Inhaltsverzeichnis

Berufspolitik Editorial ................................................................................................................2 Aktuelles aus dem BVF….. ..................................................................................3

Schwerpunktthema Beitrag zur Geschichte der kinder– und entwicklungsdiagnostischen Verfahren (Claudia Ermert) .............................6 Verfahren zur Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3-6 Jahren und Ermittlung ihres Förderbedarfs (Andrea Burgener Woeffray, Simon Meier) ................................................... 14 Das SAV — mit Fokus auf den Frühbereich (Peter Lienhard, Brigitte Eisner-Binkert) ..................................................... 17 Von der Anmeldung bis zur Verfügung (Verschiedene Fachpersonen aus der Praxis)................................................ 27 Abklärung in der Heilpädagogischen Früherziehung (Francesca Kühnis-Dietz, Käthi Leeser Villiger)........................................... 43 Diagnostik 1999 und heute (Jeannine Strässle Küng, Brigitte Eisner-Binkert) ...................................... 46

Services 40 Jahre ISP—Kooperation und Beratung mit Familien .............................. 51 Rezensionen ...................................................................................................... 52 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 54 Ideenbazar ......................................................................................................... 55 Vorankündigung ............................................................................................... 56 Weiterbildungskurse......................................................................................... 57 Vorstand und Geschäftsstelle .......................................................................... 59 Impressum ....................................................................... Umschlag Aussenseite

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Editorial

Gabi Kanzler-Jenny

Editorial Liebe Leserinnen und Leser

Veränderungen gehören zu unserem Leben - ohne sie gäbe es keine Entwicklung. Am deutlichsten werden die kontinuierlichen Veränderungsprozesse im Wechsel der Jahreszeiten: Der Winter liegt vor uns und bereits in Kürze werden wir wieder Weihnachten feiern. Vor Ihnen liegt somit bereits die letzte Ausgabe des BVF-Forums 2011, mit dem Schwerpunktthema „Diagnostik“. Die diagnostischen Verfahren haben sich ständig weiter entwickelt. Diese Entwicklung können Sie im Beitrag von Claudia Ermert nachlesen. Auch das Spektrum der Kinder, die wir betreuen, hat sich verändert. Lesen Sie dazu den Artikel zum Verfahren zur Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3-6 Jahren. Nach Annahme der NFA gab es im Bereich der HFE viele Veränderungen. Die Unterschiede für den Zugang zur HFE sind auf

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kantonaler Ebene neu geregelt worden: Seit 2008 haben wir darum eine Vielzahl verschiedener Regelungen und Abläufe. Hier den gesamtschweizerischen Überblick zu behalten, ist sogar für uns, die wir vom Fach sind, schwierig geworden. Sie finden in dieser Ausgabe u.a. einige Beispiele von Praktikerinnen, die von den verschiedenen Abläufen aus ihrer Praxis in ihrem Kanton zu den momentan gängigen Abklärungsabläufen berichten, sowie einen Artikel über das Standardisierte Abklärungsverfahren. Zum Jahreswechsel bedanken wir uns herzlich für Ihre Treue und Ihr Interesse, freuen uns auch im kommenden Jahr auf eine weitere gute Zusammenarbeit und wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest sowie ein gutes Neues (hoffentlich gemeinsames) Jahr. Gabi Kanzler-Jenny Vorstand BVF

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Aktuelles aus dem BVF

Rosmarie Schär

Aktuelles aus dem BVF Zwischen leuchtenden Herbstfarben und nebligen Wintertagen bewegten wir uns seit dem Erscheinen des letzten Forums im September 2011. Viele Farbtupfer erhielt in der Zwischenzeit das Thema Berufsbild. Die diesjährige Retraite von Vorstand und Geschäftsstelle im September 2011 war für uns alle wiederum eine grosse Bereicherung. Einmal mehr ist es gelungen, in den zwei Tagen intensiv und zielorientiert zu arbeiten, daneben die gemeinsamen Essen zu geniessen und uns auch persönlich näher zu kommen. Ganz besonders freute es uns, als potenzielles neues Vorstandsmitglied, Barbara Szabo dabei zu haben. Sie hat sich entschieden, im BVFVorstand mitzuarbeiten und die Gelegenheit an der Retraite gleich am Schopf gepackt. Gerne werden wir Ihnen Barbara Szabo an der Mitgliederversammlung 2012 zur Wahl vorstellen. Berufsbild Warum ein neues Berufsbild für die HFE? Welche Inhalte? Wie vorgehen? Wer arbeitet mit? Wie soll der zeitliche Plan aussehen?

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Im Vordergrund stand das Erarbeiten eines Konzeptes. Mit Hilfe von diversen Unterlagen zum Thema Projektarbeit und dank der konzentrierten und kreativen Arbeitsweise aller anwesenden Frauen war das Grundlagenpapier „Projekt Berufsbild“ am Ende des ersten Retraite Tages entworfen. Ziel war es, für die Arbeitsgruppenmitglieder und alle an einer Mitarbeit interessierten Personen Vorgaben, Vorgehen und Abläufe festzuhalten. Bereits kurze Zeit später wurde das Papier auf der Website aufgeschaltet und Mitglieder für die geplanten Arbeitsgruppen gesucht. Als aussenstehenden Berater können wir Herrn Staufer, Leiter Abteilung Medien BSLB (Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung) vom Schweizerischen Dienstleistungszentrum für Berufsbildung (SDBB) beiziehen, welcher unser Konzept prüfen wird. Dieses wichtige und umfangreiche Projekt wird uns noch längere Zeit beschäftigen. Zentral ist für uns das Einbeziehen möglichst vieler Mitglieder in den Entstehungsprozess und grosses Gewicht legen wir auf ein ansprechendes Produkt, welches für mehrere Jahre Gültigkeit und Aktualität behalten soll.

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Aktuelles aus dem BVF

Vorstandssitzungen Auch eine ordentliche Vorstandssitzung hatte ihren Platz an der Retraite. Nebenbei bemerkt: Es war die 190. Vorstandssitzung des BVF, was rechnerisch heisst, dass seit der Gründung im Jahre 1984 im Durchschnitt alle zwei Monate eine Vorstandssitzung stattgefunden hat! Dazu gehört auch eine eindrückliche Sammlung von Traktandenlisten und Protokollen. Und die Geschichte geht weiter, bereits sind wir bei Sitzung 192 angelangt………! Sekretariat Unsere Fachfrau auf dem BVFSekretariat, Judith Duft-Waser, wird sich an einer Fortbildung in die Bewirtschaftung der Website einarbeiten. Dadurch kann sie in Zukunft die Geschäftsstellenleiterin Brigitte Eisner-Binkert in diesem Bereich entlasten. Mit Blick auf zukünftige neue Vorstandsmitglieder ist es wichtig, das Handbuch für Vorstandsmitglieder zu überarbeiten. Auch dabei wird die Sekretärin eine wichtige Funktion haben, geht es doch um vielfältige Schreib- und Gestaltungsarbeiten. Gleichzeitig wird sie auch noch ihr Büro zügeln. Dies ist nötig wegen Umstrukturierungen in den Räumen der aphasie suisse, in welchen der BVF in Luzern eingemietet ist.

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Glücklich sind wir, dass es sich nur um einen anderen Raum innerhalb der Bürogemeinschaft handelt. Weniger glücklich, dass dies eine Mieterhöhung mit sich bringt, da der neue Raum vom BVF alleine benutzt wird. Fortbildungsangebote Es ist soweit: Ab sofort können Sie die Fortbildungsangebote des Institutes Weiterbildung und Beratung (IWB) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und der Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) auf der BVF-Website aufrufen. Wir freuen uns, dass die beiden Anbieter unsere Website benutzen und hoffen, dass Sie von den Angeboten Gebrauch machen können. www.frueherziehung.ch Heilpädagogikkongress Zum ersten Mal gab es am diesjährigen Kongress ein „HFE-Fenster“. Dadurch, dass alle HFE-Präsentationen am gleichen Tag stattfanden, wurde für die Früherzieherinnen und Früherzieher eine Teilnahme erleichtert. Die Besucherzahlen waren hoch, das Interesse gross. Dass kaum andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen, z.Bsp. aus dem schulischen Bereich, dabei waren, fanden wir schade. Die fundierten, kompetenten und praxisbezogenen Präsentationen

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Aktuelles aus dem BVF

möchte ich im Namen des Berufsverbandes an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich verdanken. Wollen Sie mehr wissen: Einige Beiträge finden Sie auf www.frueherziehung.ch unter HFE – Für Interessierte – Fachartikel. Heilpädagogische Früherziehung im Feld der Frühen Förderung Am Treffen mit Frau Jacqueline Fehr im August 2011 erhielten wir wertvolle Hinweise zu den Themen Vernetzung und Arbeit auf politischer Ebene. Die Zusammenarbeit mit Ärzten und Ärztinnen erachtet sie als äusserst wichtig. Der Vorstand wird sich in der nächsten Zeit damit befassen, wie sich diese Zusammenarbeit ge-

stalten könnte und welche Vorgehensweisen dazu gehören. Sobald wir konkrete Schritte erarbeitet haben, werden wir Sie informieren. Ebenso ist es Ziel, sich vermehrt über bestehende Frühfördermodelle zu informieren, diese weiter zu verfolgen und sich wo immer möglich, gezielt einzubringen. Haben Sie Kenntnis über bereits bestehende Frühfördermodelle in Kantonen, Städten oder Regionen, dann melden Sie dies doch bitte an die Geschäftsstelle BVF. [email protected] Rosmarie Schär Vorstand BVF

Für die Agenda Die MV 2011 findet am Freitag, 1. Juni 2012 im Hotel Zofingen in Zofingen statt.

Entwicklung eines Orientierungsplans für frühkindliche Bildung - wie sieht das aus? Referentin: Dipl.-Päd. Corina Wustmann Seiler, Marie Meierhofer Institut für das Kind Das Referat ist öffentlich. Eintritt für Nichtmitglieder CHF 20.-,Studierende CHF 15.-

Der fachliche Teil findet am Vormittag statt. Der statuarische Teil findet am Nachmittag statt.

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 Geschichte der kinder– und entwicklungsdiagnostischen Verfahren

Claudia Ermert

Beitrag zur Geschichte der kinder– und entwicklungsdiagnostischen Verfahren Einleitung Kinder haben bereits ihre – kurze – Geschichte, die für ihr Verständnis grundlegend ist. Die Menschen, die Kinder auf ihre Entwicklung hin untersuchen und sie fördern wollen, haben ebenfalls eine Geschichte, auch – zumindest wenn sie keine AnfängerInnen sind – im Hinblick auf ihre Erfahrungen in und mit der Diagnostik. Wenn man nun die Geschichte der Kinder- und Entwicklungsdiagnostik erzählen will, stösst man wiederum auf Geschichten von Menschen insbesondere TherapeutInnen und/oder die Geschichte von diagnostischen (Test)verfahren. Die Geschichte der Kinder- und Entwicklungsdiagnostik lässt sich – zumindest für den deutschsprachigen Raum – entlang zweier verschiedener Achsen erzählen, nämlich der Achse der Entwicklung von Kinderund Entwicklungstests vor allem im Kontext von Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik einerseits, und der Entwicklung von diagnostischen Verfahren im eher therapeutischen und damit zunächst auch psychodynamischen Kontext. Anfänge der Intelligenzdiagnostik Die Geschichte der entwicklungsdia6

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gnostischen Testverfahren ist zunächst sehr eng mit der Entwicklung der Intelligenzdiagnostik verknüpft. Sehr detailliert und anschaulich wird dies im Artikel von Hagmann-von Arx, Meyer und Grob (2008) beschrieben, auf den sich die Darstellung der Entwicklungs- und Intelligenztests auch stützt. Im Jahre 1904 wurde Alfred Binet vom französischen Erziehungsministerium beauftragt, ein objektives Verfahren zur Erfassung retardierter Kinder zu entwickeln. 1905 veröffentlichten Binet und Simon den Artikel „Méthodes nouvelles pour le diagnostic du niveau intellectuell des anormaux“. Dacheneder (2008, S. 219) formuliert die damalige Situation wie folgt: „Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich ein geradezu modern anmutendes Problem deutlich, dass nämlich in die Schule für geistig Behinderte auch unbequeme, unmotivierte und verhaltensauffällige Kinder abgeschoben wurden. Die Schule war aber nur für Schwachbegabte gedacht, und so benannte der französische Minister für Unterricht eine Kommission zur Behebung dieses Problems. Sehr schnell kamen der beauftragte Psychologe A. Binet (1857 – 1911) und seine Mitarbeiter

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auf die Idee, dass eine Überweisung nur nach entsprechender Untersuchung möglich sein sollte. Ziel einer solchen Untersuchung sollte die Identifikation jener Schüler sein, die aufgrund intellektueller Beeinträchtigungen dem normalen Unterricht nicht folgen konnten. Den direktesten Zugang zu diesem Problem eröffnete die psychologische Methode (und nicht die medizinische oder die pädagogische). Das Dilemma der Alltagsbeobachtung und der Lehrerbeurteilung sollte durch psychologische Tests bewältigt werden.“ Dieser Test wurde in Amerika weiter entwickelt, und es erschienen verschiedene andere Verfahren, die auf den Arbeiten von Binet und Simon aufbauten. Bei den Aufgaben handelte es sich jeweils um nach Schwierigkeit gestaffelte Aufgaben zu Sprache, Denken, Gedächtnis und Psychophysik. Aufgrund der Ergebnisse sprach man vom mentalen Alter, später wurde der Begriff des Intelligenzquotienten geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von David Wechsler sehr bekannt, von dem die verschiedenen Hamburg-Wechsler-Intelligenztests stammen. In der Folge wurden verschiedene Intelligenztests entwickelt. Entwicklungsdiagnostische Testverfahren Das aktuellste deutschsprachige VerBVF-Forum

fahren nennt sich Intelligence and Development Scales (IDS) und wurde in Basel von Grob, Meyer und Hagmann-von Arx (2009) erarbeitet. Derzeit arbeitet die Arbeitsgruppe um Alexander Grob in Basel an den Developmental Scales, die bereits für 3 – 5jährige sein sollen. Das Verfahren soll im nächsten Jahr auf den Markt kommen. In der allgemeinen Entwicklungsdiagnostik konzentrierte man sich nicht nur auf den kognitiven Bereich, sondern auch auf das motorische, adaptive, sprachliche und soziale Verhalten und versuchte hier Entwicklungsnormen aufzustellen. Die ersten Arbeiten stammten von Arnold Gesell. So wie Quaiser-Pohl und Rindermann (2010) schreiben war er der erste, der den Gedanken der Erfassung des Leistungsniveaus anhand von standardisierten Aufgaben zum Zwecke der Beschreibung der frühkindlichen Entwicklung einsetzte. „Anhand von periodischen Beobachtungen einer grossen Anzahl Vorschulkinder an der Yale Clinic of Child Development in New Haven (Connecticut) veröffentlichte er Normen, die für bestimmte Altersstufen charakteristische Entwicklungsstufen wiedergeben sollten.“ (Quaiser-Pohl und Rindermann, 2010, S.20f.). In der Ableitung von den Gesellschen Skalen entstanden in England die auch heute noch bekannten Griffith Skalen, die mehrfach überarbeitet Nr. 77 Dezember 2011

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wurden. Die deutschen GriffithsEntwicklungsskalen (GES) wurden 2001 veröffentlicht und erfassen Motorik, Persönlich-Soziales, Hören und Sprechen, Auge und Hand sowie Leistungen. Im deutschsprachigen Raum kann das Thema der Entwicklungsdiagnostik zurückverfolgt werden bis zu den Arbeiten von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer. In Analogie zum Intelligenzquotienten (IQ) wurde von den beiden Frauen ein so genannter Entwicklungsquotient (EQ) vorgeschlagen. In das Entwicklungsalter gehen die Aufgaben aus verschiedenen (auch nicht-intellektuellen) Entwicklungsbereiche ein. Im deutschsprachigen Raum entwickelten Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer verschiedene Entwicklungstestreihen, die aber heute – so Hagmann-von Arx, Meyer und Grob (2008) – als überholt angesehen werden müssen. In der Folge wurde der Wiener Entwicklungstest erarbeitet, der noch heute bekannt ist und erst 2002 neu überarbeitet und normiert wurde. 1968 wurde das Testverfahren Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED) veröffentlicht, bei der es sich ebenfalls um ein Stufenleiterverfahren handelt. Im ersten Lebensjahr kann man mit der MFED 1 Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen, Perzeption, Sprechen,

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Sprachverständnis und Sozialverhalten einschätzen. Mit dem MFED 2 – 3 ist die Erfassung der Statomotorik, der Handmotorik, der Wahrnehmungsverarbeitung, des Sprechens, des Sprachverständnisses, der Selbständigkeit sowie des Sozialverhaltens möglich. Zu den neueren allgemeinen entwicklungsdiagnostischen Verfahren zählt der ET 6 – 6 (dritte Auflage 2006), der den Entwicklungsstand in den Bereichen Körpermotorik, Handmotorik, Kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialentwicklung, emotionale Entwicklung sowie ab vier Jahren zusätzlich das Nachzeichnen erfassen hilft. Der ET 6 – 6 orientiert sich am Prinzip der Grenzsteine der kindlichen Entwicklung. Während man die Intelligenztests zu den spezifischen Entwicklungstests zählen kann, handelt es sich bei den anderen Tests um allgemeine Entwicklungstests. Auf Entwicklungsscreenings wird hier nicht eingegangen. (Die neuere vielfältige Entwicklung lässt sich unter www.entwicklungsdiagnostik.de im Überblick und im Detail anschauen). Schaut man die Geschichte der Testdiagnostik an, fällt auf, dass allgemeine Entwicklungstests traditionell für Kinder ab Geburt bis ins Alter von sechs Jahren entwickelt wurden, während Intelligenztests in der Regel für ältere Kinder konzipiert sind.

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Diagnostische Vorgehensweisen im kindertherapeutischen Kontext Entwicklungsdiagnostik hat sich aber nie mit der Anwendung von Testverfahren zufrieden gegeben, sondern hat immer auch versucht, die Geschichte des Kindes und seiner Familie zu erheben und zu verstehen sowie das Kind in seinem Umfeld zu beobachten und zu sehen. Während die Testdiagnostik wie sie oben beschrieben wurde, stark normativ und interindividuell vergleichend ist und zumindest die Intelligenzdiagnostik auch nahe bei der Schulfähigkeit und dem potentiellen Schulerfolg war, sieht die Geschichte der Diagnostik bei Kindern aus Sicht der Therapeuten resp. Therapeutinnen anders aus. In der Geschichte der Kindertherapie waren zu Anfang die Begriffe der Spieldiagnostik und Spieltherapie zentral und eng miteinander verwoben. Das Spiel war das Medium der Therapie sowie zugleich der nahezu ausschliessliche diagnostische Zugang zum Kind. Die wichtigsten Namen in den Anfängen der Kindertherapie waren Anna Freud und Melanie Klein. Melanie Klein (1882-1960) übertrug die von Freud entwickelte Methode der Deutung fast unverändert auf die Kinderanalyse. Sie nahm in ihrer therapeutischen Arbeit an, dass den BVF-Forum

Spielhandlungen des Kindes sowie den begleitenden Äusserungen der gleiche Stellenwert zukomme wie den Einfällen des Erwachsenen beim freien Assoziieren. Melanie Klein konfrontierte den kleinen Patienten mit der unmittelbaren Symboldeutung; so sollte dem Kind durch die Deutung das vorliegende Problem bewusst werden und ihm durch ein aktives Eingreifen der Therapeutin in das Spielgeschehen Lösungswege aufgezeigt werden. Zur Diagnostik diente die nicht systematisierte Beobachtung des Spiels. Dabei stellte Melanie Klein ihren kleinen Patienten ausgewähltes Spielzeug zur Verfügung, das für jedes einzelne Kind in einer eigenen Schublade aufbewahrt wurde. Somit stand dem Kind jedes mal das gleiche Spielmaterial zur Verfügung. Anna Freud (1895 – 1982) erhielt ihre erste „Lehranalyse“ von ihrem eigenen Vater. In der Psychoanalyse von Kindern ging Anna Freud pädagogischer und kindgemässer als Melanie Klein vor. Für sie zeigt sich im Spiel weniger Unbewusstes als vielmehr die Verarbeitung von Alltagserfahrungen. Zunächst stellte Anna Freud jeder Kindertherapie eine längere Einleitungsphase voran. Später wurde diese Vorbereitungsphase gekürzt. Auch Anna Freud deutete – allerdings spärlicher als Melanie Klein – die Spielhandlungen des Nr. 77 Dezember 2011

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Kindes. Der Aspekt der Übertragung von Gefühlen zu den Familienmitgliedern auf den Therapeuten schien ihr bedeutsamer. Ihr Anliegen war vor allem auch die präventive Arbeit mit Eltern und Geschwistern. Die dritte bedeutsame Richtung der psychoanalytischen Spieltherapie wurde von dem Schweizer Volksschullehrer Hans Zulliger (1893 – 1965) begründet. Während seiner Ausbildung zum Volksschullehrer lernte er im psychologischen Lehrerseminar in Bern durch den Direktor E. Schneider die neuen Gedankengänge einer psychoanalytischen Pädagogik kennen, die ihren wissenschaftlichen Ursprung in den Lehren Freuds hatte und im Gegensatz zur doktrinären Schulpsychologie stand. Zudem erhielt Zulliger Anregungen von dem Schweizer Pfarrer Oskar Pfister, der als erster psychoanalytische Methoden in der Seelsorge anwandte. Zulliger behandelte bereits 1913 seinen ersten Fall in der Kinderanalyse: einen stotternden Jungen. Dabei kannte er weder das Gedankengut von Anna Freud noch das von Melanie Klein, nur die Schriften von Sigmund Freud und die Schriften von Pfister. Er hielt das vorsichtige Deuten für die richtige Vorgehensweise. In seiner Praxis machte er aber die Erfahrung, dass Kinder bereits durch das Spielen – ohne Deutung – symptomfrei wurden. 10

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Parallel zur Geschichte der Spieltherapie lässt sich die Geschichte der Spieldiagnostik verfolgen. Zunächst von Melanie Klein eingesetzt, entwickelte sich die Beobachtung des Spiels, der Auswahl von Spielmaterial und des Inhalts des Spiels zu einem mehr oder minder standardisierten Diagnoseverfahren. Melanie Klein beschrieb erstmals 1932 in ihrem Artikel „Die Psychoanalyse des Kindes“ das Spielmaterial, welches sie Kindern in der Therapiesitzung zur Verfügung stellte. Madeleine Rambert (1938), eine Schweizerin, setzte in ihrer Therapie neben zeichnen und Erzählen Handpuppen ein, die es den Kindern erleichtern sollten, sich mitzuteilen. Sie erwähnte diese Puppen zum ersten Mal im Artikel „une nouvelle technique en psychoanalyse infantile: le jeu des guignols“ (1938). Margaret Lowenfeld (1939) leistete schliesslich einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung der projektiven Spieldiagnostik. Lowenfeld entwickelte das „Weltspiel“. Ihr Ziel war es, das Kind mit vielen verschiedenen Spielmaterialien eine Welt aufbauen zu lassen, einen Mikrokosmos, der der Welt des Kindes entspricht, und dann gemeinsam mit dem Kind das Geschehen zu deuten. Lowenfeld stellte eine Liste von Spielmaterial zusammen, wehrte aber Versuche ab, Nr. 77 Dezember 2011

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Standardmaterial für die Diagnostik einzuführen. Sie verstand unter ihrer Spieltechnik mehr die Therapietechnik als ein Diagnoseverfahren. Charlotte Bühler (1893-1974) standardisierte mit ihren Mitarbeiterinnen Material und Verfahrensweise der Welt-Technik und nannte das Verfahren „Welt-Test“ (Bühler et al., 1951; Bühler, 1955). Der Welt-Test bei Charlotte Bühler besteht aus einer Menge kleiner Gegenstände aus Holz, in der Art eines Baukastens mit Häusern, Objekten, Tieren, Menschen u.ä. Das Kind wird aufgefordert, mit dem Spielmaterial eine „ganze Welt“ zu bauen. Der WeltTest gestattet es, ähnlich anderen projektiven Verfahren, die Integration bzw. Desintegration des Kindes, seine innere Organisiertheit bzw. Desorganisiertheit, die Erlebnisfähigkeit, Rigidität, Isolation, Aggression u.ä. zu diagnostizieren. Der Welt-Test als projektives Spieldiagnosticum war auch Ausgangspunkt für verschiedene Modifikationen, wie den Dorf-Test von Henri Arthus, die Erica-Methode und der Scenotest von Gerdhild von Staabs (1940). (Zum Scenotest siehe Ermert, 1997; auch die oben gemachten Ausführungen zur Geschichte der projektiven Verfahren sind in enger Anlehnung an Ermert, 1997 verfasst;

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zur Bedeutung des Scenotests in der sonderpädagogischen Ausbildung vgl. Ermert, 2011). Eine der neueren (und doch schon zehn Jahre alten) Übersichten zu „Spielbasierten Befragungstechniken“ wurde 2001 von Sturzbecher herausgegeben. Dort wird eine Vielzahl projektiver Verfahren vorgestellt: Formdeutverfahren, verbale Ergänzungsverfahren, zeichnerische Gestaltungsverfahren, Bild/Erzähltechniken, spielerische Gestaltungsverfahren, projektive Farbtests, graphologische Verfahren sowie projektive Verfahren, die keiner Klasse zuzuordnen sind. Hermann (2001) weist darauf hin, dass die meisten projektiven Verfahren den Gütekriterien der Klassischen Testtheorie (Objektivität, Reliabilität und Validität) nicht genügen bzw. die Gütekriterien nicht geprüft werden. Aus seiner Sicht sind projektive Verfahren als therapeutische und diagnostische Kommunikationsmittel wertvoll, setzen aber einen kreativen und flexiblen Diagnostiker voraus. Seiner Meinung nach stellen viele der projektiven diagnostischen Verfahren Visualisierungstechniken im Sinne eines speziellen Explorationsvorgehens dar und können als Hilfsmittel zur Klärung verschiedener Fragestellung herangezogen werden, aber nicht als alleinige Quelle diagnostischer Informationen verwendet werden.

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Und jetzt? Die zwei dargestellten Vorgehensweisen bei der Arbeit mit den Kindern sind auch heilpädagogischen Früherzieherinnen aus ihrer diagnostischen Praxis nicht unbekannt. Auf der einen Seite sind da die diagnostischen Verfahren zur Früherkennung, Auslese und zur Bestimmung der notwendigen Ressourcen für eine Frühförderung. Diese Verfahren müssen den klassischen Testgütekriterien genügen, normiert und forschungsmässig belegt sein. Auf der anderen Seite Verfahren, die zwar vielleicht nicht so gut validiert und erforscht, in der Praxis aber gut erprobt, bei den Überlegungen zur Förderplanung nützlich sind und/ oder den Kontakt zu den Eltern aufbauen und pflegen helfen. In der Lehre scheint es mir wichtig darauf zu insistieren, welches diagnostische Verfahren sich für welche diagnostische Fragestellung eignet und angepasst ist, die ermittelten Ergebnisse immer auch mit Beobachtungen und Befragungen zu verbinden und entsprechend vorsichtig zu kommunizieren. Welche Änderungen sich für die Tätigkeit der Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherzieher insbesondere im Bereich der Diagnostik nach der NFA und der Einführung des SAV ergeben, wird derzeit für den Raum der Nordwestschweiz im Rahmen einer Masterar12

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beit mittels Fragebogenerhebung durch Frau Gisela von Arx bei den einzelnen Stellen erfragt. Wir hoffen auf anfang Jahr erste Ergebnisse zu erhalten. Dabei geht es u.a. auch um das Selbstverständnis der Früherzieherinnen als Diagnostikerinnen, die bevorzugt verwendeten Verfahren und die Bedeutung der Diagnostik für die Förderplanung. Die Ergebnisse werden in die Lehre im Bereich der Entwicklungsdiagnostik einfliessen. Hoffentlich wird sich zeigen, welche Geschichten der diagnostischen Praxis fortgeschrieben werden können und wo es Neuerungsbedarf gibt. Ich bin dankbar für Rückmeldungen und Feedback zum Thema Diagnostik in der HFE. Gerne an [email protected] Literatur • Dacheneder, W. (2008). Psychologische Beurteilung und Grundsätze der Betreuung. In Strassburg, H.M., Dacheneder, W. und Kress. Entwicklungsstörungen bei Kindern. Praxisleitfaden für die interdisziplinäre Betreuung. München: Urban & Fischer, S. 218-322. • Ermert, C. (1997). ScenotestHandbuch. Scenotets-Diagnostik. Anleitung zur Durchführung und Auswertung. Entwicklung und Evaluation. Bern: Huber. • Ermert, C. (2011). Der Scenotest. Möglichkeiten und Grenzen eines

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diagnostischen Instruments in der sonderpädagogischen Ausbildung. Inklusive. Zeitschrift Spezielle Pädagogik und Psychologie. Diagnostische Kompetenz, 1, 18 – 21. • Hagmann- von Arx, P., Meyer, C.S. & Grob, A. (2008). Intelligenzund Entwicklungsdiagnostik im deutschen Sprachraum. Kindheit und Entwicklung 17 (4), 232 – 242. • Hermann, U. (2001). Projektive Verfahren für Kinder – Ein Überblick. In Sutrzbecher, D. Spielbasierte Befragungstechniken. Göttingen: Hogrefe, S. 199 – 217. • Quaiser-Pohl, C. & Rindermann, H. (2010). Entwicklungsdiagnostik. München: Ernst Reinhardt.

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• Strassburg, H.-M., Dacheneder, W. & Kress, W. (2008; 4. Aufl.). Entwicklungsstörungen bei Kindern. Ein Praxisleitfaden für die interdisziplinäre Betreuung. München: Urban und Fischer. • Sturzbecher, D. (2001). Spielbasierte Befragungstechniken. Göttingen: Hogrefe. Dr. Claudia Ermert Psychologin FSP Dozentin FHNW PH ISP

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 Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3—6 J.

Andrea Burgener Woeffray, Simon Meier

Verfahren zur Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3-6 Jahren und Ermittlung ihres Förderbedarfs HfH-Projekt 68 Heilpädagogische Früherzieherinnen und 6 Heilpädagogische Früherzieher aus 18 Kantonen der deutschen Schweiz haben sich im Zeitraum September 2010-April 2011 am Projekt beteiligt. Sie alle haben Daten von insgesamt 119 Kindern, die der Heilpädagogischen Früherziehung angemeldet und mit dem entwickelten Verfahren abgeklärt wurden, zur Verfügung gestellt. Auch an dieser Stelle sei für die zuverlässige und kompetente Zusammenarbeit nochmals herzlich gedankt. Am SZH-Kongress vom 31.8.2.9.2011 wurden erste Resultate vorgestellt und später in der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik (10/2011, S. 39-45) publiziert. Im Zuge der Arbeiten an diesem Projekt ergab sich eine neue, spannende Zielsetzung, nämlich die Aufgabe näher zu definieren, wer die entwicklungsgefährdeten Kinder überhaupt sind, durch welche Merkmale sie sich auszeichnen und wie sie sich von anderen Kindern, die der Heilpädagogischen Früherziehung angemeldet werden, unterscheiden. Die 14

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Antworten können, so hat es sich gezeigt, im Verfahren selber gefunden werden. Erfassung des Entwicklungsstandes Das Verfahren gibt in einem ersten Schritt die Erfassung des Entwicklungsstandes vor: • sind die Ergebnisse derart, dass das Kind in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen (Kognition, Sprache, Motorik und Sozialverhalten) auffällt, z.B. mit einem IQ von < 80 wird es Anspruch auf eine Massnahme haben, “die von langer Dauer und Intensität ist, einen hohen Spezialisierungsgrad der Fachpersonen erfordert und einschneidende Konsequenzen auf den Alltag, das soziale Umfeld oder den Lebenslauf des Kindes haben” (EDK Sonderpädagogisches Konkordat 2007, Art. 5, S.3). Von den 119 Kindern aus der Studie, sind 90 Kinder dieser Gruppe zuzuordnen. Auffallend ist der hohe Anteil der Kinder, welche in der Sprache abweichen oder erst gar nicht getestet werden können. Diese Zahlen sind im Zusammenhang

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mit der Verständigung zu sehen, welche mit 41 Kindern erschwert und bei 6 unmöglich ist. Bei diesen 47 Kindern drängt sich eine besondere, verständigungsfördernde Massnahme auf, die, falls nur die Sprache (als Fremdsprache und nicht als Entwicklungsbereich) betroffen ist, ausserhalb der Heilpädagogischen Früherziehung zu suchen und einzurichten ist. • sind die Ergebnisse der Entwicklungsabklärung hingegen in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen (Kognition usw., siehe oben) grenzwertig, z.B. mit 80 > IQ < 90 drängt sich, allein unter diesen Ergebnissen betrachtet, keine Massnahme auf. Das Risiko- und Schutzfaktorenkonzept sowie die daraus begründete Resilienzforschung haben aber hinlänglich darauf aufmerksam gemacht, dass es Kinder gibt, deren Entwicklung durch bestehende Risikofaktoren (RF) oder durch Fehlen von Schutzfaktoren (SF) belastet ist und dass diese Belastungen sich in Entwicklungsauffälligkeiten manifestieren können. 20 Kinder aus der Studie fallen in den Grenzbereich von +/- 1/3 SD vom Mittelwert. Gerade bei ihnen gilt es zu klären, ob sie Risiken ausgesetzt oder von zu wenigen Schutzfaktoren begleitet sind. • sind die Ergebnisse der Entwicklungsabklärung in einem oder BVF-Forum

mehreren Entwicklungsbereichen (Kognition usw., siehe oben) oberhalb des Grenzbereiches, erübrigt sich a priori eine Massnahme. Dies ist bei 9 Kindern der Studie der Fall. Allerdings wird auch bei diesen Kindern festzustellen sein, ob ihre Anmeldung damit in Verbindung steht, dass sie entweder mit zu vielen Risikofaktoren belastet oder von zu wenigen Schutzfaktoren umgeben sind und es folglich eine Frage der Zeit sein kann, bis sie in ihrer Entwicklung auffallen. Eine Kontrolluntersuchung resp. eine genaue RF+SF-Analyse wird sicher angebracht sein. Ermittlung von Risiko- und Schutzfaktoren Das entwickelte Verfahren erlaubt in einem zweiten Schritt, RF+SF mit Hilfe eines Anamnesebogens zu ermitteln. Bestehen bei einem Kind 3 oder mehr personale / psychosoziale RF oder 2 oder weniger personale / psychosoziale SF ist es einer Belastung ausgesetzt. Die Auswertung der Studie hat gezeigt, dass 85 Kinder (= 72.6%) mit drei oder mehr Risikofaktoren belastet sind und 25 Kinder (= 21 %) über zwei oder weniger Schutzfaktoren verfügen. Besonders sticht auf den ersten Blick bei den Risikofaktoren ins Auge, dass bei mehr als der Hälfte der Situationen das familiäre System durch Erschwernisse belastet ist und die eigene Vergangenheit die Nr. 77 Dezember 2011

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 Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3—6 J.

Eltern einzuholen scheint. Bei den Schutzfaktoren fällt der überaus hohe Anteil an Erstgeborenen auf, was zur Vermutung verleitet, dass die Anmeldung auch mit Unsicherheiten mit der neuen Elternrolle im Zusammenhang stehen könnte. Aufmerken lässt vor allem auch, dass die Bindung zum Kind (erhoben mit der Ainsworth-Skala) nur bei der Hälfte der Situationen als Schutzfaktor wirken kann. Entwicklungsgefährdete Kinder Der Begriff der Entwicklungsgefährdung bekommt vor dem Hintergrund der Studie eine klare Kontur. Sie liegt bei jenen Kindern vor, welche bezüglich ihres Entwicklungsstandes grenzwertig auffallen (+/- 1/3 SD vom Mittelwert) und einer Belastung (RF > 3 oder SF < 2) ausgesetzt sind. Für diese Kinder ist in Anbetracht ihrer Situation eine verstärkte Heilpädagogische Massnahme einzuleiten. Wie diese Massnahme (M) aussieht, hängt davon ab, • ob bestehende RF oder deren Auswirkungen zu vermindern (defizitorientierte M) • oder fehlende SF aufzubauen / zu stärken sind (ressourcenorienterte M) • ob bestehende RF resp. fehlende SF personal sind (kindzentrierte M)

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• oder ob bestehende RF resp. fehlende SF psychosozial sind (umfeldzentrierte M) Während bei der Verminderung von bestehenden RF aus dem Angebot spezifischer Massnahmen jene auszuwählen ist, die der Problematik des Kindes oder seines Umfeldes am besten entspricht (personal: z.B. Ergotherapie, Physiotherapie; psychosozial: z.B. soziale Arbeit, Psychotherapie, Familientherapie) geht es bei der Stärkung der Schutzfaktoren um die Erfüllung des grundlegend (heil-)pädagogischen Auftrages, den Blick nicht auf den Fehler sondern auf das Fehlende (Moor 1965) zu werfen. Dr. phil. Andrea Burgener Woeffray Projektleiterin Verfahren zur Früherfassung entwicklungsgefährdeter Kinder von 3-6 Jahren Hochschule für Heilpädagogik HfH [email protected] lic. phil. Simon Meier Wissenschaftlicher Assistent Hochschule für Heilpädagogik, HfH [email protected]

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Das SAV — mit Fokus auf den Frühbereich 

Peter Lienhard, Brigitte Eisner-Binkert

Das SAV – mit Fokus auf den Frühbereich SAV – diese drei Buchstaben wurden in den vergangenen Jahren für die Sonderpädagogik in der Schweiz zunehmend wichtig. SAV steht für «Standardisiertes Abklärungsverfahren». Diese Bezeichnung kann sowohl überhöhte Erwartungen schüren («Toll, nun werden alle Abklärungen absolut einheitlich, objektiv und transparent sein») als auch Ängste auslösen («Soll nun alles standardisiert und vereinheitlicht werden? Sind unsere bisherigen Abklärungen plötzlich nichts mehr wert?»). Dieser Beitrag möchte klären und informieren sowie die erwähnten Erwartungen und Ängste relativieren. Wer darüber hinaus noch mehr über das SAV erfahren möchte, wird auf der Webseite www.sav-pes.ch gut bedient. Warum wurde das SAV überhaupt entwickelt? Die Ausarbeitung des SAV wurde von der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) in Auftrag gegeben. Auslöser war die Tatsache, dass sich die Schweizerische Invalidenversicherung (IV) aus der Finanzierung der Massnahmen der Sonderschulung zurückgezogen

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hat. Neu sind die Kantone für die Bildung aller Kinder und Jugendlichen zuständig – im Falle einer Behinderung in einem breiten Altersspektrum zwischen 0 und 20 Jahren. Durch die Anwendung eines einheitlichen Abklärungsverfahrens wurde das Ziel verfolgt, die Zuweisungspraxis transparenter und interkantonal vergleichbarer zu machen. Weil die Bildungshoheit jedoch bei den einzelnen Kantonen liegt, sind Unterschiede im Angebot und auch Unterschiede bezüglich der Schwelle (wie viele Kinder haben Anspruch auf verstärkte Massnahmen?) auch weiterhin zu erwarten – hoffentlich in einem zunehmend geringeren Ausmass, als dies heute der Fall ist. Der Auftrag zur Ausarbeitung des SAV ging an ein Expertenteam (Judith Hollenweger, Pädagogische Hochschule Zürich; Peter Lienhard, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich; Patrick Bonvin, Haute école pédagogique du canton du Vaud, Lausanne). Das Projekt wurde von einer Expertengruppe begleitet. In einer Erprobungsphase haben über 150 diagnostisch tätige Fachpersonen – darunter auch solche aus dem Frühbereich – teilgenommen.

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Weg vom Versicherungshin zum Bildungsdenken Seit rund 50 Jahren haben wir uns daran gewöhnt: Kinder können dann von besonderen sonderpädagogischen Leistungen profitieren, wenn bei ihnen eine bestimmte Schädigung diagnostiziert werden konnte. Die IV hat in einem Kriterienkatalog festgelegt, welche Schädigungen zu einer Anspruchsberechtigung führen. Im Frühbereich war das beispielsweise ein IQ unter 75 oder eine Kumulation von Gesundheitsschäden. Mit dem erwähnten Rückzug der IV haben sich nicht nur die Finanzierungswege geändert, sondern auch die Zuständigkeiten und das ganze zugrunde liegende Paradigma: • Neu sind die Kantone für die Bildung aller Kinder und Jugendlichen zuständig, ob ohne oder mit Beeinträchtigungen.

• Es wird nicht mehr ein versicherter Schaden durch bestimmte Leistungen vergütet. Vielmehr hat jeder Kanton sicherzustellen, dass jedem Kind und jedem Jugendlichen Bedingungen für eine ihm angemessene Entwicklung und Bildung geschaffen werden. Für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen sind über das reguläre Bildungs- und Unterstützungsangebot hinaus so genannte «verstärkte Massnahmen» anzubieten. Das Angebot der HFE erfüllt die Voraussetzungen für verstärkte Massnahmen, wie sie in der Terminologie der EDK 2007 festgelegt worden sind. Im Frühbereich gibt es aber kein reguläres Bildungs- und Unterstützungsangebot. HFE hat deshalb auch den Auftrag, nicht nur mit Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen zu ar-

Abbildung 1: Ein einzelnes Kriterium genügt nicht, um den Förderbedarf eines Kindes zu bestimmen; eine breitere Sicht auf das Kind und sein Umfeld ist nötig

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beiten, sondern auch mit Kindern mit Entwicklungseinschränkungen oder -gefährdungen. Deshalb stellt sich die Frage: Ist der Begriff «verstärkt» im Frühbereich angemessen? Wann macht er Sinn, und welche Auswirkungen hat dies? Die Kantone haben hier unterschiedliche Regelungen respektive haben sich zum Teil noch nicht festgelegt. Diese nicht ganz einfache Situation ergibt sich aus dem Spannungsfeld, dass einerseits jeder Kanton bestimmen kann, wie er seine sonderpädagogischen Angebote regeln will, anderseits aber auch ein Interesse besteht, dass nicht jeder Kanton völlig anders handelt, um vergleichbare und chancengerechte Leistungen zu sichern. In diesem Spannungsfeld wurde die «Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik vom 25. Oktober 2007» erarbeitet. Den Kantonen steht frei, ob sie diesem Konkordat beitreten wollen – bis Oktober 2011 haben zwölf Kantone den Beitritt beschlossen. In Artikel 3 steht: «Kinder und Jugendliche ab Geburt bis zum vollendeten 20. Lebensjahr, die in der Schweiz wohnen, haben unter folgenden Voraussetzungen ein Recht auf angemessene sonderpädagogische Massnahmen: (...) vor der Einschulung: Wenn festgestellt wird, dass ihre Entwicklung eingeschränkt

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oder gefährdet ist oder sie dem Unterricht in der Regelschule ohne spezifische Unterstützung nicht werden folgen können, (...)». Es wird also nicht mehr eine Kriterienliste aufgestellt, sondern es wird dazu aufgefordert, die erwiesenermassen einschränkenden Bedingungen für die Entwicklung und Bildung zu umschreiben. Der Vorteil an dieser neuen Ausrichtung ist, dass nicht mehr auf ein einziges Kriterium fokussiert wird. Wir alle wissen, dass zwei Kinder mit dem gleichen Merkmal (z.B. geistige Behinderung mit IQ 68) einen völlig unterschiedlichen Förderbedarf aufweisen können. Deshalb genügt das Festhalten eines einzelnen Kriteriums nicht. Es braucht einen systematischen, breiteren Blick auf das Kind und sein Umfeld. Das mag ja alles schön und vernünftig klingen – das Problem besteht nun allerdings, wie diese breite Sicht auf das Kind und seine Umwelt systematisiert werden kann, um einen konkreten Bedarf nachvollziehbar aufzuzeigen. Genau hier setzte die Ausarbeitung des SAV an. Der genaue Auftrag wurde wie folgt formuliert: «Entwicklung eines Standardisierten Abklärungsverfahrens zur Ermittlung des individuellen Bedarfs».

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Diese Prinzipien wurden dem SAV zugrunde gelegt Wenn ein Verfahren entwickelt wird, tut man gut daran, die zugrunde liegenden Prinzipien transparent zu machen. Die wichtigsten werden im Folgenden aufgelistet und bezüglich deren Bedeutung für die HFE kommentiert. Das Mehraugenprinzip wird im Abklärungsprozess systematisch gesichert ( Vermeidung einer diagnostischen Einzelsicht; Verpflichtung zum Einbezug von Fachpersonen aus anderen Fachrichtungen, wenn diagnostische Fragen offen sind). In der Heilpädagogischen Früherziehung existiert das Mehraugenprinzip seit ihren Anfängen. Denn nicht nur die Früherzieherinnen und Früherzieher, sondern auch die Kinderärztinnen und Kinderärzte hatten der IV einen Bericht zuzustellen, auf deren Basis die IV die Finanzierung von HFE bewilligte oder ablehnte. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des SAV entstand jedoch in vielen Diensten ein zusätzliches intensives 4-Augen-Gespräch. Wir erachten dies als äusserst positive Entwicklung! In diesen 4-Augen-Gesprächen werden üblicherweise die Abklärungsresultate gemeinsam interpretiert und es werden mögliche Zielsetzungen abgeleitet. Gleichzeitig

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wird diskutiert, ob eine Massnahme notwendig ist und ob HFE die richtige Massnahme sein könnte zur Erreichung dieser Zielsetzungen, oder ob den Eltern eine andere Massnahme empfohlen werden sollte. Die Abklärungsstelle ist nicht die Durchführungsstelle der empfohlenen Massnahmen ( Vermeidung von Eigeninteressen; es soll insbesondere verhindert werden, dass sich einzelne Fachperson ihre Fälle selber zuweisen). Dieses Prinzip ist aus finanzieller Sicht verständlich und im Schulbereich auch relativ einfach umzusetzen. Im Frühbereich muss jedoch überprüft werden, ob dieses Prinzip Sinn macht respektive wie es sinnvoll umgesetzt werden könnte. Einen Vorschlag macht das Projektteam bereits in der Handreichung zum SAV: «In besonderen Fällen, beispielsweise wenn im Rahmen einer begonnenen Heilpädagogischen Früherziehung erkannt wird, dass mittelfristig eine verstärkte Massnahme angezeigt ist – ist innerhalb des Abklärungsverfahrens die Sicherstellung einer unabhängigen fachlichen Einschätzung zu garantieren» (SAV, Handreichung, EDK 2011). Denn durch eine externe Abklärungsstelle, die Kind und Eltern aufsuchen müssen, bevor die HFE in unkomplizierter und vertrauensförNr. 77 Dezember 2011

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dernder Art und Weise in Kontakt kommen kann mit der Familie, wird der Präventionsauftrag zu einem guten Teil verunmöglicht. Denn insbesondere (aber nicht nur) in Gefährdungssituationen sind Eltern oft nicht bereit, diesen zusätzlichen Aufwand zu betreiben und verzichten auf eine Unterstützungsmassnahme. Der Einbezug der Erziehungsberechtigten ist gewährleistet. Sie sind wichtige Partner bezüglich der Informationserhebung und der Zieldefinition der angestrebten Förderung ( eine blosse Anhörung der Erziehungsberechtigten reicht nicht; die Erziehungsberechtigen haben die Hauptverantwortung für das Kind, weshalb bezüglich der angestrebten Entwicklungs- und Bildungsziele ihre Sichtweise verbindlich einzubeziehen ist). Auch dieses Prinzip ist wichtig für die HFE, es ist jedoch nicht neu. Dass Eltern als engste Bezugspersonen der Kinder deren Entwicklung vor allem im Frühbereich massgeblich beeinflussen ist nicht erst seit der Diskussion um die Frühe Förderung / Frühe Bildung bekannt. Bereits die IV hat mit ihren Rahmenbedingungen dafür gesorgt, dass eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern möglich wird (Fahrkostenübernahme bei Hausfrüherziehung und Verre-

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chenbarkeit der Zusammenarbeit mit den Eltern). Zusammenarbeit mit den Eltern hat in der HFE eine lange Tradition und grosse Bedeutung. Partnerschaftlichkeit und Empowerment sind aus der HFE nicht wegzudenken. Zusätzlich hat die Freiwilligkeit der Massnahme zur Folge, dass Früherzieherinnen die Eltern gegebenenfalls auch zur Mitarbeit motivieren «müssen», wenn sie HFE für ein Kind als sinnvoll und notwendig erachten. In diesem Zusammenhang sind vor Jahren das Arbeitsbündnis und die Zielvereinbarung mit den Eltern entstanden. Die Fachpersonen, die das SAV hauptverantwortlich durchführen, erfüllen definierte Minimalstandards ( u.a. einen anerkannten Berufsabschluss auf Hochschulstufe; diagnostische Praxiserfahrung bezüglich Kindern mit Beeinträchtigungen; sehr gute Kenntnisse der lokalen, kantonalen und interkantonalen Angebote für Kinder mit Beeinträchtigungen). Die Ausbildung der Früherzieherinnen und Früherzieher und das interne 4-Augen-Gespräch garantieren für die Erfüllung der Minimalstandards. Ein weiterer, wichtiger Punkt: Jeder Kanton, der das SAV einführt, hat zu definieren, welche Stellen das SAV hauptverantwortlich durchführen

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sollen. Meist sind dies im Frühbereich die Früherziehungsstellen und im Schulbereich die Schulpsychologischen Dienste. «Hauptverantwortlich» heisst jedoch nicht «ausschliesslich». Es ist wichtig, dass bei Bedarf weitere Fachpersonen – namentlich aus dem medizinischen Bereich – einbezogen werden, um zu einer möglichst umfassenden diagnostischen Einschätzung zu kommen. So ist das SAV aufgebaut Das SAV besteht aus zwei Prozessschritten: • In der «Basisabklärung» wird das «Ist» erfasst. • In der «Bedarfsabklärung» wird ein Vergleich des «Ist» mit dem «Soll» gemacht: Aufgrund einer gemeinsam erarbeiteten Zielvorstellung wird der Bedarf festgestellt. Auf dieser Grundlage wird ein Massnahmenvorschlag erarbeitet, welcher der zuständigen Stelle zum Entscheid unterbreitet wird. Was genau beinhaltet die Basisabklärung? • Zunächst werden die persönlichen Angaben des Kindes und der Erziehungsberechtigen sowie die Fragestellung erfasst, die zur Anmeldung zu einer Abklärung geführt haben.

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• In einem weiteren Teilschritt wird der professionelle Kontext beschrieben. Bei einem Kleinkind, das erstmals abgeklärt wird und noch keine Massnahmen erhält, gibt es hier nicht viel festzuhalten. Anders ist es beispielsweise bei einem 8-jährigen Kind mit DownSyndrom, das als Kleinkind HFE erhielt, im Regelkindergarten durch eine Heilpädagogin integrativ unterstützt wurde und aktuell die Einschulungsklasse besucht. Diese Informationen sind relevant und deshalb im SAV festzuhalten. Zudem ist einzuschätzen, ob das aktuelle professionelle Umfeld (die Förderung im Rahmen der Einschulungsklasse) als unterstützend und tragfähig erachtet wird oder ob hemmende Faktoren bestehen, die das Kind aktuell hinsichtlich einer angemessenen Entwicklung und Bildung behindern. • In vergleichbarer Weise wird das familiäre Umfeld beschrieben und eingeschätzt. Gerade im Frühbereich ist die systematische Erhebung von Risiko- und Schutzfaktoren von hoher Bedeutung. Ebenso sind klassische Elemente der Anamnese (wie beispielsweise besondere Belastungen während der Schwangerschaft oder der Geburt oder kritische Lebensereignisse) festzuhalten. Das sich in Erprobung befindende Verfahren zur Erfassung gefährdeter Kinder von 3-6 Jahren (siehe S. 14) wird künf-

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Abbildung 2: Aufbau und Elemente des Standardisierten Abklärungsverfahrens (SAV)

tig viel zur systematischen Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren beitragen können. • Die Erfassung der Funktionsfähigkeit stellt einen Kernpunkt des SAV dar: Entlang der «Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (ICF) sind ausgewählte Items einzuschätzen. Es kommen sowohl Items der «Aktivitäten und Partizipation» als auch der «Körperfunktionen» zum Zug. Es geht darum darzustellen, in welchen Bereichen das Kind tatsächlich eingeschränkt ist und in welchen nicht: Ist die Hörfunktion beein-

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trächtigt? Ist das Kind in der Lage, in angemessener Art und Weise nonverbale Mitteilungen zu produzieren? Ist das Lernen durch Handlungen mit Gegenständen auf einem altersgemässen Stand? Solche und weitere Items, die wie erwähnt der ICF entnommen sind, werden abgefragt. Somit macht die Anwendung der ICF auch im Frühbereich durchaus Sinn. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die Beurteilung in der vorgeschlagenen Art (einzelne ICF-Items) zielführend ist, oder ob nicht besonders betreffend Aktivität / Partizipation auf gesamte Lebensbereiche zurückge-

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griffen werden sollte (Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen etc.). Denn je kleiner das Kind ist, desto schwieriger wird es, einzelne Items wie beispielsweise «Zuschauen» und «Zuhören» zu beurteilen. • Ein letzter Bereich der Basisabklärung stellt die kategoriale Erfassung – die eigentliche Diagnose – dar. Kann eine klare Diagnose gestellt werden, muss sie selbstverständlich ins SAV einfliessen. Sie kann beispielsweise entlang der ICD-10 («Internationale Klassifikation der Krankheiten») gestellt werden. Gerade im Frühbereich ist es aber in vielen Fällen nicht möglich, eine eindeutige Diagnose zu stellen. In diesem Fall wird die Problembeschreibung in freien Worten zusammenfassend umschrieben. Nach dieser systematischen Darstellung des «Ist» sollte – so könnte man meinen – der diagnostische Prozess eigentlich abgeschlossen sein: Alle relevanten Informationen liegen auf dem Tisch; man kann nun direkt zum Massnahmenvorschlag schreiten. Wer so denkt, irrt. Niemand kann allein aufgrund einer Problembeschreibung festlegen, welche Massnahmen dem Kind zukommen sollen. Vielmehr gilt es zunächst eine Zielvorstellung zu entwickeln: «Was soll in den nächsten ein/zwei 24

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Jahren erreicht werden? Welche Kompetenzen sollten gezielt unterstützt werden? Welche Zielsetzungen erachten wir als realistisch? Welche Massnahmen scheinen zur Zielerreichung notwendig?» Aus diesem Grund braucht es nach der Basisabklärung einen weiteren Schritt: die Bedarfsabklärung. • Sonderpädagogische Massnahmen ohne klare Zielsetzung können nicht legitimiert werden. Deshalb muss die Festlegung der Ziele Teil des diagnostischen Prozesses sein. Hier sind die Erziehungsberechtigen verbindlich einzubeziehen. Zu diesem Zweck wird im SAV abgefragt, in welchen Bereichen (z.B. Allgemeine Entwicklung / Allgemeines Lernen, Kommunikation, Bewegung und Mobilität) welche Zielvorstellungen bestehen. Diese Bereiche orientieren sich wiederum an Aspekten der Aktivitäten und der Partizipation der ICF. Auch im Frühbereich ist hier der Einbezug der Eltern sicher wichtig, muss aber relativiert werden. Welche Eltern – die gerade erst mit einer Entwicklungsauffälligkeit konfrontiert wurden – möchten für ihr Kind nicht altersgemässe Zielsetzungen festlegen? Für individualisierte Zielsetzungen braucht es ein gewisses Akzeptieren der Situation oder zumindest genügend Erfahrungen, die zeigen, dass das Kind wirklich nicht altersgemäss entwickelt ist.

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• Aus dem Spannungsfeld zwischen dem realen «Ist» (Basisabkärung) und dem angestrebten „Soll“ (Bedarfsabklärung) ergibt sich nun folgerichtig der Bedarf. Dieser kann in verschiedenen Bereichen bestehen: Vielleicht benötigt das Kind spezifische sonderpädagogische Unterstützung, oder aber sein Umfeld benötigt Beratung und Begleitung. Dieser Bedarf wird heute insbesondere im 4-AugenGespräch oder im interdisziplinären Setting diskutiert. • Wenn der Bedarf grundsätzlich geklärt ist, kann abgeschätzt werden, welche konkreten Massnahmen diesen Bedarf am besten abdecken (beispielsweise frühlogopädische Interventionen oder eine HFE). In enger Zusammenarbeit mit anderen möglichen Massnahmen wird vordiskutiert, welche Massnahme aufgrund welcher Aspekte den Eltern empfohlen wird. Die systematische Darlegung aller Informationen des SAV erfolgt in einem Bericht. Jeder Kanton kann das Format der SAV-Berichte selbst bestimmen: Wie ausführlich sollen diese Berichte sein? Sollen mehr oder weniger alle Informationen aus dem SAV im Bericht erscheinen oder genügt jeweils eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Elemente? Hier müssen gute und faire Lösungen gefunden werden: Insbesondere müssen Stärken und Grenzen des BVF-Forum

familiären Umfelds zwar transparent, aber für die Eltern nicht verletzend im Abklärungsprozess aufgenommen werden, damit die Notwendigkeit für eine Massnahme nicht allein mit den Defiziten des Kindes begründet wird. Dies kommt jedoch insbesondere im Frühbereich einer schwierigen Gratwanderung gleich, da HFE eine freiwillige Massnahme ist und Eltern auf HFE verzichten können – was weder im Interesse von ihnen noch im Interesse des Kindes ist. Dieser Punkt erfordert im Frühbereich einen besonders sorgfältigen Umgang. Viele Kantone sind derzeit auf dem Weg, das SAV vertieft zu verstehen und auf die kantonalen Gegebenheiten anzupassen. Diese Entwicklung erweist sich als herausfordernd – allein schon deshalb, weil diagnostische Prozesse an sich komplex sind und das SAV dieser Komplexität nicht aus dem Weg geht, sondern versucht, die relevanten Aspekte systematisch darzustellen. Insbesondere im Frühbereich sind auch Rahmenbedingungen zu klären – auch dies keine einfache Sache. Das zeigt sich auch darin, dass bisher in keinem der zwölf Konkordatskantone das SAV im Frühbereich bereits vollständig umgesetzt wird. Wir sind froh, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema intensiv geführt wird und hoffen, dass die Nr. 77 Dezember 2011

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Fachpersonen aus der Praxis überall in die Überlegungen mit einbezogen werden.

Prof. Dr. Peter Lienhard HfH Zürich [email protected]

Literatur Hollenweger, Judith; Lienhard, Peter (2011). Standardisiertes Abklärungsverfahren SAV. Handreichung. Bern: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK www.sav-pes.ch

Brigitte Eisner-Binkert Geschäftsstellenleiterin BVF geschaeftsstelle@ frueherziehung.ch

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Von der Anmeldung bis zur Verfügung 

Verschiedene Fachpersonen aus der Praxis

Von der Anmeldung bis zur Verfügung Seit dem Rückzug der IV aus der Finanzierung der HFE sind in den verschiedenen Kantonen sehr unterschiedliche Vorgaben zum Abklärungsprozess entstanden. Die heute bestehenden Abläufe werden sich wohl vielerorts noch weiterentwickeln. Im Hinblick auf diese Weiterentwicklungsarbeit und zur gegenseitigen Unterstützung geben verschiedene Kolleginnen und Kollegen Einblick in ‚ihre‘ aktuell gültigen Abläufe.

Kind ein Grundangebot von 100 Stunden zur Verfügung. Diese 100 Stunden werden durch den Kanton finanziert, ohne dass durch die kantonale Abklärungsstelle – dem Schulpsychologischen Dienst (SPD) eine Kontrolle des Entwicklungsstandes durchgeführt wird. Wenn ein Kind aber mehr als 100 Stunden HFE oder Logopädie im Frühbereich benötigt, erfolgt beim SPD eine Anmeldung für individuell verstärkte Massnahmen. Die Bewilligung dieser Massnahmen setzt dann eine Abklärung durch den SPD voraus.

Diagnostik in den Heilpädagogischen Diensten des Kantons Solothurn Die Solothurner Regierung hat im Regierungsratsbeschluss vom 22. Juni 2011 die Neuregelung im Frühbereich festgelegt. Dadurch ergeben sich sowohl in den Dienstleistungsangeboten als auch in den internen Abläufen der Heilpädagogischen Dienste verschiedene Veränderungen.

Kinder im Kindergartenalter werden durch die Schulleitungen direkt beim SPD zur Beurteilung für individuell verstärkte Massnahmen (entspricht der bisherigen HFE im Kindergartenalter) angemeldet. Die Diagnostik für individuell verstärkte Massnahmen und für die Beurteilung der Einschulung mit sonderpädagogischen Bedarf wird durch den Schulpsychologischen Dienst (SPD) durchgeführt..

In den werden Eintritt meldet. Jahren

Zur Einschätzung der Kinder im Grundangebot (0 – 4) wird ein internes Abklärungsverfahren durchgeführt. Zum Einsatz kommen dabei Frage- und Anamnesebogen, Ent-

Heilpädagogischen Diensten neu Kinder nur noch bis zum in den Kindergarten angeUm mit Kindern von 0 – 4 zu arbeiten steht für jedes

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 Von der Anmeldung bis zur Verfügung

wicklungs- und Intelligenztests und Verhaltens- und Spielbeobachtungen. Ein Team aus Psychologinnen und Heilpädagoginnen sichtet die Neuanmeldungen, führt Erstgespräche, testet und beobachtet die Kinder und ihr Umfeld und führt Gespräche mit den Eltern, in welchen die Beobachtungen und Ergebnisse dargelegt werden. Wenn HFE oder Logopädie im Frühbereich angezeigt sind und die Eltern mit der Massnahme einverstanden sind, beginnt die HFE oder die Logopädie im Frühbereich mit der Förder- und Beratungsarbeit. Wie die Übergänge und Abläufe im einzelnen gestaltet werden, ist noch nicht definitiv geklärt. Eine Übergangszeit von drei Jahren, die von der kantonalen Behörde bestimmt wird, gibt den Heilpädagogischen Diensten die Möglichkeit, das Dienstleistungsangebot und die Vorgehensweisen den neuen Rahmenbedingungen sukzessive anzupassen. Jacqueline Fluri und Dora Gutweniger

Abklärungsprozess beim ZFF (Zentrum für Frühförderung Basel-Stadt) Das Zentrum für Frühförderung BS steht allen Familien mit Kindern bis zum Kindergarteneintritt zur Verfügung, die 28

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in Sorge um die Entwicklung ihres Kindes sind. Ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Psychologie, Sozialarbeit, Heilpädagogischer Früherziehung und, ab 1.1.2012 Logopädie, bietet Abklärung, Beratung und Förderung (Heilpädagogische Früherziehung; logopädische Therapie ab 1.1.2012) an. Von der Anmeldung bis zur Abklärung und Kostengutsprache Abklärung und Beratung können direkt in Anspruch genommen werden. Je nach Schwerpunkt der Fragestellung begleiten Fachpersonen aus der Psychologie oder Sozialarbeit die Familien mit den kleinen Kindern. Stellt sich die Frage nach Heilpädagogischer Früherziehung für das Kind, beginnt auch der Prozess der Abklärung und der Einleitung von HFE nach geregelten Vorgaben. Die Eltern melden sich direkt oder werden mit ihrem Einverständnis von Fachpersonen angemeldet. Bei einer telefonischen Anmeldung erfragt das Sekretariat die Eckdaten und bereitet diese zuhanden der Leitung vor. Je nach Fragestellung wird die Anmeldung an eine Sozialarbeiterin oder eine Psychologin zur Durchführung des Erstgesprächs weitergeleitet. Nr. 77 Dezember 2011

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Im Erstgespräch werden die Anliegen aufgenommen und das weitere Vorgehen festgelegt (Beratung oder entwicklungspsychologische Abklärung des Kindes). Die Beratung wird von den zuständigen Fachpersonen durchgeführt. Sind die formulierten Ziele erreicht, werden diese überprüft, neue Ziele formuliert oder die Beratung wird abgeschlossen. Besteht ein erhöhter Förderbedarf für das Kind, wird die entwicklungspsychologische Abklärung intern in die Wege geleitet. Die Form der Durchführung der Abklärung ist bestimmt durch die Fragestellung. Steht schon vorgängig der Bedarf an HFE ganz klar im Raum, wird nach Möglichkeit schon für den Abklärungsprozess die zuständige Heilpädagogin mit einbezogen. Andernfalls wird die Abklärung durch die Fachperson der Psychologie gemacht. Die Entwicklungsabklärung gibt Auskunft über den weiteren Förderbedarf (nach definierten fachlichen Kriterien). Wird HFE beantragt, wird ein ärztliches Gutachten eingefordert. Bestätigt dieses die Notwendigkeit von HFE, wird diese bei der Leitung des ZFF beantragt. Die Leiterin ZFF bewilligt die Massnahme über eine bestimmte Dauer. Die Familie wird ab spätestens dieBVF-Forum

sem Zeitpunkt von zwei Fachpersonen begleitet: Heilpädagogin und Fachperson aus Sozialarbeit oder Psychologie (= fallführende Person). Vorteile und Nachteile der Interdisziplinarität Die Erziehungsberechtigten, welche im ZFF betreut werden, haben keine langen Wege für verschiedene Fragestellungen. Sie können niederschwellig Kurzberatungen in Anspruch nehmen und fühlen sich aufgehoben und ganzheitlich begleitet. Diese Qualität soll durch das Dazukommen der Logopädie ab 2012 noch verstärkt werden. Die Fachpersonen im ZFF haben eine reichhaltige Austauschplattform mit verschiedenen Fachpersonen. Die Gefahr einer subjektiven, eingegrenzten Wahrnehmung vermindert sich durch die gemeinsame Fallführung und die Beratung und Förderung kann den Bedürfnissen und der Entwicklung kurzfristig angepasst werden. Die Interdisziplinarität bedeutet jedoch auch eine Herausforderung für die Fachpersonen. Sie sind gefordert, ihr Angebot regelmässig abzusprechen, Rollen und Verantwortungen transparent und für die Klienten nachvollziehbar zu kommunizieren und umzusetzen. Das vermehrte Ab- und Besprechen erfordert auch vermehrte zeitliche Nr. 77 Dezember 2011

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Ressourcen, wirkt aber entlastend dadurch, dass Entscheide von verschiedenen Personen mitgetragen werden. Die Steuerung von Seiten der Leitung ist gefordert und verlangt ein auf das Angebot / die Angebote angepasstes Führungs- und Steuerungsinstrument. Ausblick Mit der Erweiterung des Angebotes durch die Logopädie verändert sich das ganze Verfahren – eine Chance, aber auch eine grosse Herausforderung. Das Ziel von möglichst kurzen Wegen für die Erziehungsberechtigten, einer optimalen Betreuung und der Nutzung der Synergien und Kompetenzen, leitet unsere Überlegungen in der Umstellungsphase. Ruth Hürlimann Zuweisungs- und Abklärungsverfahren im Kanton Zürich Seit Anfang Januar 2008 ist der Kanton für den Bereich Sonderpädagogik zuständig. Die sonderpädagogischen Massnahmen im Vor- und Nachschulbereich wurden inzwischen im neuen Kinder - und Jugendhilfegesetz geregelt. Die dazugehörende Verordnung über die sonderpädagogischen Massnahmen im Vor- und Nachschulbereich ist noch nicht endgültig beraten, jedoch 30

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ist vorgesehen, die Verordnung im Januar 2012 in Kraft zu setzen. Zurzeit gelten für die Heilpädagogische Früherziehung die vom Kanton erlassenen Richtlinien zur Heilpädagogischen Früherziehung sowie den pädagogisch-therapeutischen Massnahmen im Vor- und Nachschulalter vom 31.03.2008. In diesen Richtlinien werden die Abklärung und Durchführung von Massnahmen, die Abrechnung, die Zulassung sowie die Aufsicht geregelt. Das Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) ist zuständig für die Organisation und Finanzierung der sonderpädagogischen Massnahmen im Frühbereich. Die dem AJB unterstellte Zentralstelle Sonderpädagogik im Frühbereich bearbeitet die entsprechenden Gesuche und verfügt die Massnahme im Einzelfall. Eine Heilpädagogische Abklärung und/oder Heilpädagogische Früherziehung kann nur aufgrund einer ärztlichen Zuweisung erfolgen. Der zuständige Arzt (Kinder-, Haus- oder Facharzt) meldet das betreffende Kind direkt bei einer Fachstelle für Heilpädagogische Früherziehung oder bei einer freiberuflich tätigen Früherzieherin an. Bei der Wahl werden Spezialisierung, die geographischen Gegebenheiten und/oder Kapazität an freien Therapieplätzen berücksichtigt. Nr. 77 Dezember 2011

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Zur Erteilung einer Kostengutsprache für eine heilpädagogische Abklärung durch das AJB sind folgende Formalitäten nötig: Nach dem Aufnahmegespräch mit den Eltern reicht die zuständige Heilpädagogin das von den Eltern unterschriebene „Gesuch auf Leistungen päd.therapeutischer Art für Kinder im Vorschulbereich“, die Kopie des Einladungsschreiben zum Erstgespräch sowie weitere erforderliche Beilagen (Wohnsitzbescheinigung, Geburtsurkunde, usw.) beim AJB ein. Aufgrund dieses Antrages erteilt das AJB eine Kostengutsprache für eine heilpädagogische Abklärung. Der Abklärungsauftrag ist auf 8 Stunden beschränkt. Darin sind Arbeit mit dem Kind, Gespräche mit den Eltern und weiteren Fachpersonen, Vorund Nachbereitung sowie Antragstellung enthalten. Die zuständige Fachstelle/Heilpädagogin klärt mittels Entwicklungsdiagnostik und Einbezug des familiären Umfeldes die Notwendigkeit einer Heilpädagogischen Früherziehung ab. Es bestehen keine kantonalen Vorgaben über die Gestaltung des Diagnostikprozesses. Die zuständige Fachstelle/Heilpädagogin stellt dem AJB einen Antrag auf die Durchführung von Heilpädagogischer Früherziehung. Sobald die Abklärungsergebnisse und die Empfehlungen dem AJB vorliegen, erteilt BVF-Forum

dieses eine Kostengutsprache für die Durchführung von Heilpädagogischer Früherziehung, höchstens 3 Stunden pro Woche, für maximal ein Jahr, unabhängig von der Diagnose. Wie schon anfänglich beschrieben, sind die heutigen Zuweisungs- und Abklärungsverfahren als Übergangsregelungen zu verstehen. Der Kanton hat vor, die Abklärung und die Durchführung von sonderpädagogischen Massnahmen zu trennen, d.h. gesonderte Abklärungsstellen einzurichten. Wie das Abklärungsverfahren für die Heilpädagogische Früherziehung zukünftig ausgestaltet und das Zuweisungsverfahren geregelt wird, ist zurzeit (im Oktober 2011) noch offen. Ruth Rutz und Petra Keller Abklärungsprozess im Kanton Aargau Ich beschreibe hier die aktuelle Situation. Unter „Entwicklung“ halte ich unsere Vision fest. Ablauf a) Anmeldung zur Abklärung Ein Kind wird durch die Eltern oder im Einverständnis der Eltern in die Heilpädagogische Früherziehung angemeldet. Die Heilpädagogin (FE) nimmt in einem Erstgespräch Kontakt mit den Eltern auf, stellt das Angebot vor Nr. 77 Dezember 2011

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und beschreibt den Abklärungsprozess. Die FE klärt das Kind in der Regel in 6-8 Terminen ab. Dazu benutzt sie gängige Testverfahren. Sie beobachtet das Spiel- und Lernverhalten des Kindes. Allenfalls beobachtet sie das Kind in einer Gruppe. Sie ist mit den Eltern im Gespräch und berücksichtigt das Umfeld, die Ressourcen, Stärken und Schwächen sowie den Alltag des Kindes in ihrer Abklärung. Die FE schreibt den Abklärungsbericht nach einer dienstinternen Struktur (jeder Dienst unterschiedlich). Die Früherzieherin zeigt, bespricht mit ihrer Vorgesetzten das Abklärungsresultat sowie die von ihr vorgeschlagene Massnahme (betrifft hauptsächlich das Vorgehen in der allgemeinen HFE, in der behindertenspezifischen HFE gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen). Nach diesem internen VieraugenPrinzip findet das Elterngespräch statt. Soll nach der Abklärung ein Angebot stattfinden, schickt die Früherzieherin den Abklärungsbericht im Einverständnis mit den Eltern an den zuständigen Kinder- oder Hausarzt. Dieser muss die Indikation der HFE bestätigen (externes Vier-AugenPrinzip). Dazu kann er das Kind aufbieten oder auf den Bericht vertrauen. In der sehr grossen Mehrheit 32

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vertrauen die Ärzte unseren Berichten und unterzeichnen die Bestätigung. Es gab noch keine ärztliche Ablehnung seit NFA. Weder wir noch der Arzt müssen eine Dauer der HFE festlegen (max. bis Einschulung gemäss Gesetz). b) Anmeldung direkt zur Bildung / Förderung (Kind ist bereits abgeklärt oder offensichtlich für Arzt, dass ein Angebot der HFE indiziert ist) Wenn ein Kind direkt durch einen Arzt oder das Spital zur frühen Bildung / Förderung angemeldet wird, erfolgt derselbe Prozess wie oben. Der Arzt erhält den Abklärungsbericht, er muss die Indikation jedoch nicht mehr bestätigen, da er dies bereits bei der Anmeldung getan hat. Bei Kindern, die nach einer Abklärung durch den Schulpsychologischen Dienst angemeldet werden, gilt die Anmeldung inkl. des Abklärungsberichts des SPD als erfülltes externes Vier-Augen-Prinzip. Verantwortlichkeit: Die Eltern sind unsere Auftraggeber und können jederzeit abbrechen. Die Früherzieherin ist verantwortlich für die seriöse Durchführung der Abklärung und Berichterstattung. Die Vorgesetzte der Früherzieherin ist intern verantwortlich für die Interpretation der Beobachtungen, Abklärungsresultate und die Indikation der Massnahme. Nr. 77 Dezember 2011

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Der behandelnde Kinder- oder Hausarzt ist extern verantwortlich für die Interpretation der Beobachtungen, Abklärungsresultate und die Indikation der Massnahme. Vorteile: Wir haben eine grosse Freiheit. Die Zusammenarbeit mit den Kinderärzten hat sich intensiviert. Nachteile: Die Ärzte vertrauen uns, das ist sehr schön. Eine wirkliche Kontrolle findet jedoch nicht statt (und das wäre ja der Sinn des Vieraugen-Prinzips?). Die Ärzte erhalten ihre Arbeit nicht finanziert. Bei den meisten Kindern verläuft die Abklärungsphase ähnlich, unabhängig davon, welche Bedürfnisse da sind (siehe unten „Entwicklung“). Entwicklung: Wir streben aktiv an (teils wird das schon ein wenig umgesetzt), dass der oben beschriebene Ablauf eines von verschiedenen Einstiegsangeboten wird. Im Erstgespräch sollen in Zukunft die Bedürfnisse der Eltern noch viel klarer erhoben werden. Eine umfassende Abklärung ist nicht zwingend die Basis aller Angebote. Vielleicht genügt eine kurze Ersterfassung innerhalb von 2-3 Terminen? Vielleicht haben die Eltern das Bedürfnis nach einer Begleitung / Beratung allgemeiner Art oder nach Marte Meo?

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Vielleicht ist die Teilnahme im Heidelberger Elterntraining aktuell passend? Eine umfassende Abklärung kann sinnvoll sein. In den nächsten Monaten werden wir Indikatoren für eine längere sowie für eine kürzere Ersterfassung erarbeiten. Klar ist auch, dass wir weg wollen von den „open end“-Angeboten. Jedes Angebot soll einen klaren Anfang und ein ebensolches Ende bekommen! Wir streben an, 6 Monate Zeit zu haben bis zur Entscheidung, ob ein externes Vier-Augen-Prinzip – sprich, eine längere Begleitung im Sinne einer „verstärkten Massnahme“ – angezeigt ist. Wir streben an, dass das externe Vier-Augen-Prinzip nicht nur anhand eines Abklärungsberichtes, der die Ergebnisse einer umfassenden Abklärung aufzeigt, erfolgen kann, sondern, dass wir bedürfnisorientiertere Formen finden (z.B. Verlaufsbericht einer Beratung). Rahmenbedingungen: Das Rahmenkonzept der HFE schreibt vor, dass innerhalb von drei Monaten nach der Anmeldung eine Förderplanung vorliegen muss. Gesetzliche Grundlage ist §28 Sonderschulverordnung: Logopädie für Säuglinge und Kleinkinder, Heilpädagogische Früherziehung. Nr. 77 Dezember 2011

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1. Die Leitung der Durchführungsstelle von Logopädie für Säuglinge und Kleinkinder beziehungsweise die Leitung des heilpädagogischen Früherziehungsdiensts entscheidet mit dem Einverständnis der Inhaber der elterlichen Sorge über die Aufnahme der Säuglinge und Kleinkinder zur Erfassung, Abklärung, Förderung und Therapie. 2. Logopädische Therapie bei schweren Ess- und Trinkstörungen und heilpädagogische Förderung setzen eine fachärztliche Untersuchung voraus. 3. Die Leitung entscheidet nach fachlichen Kriterien über den wirkungsvollsten Einsatz der vorhandenen Ressourcen. Denise Eng Abklärungsprocedere zur Heilpädagogischen Früherziehung im Kanton Bern Sonderschulkonkordat, Standardisiertes Abklärungsverfahren SAV und Sonderschulkonzept im Kanton Bern Der Kanton Bern ist dem Sonderschulkonkordat noch nicht beigetreten. Ein Sonderschulkonzept ist derzeit in Erarbeitung durch die beiden Direktionen Erziehung (ERZ) und Gesundheit/Fürsorge (GEF). Die Sonderschulung und auch die Heilpädagogische Früherziehung gehören im Kanton Bern (noch) zur GEF. Es ist begrüssenswert, dass sich die beiden Direktionen für die Erarbeitung des 34

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Sonderschulkonzepts als Teil des Projekts „Umsetzung Strategie Sonderschulung 2010-2015“ zusammengeschlossen haben. Der Früherziehungsdienst des Kantons Bern FED ist in diesem direktionsübergreifend geführten Projekt in der fachlichen Begleitgruppe vertreten. Auch wenn der Kanton Bern dem Konkordat noch nicht beigetreten ist, so wird das SAV derzeit doch bereits eingeführt und für die Abklärung des Bedarfs an Sonderschulung (integrativ oder separativ umgesetzt) demnächst angewendet. Der Bedarf an Heilpädagogischer Früherziehung HFE wird allerdings nicht mittels SAV ermittelt, sondern nach dem bisherigen Abklärungsprocedere. Ein wichtiges Element des SAV, die Trennung von Abklärungs- und Durchführungsstelle, wird aber auch in der HFE bereits seit 2008 umgesetzt. Anmeldung zur HFE, Abklärungen und Antragsstellung beim Kanton Anmeldungen zur HFE erfolgen im Kanton Bern am häufigsten durch die Neuropädiatrie des Inselspitals Bern und das Zentrum für Entwicklungsförderung und pädiatrische Neurorehabilitation Z.E.N. in Biel. Eine meist medizinische und psychologische Abklärung erfolgt dabei bereits durch diese Stellen. Gleichzeitig wird von diesen Abklärungsstellen gemeinsam mit den ErzieNr. 77 Dezember 2011

Von der Anmeldung bis zur Verfügung 

hungsberechtigten ein Gesuch an den Kanton um Kostenübernahme für die vorgeschlagene Massnahme HFE gestellt. Weitere Abklärungsstellen sind die Erziehungsberatungsstellen (EBs) und die Pädiater/ innen und Hausärzt/innen. Gerade Ärzt/innen, aber auch Psycholog/ innen von EBs melden dem Früherziehungsdienst FED aber oftmals Kinder zu einer Fachlichen Beurteilung (FB) an, wenn es darum geht, ein Kind in seinem Umfeld und im alltäglichen Handeln zu beurteilen. Der FED stellt diesen Stellen dann einen differenzierten Bericht der Beurteilung mit einem Massnahmenvorschlag zu. Auch andere Stellen, die nicht als Abklärungsstellen gelten, können dem FED Kinder zur Früherziehung oder Fachlichen Beurteilung anmelden. Ist die zuweisende Stelle keine Abklärungsstelle (also z.B. Sozialdienste, Kindergärtner/innen), geht eine Kopie des Berichts der Fachlichen Beurteilung im Einverständnis der Eltern an eine Abklärungsstelle (meist an der behandelnden Kinderarzt/die behandelnde Kinderärztin) mit der Bitte, die Antragsstellung an den Kanton zu unterstützen. In jedem Fall müssen die Eltern ein Gesuch für den Bezug von Leistungen für Massnahmen der Sonderschulung (HFE) an den Kanton stellen (analog der früheren IV-Anmeldung). Selbstverständlich können Eltern ihr BVF-Forum

Kind auch selber beim FED anmelden. Dann gilt das gleiche Verfahren wie bei den Anmeldungen, die nicht durch eine Abklärungsstelle erfolgen. Ist nach einer Fachlichen Beurteilung durch den FED oder bei der Anmeldung zur HFE ersichtlich, dass die Kriterien für HFE nicht erfüllt sind, wobei z.Z. noch die seinerzeitigen IV-Kriterien gelten, so können das Kind und die Eltern trotzdem von den Angeboten des FED profitieren, falls der Bedarf ausgewiesen ist. Die Kosten übernimmt in diesen Fällen ebenfalls der Kanton über einen Pool für „Risikokinder“ und Kurzberatungen. Die Verwaltung des Pools obliegt dem FED. Esther Koller Stuber Von der Anmeldung zur Verfügung der Heilpädagogischen Früherziehung beim HPDienst St. Gallen – Glarus Der HPD SG-GL betreut per dato immer noch Kinder im Alter zwischen 0-7Jahren. Im Zuge der neuen Finanzierungsmodalitäten hat bei uns das 4Augen Prinzip bereits seit 2008 Einzug gehalten. Es gibt hierbei zudem eine klare Trennung zwischen Kindern im nicht schulpflichtigen und schulpflichtigen Alter. Säuglinge, Kleinkinder und VorNr. 77 Dezember 2011

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schulkinder werden im überwiegenden Fall durch die Mitarbeitenden des Ostschweizerischen Kinderspitals oder durch die Pädiater in den freien Praxen mittels eines Berichtes mit Antrag auf Abklärung und Durchführung von Heilpädagogischer Früherziehung angemeldet. In seltenen Fällen wenden sich besorgte Eltern telefonisch direkt an uns und es kommt zu einer ersten Kurzberatung bzgl. ihrer Wahrnehmung und Einschätzung des eigenen Kindes und des allfällig weiteren Vorgehens. Da wir auf ein kurzes medizinisches Gutachten angewiesen sind, empfehlen wir ihnen, sich mit ihrem Kinderarzt in Verbindung zu setzen oder uns die Erlaubnis dazu zu geben. Ist das Gutachten eingetroffen, wird mit der Eröffnung des Dossiers ein Schreiben aufgesetzt, worin den Eltern und der anmeldenden Person die Anmeldung bestätigt wird. Danach kommt es dienstintern zur Zuteilung des Kindes. Im optimalen Fall kann die Früherzieherin bereits nach ein bis zwei Wochen mit der Familie in Kontakt treten. Ist es nicht der Fall, so sind die Eltern via Schreiben über die Kontaktdaten des HPD informiert und freundlich aufgefordert, sich in der Zwischenzeit bei Fragen oder Unsicherheiten jederzeit an uns zu wenden. Nach erfolgtem telefonischem Kontakt nimmt die Früherzieherin die Planung der Abklärung und des ersten 36

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Anamnesegesprächs in Angriff. Meistens lässt dieser Anlass nicht lange auf sich warten und die Früherzieherin sieht dann das Kind zum ersten Mal in seinem familiären häuslichen Umfeld. Je nach Umstand braucht es für eine abschliessende Eintrittsdiagnose einen oder mehrere Hausbesuche. Für die Beantragung von Heilpädagogischer Früherziehung bedarf es im Kanton St. Gallen einer der drei pädagogischen Diagnosen ‚Entwicklungsrückstand nach IVV Art. 8 Bst. a, g oder f‘. Im Anschluss daran erstellt die Früherzieherin einen Bericht und schickt diesen an eine der 3 Leiterinnen (Stellvertretende Dienstleiterin, Zweigstellenleiterin oder Dienstleitern) des HPD. Nach Durchsicht und allfälliger Korrektur wird in der Administration das Anmeldeformular ausgefüllt bzw. ergänzt und an die zuständige Sachbearbeiterin des Bildungsdepartementes geschickt. Der Kanton SG verfügt für Kinder im Vorschulalter 3 Einheiten Frühförderung. In der Regel beantragt der HPD 2 Einheiten. Bei Unklarheiten kommt es zu telefonischen Rückfragen; diese dienen nicht nur der Klärung des Sachverhaltes, sondern auch zum gegenseitig besseren Verständnis der internen Prozessabläufe. In sehr speditiver Frist erhalten wir dann die Verfügung für Heilpädagogische Früherziehung für ein Jahr.

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Mit Stichtag 31.07. des entsprechenden 4. Lebensjahres sind die Schulpsychologischen Dienste des Kantons St. Gallen (Stadt und übriger Kanton) und mit ihnen deren Mitarbeitende verantwortlich für Abklärung und Antragstellung für Heilpädagogische Früherziehung. Mit Abklärungsbericht und Anmeldeformular wenden sie sich anschliessend schriftlich an den Heilpädagogischen Dienst und wir veranlassen nach erfolgter Zuteilung an die entsprechende Mitarbeiterin und Kenntnis des Erstkontaktes mit der Familie die Verfügung auf das entsprechende Datum beim Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen. Barbara Jäger Heilpädagogische Früherziehung in Nidwalden: Von der Erfassung bis zum Antrag Gemäss dem Konzept Sonderpädagogik des Kantons Nidwalden ermittelt die Heilpädagogische Früherziehung den individuellen Bedarf von sonderpädagogischen Massnahmen für Kinder vor Eintritt in die obligatorische Schulzeit1. Anmeldende Instanz sind immer die Eltern. Sie können ihr Kind von sich aus oder auf Anregung einer Dritt-

person mittels regulären Anmeldeformulars anmelden. Drittpersonen sind oft Pädiater oder Allgemein Mediziner, Kindergarten-Lehrpersonen oder Spielgruppenleiterinnen sowie Fachfrauen der Mütter-/VäterBeratung. Die Anmeldung geht ans Zentrum für Sonderpädagogik, wo der Erhalt vom Sekretariat bestätigt wird. Daraufhin geht die Anmeldung an die Fachschaft HFE. Hier kommt das Kind auf die Warteliste. Es kann einen bis höchstens drei Monate dauern, bis das Kind von einer Heilpädagogischen Früherzieherin aufgenommen wird. In den ersten Wochen nach Erhalt der Anmeldung wird die Familie über den Zeitrahmen und das weitere Vorgehen informiert. Nach der Zuteilung des Kindes zu einer Fachperson HFE nimmt diese telefonisch den Kontakt mit der Familie auf und vereinbart den Termin für das Erstgespräch, in der Regel mit beiden Elternteilen im Zentrum. Am Erstgespräch werden die Fragen und Anliegen der Eltern besprochen und die Anamnese aufgenommen. Zudem werden zwei bis drei Termine für die Arbeit mit dem Kind vereinbart. In diesen Sitzungen wird eine Abklärung des Entwicklungsstandes gemacht. Bei jüngeren Kindern fin-

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Die obligatorische Schulzeit beginnt in Nidwalden für Kinder ab 5 Jahren, d.h. der Teilzeit-Kindergarten kann noch freiwillig besucht werden, der Vollzeit-Kindergartenbesuch ist obligatorisch. BVF-Forum

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den diese zu Hause statt, bei älteren Kindern gibt es mindestens einen Termin am Zentrum. Es wird ein Video aufgenommen. Im Anschluss an die Abklärungssitzungen wird das Video in Zusammenhang mit den Abklärungsergebnissen mit einer Fachkollegin im 4-Augen-Prinzip ausgewertet. Im Abklärungsgespräch werden das Ergebnis und die daraus abgeleiteten Empfehlung mit den Eltern besprochen. Folgende Massnahmen können empfohlen werden: Heilpädagogische Früherziehung, Logopädie oder PsychomotorikTherapie. Falls Heilpädagogische Früherziehung empfohlen wird und die Eltern mit der Massnahme einverstanden sind, wird zwischen Fachperson und Eltern die Intensität, die Dauer und das Setting der Massnahme vereinbart und im Abklärungsbericht festgehalten. In der Regel wird einmal wöchentlich, in der Familie, im Therapieraum des Zentrums, einzeln oder in der Kleingruppe gearbeitet. Die Dauer der Massnahme wird bei Kindern, welche den TeilzeitKindergarten besuchen, auf ein Jahr festgesetzt mit der Möglichkeit der Verlängerung bis Ende des VollzeitKindergartens. Bei jüngeren Kindern wird die Dauer bis jeweils Oktober nach dem Eintritt in den TeilzeitKindergarten festgelegt. Eine Verlängerung bis max. Ende des Vollzeit-

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Kindergartens ist möglich. Verlängerungen werden zwischen Eltern und der betreffenden Fachperson HFE entschieden; bei Unstimmigkeiten wird der Schulpsychologische Dienst beigezogen. Adressat des Abklärungsberichts sind die Eltern; allenfalls mit Kopie an die zuweisende Stelle (bei medizinischer Empfehlung). Falls die Anmeldung von Seiten des Kindergartens, der Spielgruppe oder von Beratungsstellen angeregt wurde, findet die Rückmeldung mündlich statt oder die Eltern geben selber eine Kopie des Abklärungsberichts weiter. Eine Kopie des Berichts geht zu den laufenden Akten der betreffenden Fachperson HFE. Das Sekretariat wird vier Mal jährlich mittels Statusliste informiert, welche Kinder in welchem Umfang von der Heilpädagogischen Früherziehung betreut werden. Gemäss dem sonderpädagogischen Konzept setzt der Kanton Nidwalden pro 750 – 800 Kinder im Alter von 0 -4 Jahren eine Vollzeitstelle (100%) ein. Damit erhält der Bereich Heilpädagogische Früherziehung einen Stellenpool. Mit den zur Verfügung stehenden Personalressourcen muss die Arbeit mit den angemeldeten Kindern und deren Familien gewährleistet werden. Die obligatorische Schulzeit beginnt in Nidwalden für Kinder ab 5 Jah-

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ren, d.h. der Teilzeit-Kindergarten kann noch freiwillig besucht werden, der Vollzeit-Kindergartenbesuch ist obligatorisch. Susanne Käslin Abklärungsprozedere im Oberwallis Die Anmeldung von Eltern, Ärzten usw. geht direkt an das Sekretariat des HPD, das in Glis angesiedelt ist. Die Sekretärin schickt anschliessend ein Formular, in dem sich die Eltern einverstanden erklären, dass die fachlichen Instanzen Auskünfte einholen können. Dann wird dieses Formular mit der Unterschrift der Eltern an das Amt für Frühberatung in Sitten geschickt, das bei der Dienststelle für die Jugend angesiedelt ist. Die Vorsteherin sammelt allfällige Berichte (insbesondere Arztbericht, Kurzabklärung HFE) sowie weitere Grundlagen und entscheidet dann zusammen mit dem Dienstchef, ob Früherziehungsmassnahmen zugesprochen werden oder nicht. Nach Eintreffen der Verfügung beginnt die förderdiagnostische Arbeit durch den HPD. Die Eltern erhalten dann eine Verfügung, die bei Bedarf in einem Gespräch mit der zuständigen Früherzieherin, mir als Leiter und der Vorsteherin des Amts für Frühberatung verlängert werden kann. Einmal pro Jahr müssen wir einen BVF-Forum

kurzen Jahresbericht an das Amt für Frühberatung schicken. Julian Vomsattel HFE Abklärungsverlauf im Kanton AR (+ AI) HFE wird in den Kantonen AR und AI seit dem 1. August 2009 durch die Bildungsdirektion AR angeboten und ist den 3 regionalen ZEPT´s (Zentren für Schulpsychologie und Therapeutische Dienste) eingegliedert. Anmeldungen zur HFE Zur Anmeldung berechtigt sind sowohl die Eltern als auch alle Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Mütter-/Väterberatung, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Spielgruppen etc. Das Einverständnis der Eltern bzw. des Vormundes ist in jedem Fall erforderlich. Wird ein Kind nicht von einer Fachperson angemeldet, bitten wir die Eltern, beim Kinderarzt wenn möglich eine Bestätigung der Notwendigkeit einer heilpädagogischen Abklärung einzuholen. Im Vorkindergartenalter gehen die Anmeldungen mittels amtlichen Formulars (das aber nicht immer benutzt wird) an die Leitung bzw. an das Sekretariat der ZEPT´s und dann direkt an die regionale Früherziehungsstelle. Nr. 77 Dezember 2011

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Ab Kindergartenalter sind die Anmeldungen an den regionalen Schulpsychologischen Dienst zu richten, der seinerseits eine (Vor-)Abklärung vornimmt und das Kind allenfalls der Früherziehung oder einer andern Massnahme zuweist. Durchführung der Abklärung Bei allen Kindern unternimmt die für die geographische Region zuständige Fachperson für HFE die Abklärung selber, in aller Regel alleine: Anamnese, freie Verhaltens- und Spielbeobachtung, standardisierte Entwicklungsskalen und Tests. Keine Verwendung von SAV. Die Abklärung nehmen wir im Elternhaus vor und teilen sie auf in: a) Gespräch mit den Eltern b) Beobachtung und Testung des Kindes. Zeitlimiten haben wir keine, wir versuchen uns jedoch auf ein Maximum von 2 Einheiten (= 3 Stunden) zu beschränken (ohne Bericht). Antragstellung Mittels amtlichen Formulars und eines beigelegten Abklärungsberichtes stellen wir Antrag zur Durchführung von HFE an die Bildungsdirektion AR bzw. AI. Unsere Anträge werden vorgängig von der Leitung der ZEPT´s geprüft und signiert.

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Kostengutsprache Kostengutsprache für HFE erteilt die Bildungsdirektion AR bzw. AI, jeweils für ein Jahr (=40 Einheiten à 1 ½ Stunden). Danach ist ein Verlängerungsantrag zu stellen. Bei Kindern aus dem Kanton AI ist schon für die Abklärung eine separate Kostenverfügung notwendig. Schlussbemerkung Seit der Kantonalisierung der HFE hat sich bei uns somit nicht viel verändert. Es bestehen keine klaren Kriterien für die Zusprechung von HFE. Im Allgemeinen gelten noch die alten IV-Kriterien. Nachteilig sind die enormen Verzögerungen, die bei Kindergartenkindern durch die Abklärungen des SPD´s entstehen. Käthi Leeser HFE von der Anmeldung bis zur Antragsstellung an den hfd lu Im Kanton Luzern erfolgt das Abklärungsprozedere für HFE intern in den Früherziehungsdiensten mit Bewilligungsverfahren durch die Geschäftsleitung (innerhalb Rahmen 135 Einheiten pro Kind und Jahr). In der Leistungsvereinbarung mit dem Kanton werden den Früherziehungsdiensten

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pauschal eine Anzahl Einheiten pro Jahr zugesprochen. • Anmeldung: Kinder werden schriftlich oder telefonisch der Stellenleitung angemeldet. Je nach Anmeldegrund erfolgen erste telefonische Abklärungen zur Situation des Kindes in seinem Umfeld durch die Stellenleitung. • Nach einer vereinbarten Wartezeit übernimmt die FE die Neuanmeldung. • In einem Telefon mit den Erziehungsberechtigen tauscht die FE wichtige Informationen aus und vereinbart einen ersten Gesprächstermin. • In der Regel findet das Erstgespräch am HFD statt. Inhaltlich werden erste anamnestische Angaben sowie die Fragestellung der Eltern erhoben. Zusätzlich bespricht die FE den Abklärungsauftrag, das Abklärungsprozedere sowie allgemeine Infos zur HFE. • In der Regel finden 2 bis 3 Abklärungstermine beim Kind zu Hause und am HFD statt (je nach Situation und eingesetzten diagnostischen Mitteln). Nach Möglichkeit werden mindestens bei einem Termin Interaktionssequenzen von Kind und Erziehungsberechtigten wie auch vom Kind selber (freie oder geleitete Spiel-/Testsituation) per Video aufgezeichnet. • Anschliessend erfolgt eine erste Auswertung der Ergebnisse durch die FE.

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• In einer Besprechung (Vieraugenprinzip) mit der dafür verantwortlichen Fachperson (Stellenleitung oder delegiertes Leitungsressort) werden die Ergebnisse diskutiert und die Indikation für HFE geprüft. Ausserdem skizzieren sie das weitere Vorgehen. • Im Auswertungsgespräch mit den Erziehungsberechtigten bespricht die FE die Ergebnisse der Abklärung mit Bezug auf die Fragestellung. Das weitere Vorgehen und allfällige Zielsetzungen der HFE werden festgelegt. Die Erziehungsberechtigten haben die Möglichkeit, nach einer Bedenkzeit mitzuteilen, ob sie HFE wünschen. • Die FE stellt Antrag an die Geschäftsleitung, welche den Antrag prüft. Je nach Indikation erfolgt eine Durchführungsbestätigung für die Dauer der Abklärung oder für HFE während maximal zwei Jahren respektive bis zum obligatorischen Schuleintritt. Nach einer erneuten Standortbestimmung besteht die Möglichkeit einer weiteren Antragsstellung für die Verlängerung der HFE bis maximal zwei Jahre nach Schuleintritt. Ein Auswertungsbericht geht an die Eltern und in deren Einverständnis an involvierte medizinische und therapeutische Instanzen (sofern sie die Anmelder sind).

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Vor-/Nachteile + durch internes Vieraugenprinzip mittels Videointervision kann das Abklärungsverfahren effizienter gestaltet werden. + Verfahren bleibt intern, wird aber trotzdem durch die Zweitmeinung im Vieraugenprinzip und mit der Überprüfung durch die GL intersubjektiv überprüfbar. - in dieser Form der Kurzabklärung geht es nicht um die Erfassung eines Gesamtbildes von Kind und Umfeld. Festgestellt wird lediglich die Indika-

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tion für/gegen Heilpädagogische Früherziehung. Der differential- und förderdiagnostische Prozess wird weitergeführt. Fragen Mit der Angebotserweiterung ‚Logopädie im Frühbereich’ stellen sich neue Fragen betreffend Durchführung und Verantwortlichkeiten des Abklärungsverfahrens, welche noch geklärt werden müssen Silvia Felber, Petra Gnos

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Abklärung in der Heilpädagogischen Früherziehung 

Francesca Kühnis-Dietz, Käthi Leeser Villiger

Abklärung in der Heilpädagogischen Früherziehung Anmeldung Der 4 jährige Jonas wird uns vom Kinderarzt mit Verdacht auf Verhaltensstörung und Sprachverzögerung angemeldet. Jonas ist der ältere von 2 Knaben, er hat einen 2 jährigen Bruder. Er besucht die Spielgruppe und sollte in 2 Monaten in den öffentlichen Kindergarten eintreten. Die Eltern sind Schweizer, der Vater erwerbstätig, die Mutter Familienfrau. Laut Arzt sorgen sich die Eltern, dass beide Knaben oft streiten. Jonas gehorche nicht, könne sich nicht an Regeln halten. Auch in der Spielgruppe falle es ihm schwer, sich in ein Spiel zu vertiefen, er wechsle den Spielgegenstand häufig. 1 Verhaltensstörungen und Sprachverzögerungen sind häufige Anmeldungsgründe. Ist Jonas ein Kind für die Früherziehung, da ein Zusammenhang zwischen diesen Verhaltensauffälligkeiten und seinem Sprachrückstand besteht? Oder eher ein Kind für die Logopädie und die Erziehungsberatung? Ich werde die Abklärung bald machen, da Entscheidungen bezüglich Kindergarteneintritt anstehen. Die Eltern haben die Möglichkeit, die Entwicklung von 1

Jonas mit dem kleineren Jungen zu vergleichen. Was sehen sie wohl? Was sind ihre Fragen und Sorgen? Ich werde sie beim ersten Kontakt genauer fragen. Gespräch mit Mutter Die Mutter berichtet mir bei meinem ersten Telefongespräch, dass Jonas am liebsten draussen oder mit Autos spiele. Er setze auch komplizierte Puzzles zusammen. Bilderbücher und Bauen interessierten ihn nicht. Ihnen bereitet Sorgen, dass alles immer nach seinem Kopf gehen müsse, mit immer den gleichen Abläufen. Überhaupt sei er sehr stur. Wenn viel Betrieb sei, ziehe er sich zurück oder werde aggressiv. Auch mit dem Essen sei es schwierig, er esse nur Teigwaren, Wurst und Schokoladenjoghurt, keine Früchte, kein Gemüse. Als Baby habe er viel geschrien, er habe sich lange Zeit auf dem Po rutschend vorwärts bewegt, sei kaum gekrochen. 1 Könnte bei Jonas eine taktilkinästhetische Wahrnehmungsstörung vorliegen? Ich werde darauf achten, wie er Spielgegenstände ergreift, ob er die Unterlage benützt, ob

Das kursiv gedruckte sind unsere Gedanken.

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 Abklärung in der Heilpädagogischen Früherziehung

er Probleme löst und dabei Varianten ausprobiert. Diese Informationen geben mir Hinweise auf seine Lernstrategien. Ich werde die Eltern fragen, wie er auf taktile Reize reagiert. Auch die Mundmotorik interessiert mich. Versteht er symbolische Funktionen und spielt er auch so? Um seine kognitiven Möglichkeiten zu testen, wähle ich den SON-R. Anhand des Albisbrunner-Karussells kann ich Informationen über sein Problemlöseverhalten, sein Symbolspiel und seine feinmotorischen Fähigkeiten gewinnen. Knete, Schere, Stifte, Papier, Klebestreifen, eine einfache Bilderbuchgeschichte, einen Ball und einen Apfel mit Schäler packe ich in meine Tasche. Was für ein Kind, was für eine Familie erwartet mich? Wird die Interaktion mit Jonas gelingen? Werden die Eltern Vertrauen fassen können? Abklärung zuhause Während ich mich mit den Eltern unterhalte, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie Jonas mit dem Karussell umgeht. Er sortiert gleiche Teile zueinander. Die Figuren kippen immer wieder um, er versucht sie mit gestreckten Fingern aufzustellen. Er beendet sein Spiel, ohne dass er weitere Möglichkeiten ausprobieren würde. Er ist im Begriff, das Spiel zu verlassen, für mich der Moment, ins gemeinsame Spiel einzusteigen. Ich versuche, ihn für ein Symbolspiel zu 44

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interessieren. Er nimmt mein Angebot auf, ohne eigene Ideen dazuzufügen und ohne besonderes Interesse zu zeigen. Ich schaue mit ihm das Bilderbuch an. Er interessiert sich für die abgebildeten Tätigkeiten, nicht aber für den Zusammenhang der Geschichte. Mir fällt auch auf, dass er in einfachen Mehrwortsätzen spricht, keine Fragen stellt. Im SONR Testverfahren erreicht er bei guter Kooperation einen IQ von 88, das Entwicklungsprofil ist heterogen. Ich entscheide mich, trotz sichtbarer Müdigkeit des Kindes, Kleber, Schere und Stift hervorzuholen. Ich stelle fest, dass es ihm gelingt, mit verkrampfter Fingerhaltung Schnitte ins Papier zu schneiden. Er zeichnet einen einfachen Kopffüssler ohne Hände und Füsse, wechselt beim Zeichnen und Schneiden die Hand. Es gelingt ihm, die Zeichnung mit dem Klebstreifen aufzuhängen. Beim Hantieren mit der Knete fällt mir auf, dass ihm die Druckanpassung schwer fällt. Während ich die gewonnen Informationen für mich bündle, um den Eltern eine Aussage machen zu können, schiebe ich Jonas Apfel und Schäler hin. Ich beobachte, dass er zwar schält, den Apfel aber nicht wendet, dass er auch isst, aber nicht richtig kaut. Vorläufige Information an die Eltern Bevor ich meine Beobachtungen zusammen fasse, frage ich sie, wie Nr. 77 Dezember 2011

Abklärung in der Heilpädagogischen Früherziehung 

sie Jonas während der Abklärung erlebt haben. Sie sind überrascht, wie ausdauernd und motiviert Jonas mitgemacht hat und zu welchen Leistungen er fähig ist! Ich bestätige ihre Beobachtungen und freue mich mit ihnen. Im Gespräch kommen wir nochmals auf ihre Fragen und Sorgen zurück. Ich sehe die gleichen Probleme wie sie. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Jonas im Spiel wie im Alltagsverhalten in seinen bekannten Mustern verharrt, wenig Neues selber entdecken kann, dass er Hilfe und bestimmte Bedingungen braucht, um sich durch eigenes Tun Neues zu erarbeiten. Ich vermute taktil-kinästhetische Wahrnehmungsprobleme, die sich sowohl auf Verhalten, Spiel und Sprache auswirken. Ich mache den Eltern das Angebot, einerseits mit Jonas in Spiel- und Handlungssituationen Neues zu ler-

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nen, andererseits mit ihnen erzieherischen Fragen zu besprechen. 1 Ich spüre, dass die Eltern meinem Vorschlag vorsichtig zustimmen, ohne noch zu wissen, was die Früherziehung für sie bedeuten wird. Das ist der erste Schritt unseres gemeinsamen Prozesses, in dem wir laufend neue Beobachtungen und Erklärungsmöglichkeiten austauschen und anstehende Themen besprechen werden.

Francesca KühnisDietz, HPD SG-GL

Käthi Leeser Villiger, HFE AI-AR

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 Diagnostik 1999 und heute

Jeannine Strässle Küng und Brigitte Eisner-Binkert

Diagnostik 1999 und heute Veränderungen in der diagnostischen Arbeit am Beispiel des HPD Zug Der BVF hat 1999 eine Umfrage gestartet zu den diagnostischen Erfassungsinstrumenten in der Heilpädagogischen Früherziehung. Was hat sich seither bezüglich Testverfahren und Abklärungsprozess verändert? Das Konkordat zur Zusammenarbeit im sonderpädagogischen Bereich hat aktuell grossen Einfluss auf die Abklärungspraxis von verschiedenen Diensten. Der Kanton Zug ist diesem Konkordat nicht beigetreten. Im neuen Sonderschulkonzept des Kantons Zug ist festgelegt, dass der HPD Zug weiterhin Abklärungsstelle im Frühbereich ist. Aber auch unsere Abklärungspraxis hat sich in den letzten Jahren verändert. Insbesondere drei Aspekte haben den Entwicklungs- und Veränderungsprozess unserer diagnostischen Arbeit geprägt. Es sind dies die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), die Entwicklung des SAV (Standardisiertes Abklärungsverfahren) und das Erscheinen neuer diagnostischer Verfahren. Ein erstes Mal wurden wir mit der ICF an der LeiterInnentagung (heute MV VHDS) vom März 2003 konfrontiert. Frau Prof. Dr. Judith Hollenweger hat damals auf eindrückliche Art versucht, uns die Bedeutung der ICF 46

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näher zu bringen. Die Eigenschaften der ICF (Bio-psycho-soziales Verständnis, Universalität, Kontextabhängigkeit, phänomenologische Situationsbeschreibung, Transdisziplinarität) faszinierten uns, so dass in der Folge eine auf den Lebensbereichen der ICF (Aktivitäten und Partizipation) basierende Gesprächsform entstand, die heute im HPD Zug als eine Möglichkeit zur Gesprächsführung zur Auswahl steht. Auf einfache Art wird diskutiert, was ‚bereits gut geht‘ und welche Ziele anzustreben wären. Die Ergebnisse werden dann entlang der Lebensbereiche (die bei Bedarf durch Symbole visualisiert werden) festgehalten. Diese Gesprächsform ist nicht zu verwechseln mit dem Schulischen Standortgespräch (SSG), das bereits eine grosse Verbreitung gefunden hat und zu dem seit diesem Jahr auch eine Version für den Frühbereich (in verschiedenen Sprachen) vorliegt. Mehr zu diesem Verfahren finden Sie unter http://www.vsa.zh.ch  Schulbetrieb und Unterricht  Sonderpädagogisches. Auch die Entwicklung des SAV hat den Abklärungsprozess beim HPD Zug geprägt. Zum einen entstand ein auf der ICF basierendes Antragsformular, zum andern geht heute jedem Nr. 77 Dezember 2011

Diagnostik 1999 und heute 

Entscheid, ob ein Antrag gestellt werden soll oder nicht, ein 4-AugenGespräch voraus. In diesem Gespräch unter Kolleginnen werden die Testresultate, Beobachtungen und Gesprächsinformationen diskutiert, interpretiert und der Bedarf abgeleitet. Gleichzeitig werden mögliche Zielsetzungen und das Setting besprochen. Das 4-Augen-Gespräch ist Grundlage für das Abklärungsgespräch mit den Eltern sowie für die Antragsstellung und die Zielvereinbarung. Es ist aus unserem Alltag nicht mehr weg zu denken. Obwohl die ICF heute weltweit anerkannt ist, ist noch kein Test auf der Grundlage der ICF erschienen! Es gibt jedoch eine Zusammenstellung, die die Kompatibilität einzelner Tests mit ICF überprüft hat. In dieser Auflistung sind aber auch Tests, die heute als ‚veraltet‘ gelten müssen. Als ‚veraltet‘ gilt ein Testverfahren, das vor mehr als 10 Jahren normiert worden ist. Denn die Normwerte können aufgrund von gravierenden kohortenbezogenen Leistungsveränderungen maximal für zehn Jahre präzise Leistungseinschätzungen gewährleisten. Ältere Intelligenztests weisen demnach eine zu hohe Intelligenz aus, ältere Motoriktests hingegen ergeben zu schlechte Resultate gemessen an der durchschnittlichen heutigen Leistungsfähigkeit. Bezüglich Testdiagnostik hat sich seit 1999 beim HPD Zug einiges verBVF-Forum

ändert. Und trotzdem: damals wie auch heute verwenden wir am HPD Zug am häufigsten den – eigentlich veralteten - SON-R 2.5-7! Er konnte bisher durch keinen vergleichbaren neuen Test ersetzt werden. Die heute noch sehr beliebte, veraltete K-ABC (1999 laut Umfrage noch der am zweithäufigsten angewandte Test) wird langsam zumindest bei einem Teil der Kinder durch die IDS abgelöst. Die IDS (Intelligence and Development Scales) ist ein neues Verfahren für 5-10 jährige Kinder zur differenzierten entwicklungspsychologischen Standortbestimmung für die kognitive Entwicklung (Intelligenz) sowie auch für die allgemeine Entwicklung. Die IDS 3-5 sollte 2012 erscheinen. Den Kramertest, der 1999 an dritter Stelle rangierte, haben wir ausgemustert. Den Raven (Rang 4) brauchen wir nur noch in spezifischen Situationen. Den HAWIVA, der in der Umfrage von 1999 an letzter Stelle rangierte, brauchen wir heute in der überarbeiteten Form (WPPSI III, Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence - III, deutsche Version). Auch die WPPSI-III wird jedoch nur in Situationen mit spezifischen Fragestellungen eingesetzt. Längere Zeit suchten wir nach einem Test für kleine Kinder. Die MFED (Münchner funktionelle EntwickNr. 77 Dezember 2011

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 Diagnostik 1999 und heute

lungsdiagnostik) fiel aus ‚Altersgründen‘ aus dem Rennen. Schliesslich haben wir die BSID II (Bayley Scales of Infant and Toddler Development), deutsche Version 2007, angeschafft. Die deutsche Bearbeitung bezieht sich auf die kognitive und die motorische Skala und erlaubt zusätzlich eine Verhaltensbeobachtung (Behavior Rating Scale). Die Bayley Scales haben sich vorrangig zur Diagnose von Entwicklungsverzögerungen und zur Planung von früher Förderung von Kindern zwischen 1 und 42 Monaten bewährt. Trotzdem brauchen wir auch heute in der Entwicklungsdiagnostik noch häufig das PEP-R (Psycho-educational-Profile-R). Die OSE (Ordinalskalen zur sensomotorischen Entwicklung Uzgiris & Hunt) kommen heute eher weniger zum Einsatz. Bei Kindern zwischen 3-6 benutzen wir je nach Situation auch den WET (Wiener Entwicklungstest, 2002). Zur Beurteilung des Entwicklungsstandes wurden schon 1999 Fremdbeurteilungsverfahren angewandt, allen voran das Vademecum (1988) von Ines Schlienger. Wir verwenden es noch heute mit grosser Regelmässigkeit. Es ist leicht anzuwenden, existiert in verschiedenen Sprachen und – für die diagnostische Arbeit in der HFE unschätzbar – stellt die Einschätzung der Eltern in den Vordergrund. Auf dieser Basis kann mit der 48

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nötigen Vorsicht (motivationale Verzerrungen) anschaulich über den Entwicklungsstand des Kindes gesprochen werden. Mit dem gleichen Ziel verwenden wir für Kinder von der Geburt bis zum 72. Lebensmonat auch die Entwicklungstabelle von Beller. Ein weiteres Fremdbeurteilungsverfahren, das wir bei fast allen Kindern verwenden, ist der Fragebogen zur Erfassung des Verhaltens, SDQ (Strengths & Difficulties Questionnaires). Er kann leicht von Eltern und Kindergartenlehrperson ausgefüllt werden und ist gratis in über 70 Sprachen downloadbar unter http:// www.sdqinfo.com. Ein weiteres Fremdbeurteilungsverfahren im Bereich Verhalten ist die CBCL1 ½ -5 (Child Behavior Checklist), ein Elternfragebogen für Kleinund Vorschulkinder oder die CBCL 4 -18. Diese Fragebogen sind in der Handhabung ein wenig aufwändiger, geben aber auch differenziertere Resultate. Noch aufwändiger in Anwendung und Auswertung ist der VBV 3-6 (Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder), den wir nur bei spezifischen Fragestellungen verwenden. Bezüglich Sprache enthielt die Liste von 1999 nur das Entwicklungsprofil nach Zollinger sowie den Pizzamiglio. In diesem Bereich haben sich bei uns wohl die grössten Veränderungen ergeben. Neben dem Nr. 77 Dezember 2011

Diagnostik 1999 und heute 

Sprachscreening für das Vorschulalter (SSV) benutzen wir den Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK 2) sowie den Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5). Zur Früherkennung von Risikokindern kamen bis vor kurzem die Elternfragebogen ELFRA I und ELFRA II zum Einsatz. Heute jedoch brauchen wir neu die Sprachbeurteilung durch Eltern SBE2-KT sowie SBE-3-KT. Die SBE-2-KT kann unter http://www.kjp.med.unimuenchen.de  Forschung  Sprachentwicklung in 30 Sprachen gratis heruntergeladen werden, die SBE-3-KT steht in deutscher Sprache zur Verfügung. Der HPD Zug besitzt noch weitere Testverfahren zur Beurteilung der Sprache, dies aber hauptsächlich im Zusammenhang damit, dass auch Logopädie im Frühbereich beim HPD Zug angesiedelt ist. Der 1999 noch sehr beliebte Pizzamiglio verstaubt im Gestell. Natürlich verwenden wir auch weitere spezielle Entwicklungstests. Der MOT 4-6 (Motoriktest) wurde bei uns abgelöst durch die M-ABC (Movement Assessment Battery for Children von 3 bis 17 Jahren), der FEW (Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung) durch den FEW 2 (2. Deutsche Fassung des Developmental Test of Visual Perception, Second Edition, DTVP-2). Die Wichtigkeit der Beurteilung der Entwicklungsbedingungen ist auch BVF-Forum

beim HPD Zug unbestritten. In diesem Bereich gibt es jedoch noch wenige Verfahren, die wir regelmässig anwenden. Ab und zu verwenden wir den ESF (Elternstressfragebogen), das Steiner-Rad zur Erfassung der elterlichen Bedürfnisse oder die Skalen zu familiären Ressourcen (Übersetzung von Ines Schlienger). Da wir bei allen Kindergartenkindern nachweisen müssen, dass HFE nicht nur kindbezogen, sondern auch vom Familiensystem her notwendig ist, wenden wir in diesem Alter in jedem Fall eine Vorgängerversion des Anamnesegesprächsleitfadens des Verfahrens zur Erfassung von entwicklungsgefährdeten Kindern von 3 - 6 Jahren an. Seit 1999 hat sich vieles verändert – wir sind aber auch heute noch ständig auf der Suche nach Tests und Verfahren, die kleinen Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten gerecht werden. Wir versuchen zu unterscheiden, welche Instrumente es für einen Finanzierungsantrag braucht und welche Tests und Instrumente wichtige Hinweise für die Förderdiagnostik geben. Oft gilt: weniger ist mehr! Ein gezielter Einsatz von Tests und genügend Zeit für eine genaue phänomenologische Beobachtung des Kindes und der Eltern-KindInteraktion sind uns wichtig. Tests, die von uns Früherzieherinnen schon mehrfach durchgeführt wurden, sind für uns besser förderdiagnostisch Nr. 77 Dezember 2011

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 Diagnostik 1999 und heute

L C G Q E B E L V A C M

R B Z O U P O S T E S T

WN C L B K E Y L T B C A N E R S E MM HW S B G I

H J V B V R L T F T E B

F B M A B C P K I H A M

B B M R P I M E S C R I F

G E E N V B O P O P G U W

N L S D Q S T N E E H P

N L M K A I O R Y L G T

M J K E R V G F A C E D F W E D DM V C E J D C R K U C L M F R A W E T Y I O

Suchrätsel Testverfahren

auszuwerten. Das Erfahrungswissen hilft, dass gleichzeitig genau beobachtet werden kann und dass aus den Testresultaten die richtigen Schlüsse gezogen werden können. Heute stehen uns sicher mehr Erfassungsinstrumente zur Verfügung als noch 1999. Doch Tests stellen für uns Früherzieherinnen immer nur Mittel zum Zweck dar. Durch ein differenziertes Betrachten von Schwierigkeiten und Ressourcen gelingt es uns besser, ideale Bedingungen zu unterstützen, in denen sich das Kind optimal entwickeln kann. Und diese konkrete Entwicklungsunterstützung wird vor allem

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durch alltägliches, theoriegeleitetintuitives Handeln und Spielen mit dem Kind sowie durch Beratung der Eltern erreicht. Jeannine Strässle Küng Heilpädagogische Früherzieherin HPD Zug Brigitte EisnerBinkert Heilpädagogische Früherzieherin HPD Zug

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40 Jahre ISP - Kooperation und Beratung mit Familien

Prof. Dr. Christine Meier Rey

40 Jahre ISP Kooperation und Beratung mit Familien Das Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der PH FHNW feierte im Jahr 2011 sein 40jähriges Bestehen. Im Rahmen des Jubiläums wurde am 2. November 2011 in Olten eine Podiumsveranstaltung zum Thema „Kooperation und Beratung mit Familien – Heilpädagogische Früherziehung im Dialog“ durchgeführt. Mehr als 40 interessierte Fachpersonen folgten der Einladung. Unter der Leitung von Prof. Dr. Christine Meier Rey diskutierten Dr. Ines Schlienger (Beratung, Supervision, Coaching, Teamentwicklung, Organisationsentwicklung Zürich), lic. phil. Dora Gutweniger (Bereichsleitung Therapie und Beratung Arkadis Olten), Theresa Demarmels (Psychomotoriktherapeutin und Studentin Heilpädagogische Früherziehung Cham) und Nathalie Lalonde (Mutter Basel). Im Zentrum der Diskussion standen Fragen nach Gelingensbedingungen für Kooperation und Beratung mit Familien, wie auch praktizierte Bera-

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tungsformen und –settings. Der Ausdruck einer wertschätzenden Haltung gegenüber den Eltern, wie auch die Verantwortung für den Aufbau und die Gestaltung einer guten Beziehung zu den Eltern wurden in der Diskussion hervorgehoben. Die Eltern werden als Experten in eigener Sache einbezogen. Auf diesen Grundlagen werden in der Heilpädagogischen Früherziehung vielfältige Beratungsformen eingesetzt. Die Voten der Podiumsteilnehmerinnen wurden in der anschliessenden Diskussion mit den Gästen bekräftigt und angereichert. Beim nachfolgenden Apéro wurde das 40jährige ISP Jubiläum gefeiert. Prof. Dr. Christine Meier Rey, Dozentin Professur IDH, ISP Basel

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Rezensionen

Rezensionen Relationale Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen und Familien Eine Einführung in das Therapiemodell des Institut KJF beruhend auf den Konzepten von Ch. Begemann, S. Erb, S. Hochstrasser, J. Jung, R. Müller und M. Trenkel Von J. Jung. Institut für Kinder, Jugendlichen- und Familientherapie KJF Luzern 2010. CHF 34.Das Buch gibt eine detaillierte Einführung in Theorie und Praxis der relationalen Psychotherapie, wie sie am Luzerner Institut für Kinder, Jugendlichen- und Elterntherapie KJF praktiziert wird. Es vermittelt einen Einblick in Ideologie und Herleitung sowie Umsetzung bzw. Anwendung dieses therapeutischen Modells. Dieses wurde von den Mitgliedern der Leitung des Instituts entwickelt. Die therapeutische Beziehung steht im Zentrum. Im ersten Teil werden die Grundlagen des Therapiemodells aufgegriffen. Sie setzen sich zusammen aus analytischer und systemischer Herkunftsbeschreibung und nehmen Bezug zur Bindungstheorie, zu verschiedenen entwicklungstheoretischen Konzepten wie der psychoanalytischen und konstruktivistischen

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Forschung und der Säuglingsforschung. Zudem werden erklärende Informationen über Elemente der Diagnostik, über juristische und ethische Aspekte gegeben. Im zweiten Teil wird die praktische Umsetzung beschrieben. Diese ist gegliedert in Anamnese, Diagnostik, Ziele und Auftrag und skizziert im weiteren therapeutisches Setting, Prozess und Haltung in der relationalen Psychotherapie. Es werden klassische Elemente therapeutischer Konzepte und Techniken aufgezeigt ebenso auch der Abschluss einer Therapie. Im dritten Teil werden Hintergrund und Entstehung des Institutes KJF beschrieben. Verschiedene der beschriebenen Elemente können gut auf die Arbeit in der Heilpädagogischen Früherziehung adaptiert werden da sie wertvolle Hinweise zu Gesprächs- und Fallführung sowie Inputs für den Umgang mit Menschen in schwierigeren Lebenssituationen liefern. Das Modell wird in Weiterbildungen am Institut gelehrt – ganz nach dem Motto ‚von Praktikern für Praktiker‘. Barbara Jäger

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Rezensionen

Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und Realität Speck, Otto. München Reinhardt 2010. 151 Seiten. CHF 33.50. “Die soziale Integration von Menschen mit Behinderungen ist ein spätes Ergebnis der sozio-kulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft” (S.11). Mit diesen Worten führt der grosse Denker, ja Vordenker der Heilpädagogik in das Thema der schulischen Inklusion ein. Er tut dies mit makrosystemischem Weitblick. Speck verweist auf den grundlegenden Wandel bewährter Traditionen (S.20), um Leistungserwartungen und Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zu genügen. Er verweist aber auch auf die Bereitschaft der Heilpädagogik, sich mit Wissenschaftlichkeit und handlungsleitenden Grundsätzen für ein inklusives Schulsystem einzusetzen. Die Analyse des makrosozialen Rahmens bezieht sich auf Deutschland und ist als solche nicht auf die Schweiz übertragbar. Auch die “kritische Zwischenbilanz” zur schulischen Integration (S. 31-55) fokussiert auf die Bundesländer. Die Schlussfolgerungen hingegen sind vergleichsweise auch für die Schweiz gültig: Integration ist komplex und im Schnittfeld von strukturellen Rahmenbedingungen, von finanziellen und personellen Ressourcen so-

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wie der Zusammenarbeit mit den Eltern und deren Rechte zu realisieren. Alle, die Integration über den Einzelfall hinaus vorantreiben wollen, finden fundierte Gedankengänge zu den Zielbegriffen der Integration (S. 18-20) sowie zur Inklusion (60-72), finden sie einen internationalen Vergleich der Integrationsbewegung im Ausland. Integration und Inklusion werden im Buch nicht schöngeredet, auch nicht im Kapitel zur “frühkindlichen Bildung für alle” (S. 136-141). Mit kritischer Distanz zum Erreichten und mit scharfer Analyse der aktuellen Situation in Deutschland kommt Speck zum Schluss, dass es “eine wirkliche Weiterentwicklung gemeinsamen Lernens im Vorschulbereich nur geben könne, wenn das Gesamtkonzept der Kindertagesstätten so grundlegend verändert wird, dass alle Kinder, also auch behinderte, in allen Kindergärten gemeinsam und mit Erfolg lernen können” (S. 139). Hier schliesst sich der Kreis mit dem Verweis auf Rahmenbedingungen struktureller, personeller, finanzieller Art sowie auf den erklärten politischen Willen, der diese Rahmenbedingungen erst ermöglicht. Kommt uns allen bekannt vor, nicht?

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Abkürzungsverzeichnis

Das Buch ist nicht einfach zu lesen, wer aber dranbleibt, wird in Fragen zur schulischen Inklusion fortan kompetent mitdiskutieren können,

sei es als HeilpädagogIn, als BildungspolitikerIn oder als Eltern. Andrea Burgener Woeffray

Abkürzungsverzeichnis ARPSEI

Association Romande des Praticiens en Service Educatif Itinérant

astp

Schweizerischen Verband der Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeuten (Association Suisse des Thérapeutes en psychomotricité)

DLV

Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband

EDK

Erziehungsdirektorenkonferenz

FHNW PH ISP Fachhochschule Nordwestschweiz Pädagogische Hochschule Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie HFE

Heilpädagogische Früherziehung

HfH

Hochschule für Heilpädagogik Zürich

HPD

Heilpädagogischer Dienst (weitere Abkürzungen HFD, HPF, FED…) Interessengruppe der freiberuflich tätigen FrüherzieherInnen

IG FF IG FHS

Interessengemeinschaft Föderation der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen Schweiz

NFA

Neugestaltung des Finanzausgleiches und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen

SZH

Schweizerisches Zentrum für Heilpädagogik

VHDS

Verband Heilpädagogischer Dienste Schweiz

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Spielidee

SPIELIDEE-BAZAR Titel:

Eskimo

Autor:

Karin Mellert

Verlag:

Herder Spiele

Verpackungs-Grösse:

36x26x3

Alter:

Ab 4 Jahren

Anzahl Spieler: Spieldauer:

2 – 4 Spieler Ca. 15 Minuten

Spielmaterial:

Karton, Holz

Inhalt (zusammengefasst):

1 Spielbrett, 4 Spielfiguren, 1 Eisbär, 1 Sonne, 15 Fische

Spielidee:

Wer hat am Ende des Tages mehr Fische, die Eskimos zusammen oder der Eisbär?

Spielregel (Verständlichkeit):

Die Eskimos angeln Fische, um sie über dem Feuer zu braten. Doch manchmal wacht der hungrige Eisbär auf und stiehlt einem Eskimo den Fisch.

Variationsmöglichkeiten:

Das Spiel eignet sich sehr gut zum Nachbasteln.

Förderbereich:

Regeln einhalten, abwechseln. Zählen und Mengen erkennen. Frustrationstoleranz und miteinander spielen.

Bisherige Erfahrungen:

Den Kindern macht das Spiel grossen Spass.

Nadine Plüss, stiftungNetz, Zweigstelle Windisch

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Vorankündigung

„Alle zusammen – Jede(-r) für sich?“ Gelingende Netzwerkarbeit in der Heilpädagogischen Früherziehung

Vorankündigung Freitag, 16. November 2012, HfH Zürich Im Mittelpunkt der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) stehen Kinder im Vorschulalter, deren Entwicklung gefährdet oder behindert ist. Ihnen und ihren Eltern bietet die HFE Unterstützung, Beratung und Begleitung. Ziel ist es, dem Kind in und mit seinem Umfeld optimale Entwicklungsbedingungen zu gestalten. Dazu bedarf es – je nach Ausmass und Thematik der kindlichen und familiären Bedürfnisse – nicht nur einer, sondern mehrerer Fachpersonen. Damit ein haltendes und sinnvolles Netz für die Familie entstehen kann, ist somit gelingende Interdisziplinarität eine zentrale Voraussetzung. Die Tagung beleuchtet aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch, provokativ und begutachtend die Bedingungen und Vorgehensweisen effektiver Zusammenarbeit. Fachvertreter aus der Philosophie, der Wirtschaft, der Sozialarbeit, aus der Justiz und aus der Heil- und Sonderpädagogik melden sich zu Wort. Die Tagung richtet sich an Fachpersonen aus der Heilpädagogischen Früherziehung, der Logopädie, der Psychomotorik, den Kindergärten und schulischen Eingangsstufen, der Physio- und Ergotherapie und an alle Interessierte. Details zur Tagung finden Sie ab Frühjahr 2012 auf unserer Homepage www.hfh.ch.

Leitung Christina Koch Gerber / Dr. phil. Lars Mohr

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Weiterbildungskurse

Weiterbildungskurse 2012 für Fachpersonen mit heilpädagogischen, sozialpädagogischen und pädagogisch-therapeutischen Anliegen

■ Vereinbarungskultur als Basis einer fruchtbaren Zusammenarbeit Mittwoch, 18. Januar 2012 in Brugg

■ Kleine Zeitinseln für mich – wie gehe ich mit meinen Ressourcen um? Freitag, 9. März (ganzer Tag) plus zwei Freitagnachmittage, 1. Juni und 7. Sept. 2012 in Brugg

■ Eltern sprachauffälliger Kinder zielgerichtet unterstützen Samstag, 31. März 2012 in Uster

■ Die lösungsorientierte Haltung in der Zusammenarbeit mit Eltern Freitag, 4. Mai 2012 in Zug

■ Mehr Leichtigkeit – älter werden im Beruf Montag, 4. Juni 2012 in Brugg

■ MARTE MEO Eltern BEFÄHIGEN – aus eigener Kraft NEUE WEGE zu gehen

Freitag,15. Juni 2012 in Zürich

■ Zusammenarbeit im Klassenzimmer Samstag, 8. September und 27. Oktober 2012 in Zug

■ Aus der Vielfalt von Beobachtungen Förderziele festlegen Samstag, 22. September 2012 in Brugg

■ Der Übergang vom sensomotorischen zum präoperativen Denken Freitag / Samstag,16. / 17. November 2012 in Zug

Weitere Kursangebote, die wir auf Anfrage anbieten (Abrufkurse) sowie die detaillierten Kursausschreibungen finden Sie auf unserer Website: www.netzwerkweb.ch Regina Jenni in Brugg Christine Schmid-Maibach in Zug Stina Steiner-Sondheimer in Uster

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T 056 450 33 65, [email protected] T 041 710 34 68, [email protected] T 044 941 53 34, [email protected]

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Weiterbildungskurse

www.ief-zh.ch __________________________________________________________

Fortbildung Systemisches Elterncoaching Innovative Konzepte nach Haim Omer, Maria Aarts, Heiner Krabbe u.a. Fortbildung für Fachleute, die Eltern in Erziehungs- und Konfliktsituationen beraten und unterstützen. Leitung: Anna Flury Sorgo Beginn: 2. April 2012—12. April 2013 Dauer: 13 Tage

Marte Meo Basis Marte Meo ist ein innovatives, videounterstütztes Interventionsmodell für alle psychosozialen Felder, in denen es um die Unterstützung und Begleitung von Entwicklungs– und Lernprozessen geht. Leitung: Christine Kellermüller Beginn: 25. Januar 2012 Dauer: 3 x 2 Tage __________________________________________________________ Informationen und Anmeldungen: IEF Institut für systemische Entwicklung und Fortbildung Voltastrasse 27, 8044 Zürich Tel. 044/362 84 84, [email protected], www.ief-zh.ch

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Vorstand und Geschäftsstelle

Vorstand und Geschäftsstelle Barbara Jäger Heilpädagogischer Dienst St. Gallen-Glarus, Flurhofstr. 56, 9000 St. Gallen Tel. 081 710 57 13 [email protected]

Präsidentin Ressort Personal und Vernetzung

Rosmarie Schär Häller Stiftung Arkadis, Aarauerstr. 10, 4600 Olten Tel. 062 287 00 00 [email protected]

Vizepräsidentin Ressort Beruf und Praxis

Gabi Kanzler-Jenny Frühberatungs– und Therapiestelle für Kinder der RGZ-Stiftung Bahnhofstrasse 234, 8623 Wetzikon Tel. 044 930 15 55 [email protected]

Kassierin Ressort Finanzen

Geraldine Lochmatter-Imboden FED Bern, Zweigstelle Burgdorf Jungfraustrasse 52, 3400 Burgdorf Tel. 034 422 45 15 [email protected]

Beisitzerin Ressort Medien

Geschäftsstelle Brigitte Eisner-Binkert Kreuzbuchstr. 29, 6006 Luzern Tel 041 240 56 71 [email protected]

Geschäftsstellenleiterin

Sekretariat Judith Duft-Waser Habsburgerstrasse 20, 6003 Luzern Tel. 041 240 15 82, Fax 041 240 07 54 [email protected]

Sekretärin

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Anmeldung BVF-Mitgliedschaft

Anmeldung zur BVF-Mitgliedschaft Sie können sich auch über www.frueherziehung.ch anmelden! Name: .....................................................Vorname: ................................................. Adresse: ..................................................PLZ/Ort: .................................................... Tel. privat:..............................................Tel. Geschäft: ........................................... E-Mail: ...................................................................................................................... Ausbildung: .............................................................................................................. Arbeitgeber: ..............................................................................................................

 Ich wünsche weitere Informationen über den BVF  Bitte nehmen Sie mit mir Kontakt auf Ich möchte dem Berufsverband beitreten als:

 Aktivmitglied Mitgliederbeitrag Fr. 300.-/Jahr Als Aktivmitglied kann aufgenommen werden, wer früherzieherisch tätig ist (in Praxis, Lehre oder Forschung).

 Passivmitglied Fr. 90.-/Jahr Personen, die an der Förderung des Verbandes und an der Verwirklichung seiner Ziele interessiert sind, aber die Bedingungen der Aktivmitgliedschaft nicht erfüllen, können Passivmitglied werden.

 Kollektiv Fr. 160.-/Jahr Für Organisationen, deren Mitglieder oder Angestellte nicht Aktivmitglied des BVF werden können, besteht die Möglichkeit einer kollektiven Passivmitgliedschaft. Ort/Datum: .............................................Unterschrift:............................................. Bitte einsenden an: BVF-Geschäftsstelle, Brigitte Eisner-Binkert, Kreuzbuchstr. 29, 6006 Luzern 60

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