Leseprobe aus:

Isla Dewar

Ein Jahr in Green Cairns

Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.

(c) 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.

Die Missie

Eine überfüllte Bar in Glasgow, ein glitzerndes Ambiente, Chrom und Glas und sehr laut, ein beständiges Gesumm und Gemurmel, Gerede und Gelächter. Im Grunde zu laut für Iris, obwohl sie die Stadt liebt, die Geschäftigkeit, das Treiben. Es regnet, ein feiner, nasser Nieselregen, der unaufhörlich niedergeht. Autos zischen vorbei. Sie betrachtet die Außenwelt und ihre schimmernden Spiegelungen durch das leicht beschlagene Fenster. Sie sieht sich selbst, auch wenn sie es zu vermeiden sucht. Ihr Gesicht erstaunt sie neuerdings immer. Wie ist das bloß gekommen? Nicht die Falten und Runzeln, wie die dahin gekommen sind, weiß sie. Zeit und Sorgen haben ihr das zugefügt. Wie allen anderen vertrauten Gesichtern, die heute Abend um den Tisch versammelt sind. Nein, sie meint den leicht kummervollen Ausdruck, eine zunehmende Traurigkeit. Sie erinnert sich an vergangene Zeiten und denkt immer und immer wieder, ich hätte es besser machen können. Sie ist streng mit sich. Ihr Leben lang ist es ihr schwer gefallen, sich selbst einen Fehler zu verzeihen, und wann immer sie sich eine vergangene Situation oder ein Problem vergegenwärtigt, findet sie, sie hätte es besser machen, sich mehr abverlangen können. «Mistwetter», sagt sie. Alle stimmen zu. Dabei hat der Regen seinen Reiz. Vor allem, wenn man ihn aus der Wärme des Raumes heraus betrachtet. Ströme von Wasser rinnen an der Scheibe herunter, Lichter funkeln und 9

spiegeln sich in Pfützen auf dem Gehweg. Ein verlockendes Funkeln. Ein kühler Novemberabend. Iris sitzt mit ihren Freunden und ihrer Tochter Sophy zusammen. Sie trinkt Champagner, obwohl sie ihn vorgeblich nicht mag. «Er prickelt. Ein zünftiger Drink prickelt nicht.» Sie lacht. Ihr Lachen ist ein Lied, laut, rhythmisch. Ihr Gesicht legt sich in fröhliche Falten. Heute Abend trägt sie einen violetten, knöchellangen Seidenrock, dazu passend eine violette Bluse und eine schwarze Samtjacke. Um den Hals, um das grausame Fortschreiten der Zeit zu überdecken, einen rosa Seidenschal. Aus der kleinen Gesellschaft, die ausnahmslos gut, aber gedeckter gekleidet ist, sticht sie heraus. Eigentlich sticht sie aus dem gesamten Ambiente heraus. Blicke wandern zu ihr hinüber. Und es liegt nicht nur an der Kleidung, sondern an ihrem Gesicht – schmal, lebhaft – und dem zügellosen, entspannten Lachen. Iris genießt es. Sie schwelgt in den flüchtigen, verstohlenen Blicken. Sie wollen ins Theater gehen. Ursprünglich waren es nur Iris und Chas, aber dann wollten Sophy und ihr Mann gern mit. Danach die Vernons, Stella und John, die sie länger kennt, als sie sich eingestehen möchte. Und Morag, die sie sogar noch länger kennt als die Vernons. Aber das ist egal, denn Morag hat sie schon immer gekannt. Nur Scott fehlt. Der lebt als Anthropologe in Toronto. Ist es nicht häufig so?, denkt Iris und lässt den Blick in die Runde schweifen. Es fängt zu zweit an, dann dreht man sich um und zwinkert einmal, schon ist ein ganzer Haufen draus geworden. Sie merkt, dass ein junger Mann sie beobachtet, und lächelt ihn offen an. Das darf sie jetzt, sie ist alt genug. Dieses Lächeln ist einfach nur ein Lächeln. Ohne verborgene sexuelle Anspielung. Kein Spiel, kein anderer Sinn als ein freundliches Heben der Mundwinkel. Vorher ein Drink. Nach der Vorstellung ein Essen. Dann nach Hause. Iris wird mit dem Kopf auf Chas’ Schulter ein10

schlafen. Natürlich gibt es noch viel mehr Freunde, aber diese hier heute Abend sind ihre Lieben. Sie ist vierundsiebzig. Was man nicht sieht. Ihr Gesicht ist glatt, nur ein paar Fältchen um die Augen und um den Mund. «Aber», so sagt sie, «diese Fältchen habe ich mir verdient. Es sind meine. Gefechtsnarben aus einem Leben voller Arbeit und Sorge.» Ihr Haar, das einmal blond war wie Maisbüschel, ist jetzt grau, hat aber noch immer die widerspenstigen Locken, die sich über ihre Wangen schleichen. Ihr fällt auf, dass die Flasche nicht mehr in Reichweite steht. «Ach, sieh an, ihr habt sie weggestellt. Ihr wollt nicht, dass ich zu viel trinke und euch blamiere.» «Iris», sagt Chas, «du blamierst uns immer. Den Alkohol brauchst du dazu nicht.» Sie schmunzelt. Seit dreißig Jahren leben sie zusammen, unverheiratet. Iris will nicht heiraten, auch wenn Chas sie oft darum gebeten hat. «Das mache ich nicht nochmal. Einmal reicht.» Sie greift nach der Flasche und füllt ihr Glas. «Nur ein Tropfen.» Chas verzieht das Gesicht. «Du schränkst mich ein», sagt sie zu ihm. «Ich habe dich noch nie eingeschränkt. Du warst schlampig und vorlaut, als ich dich kennen lernte, und jetzt bist du immer noch schlampig und vorlaut.» «Das kannst du wohl sagen», pflichtet Sophy ihm bei. «Ich weiß nicht, wie du es mit ihr aushältst.» «Er liebt mich wie verrückt», sagt Iris. «Ihr müsst zugeben, er hat einen furchtbaren Frauengeschmack.» Sie lacht. «Und sie lacht über ihre eigenen Witze», sagt Chas. «Na, immerhin sind sie lustiger als deine.» «Das stimmt. Das gebe ich zu.» Er liebt sie. Und ihr geht es nicht anders. Sein Anblick am anderen Ende eines überfüllten Raumes, dieses geliebte Gesicht, be11

rührt sie noch immer. Manchmal, selbst jetzt noch, wenn sie ihn auf sich zukommen sieht, schmilzt sie dahin. Er hat ihr noch stets ein Lächeln entlockt, wie damals vor so vielen Jahren, als er mit einem turmhoch mit Gemüse gefüllten Korb an ihre Tür gekommen war. Über hundert Meilen war er gefahren und hatte bloß gesagt: «Hier ist dein Grünzeug. So war es abgemacht.» Da war’s um sie geschehen. Chas war ein Mensch, der immer Wort hielt. Damals hatte sie das gebraucht. An Liebe hatte sie allerdings gar nicht denken wollen. «Liebe», hatte sie zu Morag gesagt. «Will ich nicht. Brauche ich nicht.» Morag hatte nur gesagt: «Soso.» Aber die Liebe war eine Krankheit. Sie trübte das Urteilsvermögen. Sie machte verwundbar, schürte die Angst, sie möge vielleicht nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Sie schuf die Sorge, dem Geliebten könne etwas zustoßen. Sie tat weh. Nein, beschloss sie, damit wollte sie nichts zu tun haben. «Liebe», sagte Iris. «Ich glaube, die Welt wäre unkomplizierter, wenn wir das alles nicht hätten.» «Und ich glaube, die Frau, der ich hier lausche, hat Angst, sich zu binden», erwiderte Morag. Und dachte, sie hat sich in Chas verliebt. «Die Liebe», sagte Iris, «funkt überall dazwischen. Sie sorgt dafür, dass man aufhört zu denken. Sie macht nervös. Sie unterbricht einen mitten im Fluss, bringt alles ins Stocken. Man ist die ganze Zeit hibbelig. Was, wenn der Mensch, den man liebt, einen auf die eine oder andere Weise verlässt? Nein, ich finde, das gesamte Universum würde prima funktionieren, wenn alle Menschen auf der Welt sich einfach nur gern hätten.» Sie hatte sich eingeredet, Chas einfach nur furchtbar gern haben zu können. Aber Gernhaben reichte Iris nicht. Sie brauchte die Liebe, und wie könnte sie Chas nicht lieben? Er machte alles heil. Alles. Nicht nur verstopfte Waschbecken, 12

undichte Dächer, verquere Staubsauger, sondern auch Menschen, Situationen. Mit einem Blick, einem Lächeln, einfach, indem er die Hand auf jemandes Arm legte oder etwas sagte, das schlagartig für Ruhe im Saal sorgte. Etwas Schockierendes, aber nicht Beleidigendes. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und wenn seine Ungeheuerlichkeit angekommen war, lächelten alle. Und alles war gut. Der junge Mann am anderen Ende der Bar starrt sie noch immer an. Fragend. Er lächelt. Sie versucht ihn einzuordnen. Das Gesicht wirkt vertraut, aber nur vage. Doch bestimmt gehört er zu ihren Schäfchen. Er kommt herüber, stellt sich vor sie. Er trägt Jeans und Wildlederstiefel, die wahrscheinlich sehr teuer waren, Iris ist sich nicht sicher. Sie befasst sich schon lange nicht mehr mit solchen Dingen. Seine Weste ist weich und grau und wohl auch teuer, denkt sie. Er trägt eine schmale, stilvolle Nickelbrille. «Kennen Sie mich noch?», fragt er. Iris schaut ihn prüfend an. Er ist reizend. Sie wird mit ihm flirten. In ihrem Alter kann sie mit jedem flirten und sich nichts dabei vergeben. «Warten Sie eine Sekunde», sagt sie. «Colin», kommt er ihr zuvor und beugt sich leicht herab. «Colin!», sagt Iris. «Du meine Güte, Colin!» Die ganze Gruppe reagiert so. «Colin!» Iris ist drauf und dran, ihn daran zu erinnern, dass er früher klein und dick war und schwere Wollpullover trug, die seine Großmutter ihm gestrickt hatte. Aber sie hält sich zurück. Nein, das wird sie nicht sagen. Außerdem verrät ihr ein Blick auf den jungen Mann, dass er den kleinen, molligen, verunsicherten Jungen weit hinter sich gelassen hat. In manchen Leuten schlummert noch das gestörte, missverstandene Kind und wartet darauf, weinend herauszukommen und der Welt seinen Kummer kundzutun. Aber Colin wirkt gesund, ausgeglichen, sogar glücklich. Wie schaffen die Menschen das? Es ist ein Rätsel, denkt Iris. «Und, was machst du?», fragt sie. 13

«Ich bin Journalist.» «Journalist?» Sie ist begeistert. «Das kommt von meinem guten Unterricht. Solide Grammatik öffnet sämtliche Türen.» «Ich erinnere mich», sagt Colin. «Sie und Ihre Grammatik.» Er nickt. Einen Moment lang ist er wieder acht, und Iris steht vor ihm und spricht über Singular, Plural und Apostroph. Und er kämpft mit alledem und schreibt mit einem stumpfen, abgekauten Bleistift. «Die Grammatik heutzutage», holt Iris aus. «Ich weiß nicht. Man sieht es in der Zeitung, hört es im Radio. Erschreckend. Natürlich wird sie nicht mehr so unterrichtet wie bei mir damals. Der Unterrichtsstil hat sich geändert. Heutzutage darf man seine Schüler ja nicht mal mehr anfassen. Die Kleinen brauchen die eine oder andere Streicheleinheit. Also, natürlich ist es ein Segen, dass Lehrer nicht mehr all das tun müssen, was ich zu tun hatte. Trotzdem, die Leute wissen nicht mehr, was sie mit einem Apostroph anfangen sollen.» Am Tisch herrscht gespannte Ruhe, man erwartet einen Vortrag über die korrekte Art und Weise, kollektiven Besitz anzuzeigen. Wo kommt der Apostroph hin? Vor oder hinter das s? Grammatik ist Iris’ Leidenschaft, wie auch der tropische Regenwald, die Not der Wale und Delphine, die Ölverschmutzung, die drohende Ausrottung vieler Vögel und anderer Tiere, auch des Tigers, ihres Lieblingstiers. Der rezente Rückgang der Sperlinge und Lerchen. Das ungezügelte Wachstum der Rhododendren, das ganz allmählich einheimische Blumen erstickt. Hunger, wo immer er herrscht. Ach, die Liste von Iris’ Missionen ist lang, so lang wie die Liste der Menschen, denen sie schreibt. Die meisten Staatsoberhäupter, jede Zeitung des Landes, Abgeordnete, der Finanzminister (sie nimmt großen Anstoß am Einfluss der Ölpreise auf ländliche Kommunen) haben Sendschreiben von Iris erhalten. Erst letzten Monat hat 14

sie sich schriftlich beim Präsidenten der Vereinigten Staaten über die Verstümmelung der Manatis durch Schnellboote in Floridas Gewässern beschwert. Bisher jedoch keine Antwort. Sie wird eine Notiz hinterherschicken, um ihn an die Manatis zu erinnern und ihn darauf hinzuweisen, wie unhöflich es ist, nicht zu reagieren, wenn Menschen sich an ihn wenden. Colin sieht zu einer Frau hinüber, die auf ihn wartet. «Ich muss gehen. Aber ich wollte unbedingt hallo sagen.» «Aber hallo doch», sagt Iris. «Und entschuldige, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Du bist so erwachsen und elegant.» Dann fällt ihr etwas ein. «Ich dachte, du wolltest mich heiraten, wenn du erwachsen bist? Das hattest du gesagt.» «Nein», antwortet Colin. «Sie sagten, Sie würden mich niemals heiraten, weil ich meine Schuhe nicht zubinden könne.» «Ach, na ja, mit dem Alter bin ich bescheidener geworden. Du darfst mich jetzt heiraten.» «Ich glaube kaum, dass meiner Frau das recht wäre.» Er nimmt ihre Hand, ihre schmale Hand zwischen seine beiden Hände. «Ich wollte Ihnen schon immer danken, Sie waren so, ach, Sie wissen schon …» – er ist plötzlich verlegen und sucht nach dem passenden Wort –, «liebevoll.» «Wie hätte ich dich nicht lieb haben können, Colin?», fragt sie. Du warst ein solches Kerlchen, so ein armer kleiner Kerl. Das spricht sie nicht aus, da es ihm sicherlich peinlich wäre. Der kleine Kerl von einst ist verschwunden. Zurückgelassen vor langer Zeit in einem winzigen Dorf mit einer Telefonzelle, einem kümmerlichen Laden und einer Durchgangsstraße. «Und wie geht es Ella?», fragt Iris. «Noch immer gut dabei. Schon über achtzig. Sie ist eine gerissene Whist-Spielerin. Spielt jeden Samstag Lotto. Backt für den Umweltschutz. In sechs Monaten erwartet sie ihren ersten Urenkel, und sie hat bereits angefangen zu stricken.» «Herzlichen Glückwunsch», sagt Iris, denn es wird Colins 15

Baby sein. Er war das einzige Enkelkind. «Deine Großmutter hat schon immer viel gestrickt.» Und sie lächeln in Erinnerung an die grässlichen Kleidungsstücke, die sie fabriziert hatte. «Ich muss jetzt gehen», sagt er. «Meine Frau wartet.» Er drückt ihre Hand. «Passen Sie auf sich auf.» «Aufpassen hemmt mich», erwidert Iris. Er durchmisst erneut den Raum und geht auf eine elegante Frau zu, die an der Tür auf ihn wartet. Doch Iris kann sich eine kleine Spitze nicht verkneifen. «Hey, Colin», sagt sie so laut, dass alle in der Bar es hören können, «hast du meinen Teller noch?» Er lächelt, schlägt beschämt die Hand vors Gesicht, erinnert sich an einen jener demütigenden Augenblicke, die einen in Mußestunden heimsuchen. Er nickt. «Tatsächlich. Wollen Sie ihn zurück?» Sie schüttelt den Kopf. An der Tür dreht Colin sich um. Winkt Iris noch einmal zu. «Wer ist das?», fragt seine Frau. «Das ist die Missie.» Seine Frau sieht hinüber. Ein Blick. Das ist sie also. «Ach, diesen Blick kenne ich», sagt Sophy. «Sie fügt das Gesicht in all die Geschichten ein, die sie gehört hat. Wahrscheinlich weiß sie alles über dich.» Genau wie hundert weitere Ehefrauen und -männer von Schülern, die einmal in Iris’ Klassenzimmer gesessen haben, denkt sie. So eine Lehrerin ist sie gewesen. Fragt man einen von ihnen, wer ihre Lieblingslehrerin gewesen sei, wer ihr Leben beeinflusst habe, würden sie alle antworten: «Mrs. Chisholm.» Sophy hätte allerdings andere Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel über Iris, die Mutter. Iris betrachtet ihn. Sieht Colins’ Wangenprofil, als er sich zu seiner Frau beugt, und erkennt ganz kurz den Jungen von einst. Das schweigsame, aufmerksame Kind. Eine Zeile von Robert Burns fällt ihr ein: «… Ein Bursche ist hier, notiert alles 16

voll Spott’s.» Das war Colin, er beobachtete die Welt, saugte sie auf, machte sich Notizen. Zuweilen braucht es nicht mehr, nur einen kleinen Anstoß – ein Lied im Radio, das Zwitschern der Amsel, die um fünf den Garten in Besitz nimmt, den Duft von Chrysanthemen auf dem Küchentisch, Glockengeläut am Sonntagmorgen, Kinderlachen, Kreide, Hefte, ein Rasenmäher in der Ferne, Hundegebell, alles Mögliche, Verschiedenes –, um ihr Gedächtnis zu beflügeln. Und nun ist sie wieder dort, in dem winzigen Ort, vor so vielen Jahren. Ein ferner Ort, in dem sie lebte, in dem sie tanzte. Sie wird sich immer an das Tanzen im Klassenraum erinnern, wenn das Tageslicht schwand und die Musik in wildes Gestampfe überging. Sie erinnert sich an Morgen, an denen sie klein im Eingang zur Schule stand, die Glocke schwang und die Kinder angerannt kamen.

17