verändernde Einstellungen der SZ-Redaktion zum Ausdruck kommen.

06

Arbeitsschritt 6; Arbeitsmaterial 5 Aufgaben: 1. Arbeiten Sie die These heraus. 2. Überprüfen Sie an den Aufmachern der Süddeutschen Zeitung die These (der Manipulation).

07

Arbeitsschritt 7; Arbeitsmaterial 11 Hauptthese: Die Leserschaft wird durch die Presse manipuliert These: Leser sollen sämtlichen Beiträgen (Nachricht, Kommentar, Leserbrief,...) in den Zeitungen kritisch gegenüberstehen Aufgaben: 1. Stellen Sie die Imperative zusammen und bestimmen Sie die Bereiche, auf die sich die „Anweisungen“ des Gedichts beziehen. 2. Erläutern Sie die Möglichkeiten der im Gedicht genannten Textarten den Leser zu manipulieren. 3. Überprüfen Sie an ausgewählten Beispielen aus der Süddeutschen Zeitung die These der Manipulation.

5.7.7

Klausurvorschläge Vorschlag 1 1. Wählen Sie aus dem Bündel von Schlagzeilen die Schlagzeile aus, die für den Auswahltext geeignet ist. 2. Nehmen Sie Stellung zu Ihrer Auswahl, indem Sie u.a. Bezug nehmen auf die nachrichtentypische Komposition; den Ausdruck Schopenhauers „Überschriften sollen Monogramm des Inhalts sein“. 3. Erläutern Sie Vorzüge der Lead-Body-Komposition von Nachrichten in Bezug auf den Adressat und den Verfasser (Redakteur). 91

Textarten

Vorschlag 2 / Arbeitsmaterial 8 bzw. 9 1. Verfassen Sie aus den vorliegenden Agenturmeldungen Nachrichten • Als Aufmacher • Als Kurznachricht 2. Stellen Sie Ihre Vorgehensweise dar und erläutern Sie, von welchen Einsichten Sie sich bei der Komposition leiten ließen. 3. Formulieren Sie eine Schlagzeile für die Nachrichtenversion. 4. Nehmen Sie Stellung zu Ihrer Auswahl. Vorschlag 3: Analyse eines Aufmachers der Süddeutschen Zeitung 1. Fassen Sie den Text in Kernaussagen zusammen. 2. Untersuchen Sie die Überschrift wie auch den Textkorpus auf meinungsfärbende Wortwahl, Herausstellung der persönlichen Eindrücke des Textverfassers, Kommentare. 3. Nehmen Sie eine Einschätzung des Aufmachers vor, indem Sie die Textart, die Formulierung der Überschrift sowie die inhaltliche Gestaltung des Textkörpers berücksichtigen.

5.7.8

Projektvorschlag 1 Als Hinweis für Schüler/innen: Alle vorgelegten Nachrichten wurden in der Süddeutschen Zeitung publiziert. Deswegen liegt Ihnen auch deren Endfassung vor. Bei der Auswahl dieser Nachrichten haben sich die Redakteure der Süddeutschen Zeitung an den oben stehenden Kriterien a) bis f) orientiert. Aufgaben: 1. Notieren Sie neben jeder Nachricht mit a) bis f) das – nach Ihrer Einschätzung – für die Auswahl durch die SZ-Redaktion den Ausschlag gebende Kriterium. 2. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit denen Ihrer Mit-Schülerinnen und MitSchüler und erörtern Sie abweichende wie übereinstimmende Einschätzungen. 3. Wählen Sie aus der aktuellen Tagesausgabe der Süddeutschen Zeitung Nachrichten aus, die nach Ihrer Einschätzung nicht den sechs genannten Kriterien entsprechen. 4. Begründen Sie im Plenum der Klasse kurz Ihre Auffassung und führen Sie die Diskussion bezüglich der Gültigkeit der Publizitätskriterien von Nachrichten.

5.7.9

Projektvorschlag 2 Arbeitsmaterial 8 bzw. 9 1. Verfassen Sie aus den vorliegenden Agenturmeldungen Nachrichten • Als Aufmacher • Als Kurznachricht 2. Stellen Sie Ihre Vorgehensweise dar und erläutern Sie, von welchen Einsichten Sie sich bei der Komposition leiten ließen. 3. Formulieren Sie eine Schlagzeile für die Nachrichtenversion. 4. Nehmen Sie Stellung zu Ihrer Auswahl.

92

Textarten

5.7.10

Redaktionelle Auswahlkriterien für Agenturmeldungen M1 Eine Nachricht (fact-story) soll nur Tatsachen bringen und sich jedes Kommentars enthalten. [...] Amerikanische Publizistikwissenschaftler haben noch eine Reihe weiterer Merkmale gefunden, die eine Nachricht für den Empfänger (Rezipienten) interessant machen: Immediacy “Nothing is more stale than yesterday's news“ = „Nichts ist langweiliger als Nachrichten von gestern“). Nachrichten müssen neu sein für den Leser. Wenn sie bereits bekannte Tatsachen weiterführen, gehört das, was neu ist, in die Schlagzeile und in den ersten Absatz. Proximity. Eine Nachricht muss den Leser angehen, sie muss ihn betroffen machen. Neue Steuern in Mexiko werden ihn weniger interessieren als eine Steuererhöhung im eigenen Land. Einen Autounfall in Ankara wird die Frankfurter Lokalpresse nicht melden, wohl aber einen schweren Unfall in der eigenen Stadt. Prominence. “If a movie actor breaks a leg, that`s news; if the man next door breaks a leg, that calls for an expression of sympathy and not a front-page story“ = „Wenn sich ein Filmstar ein Bein bricht, ist das eine Nachricht; wenn sich ein Nachbar ein Bein bricht, fordert das den Ausdruck von Mitleid und keine Geschichte auf der Titelseite.“ ). Freilich ist „prominence“ ein sehr dehnbarer Begriff. Ein Mädchen, das im AmazonasUrwald nach einem Flugzeugunglück neun Tage umherirrt und halb verhungert von Indios aufgefunden wird, ist über Nacht „prominent“; „Prominence“ kommt auch Vorgängen an bekannten Stätten zu, die sonst kaum Beachtung fänden: über eine Demonstration in Palermo wird die deutsche Presse kaum oder gar nicht berichten, über eine Demonstration vor dem Weißen Haus oder dem Kreml vermutlich auf der ersten Seite. Consequence. Eine Nachricht muss Folgen haben, Wirkungen auslösen. Das Aushandeln eines neuen Tarifvertrags zwischen einer Arbeitnehmer- und einer Arbeitgebergruppe wird bei Übereinstimmung vermutlich nur knapp gemeldet. Ein Tarifkonflikt jedoch, ein Streik oder eine Aussperrung werden mit Meldungen und Stellungnahmen der Konfliktparteien die ersten Seiten füllen. Human interest. Eine Nachricht sollte auch das Gefühl ansprechen und die Anteilnahme des Lesers erwecken: ”When a half dozen monkeys escaped from a circus in Hamburg, Germany, their exploits in the kitchens of Hamburg housewives made people throughout the world laugh” = „Als ein halbes Dutzend Affen aus dem Zirkus in Hamburg, Deutschland, entwischte, brachten ihre Beutezüge in die Küchen Hamburger Hausfrauen die Leute in der ganzen Welt zum Lachen.“ [...] Franz Hebel (Hrsg.): Lesen. Darstellen. Begreifen. Lese- und Arbeitsbuch für den Literaturund Sprachunterricht 8. Schuljahr. Hirschgraben Verlag. Frankfurt/Main, 1974, S. 104

93

Textarten

5.8

Merkmale der Textsorte Nachricht M 2a

Konstruiert nach den Angaben in: Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg): Stichwort „Nachricht“ in: Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main, 2000, 6. Auflage, S. 95 - 97

5.8.1

Inhaltliche Merkmale: Nachricht als Textsorte M 2b M3 Zeile 1:

Aktuelle Information über Ereignisse, Sachverhalte, Argumente

Zeile 4:

Knappe, prägnante Formulierung

Zeile 5:

Unpersönlich und sachlich: W-Fragen

Zeile 7:

Hauptsächlich zu öffentlichen Angelegenheiten von politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung

Zeile 9:

Hat Orientierungswert für Empfänger: „Mitteilung zum Danachrichten“

Zeile10:

Hat für Empfänger evtl. mehr Unterhaltungswert

94

Textarten

5.8.2

Definition Textart Nachricht M3 Eine Nachricht ist die nach bestimmten Regeln gestaltete aktuelle Information über Ereignisse, Sachverhalte und Argumente [...] „Zeitung“ hatte einmal den Wortsinn von Nachricht. Man unterscheidet harte oder gewichtige Nachrichten (hard news) und weiche oder leichte Nachrichten (soft news). Harte Nachrichten werden knapp und prägnant formuliert. Sie informieren - soweit möglich - unpersönlich und sachlich über die vier W`s im Zusammenhang mit dem Ereignis: über den Vorgang selbst (Was), über die daran beteiligten Personen (Wer), über den Zeitpunkt (Wann) und den Ort (Wo). In der Hauptsache befassen sich Nachrichten mit öffentlichen Angelegenheiten von politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung. Im besten Fall ist die Nachricht für den Empfänger so wichtig, daß er sich danach richtet. Dovifat hielt die Nachricht daher für eine „Mitteilung zum Darnachrichten“ [...] . Doch sogar die Nachricht, die für einen Teil der Empfänger Orientierungswert besitzt, wird für einen anderen Teil nur Unterhaltungswert haben. Der harte Nachrichtenstil ist während des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861 1865) entwickelt worden. Wegen der noch großen Störanfälligkeit der Telegrafenverbindungen erreichte oft nur der Anfang eines Gefechtsberichts die Redaktionen. War der Bericht chronologisch aufgebaut, so gelangte gerade das Wesentliche, nämlich Abschluß und Ergebnis des berichteten Vorgangs, nicht an die Adressaten. Die Reporter gingen deshalb dazu über 1. die Nachricht in zwei Abschnitten zu übermitteln (zuerst den sogenannten Lead- Leitsatz oder Nachrichtenkopf – und dann den Body, den Nachrichtenkörper) und 2. das Wichtigste im Nachrichtenkopf zusammenzufassen (Kurzinformation über das Was, Wer, Wo, Wann) und im Nachrichtenkörper detaillierte Zusatzinformationen zu bringen. Diese Anordnung wird im Amerikanischen auch Climax-First-Form, Top-Heavy-Form oder Inverted-Pyramid-Form genannt (Nachrichtenaufbau im Form einer umgekehrten Pyramide). [...] Der erste Satz ist meistens der schwerste. Journalisten formulieren ihn so lange um, bis er sitzt. [...] Grundsätzlich ist aber immer noch Warrens Rat am besten: „Spiel deine höchste Trumpfkarte zuerst aus“ (1934). Wenn man nach diesem Prinzip fortfährt und auf die höchste die zweithöchste folgen läßt usw., spielt sich das Blatt von allein zu Ende. Die harte Nachricht wird in der Regel schon im ersten Satz die beiden wichtigsten W`s – das Wer und das Was – präsentieren (W-Einstieg), es sei denn, sie begänne mit dem Schlüsselzitat eines Handelnden (Z-Einstieg), das, verkürzt, auch die Überschrift bilden könnte. Einzelnen Stimmen, die Nachricht müsse stets mit dem Wer beginnen („the name is the message“), schallt im Chor entgegen: Man sollte auch die W's „nach dem Prinzip der Wichtigkeit auf den Laufsteg schicken“ (Gerhardt 1993, 116). Daß das Wer immer am wichtigsten sei, wird man um so eher glauben, je eiserner die Nachricht an der Regel festhält, das ein Was nur berichtenswert sei, wenn ein bedeutendes Wer es hervorgerufen habe oder daran doch beteiligt sei – und als bedeutend gilt der Nachricht ein Wer, wenn er/sie für möglichst viele Personen handeln und/oder sprechen darf [...] . Doch kann ein Wer-Einstieg auch langweilig wirken, etwa wenn es hieße: „Der Bundestag hat am Dienstag in Bonn beschlossen, daß die Steuern erhöht werden.“ Besser würde man formulieren: „Die Steuern werden erhöht. Das hat der Bundestag ... beschlossen.“ Auch das Wo und das Wann müssen schon im Lead zu finden sein; doch sind sie meist zweitrangig. Einige Autoren nennen mit von LaRoche (1992) noch ein fünftes W: Welche Quelle? [...] Dieses W dient zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der Informationen, doch ist es nicht selten schon im Wer enthalten. Außerdem gibt es viele brisante Nachrichten, deren Quelle der Autor nicht nennen kann, ohne seine Informanten zu gefährden und die Quelle zu verschütten. Zwei weitere W`s können die Nachricht bereichern: Wie und Warum. Allerdings fehlen sie in der ersten eiligen

95

Textarten

Nachricht häufig – aus Zeitnot, aus Mangel an Platz oder weil noch nichts darüber bekannt ist. Faßt der (das) Lead oder der Vorspann das wichtigste einer „Geschichte“ wie in einer ausführlichen Überschrift mit vollständigen Sätzen zusammen, so versucht die Schlagzeile (headline) den bereits komprimierten Lead noch einmal auf das Wesentliche zusammenzuziehen – meist in unvollständigen Sätzen. Daher konzentriert sich die Überschrift zumal im politischen Mantel und im Wirtschaftsteil der Abonnementzeitungen ebenfalls auf das Was und/oder Wer. Schon Schopenhauer nannte die Überschrift ein „Monogramm des Inhalts“. Allerdings muß der Redakteur darauf achten, daß die Überschrift nicht zu stark dem ersten Satz der Nachricht ähnelt. Sie soll das Kunststück fertigbringen, gleichzeitig gehaltvoll und verlockend, ernst und lebendig, konzentriert und verständlich zu sein [...] . Die Vorteile des „kopflastigen“ Nachrichtenaufbaus sind für den formulierenden Journalisten: verhältnismäßig leichte Erlernbarkeit dieser Stilform und, bei gutem Training, die Möglichkeit zu schneller Formulierung; für den Redakteur: die Nachricht läßt sich einfach von hinten her kürzen, ohne daß die wichtigsten Informationen verlorengehen; für den Leser: das Wesentliche läßt sich auf einen Blick erkennen. Die Nachteile: Der Aufbau ist mitunter schematisch, er bietet wenig formale Überraschungen, die zum Weiterlesen reizen, die Details am Ende der Nachricht werden weniger beachtet. Zwar wird das Schema der umgekehrten Pyramide heute auch von amerikanischen Nachrichtenagenturen nicht mehr ganz starr angewandt, doch ist der Aufbau für hard news im Prinzip beibehalten worden; auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) ordnet ihre Nachrichten nach der Wichtigkeit der Einzelinformationen. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg): Stichwort „Nachricht“ in: Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main, 2000, 6. Auflage, S. 95 - 97

01

Material 5:

M5

„Der begründende oder erklärende Kommentar verdrängte vielfach den Leitartikel. Bedenklich wird diese Tendenz, wenn Zeitungen ihre Meinung nicht mehr offen in meinungsbetonten Darstellungsformen kundtun, sondern in Reportagen, ja in Nachrichten verstecken; will man mit Inhaltsanalysen die Haltung solcher Zeitungen feststellen, muß man statt der Leitartikel die Nachrichten untersuchen. Beeinflussen lassen sich Rezipienten am leichtesten, wenn sie die Absicht nicht bemerken und der Nachricht unterstellen, daß sie nicht lenken, sondern informieren will. Dabei kann man durch Nachrichtenauswahl wie durch das Hervorheben oder Weglassen bestimmter Aspekte in einer Nachricht Meinungen manipulieren [...] .“ Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke (Hrsg.: Stichwort „Leitartikel“ in: Publizistik. Massenkommunikation; Fischer Lexikon Frankfurt/Main, 2000, 6. Auflage, S. 108 - 110

96

Textarten

5.8.3

Schaubild II zu Merkmalen der Textart Nachricht M 4a

Gerhard Schoebe: Verstehen und Gestalten 4. 8. Schuljahr. Oldenbourg Verlag München 1981, S. 54

01

Material 4b: Der Bericht

M 4b

Natürlich muß er alles enthalten, was die Nachricht bringen kann. Aber er kann mehr: Augenzeugen zitieren, ausführlich auf die Ereignisse und ihren Ablauf eingehen; schildern, wie sich das Attentat ereignet hat, wie es im Flughafen danach ausgesehen hat, was offizielle Stellen dazu sagen usw.; im Bereich Hörfunk / Fernsehen kann er mit so genannten „Original-Tönen“ arbeiten, d.h. in Tonbandeinspielungen Beteiligte zu Wort kommen lassen (eventuell deutsche Touristen, die sich zur Zeit des Attentats auf dem Flughafen befunden haben etc.); er kann auch, wenn entsprechend gefragt wird, eine Wertung versuchen. Kurz: der Bericht bietet die Nachricht in ausgeschmückter Form mit Hintergrundinformation (woher kamen die Attentäter, hat es vorher schon andere Versuche in Athen gegeben?), und zusätzlich vielleicht einen Zipfel Kommentar. Alfred Marquart: Wie entsteht eine Nachricht? In: Wort und Sinn. 7. Schuljahr. Schöningh Verlag Paderborn. 1982, S. 121

97

Textarten

5.8.4

Ausgewählte Beiträge aus der SZ (Übersicht) Nr

Erscheinungsdatum 2002

1

21. Juni

EU-Gipfel will illegale Einwanderer stoppen

2

21. Juni

Euro über 0,96 Dollar

3

15. Juli

Boris Becker angeklagt wegen Steuerstraftaten

4

15. Juli

Fußball-Manager Schwan gestorben

5

19. Juli

Beinahe-Zusammenstoß über Mailand

6

19. Juli

60 Verschüttete nach Erdrutsch in Ecuador

7

19. Juli

Die bessere Hälfte im Bus

8

19. Juli

Geheimnisse einer Lotto-Trommel

9

22. Juli

Spanien und Marokko legen Streit bei

10

22. Juli

„US-Aktienkurse werden weiter fallen“

11

22. Juli

Acht Todesopfer bei Zugunglück in Sizilien

12

22. Juli

Ein schwerer Weg ins Krankenhaus

13

23. Juli

Streit über Reform des Arbeitsmarktes Regierung auf Distanz zu Hartz-Vorschlag

14

23. Juli

Buchungsfehler bei Renten für Arbeitslose

15

23. Juli

Häufung von Unwettern deutet auf Klimawandel

16

23. Juli

Beinahe-Zusammenstoß über London

17

23. Juli

Bankräuber leeren 450 Schließfächer

18

24. Juli

Schröder will rasch Hartz-Pläne umsetzen

19

24. Juli

Jan Ulrich für sechs Monate gesperrt

20

24. Juli

Bank Aktien stürzen ab

M6

Schlagzeile

98

Textarten

5.8.5

Texte der ausgewählten Beiträge

01

Text 1: Süddeutsche Zeitung 21. Juni 2002

M7

EU-Gipfel will illegale Einwanderer stoppen Sevilla (SZ) – Die EU will mit harter Hand gegen illegale Einwanderer vorgehen. Der Zustrom von Immigranten, vor allem über Schleuserschiffe im Mittelmeer, ist eines der Hauptthemen beim Gipfeltreffen an diesem Freitag und Samstag in Sevilla. (Seiten 4 und 11)

02

Text 2: Euro über 0,96 Dollar München (SZ) – Die europäische Gemeinschaftswährung hat ihren Höhenflug am Donnerstag fortgesetzt. Nach der Veröffentlichung schwacher Konjunkturdaten aus den USA notierte sie kurzzeitig sogar bei 0,9637 Dollar. Um 16.45 Uhr kostete der Euro noch 0,9629 / 30 Dollar. An den deutschen Aktienmärkten ging es weiter abwärts. Der Deutsche Aktienindex (Dax) verlor bis 16.45 Uhr sogar 2,69 Prozent auf 4238 Punkte. (Wirtschaft)

03

Text 3: Süddeutsche Zeitung 15. Juli 2002 Boris Becker angeklagt wegen Steuerstraftaten München (SZ) – Die Staatsanwaltschaft München hat gegen den früheren Tennisstar Boris Becker Anklage wegen Steuerhinterziehung erhoben. „Wir sehen einen hinreichenden Tatverdacht wegen Steuerstraftaten“, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Manfred Wick. (Seite 2)

04

Text 4: Fußball-Manager Schwan gestorben München (SZ) – Der frühere Manager des FC Bayern, Robert Schwan, ist tot. Er starb im Alter von 80 Jahren an Herzversagen. Schwan war der erste hauptamtliche Manager der Fußball-Bundesliga. Seit 1964 betreute Schwan auch Franz Beckenbauer als Manager. (Sport)

05

Text 5: Süddeutsche Zeitung 19. Juli 2002 Beinahe-Zusammenstoß über Mailand Mailand (dpa) – Im Luftraum über Mailand sind am Donnerstag zwei Passagierflugzeuge beinahe zusammengerast. Nach Angaben der Flugsicherheitsbehörde flogen die beiden Maschinen in rund 600 Metern Höhe knapp aneinander vorbei. Nach Angaben des Fernsehsenders RAI betrug der Abstand zwischen ihnen nur noch 30 Meter. In den Zwischenfall involviert waren ein Privatjet, der gerade von MailandLinate in Richtung Marseille abgehoben hatte, und ein Privatflugzeug, das vom nahe gelegenen Varese nach Rom unterwegs war. Wie viele Menschen sich an Bord der Maschinen befanden, war nicht bekannt. Die Behörden haben eine Untersuchung eingeleitet. Im vergangenen Oktober waren bei einem Zusammenstoß zweier Flugzeuge auf dem Flughafen Mailand-Linate 118 Menschen ums Leben gekommen. Die Sicherheit Linates war daraufhin in die Kritik geraten.

06

Text 6: Süddeutsche Zeitung 19. Juli 2002 60 Verschüttete nach Erdrutsch in Ecuador

99

Textarten

Quito (dpa) – Nach einem Erdrutsch in Ecuador hat es am Donnerstag nach offiziellen Angaben keine Hoffnung mehr für die bis zu 60 Verschütteten gegeben. Bisher habe ein Mädchen tot geborgen werden können, hieß es. Bei dem Unglück auf der Fernstraße von Guarumales nach Mendez in der südlichen Provinz MoronaSantiago waren am Dienstagabend etwa zehn Fahrzeuge, darunter ein Reisebus, von Geröllmassen begraben worden. Starke Regenfälle hatten das Erdreich aufgeweicht.

07

Text 7: Die bessere Hälfte im Bus Dschidda (dpa) – In der saudischen Hauptstadt Riad sollen die Fahrer von Bussen mit Studentinnen ab dem kommenden Semester nur noch in Begleitung ihrer Ehefrauen am Lenkrad sitzen dürfen. Mit dieser Regelung will das auf strikte Geschlechtertrennung erpichte Herrscherhaus offenbar garantieren, dass kein unerlaubter Kontakt zwischen den Fahrern und den Studentinnen stattfindet. Busfahrerinnen gibt es in Saudi Arabien, wo ein generelles Fahrverbot für Frauen gilt, nicht. Wie die Zeitung Al-Schark Al-Awsat berichtet, haben sich bisher aber noch nicht genügend Frauen gemeldet, um den Bus-Job an der Seite des Gatten anzutreten. Die Frauen sollen pro Monat 1000 Rial (rund 267 Euro) erhalten, die Fahrer das Doppelte.

08

Text 8: Geheimnisse einer Lotto-Trommel Mainz (AP) – Die Ursache für die Panne bei der Ziehung der Mittwoch-Lotto-Zahlen ist weiterhin unklar. Wie die Sendeleiterin Angela Schöneberg mitteilte, werden die Konstrukteure der Ziehungstrommel das Gerät am Freitag untersuchen. Die Auslosung musste nach der Ziehung von drei Zahlen unterbrochen werden, da die gläserne Lotto-Trommel streikte. Die Ziehung sei um 19.36 Uhr mit dem baugleichen Ersatzgerät fortgesetzt worden, erklärte die Sendeleiterin. Die drei bereits gezogenen Zahlen behielten dabei ihre Gültigkeit.

09

Text 9: Süddeutsche Zeitung 22. Juli 2002 Spanien und Marokko legen Streit um Insel bei Madrid (SZ) – Spanien und Marokko haben ihren Streit um die unbewohnte Felseninsel Perejil (Petersilie) beigelegt. Unter Vermittlung der USA verständigten sich die beiden Staaten auf einen Kompromiss. Danach bleibt das von Spanien und Marokko beanspruchte Eiland de facto neutrales Gebiet und darf von keinem der beiden Länder militärisch besetzt werden. (Seite 6)

10

Text 10: „US-Aktienkurse werden weiter fallen“ München – Die Talfahrt an den US-Aktienbörsen wird noch länger dauern, glaubt Robert J. Shiller, Professor an der Yale-Universität. Die wichtigen Bewertungszahlen lägen nach wie vor weit über ihrem historischen Schnitt, sagte er der Süddeutschen Zeitung. (Wirtschaft)

11

Text 11: Acht Todesopfer bei Zugunglück auf Sizilien Palermo (Reuters) – Bei einem Zugunglück auf Sizilien sind mindestens acht Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 30 wurden verletzt. Nach Angaben der Polizei entgleiste der Zug Palermo-Venedig westlich von Messina und prallte gegen eine Brücke. (Panorama)

100

Textarten

12

Text 12: Ein schwerer Weg ins Krankenhaus Stuttgart (dpa) – Der Transport ins Krankenhaus wurde für einen Sechs-ZentnerMann aus Stuttgart zum Abenteuer. Die Feuerwehr musste ihn in der Korbtrage eines Kranes aus dem Fenster seiner Wohnung im ersten Stock hieven, weil die Treppe zu eng war. Der Rettungswagen war auch nicht für 300 Kilogramm ausgelegt, so dass der Mann in einem Klinikbett liegend per Lkw gefahren wurde. 16 Feuerwehrleute waren im Einsatz, darunter die Höhenrettungsgruppe.

13

Text 13: Süddeutsche Zeitung 23. Juli 2002 Streit über Reform des Arbeitsmarkts Regierung auf Distanz zu Hartz-Vorschlag Berlin (SZ) – In der Bundesregierung gibt es Vorbehalte gegen die Idee der HartzKommission, durch Billigjobs mehr Arbeitsplätze zu schaffen. „Das wollen wir nicht, weil es nichts bringt“, sagte ein Regierungsmitglied der Süddeutschen Zeitung. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutsche Industrie, Michael Rogowski, befürchtet, dass die Hartz-Pläne auf Druck der Gewerkschaften verwässert werden. (Seite 5)

14

Text 14: Buchungsfehler bei Renten für Arbeitslose roj Berlin – Wegen einer Computerpanne hat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Rentenbeiträge von 450 000 Arbeitslosen falsch verbucht. Weil die Bundesanstalt für Arbeit seit eineinhalb Jahren versucht, bei der BfA gelöschte Daten zu rekonstruieren, ist der Fehler noch nicht behoben. Nach Behördenangaben entsteht den Betroffenen kein finanzieller Schaden. (Wirtschaft)

15

Text 15: Häufung von Unwettern deutet auf Klimawandel München (SZ) – Die Zunahme heftiger Unwetter ist nach Ansicht von Meteorologen ein Anzeichen dafür, dass sich das Weltklima ändert. Die globale Erwärmung zeige sich auch in der Wetterstatistik, sagte der Forscher Mojib Latif der Süddeutschen Zeitung. (Wissenschaft)

16

Text 16: Beinahe-Zusammenstoß über London London / Basel (AP) – Im Luftraum über London ist es fast zu einem Zusammenstoß zwischen einem britischen und einem Schweizer Flugzeug gekommen. Die Maschinen der Swiss und der British Airways hätten sich am Freitag bis auf 6,4 Kilometer genähert, sagte Swiss-Sprecher Manfred Winkler. Die Flugsicherung habe Fehler eingeräumt. Laut Winkler bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die insgesamt 105 Insassen. Das Schweizer Flugzeug mit 26 Passagieren habe sich auf einem Flug von London nach Zürich befunden. Die Maschine der British Airways sei mit 79 Menschen an Bord von Birmingham nach Paris gestartet. Der vorgeschriebene Mindestabstand beträgt nach Angaben des britischen Flugdienstes acht Kilometer. Der SwissPilot habe Anweisungen des automatischen Warnsystems TCAS erhalten.

17

Text 17: Bankräuber leeren 450 Schließfächer Jerusalem (AP) – Beim vermutlich größten Bankraub in der Geschichte Israels haben Räuber mehr als 450 Schließfächer geplündert. Wie die Polizei am Montag mitteilte, brachen die Täter zwischen Freitagnachmittag und Sonntagmorgen in eine Bankfiliale in Tel Aviv ein. Sie hätten insgesamt 454 Schließfächer ausgeräumt. Ein Sprecher der Bank sagte, er könne noch keine Angaben über den Wert der Beute machen. Die Diebe hätten vor allem Bargeld mitgenommen, Juwelen und andere Wertgegenstände hingegen zurückgelassen. Israelische Zeitungen veröffentlichten Schätzungen über einen Beutewert von rund 16 Millionen Euro und sprachen vom bislang größten Bankraub des Landes.

101

Textarten

18

Text 18: Süddeutsche Zeitung 24. Juli 2002 Schröder will rasch Hartz-Pläne umsetzen bry Berlin – Die von der Hartz-Kommission ausgelöste Diskussion um künftige Einschnitte bei der Arbeitslosenunterstützung geht weiter. „Im Mittelpunkt stehen neue Zumutbarkeiten“, sagte Peter Hartz. Bundeskanzler Gerhard Schröder lobte das Zwischenergebnis: „Die Richtung stimmt, und wir werden die Pläne unmittelbar umsetzen.“ (Seiten 4 und 5)

19

Text 19: Jan Ullrich für sechs Monate gesperrt Frankfurt (SZ) – Jan Ullrich ist vom Sportgericht des Bundes Deutscher Radfahrer für sechs Monate gesperrt worden. Dem Olympiasieger und Tour-deFranceGewinner war Mitte Juni die Einnahme verbotener Amphetamine nachgewiesen worden. (Sport)

20

Text 20: Bank-Aktien stürzen ab München (SZ) – Der Dax ist am Dienstag bis 16.45 Uhr erneut um 2,38 Prozent auf 3604 Punkte gefallen. Auch am Tag nach dem Konkursantrag des US-Konzerns Worldcom standen Bankaktien schwer. unter Druck. Die Titel der Hypo-Vereinsbank brachen um rund zehn Prozent ein. In den USA stabilisierten sich die Kurse zunächst etwas. Am Devisenmarkt fiel der Euro um über zwei US-Cent zurück auf 0,9915 / 20 Dollar. (Wirtschaft)

102

Textarten

5.8.6

Agenturmeldung 1: „Martin Luther King erschossen“ M8

ap 14 ausland eilmeldung martin luther king erschossen memphis, 5. april (ap) der amerikanische farbigenführer und friedensnobelpreisträger martin luther king ist am donnerstagabend in memphis im us-staat tennessee bei einem attentat ums leben gekommen. (folgt zwei) ap eb a45 ap 15 ausland vorrang memphis: martin luther king erschossen 14 / 2 martin luther king, der als der hauptvertreter des prinzips der gewaltlosigkeit in der farbigenbewegung der vereinigten staaten galt, wurde auf dem balkon seines Zimmers in einem hotel in memphis von schüssen getroffen. im st.-josephs-hospital in memphis, in das er sofort gebracht wurde, wurde er kurze zeit später für tot erklärt. reverend andrew young, einer der mitarbeiter kings, erklärte, king sei im hals und im unteren teil des gesichts getroffen worden. „er sagte kein wort, er bewegte sich nicht“, sagte young. (folgt drei) ap eb a46 ap 16 ausland memphis: martin luther king erschossen 14 / 3 ein anderer mitarbeiter kings, reverend jesse jackson, sagte, king habe sich gerade zum essen fertig gemacht. „king war auf einem balkon des ersten stocks des hotels. er hatte sich gerade vorgebeugt“, berichtete jackson. „wenn er gestanden hätte, wäre er nicht im gesicht getroffen worden.“ king habe gerade etwas zu einem dritten gesagt, als der schuß ertönte. „ich stieß ihn nieder. als ich mich umdrehte, sah ich von überall her polizei kommen." die polizei sei aus derselben richtung gekommen, aus der der schuß kam, sagte jackson. das „lorraine"-hotel, in dem king wohnte, wurde sofort von bewaffneter polizei hermetisch abgeriegelt. martin luther king war am mittwoch nach memphis gekommen, um die leitung der demonstrationen zu übernehmen, mit denen die forderungen der 1300 streikenden müllabfuhrarbeiter der stadt unterstützt werden sollten. bei einem ersten demonstrationsmarsch am 28. märz war es bereits zu schweren unruhen gekommen, in deren verlauf eine person getötet worden war. für montag war ein zweiter demonstrationsmarsch geplant. king hatte sich ausdrücklich von den gewalttätigkeiten distanziert. der gouverneur von tennessee, buford ellington, begann sofort nach dem bekanntwerden des attentats auf king beratungen mit den vertretern der stadt und des staates. (fortsetzung möglich) ap eb a 49, 50 ap 17 ausland memphis: martin luther king erschossen 14 / 4 der tod des farbigenführers wurde vom stellvertretenden polizeichef von memphis, henry lux, bekanntgegeben. als todesursache gab ein krankenhaussprecher eine schußwunde im hals an. als todeszeit wurde 19.00 uhr ortszeit (2.00 uhr mez) angegeben. martin luther king war 39 jahre alt. (ende) ap eb a 45 ff, 53

Aus: Franz Hebel ( Hrsg.): Lesen. Darstellen. Begreifen. Lese- und Arbeitsbuch für den Literatur- und Sprachunterricht 8. Schuljahr. Hirschgraben Verlag. Frankfurt/Main, 1974, S. 100 - 102

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Textarten

5.8.7

Agenturmeldung 2: „Giftgasunglück Toronto“ M9

111749 nov 79 dpa 201 Giftgasunglück 7 000 Menschen nach Giftgasunglück bei Toronto evakuiert Mississauga (Ontario) (dpa) - Rund 7 000 Einwohner eines Vororts der kanadischen Stadt Toronto mußten am Sonntagmorgen evakuiert werden, nachdem wenige Stunden zuvor in ihrer Nahe mehrere Eisenbahnwaggons mit hochgiftigen Chemikalien explodiert waren. Der erste Explosionsstoß ereignete sich, nachdem der Frachtzuq aus noch ungeklärten Gründen entgleist war und die mit Ätznatron, Chlor und Propan beladenen Waggons umstürzten. Unmittelbar danach bildeten sich Giftwolken, die die Anwohner nach wie vor bedrohen. Verletzt wurde bei dem Unglück offenbar niemand. Noch während der Evakuierungsaktion erfolgte ein zweiter Explosionsstoß und setzte weitere Waggons in Brand: „Über 20 Waggons stehen in Flammen“, hieß es bei der örtlichen Polizei. Die Evakuierung auch eines nahe gelegenen tausend Betten-Krankenhauses stand am Sonntagabend unmittelbar bevor. Die Feuerwehr, die weitere Explosionen nicht ausschließt, hofft, daß die Chemikalien allmählich von selbst ausbrennen. dpa st re to 120216 nov 79 vvvvb dpa 017 vm Giftgasunglück / M o r g e n zusammenfassung Nach Giftgasunglück bei Toronto - 50 000 Bewohner evakuiert Ottawa (dpa) Rund 50 000 Bewohner der kanadischen Stadt Mississauga bei Toronto mußten am Sonntag evakuiert werden, nachdem bei einem Eisenbahnunqlueck mehrere Tankwaggons mit hochgiftigen Chemikalien explodiert waren. Menschen kamen nicht zu Schaden. Ein Polizeisprecher bezeichnete die Evakuierung als die bisher Umfangreichste in der Geschichte Nordamerikas. Die Maßnahme war notwendig geworden, nachdem ein Güterzug der „Canadian Pacific Railway“ auf der Fahrt durch die dichtbesiedelte 160 000 Einwohner grobe Stadt entgleist und Feuer gefangen hatte. Bei dem Unglück barsten mehrere der mit giftigem Chlorine sowie Propan gefüllten Tankwaggons. dpa bt 120614 nov 79 vvvvb dpa 021 vm Giftgasunglück Aufgrund neuer Angaben ersetzen Sie bitte die Überschrift und den ersten Absatz der dpa 017 (Nach Giftgasunglück bei Toronto 50 000 Bewohnerevakuiert – Ottawa / 0216) 200 000 Menschen nach Giftgasunglück bei Toronto evakuiert Mississauga (dpa / UPI) – Alle 200 000 rpt 200 000 Einwohner der kanadischen Stadt Mississauga sind in der Nacht zum Montag evakuiert 121634 nov 79 vvvvb dpa 197 vm Giftgasunglück / Z u s a m m e n f a s s u n g Eine viertel Million Kanadier flieht vor Giftgas 121711 nov 79 vvvvb dpa 214 pl Giftgasunglück / K o r r Angst eins (zwei Teile) Eine Großstadt in Angst vor dem Giftgas 121716 nov 79 vvvvb dpa 219 vm 0iftgasunglück / K o r r Angst zwei und Schluß (Ottawa) Zwei Stunden altes Baby und Herzkranke auf der Flucht 131325 nov 79 vvvvb dpa 126 vm Giftgasunglück / Z u s a m m e n fassung Evakuierte Bevölkerung kann auf baldige Rückkehr hoffen

Aus: Gerhard Schoebe: Verstehen und Gestalten 4. 8. Schuljahr. Oldenbourg Verlag München 1981, S. 47 – 48

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5.8.8

Bernd Peter Arnold: Schlagzeilen zu Napoleon M 10 Ein Beispiel aus der Geschichte möge zeigen, wie mit Worten manipuliert werden kann (nach Manfred Steffens „Das Geschäft mit der Nachricht“): So soll der offizielle französische „Moniteur“ die Rückkehr Napoleons I. von Elba3 nach Frankreich mit täglich wechselnden Schlagzeilen begleitet haben: Der Menschenfresser hat seine Höhle verlassen Das korsische Ungeheuer ist im Golf von Juan gelandet Der Tiger ist in Gap eingetroffen Das Monster hat in Grenoble genächtigt Der Tyrann hat Lyon passiert Der Usurpator ist 60 Meilen vor der Hauptstadt gesehen worden Bonaparte rückt rasch vor, doch er wird niemals in Paris einmarschieren Der Kaiser ist in Fontainebleau eingetroffen Seine kaiserliche Majestät sind gestern inmitten seiner getreuen Untertanen ins Château des Tuileries eingezogen Als 150 Jahren innerhalb von neun Tagen ein so krasser Sinneswandel vollzogen hat, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls macht dieses Beispiel deutlich, auf wie unterschiedliche Weise man ein und denselben Vorgang beschreiben kann, je nach Standort des Betrachters. Bernd Peter Arnold: Schlagzeilen zu Napoleon. In: Wort und Sinn. 7. Schuljahr. Schöningh Verlag Paderborn. 1982, S. 126

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Rückkehr Napoleons von Elba: Napoleon I. (1769 – 1821) war seit 1804 Kaiser der Franzosen. Seine Armee unterwarf in verschiedenen Kriegen viele Staaten Europas, wurde dann aber von den verbündeten Gegnern 1813 vollständig geschlagen. Im April 1814 wurde Napoleon zur Abdankung gezwungen; er erhielt die Insel Elba als Wohnsitz. Von dort kehrte er im März 1815 nach Frankreich zurück und riß noch einmal für 100 Tage die Herrschaft an sich.

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5.8.9

Horst Bienek4: Anweisung für Zeitungsleser M 11

I Prüft jedes Wort prüft jede Zeile vergeßt niemals man kann mit einem Satz auch den Gegen-Satz ausdrücken II Mißtraut den Überschriften den fettgedruckten sie verbergen das Wichtigste Mißtraut den Leitartikeln den Inseraten den Kurstabellen den Leserbriefen und den Interviews am Wochenende auch die Umfragen der Meinungsforscher sind manipuliert die Vermischten Nachrichten von findigen Redakteuren erdacht Mißtraut dem Feuilleton den Theaterkritikern die Bücher sind meistens besser als ihre Rezensenten lest das was sie verschwiegen haben mißtraut auch den Dichtern bei ihnen hört sich alles schöner an auch zeitloser aber es ist nicht wahrer nicht gerechter III Übernehmt nichts ohne es geprüft zu haben nicht das Wort und nicht die Dinge nicht die Rechnung und nicht das Fahrrad nicht die Milch und nicht das Fleisch nicht die Traube und nicht den Schnee faßt es an schmeckt es dreht es nach allen Seiten nehmt es wie eine Münze zwischen die Zähne hält es stand? seid ihr zufrieden? IV ist Feuer noch Feuer und Laub noch Laub ist Flugzeug Flugzeug und Aufstand Aufstand ist eine Rose noch eine Rose? Hört nicht auf euren Zeitungen zu mißtrauen auch wenn die Redakteure oder Regierungen wechseln

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Horst Bienek geb. 1930 in Gleiwitz / Oberschlesien, wurde 1951 in Ostberlin verhaftet und zu Zwangsarbeit in der Sowjetunion verurteilt, 1955 entlassen. Er war von 1957 – 1961 Redakteur beim Hessischen Rundfunk und lebt heute als Verlagslektor in München. Er schreibt Gedichte und Prosa.

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