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DRAMEN, DISKURSE, INTERMEZZI. DIE SONATEN OP. 53 BIS OP. 90 Die übliche Gliederung der Klaviersonaten Beethovens in diachrone Einheiten (»früh«, »mittel«, »spät«) und die Probleme, die dabei entstehen, wurden in der Einleitung erläutert und begründet. Im Folgenden wird es um die zweite Gruppe der sogenannten »mittleren« Klaviersonaten Beethovens gehen. Sie setzt sich schon dadurch von den früheren bis Opus 31 ab, dass Beethoven bei der Suche nach neuen Wegen erstmals von der Dreiund Viersätzigkeit zu einer Anlage aus nur zwei Sätzen findet. Dabei sind die Zweisätzigkeit ebenso wie die früheren Lösungen mit mehr Sätzen ebenso begründet wie jeweils individuell ausgeführt. Letztlich war die Satzzahl der Klaviersonate nicht derart normiert wie die der anderen führenden Instrumentalgattungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Sinfonie, Streichquartett und Solokonzert. Die Konzertsinfonie war seit Haydn viersätzig, desgleichen das Streichquartett, während das Konzert in der Regel drei Sätze umfasste. In der Klaviersonate hatte sich durch Johann Chr. Bach, Haydn und Mozart zwar ebenfalls ein deutlicher Trend zur Dreisätzigkeit herausgebildet. Daneben aber gab es, vor allem bei italienischen Komponisten, zahlreiche Werke mit nur zwei Sätzen, etwa bei Boccherini oder Clementi. Prägend für den Unterschied ist der leichtere Ton dieser meist aus zwei schnellen Sätzen bestehenden Klavierwerke, wie man ihn noch deutlich an den sogenannten »leichten Sonaten« oder »Sonatinen«, zum Beispiel auch in Beethovens Opus 49, ablesen kann. Von den sieben Sonaten der nun zu besprechenden Gruppe sind vier zweisätzig: die ersten beiden, Opus 53 und Opus 54, die letzte, Opus 90, sowie die eigentümlich entrückte Fis-Dur-Sonate op. 78. Die übrigen haben jeweils drei Sätze. Gänzlich verabschiedet zu haben scheint sich Beethoven von der Viersätzigkeit, die er doch mit seinem ›Opus 1‹ der Klaviersonaten, der f-MollSonate op. 2/1, eingeführt und zehn Mal genutzt hatte, sogar noch in der letzten der vorangehenden Gruppe, der Es-Dur-Sonate op. 31/3. Vor diesem Hintergrund ist das letzte viersätzige Werk Beethovens umso bemerkenswerter: Opus 106. Es gehört ins sogenannte »Spätwerk« und bildet eine Art resümierenden Rückblick auf die Gattung. Die Zweisätzigkeit dagegen ist ein Kennzeichen der »mittleren« Sonaten, die mit Anlage und Charakter der »leichten Sonaten«, so eigentümlich es klingen mag, durchaus, wenngleich auf vertrackte Weise zu tun hat, zumindest in Opus 54, Opus 78 und Opus 90.

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Die Sonaten op. 53 bis op. 90

Ein Kennzeichen der hier behandelten Sonatengruppe ist ferner ihre Einzelstellung. Mit Opus 31 hatte Beethoven noch drei Werke zu einem Opus zusammengefasst und gemeinsam drucken lassen. Ab Opus 53 entstehen jedoch nur noch Einzelwerke. Dies ist gleichfalls ein Zeichen für eine erneut gewandelte Auffassung von der Sonate. Das Individuelle ihrer Problemstellung und Lösung, aber auch das besondere Gewicht, das Beethoven ihnen als Werk beimisst, wird schon äußerlich dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie in Individualdrucken erscheinen und jeweils eine eigene Opusnummer erhalten. Die Sonate wird, wie die Symphonie, zum Monolith. Nicht mehr auf die zyklische Beziehung dreier oder (wie in den »klassischen« Sonaten op. 14 und den »Fantasien« op. 27) zweier Werke, sondern allein auf das Einzelwerk kommt es nun an. Mit Opus 53 beginnt sich Beethoven auf die Idee zu konzentrieren, mit einer einzigen Sonate den entworfenen Problemkreis vollkommen abzustecken und auszufüllen. Es ist dies zugleich die Zeit, in der er auch mit der Eroica op. 55 und einem Konzept beschäftigt war, das der Symphonie eine völlig neue Position in der Gattungsgeschichte geben sollte. Freilich scheint Beethoven trotz dieser neuen Individualisierung der Sonate auch weiterhin am Gedanken einer übergreifenden zyklischen Konzeption festzuhalten: Denn die Sonaten op. 53, op. 54 und op. 57 z.B. lassen sich mit gutem Grund auch als WerkeZyklus begreifen – ebenso, wie spätere Sonaten sich zu Gruppen zusammenschließen, besonders deutlich die letzten drei Sonaten op. 109 bis op. 111. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung, Sonaten als Einzelwerke zu veröffentlichen, die lediglich aus zwei Sätzen bestehen, nur auf den ersten Blick befremdlich und nicht etwa ein Betrug am Kunden: Nicht die Anzahl der Sätze macht eine Sonate zum eigen- und vollständigen »Opus«, sondern die Schlüssigkeit ihres Konzepts und die Gewichtigkeit der Ausführung. Und dass die neue ›Form‹, wenn man die Zweisätzigkeit einmal so bezeichnen darf, schlüssig ist und auch Spielern ebenso wie Hörern durch und durch einleuchtet, das zeigt gleich die erste Sonate der Gruppe, die Waldsteinsonate. Es ist – neben der Pathétique, der sogenannten Mondscheinsonate sowie der Appassionata – die wohl berühmteste Klaviersonate Beethovens. Und der Grund ihrer Zweisätzigkeit ist ebenso ein Argument für uns, mit diesem Werk einen neuen Abschnitt im Gesamtkonzept der Sonaten Beethovens beginnen zu lassen.

Die Klaviersonate C-Dur op. 53 Waldsteinsonate

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VERLUST ALS GEWINN INDIVIDUELLER FORMLÖSUNGEN. DIE KLAVIERSONATE C-DUR OP. 53 WALDSTEINSONATE

1 Von Graf Waldstein stammt der berühmte Spruch, den er dem jungen Beethoven mit auf seinen Weg nach Wien gab: »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens Händen« (Faksimile bei Rexroth, Beethoven, S. 53). 2 Ries, Biographische Notizen, S. 101. 3 Bekannt als »Andante favori« WoO 57. Vgl. dazu den Beitrag von René Michaelsen, Mitteilungen aus der Nussschale [...], insbesondere: Verstecktes Virtuosenstück [...], S. 566–588, in diesem Band.

Die Waldsteinsonate, die ihren Namen vom Widmungsträger hat, Beethovens Gönner seit seinen Bonner Jahren1, war anfangs dreisätzig. Ferdinand Ries berichtet, Beethoven habe den ursprünglichen langsamen Mittelsatz herausgenommen, nachdem »ein Freund« die Sonate für zu lang befunden hatte.2 Das schon komponierte Andante wurde als Einzelsatz 1806 gedruckt.3 Stattdessen entstand die langsame »Introduzione«, die attacca zum Rondo-Finale überleitet. Trotz der Kürzung ist die Sonate aber immer noch eine der längsten Beethovens und länger als viele viersätzige. Als »sonata grande« im Autograph überschrieben gehört sie zu den tatsächlich »großen« und damit zugleich virtuosen Sonaten Beethovens. Von gleichem Typ, wenn man denn davon sprechen will, war zuletzt die andere große C-Dur-Sonate, die allerdings viersätzig ist: Opus 2/3. Wie diese scheint auch die Waldsteinsonate der Vorstellung eines Konzerts zu folgen, eines Konzerts freilich für Klavier allein. In Opus 53 wird jedoch ein neuer Ton virtuoser Größe angeschlagen. Zum Klavierkonzert-Typus tritt nämlich zugleich ein deutlich symphonischer Zug hinzu, sowohl im Blick auf die innere Ausführung wie auf den kalkulierten Anspruch. Dass das Werk entgegen der ursprünglichen Absicht dann dennoch – äußerlich – zweisätzig wurde, tut seinem Charakter keinen Abbruch. Dem Rat des Freundes wäre Beethoven wohl nicht gefolgt, wenn ihm nicht eine einleuchtende Idee gekommen wäre, die nur dem Anschein nach auf einen Kompromiss hinausläuft: Die Introduzione ist mehr als nur eine Einleitung. Sie tritt tatsächlich an die Stelle des langsamen Satzes, vertritt ihn also einerseits, allerdings ohne andererseits eine eigenständige Einheit wie der herausgenommene Satz oder andere langsame Sätze Beethovens zu sein. Damit wird dem langsamen Satz im Sonatenzyklus eine neue Rolle zugewiesen. Das Ergebnis dieser Maßnahme freilich ist, dass die Sonate zwischen Drei- und Zweisätzigkeit changiert, ihre Satzanordnung durch den Eingriff ambivalent geworden ist. Damit aber ist der erste Schritt in die neue Sonatengliederung getan, die ambivalente Züge nie mehr ganz aufgeben wird. Wir sehen Beethoven, (möglicherweise) durch einen äußeren Grund veranlasst, ungewohntes Terrain betreten und werden Beobachter der kompositorischen Ausführung eines im wahren Sinne des Wortes erneut ›außerordentlichen‹ Sonatenkonzepts, das das Problem der Ambiguität auf die Gesamtanlage ausdehnt.

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Die Sonaten op. 53 bis op. 90

Mit der Umwandlung der Sonate zu einer zweisätzigen mit langsamer Einleitung des Schlußsatzes vollzieht Beethoven ferner einen weiteren innovativen Schritt: den der besonderen Hervorhebung des Finale als dem Ziel des zyklischen Prozesses der gesamten Sonate. Schon in früheren Werken war dies als Tendenz und in den unterschiedlichsten individuellen Ausprägungen zu beobachten. Hier in Opus 53 aber wird das Finalprinzip, wie wir es nennen können, auf ein neues Reflexionsniveau gestellt. Schon in den vorangehenden Kapiteln wurde mehrfach darüber gesprochen, dass und wie bei Beethoven erstmals das Thema, die initiale Idee eines Satzes oder gar Werkes, zum Problem des Satzes oder Werkes, zum Problem des Beginnens und des gesamten musikalischen Prozesses wird. Carl Dahlhaus hatte für Beethovens »neuen Weg«, der sich auch in dieser neuen Haltung ausdrückt, den Begriff der »thematischen Konfiguration« vorgeschlagen, vom »radikalen Prozesscharakter der musikalischen Form« gesprochen und die grundsätzliche »Ambiguität als artifizielles Moment« und als »Formidee« herausgestellt.1 Hieran anknüpfend lässt sich darüber hinaus, insbesondere mit und seit Opus 53, genau genommen aber auch schon ab Opus 312, von einer kompositorischen Haltung Beethovens spre-

Erste (links) und letzte Seite (rechts) des Autographs der Waldsteinsonate op. 53. Am Rand der ersten Seite hat Beethoven eigenhändig notiert: »Nb: Wo ped. steht wird die ganze Dämpfung sowohl vom Bass als Dißkant aufgehoben, o bedeutet, daß man sie wieder fallen laße«. Auf der letzten Seite hat Beethoven Ausführungsvorschläge für den Triller im Schlussteil gemacht: »Nb: für diejenigen de-

1 Dahlhaus, Beethovens »neuer Weg«, S. 46–62. Vgl. auch Danuser, Zum Problem musikalischer Ambiguität, S. 22– 28. 2 Dahlhaus wählte als Beispiel Opus 31/2.

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BEETHOVENS »CLAVIERSACHEN« UND IHRE ZEITGENÖSSISCHE REZEPTION

1 Beethoven, Briefwechsel 5, S. 359.

Ist heute von Beethovens Klavierwerk die Rede, dann dominiert ein ganz bestimmtes Bild: Ein Konzertpodium mit geöffnetem Steinway-Flügel, klangmächtig genug, um einen ganzen Saal zu füllen, in dem ein Publikum dem Klavierabend eines professionellen Pianisten (oder seltener einer Pianistin) lauscht. Beethovens Klaviersonaten zählen zum Standard-Repertoire, prägen die anspruchsvolle Gattung. Indessen unterscheidet sich dieses Bild erheblich von den Gegebenheiten zu Beethovens Zeit. Seitdem hat der Instrumentenbau eine rasante Entwicklung erfahren. Es gab nicht ›den Flügel‹ bzw. ›das Klavier‹, sondern eine Vielfalt von Tasteninstrumenten, die mit ganz unterschiedlicher Klangfülle und -farbe ein differenziertes Hörbild dieser Musik zu vermitteln vermochten. Beispielsweise der Kopfsatz der Sonata quasi una fantasia op. 27/2 ließ sich auf einem Hammerflügel (italienisch: Pianoforte oder Fortepiano) mit durchweg aufgehobenem Dämpfer spielen, ohne dass sich die Töne zu einem dissonanten Cluster mischten. Bis zu sieben Pedale, darunter Verschiebung, Moderator und Fagottzug, ermöglichten Nuancen, vergleichbar einer Registrierung oder gar Orchestrierung der Musik, die auf modernen Instrumenten nicht darstellbar sind. Zudem gab es lokale Traditionen, und zwischen einem englischen Broadwood-, einem französischen Erard- oder einem Wiener Graf-Flügel lagen Welten; außerdem unterschieden sich die Instrumente je nach Klaviermanufaktur und deren Klangideal, das sich auch an den Wünschen der Kunden orientierte. Die schnelle Entwicklung, bei der Komponist / Interpret und gleichfalls als ausübende Musiker tätige Klavierbauer in enger Kooperation standen, war bereits für die Zeitgenossen Beethovens deutlich zu spüren: Am 5. September 1824 unterbreitete Johann Andreas Streicher brieflich Beethoven den Vorschlag einer Herausgabe seiner sämtlichen Werke, verbunden mit der Bitte, dieser möge »alle Clavier-Stüke, welche vor Einführung der Pianoforte von 5 1/2 oder 6 octaven, geschrieben worden, hie und da umändern und nach den jetzigen Instrumenten einrichten«.1 In der Bonner und frühen Wiener Zeit standen Beethoven Instrumente mit einem Umfang von fünf Oktaven zur Verfügung; sein Erard-Flügel von 1803 umfasste fünfeinhalb, der 1817 von Thomas Broadwood geschenkte sechs und der ihm im Januar 1826 von Conrad Graf geliehene Flügel sechseinhalb Oktaven. Werke aus einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten um 1800 sind

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Beethovens »ClavierSachen« und ihre zeitgenössische Rezeption

somit nicht gleichzusetzen mit dem heutigen Begriff ›Klaviermusik‹; eine Differenzierung wäre auch mit Blick auf die Rezeption notwendig.

BEETHOVEN AM PIANOFORTE Für Beethovens Laufbahn maßgeblich waren seine Fähigkeiten als Pianist: als Interpret eigener Kompositionen, bei denen er die Möglichkeiten des Instruments in neuer Weise ausnutzte, aber auch als improvisierender Virtuose. Beethoven suchte das Publikum, wie jener Brief vom 16. November 1801 an seinen Bonner Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler belegt, in dem auch von ersten Gehör-Problemen die Rede ist: »ich muß mich nun noch wacker herumtummeln, wäre mein Gehör nicht, ich wäre nun schon lang die halbe Welt durchgereißt, und das muß ich – für mich gibts kein großeres Vergnügen als meine Kunst zu treiben und zu zeigen«.1 Die Klaviermusik-Rezeption geht daher zunächst einher mit der Rezeption des Pianisten Beethoven. Zeugnisse über ihn und sein Spiel nehmen manches voraus, was später bei der Besprechung seiner Werke zu finden ist. Václav Jan Tomásek berichtet in seiner Autobiographie über einen Auftritt Beethovens: »Im Jahre 1798 […] kam Beethoven, der Riese unter den Klavierspielern, nach Prag. Es gab im Konviktsaale ein sehr besuchtes Konzert, in welchem er sein C dur Konzert, op. 15., dann das Adagio und das graziöse Rondo aus A dur, op. 2., vortrug, dann mit einer freien Phantasie über das ihm von der Gräfin Sch…. aus Mozarts Titus gegebene Thema ›Ah tu fossti il primo oggetto‹ schloß. Durch Beethovens großartiges Spiel und vorzüglich durch die kühne Durchführung seiner Phantasie wurde mein Gemüth auf eine ganz fremdartige Weise erschüttert, ja, ich fühlte mich in meinem Innersten so tief gebeugt, daß ich mehre Tage mein Klavier nicht berührte […]. […] Dann hörte ich ihn zum drittenmal beim Grafen C…, wo er nebst dem graziösen Rondo der A dur Sonate über das Thema ›Ah! – vous dirai je Maman‹ phantasirte. Ich verfolgte diesmal mit ruhigerm Geiste Beethovens Kunstleistung, ich bewunderte zwar sein kräftiges Spiel, doch entgingen mir nicht seine öftern kühnen Absprünge von einem Motiv zum andern, wodurch dann die organische Verbindung, eine allmählige Ideenentwicklung aufgehoben wird. Solche Uebelstände schwächen oft seine großartigsten Tonwerke, die er in seiner überglücklichen Konzeption schuf. Nicht selten wird der unbefangene Zuhörer durch sie gewaltsam aus seiner überseligen Stimmung herausgeworfen. Das Sonderbare und Originelle schien ihm bei der Komposition die Hauptsache zu sein [...].«2

Diese Einschätzung wurde auch von Personen geteilt, die das Musikleben anderer Metropolen kannten. Als zweites, späteres Beispiel sei aus den Souvenirs des Louis Baron de Trémont (eigent-

1 Beethoven, Briefwechsel 1, S. 89. 2 Tomašek, Selbstbiographie, S. 374.

Beethoven am Pianoforte

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lich Louis-Philippe-Joseph Girod de Vienney) zitiert, der im Mai 1809 im Gefolge Napoleons von Paris nach Wien gekommen und dort in Kontakt zu Beethoven getreten war:

1 Bibliothèque nationale de France, Département des manuscrits, Français 12756, fol. 183–194; von der Verfasserin nach dem Autograph übertragen und übersetzt in: Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen in Tagebüchern, Briefen, Gedichten und Erinnerungen, hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Rainer Cadenbach, München 2009, S. 1003–1022. 2 Beethoven, Briefwechsel 1, S. 32. Der Brief stammt wohl aus dem Zeitraum August / September 1796. 3 Beethoven, Briefwechsel 1, S. 33.

»[…] pendant mon séjour a Vienne et, pour moi seul, il improvisait une heure, et jusqu’a deux heures de suite. […] Les improvisations de Beethoven m’ont causé, peutêtre, mes plus vives emotions musicales. Je puis assurer que si on ne l’a pas entendu improviser bien à son aise, on ne connait qu’imparfaitement l’immense portée de son talent. […] Lorsqu’il était bien disposé le jour fixé pour son improvisation, il etait sublime. C’était de l’inspiration, de l’entraînement, de beaux chants et une harmonie franche, parce que, dominé par le sentiment musical, il ne songeait pas, comme la plume a la main, a chercher des effets; ils se produisaient d’eux mêmes sans divagation. […] On comprend alors comment ses improvisations, toutes d’inspiration, etaient supérieures a sa musique ecrite.«1 [Übersetzung:] »[…] während meines Aufenthaltes in Wien und, nur für mich allein, improvisierte er eine Stunde und sogar bis zu zwei Stunden hintereinander. […] Die Improvisationen Beethovens haben bei mir meine vielleicht stärksten musikalischen Empfindungen ausgelöst. Ich würde sogar behaupten, dass man die ungeheure Tragweite seines Talents nur unvollkommen kennt, so lange man ihn nicht gehört hat, wenn er frei und zu seinem Vergnügen improvisiert. […] Wenn er an dem für seine Improvisation festgelegten Tag gut aufgelegt war, war er in seinem Spiel einfach großartig. Es war voller Einfallsreichtum, Schwung, schöner Melodien und in der Harmonie frei, denn – ganz vom musikalischen Gefühl beherrscht – dachte er nicht daran, bestimmte Wirkungen zu erzielen, wie wenn er die Feder in der Hand hielt; sie stellten sich ganz von selbst und unvermittelt ein. […] Folglich wird man verstehen, auf welche Weise seine Improvisationen, ganz auf Einfällen [Inspiration] beruhend, seiner notierten Musik überlegen waren.«

Alle diese Zeugnisse für Beethovens Talent als Pianist und besonders als improvisierender Künstler betonen seine völlig andere Art des Klavierspiels – sowohl hinsichtlich des Ausdrucks als auch der Technik, einschließlich unorthodoxer Fingersätze. Beethoven selbst hatte Vorstellungen vom Pianofortespiel, die seiner Zeit weit voraus waren. An den Klavierbauer Johann Andreas Streicher schrieb er: »[...] wenn mich auch nur einige verstehen, so bin ich zufrieden. es ist gewiß, die Art das Klawier zu spielen, ist noch die unkultiwirteste von allen Instrumenten bisher, man glaubt oft nur eine Harfe zu hören, und ich freue mich lieber, daß sie von den wenigen sind, die einsehen und fühlen, daß man auf dem Klawier auch singe[n] könne, sobald man nur fühlen kan[n], ich hoffe die Zeit wird kommen, wo die Harfe und das Klawier zwei ganz verschiedene Instrumente seyn werden.«2

Am 19. November 1796 kritisierte er im Brief an Streicher dessen »forte piano, was wahrlich vortrefflich gerathen ist«, und bemerkte gleichzeitig, dass »es mir die Freiheit benimmt, mir meinen Ton selbst zu schaffen«.3

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Beethovens »ClavierSachen« und ihre zeitgenössische Rezeption

AUFFÜHRUNGSSITUATION UND QUELLENLAGE ZUR REZEPTION Der Klavierabend als Kultur- und Konzertform ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, mit Anfängen ca. ein halbes Jahrhundert nach Beethovens Tod. Besonders seine nach 1810 komponierten Klavierwerke fanden erst mit erheblicher Verzögerung eine weitere Verbreitung: Zwar hatte bereits Nanette Streicher 1819/1820 die Große Sonate für das Hammerklavier op. 106 intensiv studiert, doch erstmals öffentlich spielte diese Franz Liszt 1836, gefolgt erst wieder 1860 von Hans von Bülow. Letzterer war es, der ab den 1870er Jahren Beethovens pianistisches Œuvre, auf mehrere Konzertabende verteilt, auf seinen Tourneen einem internationalen Publikum zu Gehör brachte. In Paris wurden die Klaviersonaten Beethovens als Zyklus erstmalig 1893 von Marie Jaëll im Konzert gespielt. Zu Beethovens Zeit gehörten Kammermusik und Klaviermusik indessen primär in den intimen Rahmen eines Kulturlebens, in dem sich Kenner und Liebhaber künstlerisch betätigten und in dem die jeweils neue Klavierliteratur die aktive Teilnahme am Musikleben garantierte. Allein in Wien und seinen Vorstädten gab es fast zweihundert Klaviermanufakturen, um die wachsende Nachfrage zu bedienen. Zudem blieb das Pianoforte das Hauptinstrument für Frauen besseren Standes, denen das Spiel eines anderen Instruments oder gar die professionelle Musikausübung verwehrt war.1 Auch das Widmungsverhalten Beethovens spiegelt diese Verhältnisse, denn nicht zufällig sind fast alle Werke, die er Frauen zueignete, für oder mit Klavier besetzt. Viele dieser Damen waren ausgezeichnete Musikerinnen, manche seine Schülerinnen: Sie waren es, die als Pianistinnen im häuslichen Rahmen auf hohem Niveau musizieren konnten – nicht als virtuose ›Tastenlöwinnen‹, wohl aber als musikalisch gebildete Interpretinnen anspruchsvollster Musik. Geht es um die frühe Rezeption des Klavierwerkes, müssen wir uns somit in eine völlig andere Aufführungssituation als die heutige hinein versetzen. Die primär im privaten Rahmen zu verortenden Aufführungen von Kompositionen für das Pianoforte haben auch Auswirkungen auf die Quellenlage zur Rezeption von Beethovens Werken: Zwar gibt es Konzertberichte und Rezensionen, die in Zeitungen und in der musikalischen Fachpresse publiziert worden sind, doch wird damit nur der öffentliche Teil der Rezeption erfasst. Was in häuslichen Zirkeln gespielt wurde, ist nicht Gegenstand der Musikkritik, muss also aus persönlichen Zeugnissen von Beteiligten erschlossen werden oder aus Berichten von an

1 Vgl. Hoffmann, Instrument und Körper, S. 91–112.