Ein Tor, in Gottes Namen!

Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion Bearbeitet von Jürg Altwegg 1. Auflage 2006. Buch. 256 S. Hardcover ISBN 978 3 446 207...
Author: Astrid Schuster
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Ein Tor, in Gottes Namen!

Über Fußball, Politik und Religion

Bearbeitet von Jürg Altwegg

1. Auflage 2006. Buch. 256 S. Hardcover ISBN 978 3 446 20709 7 Format (B x L): 13,3 x 21 cm Gewicht: 383 g

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Ein Tor, in Gottes Namen! Über Fußball, Politik und Religion ISBN-10: 3-446-20709-0 ISBN-13: 978-3-446-20709-7 Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser.de/978-3-446-20709-7 sowie im Buchhandel

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Die Barbaren, an denen zweitausend Jahre Christentum scheinbar spurlos vorbeigegangen sind, glauben nicht an Gott, sondern an Lazio. Oder Borussia Dortmund. Bestenfalls an Glasgow oder Celtic. Tatsächlich wird ihre Geilheit auf Gewalt von keinerlei Hemmungen evangelischer Prägung gebremst. Das Weltbild der Ultras ist ein faschistisches. Zu den Sündenböcken haben sie ein unverkrampftes Verhältnis: man muß sie bekämpfen, besiegen, eliminieren, denn sie sind für alles Unheil auf dieser Welt verantwortlich. Sie sind Rassisten, Antisemiten, Chauvinisten und verkörpern in einer doch relativ zivilisierten Welt die tumbe, ungebändigte, archaische Gewalt der blindwütigen Krieger, die Kadmos mit seinem Stein überlistete. Es hätte auch ein Ball sein können. Fußball ist ein den Göttern geweihtes Opferspiel – es ist aber auch ein Ritual, das die Mimesis zähmt. Die ziemlich einmalige zivilisatorische Leistung, die in ihm steckt, ist durchaus nachvollziehbar. Der Fußball inszeniert und bewältigt den mimetischen Konflikt: Alle wollen den Ball – aber keiner darf ihn haben. Das war schon bei der »Soule«, bei der sich die Teilnehmer ohne große taktische Raffinessen seiner zu bemächtigen versuchten, der Fall. Sie versuchten, möglichst lange in seinem Besitz zu bleiben – doch das Ziel des Spiels war ein anderes. Der Sieg hatte stets eine weitgehende symbolische Bedeutung. Mit ihrem Gemetzel erscheint die »Soule« im Prozeß der Zivilisierung vom gegenseitigen Abschlachten der Wilden, die noch nicht einmal als Horde organisiert sind, zum modernen Fußball als wichtige Zwischenstufe. Der entscheidende Schritt in der Entwicklung ist die Abspaltung vom Rugby – mit seinen Zusammenrottungen des Rudels – im neunzehnten Jahrhundert zur Zeit der triumphierenden Industrialisierung. Die Geste der Aneignung schlechthin – mit der Hand! – wird verboten und tabuisiert. Den Ball nicht behalten – abgeben, weitergeben: Der mimetische Urkonflikt, dessen Bewältigung in René Girards Anthropologie erst die Begründung einer Gesellschaft ermöglicht, wird auf dem grünen Rasen in ein sublimes Spiel überführt und aufgelöst. Dieser Ansatz – die Quintessenz des Fußballs – ist im Lauf der Zeit immer stärker verfeinert worden. Im Zuge dieser Entwicklung – von der Erfindung des Penaltys bis zur komplexen Abseitsregel – wurde der Fußball zu einer Metapher für den ewigen Dualismus unserer Gesellschaften. Ob es die Gegensätze der Geschlechter, von Hand und Fuß, von Körper

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und Seele, Gut und Böse sind: der Fußball setzt sie in Szene und entschärft sie auch. Die Spieler sind Jäger und Gejagte. Dem Heimspiel folgt das Rückspiel. Nach der Pause werden die Seiten gewechselt. Im Stadion erleben wir eine perfekte Harmonisierung des Antagonismus von Individuum und Kollektiv. Die Mannschaftsdisziplin schließt geniale Einzelleistungen nicht aus. Das – theoretische – System und der intuitive Spielmacher bedingen sich gegenseitig. Ihr Zusammengehen bringt die Höchstleistung. Wer nur auf eigene Rechnung spielt, ist wirkungslos. Und stirbt in selbstverliebter Schönheit. In den sublimsten Augenblicken des göttlichen Spiels finden Moral, zumindest Charakter und Ästhetik zueinander, werden eins – und äußern sich in ebenso eleganter wie unwiderstehlicher Effizienz. Solche Momente stellen sich ein, wenn der Flügel in einem halsbrecherischen Solo- und Slalomlauf die Meute der Gegner ausdribbelt und mit allerletzter Kraft in einem Anflug genialer Intuition dem Stürmer, den er möglicherweise gar nicht sieht, den Ball mit einer Flanke zuspielt. Die Vergänglichkeit dieser Szenen, die immer nur ein paar Sekunden dauern, verstärkt den Aspekt ihres mimetischen und einmaligen Charakters: sie werden zwar im Fernsehen, das sie aus unterschiedlichsten Perspektiven mehrfach filmte, endlos wiederholt und zerredet – aber sie können nicht wirklich abgebildet und immer nur versuchsweise nachgeahmt werden. Sogar die Fifa hat in dieser materialistischsten Epoche der Menschheitsgeschichte, die es je gab, die mimetische Wahrheit des Fußballs verinnerlicht: die begehrteste Trophäe, der goldene World Cup, geht selbst nach dreimaligem Gewinn nicht mehr in den endgültigen Besitz der Sieger. Er ist damit noch begehrenswerter und so unerreichbar wie der Gral geworden. Skifahren ist banal, Boxen brutal, und zum Landhockey kann man sich ganz gewiß viele Gedanken machen: Fußball veranschaulicht vor dem Hintergrund eines ständig erneuerten Urkonflikts menschliche Ideale und existentielle Abgründe. »Vom Haß zur tiefen Freude« überschrieb die Zeitung La Provence einen Matchbericht vom Spiel zwischen den beiden Erzfeinden Olympique de Marseille und Paris Saint-Germain. Bei ihren Begegnungen wird pro Fan aus der gegnerischen Stadt ein Polizist mobilisiert. Die Ultras aus Paris werden in der Provence jeweils schon auf der Autobahn abgefangen. Der Mannschaftsbus muß auf dem Weg ins Stadion von Polizeifahrzeugen beschützt

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werden. Die Wandlung – im Stadion und in der ganzen Stadt – vom abgrundtiefen Haß zur heiteren Freude entspricht gewiß nicht den erhabenen Gefühlen und heiligen Vorgängen, um die es in der Messe geht. Auch der Einwand, Fußball sei keine Katharsis, kann mit diesem Zitat nicht schlüssig widerlegt werden. Doch die Freude nach dem Sieg, die so sehr nach außen demonstriert wird, ist auch eine innerliche – wenngleich von beschränkter Dauer. Spätestens am Wochenende danach steht wieder alles auf dem Spiel. Es gibt keinen Triumph ohne Opfer und Verlierer. Und sie werden die Sieger sein. Dem Sieg folgt unweigerlich die demütigende Niederlage – irgendeinmal. Sie ist so sicher wie der Tod. Und sie bringt Schmerz und Schande. Im Fußball gehört beides zusammen – und ist, wie im Leben üblich, nicht gerecht verteilt. Fußball ist wie die Gründung der Stadt durch Kadmos: er wird von der archaischen Gewalt, die der Stein bei den Kriegern entfesselte, getragen und überwindet sie in einem Ritual, dem die ungläubigen Banausen jegliche Transparenz absprechen mögen, das aber sehr wohl zur Bildung einer Gemeinschaft beiträgt. Seinen Höhepunkt erreicht dieser Prozeß mit der La-ola-Welle. Sie ist eine Errungenschaft des Fußballs und wurde – solche Zufälle gibt es nicht – da erfunden, wo früher die Köpfe rollten und der Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador ausbrach: in Mittelamerika, in Mexiko, im Aztekenstadion bei der Weltmeisterschaft 1986. Inzwischen gerät sie auch bei Popkonzerten oder anderen Massenveranstaltungen in Bewegung. Sie bewegt sich in einer Breite von sechs bis zwölf und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zwölf Metern pro Sekunde – stets im Uhrzeigersinn. Untersuchungen in Leipzig und Budapest haben ergeben, daß die Menschen bei der La-ola-Welle wie chemische Teilchen reagieren. Jede Person folgt dem gleichen Schema von Regeln, um über einen aktiven Vorgang – Aufstehen und Teilnehmen an der Wellenbewegung – in einen passiven Zustand zu geraten. Um sie auszulösen, bedarf es einer kritischen Masse und einer Gruppe von Anführern, die das kollektive Aufstehen und Hochwerfen der Arme in die Wege leiten. Untersucht haben die Forscher La ola nach Modellen, die durch das Studium von Waldbränden und Wellenbewegungen am Herzgewebe erarbeitet wurden. Wenn die Welle durchs Stadion geht, wird die Masse von einem Gefühl der Einmütigkeit ergriffen, dem sich kaum einer widersetzt. Das

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Schauspiel der mimetischen Rivalität, die auf dem grünen Rasen im Kampf um den Ball inszeniert wird, erzeugt auf den Tribünen einen Zustand der Zusammengehörigkeit, der geradezu chemischen Reaktionsgesetzen folgt. Diese tiefe Freude, dieses Glücksgefühl hat der Journalist von La Provence nach dem Sieg von Marseille gegen Paris gespürt und in eine Schlagzeile gefaßt. So edel wie die Vorgänge in der Kirche sind die massenpsychologischen Prozesse im Stadion sicher nicht. Dennoch sollte ihre Tragweite nicht unterschätzt werden. Der Fußball verwandelt mehr Haß und kanalisiert mehr Gewalt, als er je ausgelöst hat. Diese Bilanz darf gezogen werden – zwanzig Jahre nach Brüssel. Fünf Jahre Gefängnis lautete das Urteil gegen den achtzehnjährigen Terry Wilson, insgesamt dreizehn Hooligans hat die belgische Justiz zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt. Wilson wurde gefaßt, weil er sich in einem Zeitungsinterview zu seiner Verantwortung bekannte. Acht Monate saß er in Belgien, danach noch zwei Monate in seiner Heimat im Knast. Nach seiner Entlassung verdiente er seinen Lebensunterhalt als Drogenhändler. Ein Geistlicher der Täufer-Bewegung »Born again Christians« brachte den Dealer und Hooligan auf den rechten Weg. Terry Wilson arbeitete in einer Badeanstalt, als er von einem Journalisten kontaktiert wurde, der ein Buch über die Heysel-Tragödie schrieb. An die Toten hatte Wilson kaum je gedacht, er kannte nicht einmal ihre Namen. Das Interview wühlte ihn auf, und so entstand die Idee eines Besuchs bei den Überlebenden. Otello Lorentini, der in Brüssel war und seinen Sohn – Arzt und Vater zweier kleiner Kinder – sterben sah, zeigte sich bereit, den reumütigen Rowdy zu empfangen: »Ich hasse dich nicht«, sagte Lorentini dem Engländer ins Gesicht, »ich werde dir in einem Monat oder in einem Jahr verzeihen, aber nicht jetzt.«

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