Sachverhalt Fall 4 Sachverhalt Während eines Besuchs des Papstes in der rheinland-pfälzischen Stadt T veranstaltet X, der sich selbst als „Freidenker“, Künstler und Kabarettist bezeichnet, auf dem zentral gelegenen Marktplatz in T eine „Heiligsprechung“ eines Transvestiten durch eine Prostituierte, die als „Gegenpäpstin Dominika“ vorgestellt wird und ein weißes, der päpstlichen Kleidung ähnliches Gewand trägt. In dieser Veranstaltung wird der Ritus einer Heiligsprechung der römisch-katholischen Kirche äußerlich nachgeahmt. Die Anwesenden begleiten das Geschehen mit Schmährufen und Spottgesängen. Der römisch-katholische Dechant D und der CDU-Bundestagsabgeordnete A erstatten eine Strafanzeige gegen X mit der Begründung, dieser habe sich gemäß § 166 StGB der Beschimpfung eines religiösen Bekenntnisses und der römisch-katholischen Kirche schuldig gemacht. Als praktizierende Katholiken empfänden sie die Darbietung des X als „übelste Verächtlichmachung und Brunnenvergiftung“. Sie tragen des weiteren vor, dass sie seit der Veranstaltung des X sowie infolge der Verteidigung ihres Bekenntnisses und ihrer Kirche zynischen und aggressiven, oft anonymen Anfeindungen ausgesetzt seien, und legen hierfür Beweise vor. Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Sachverhalt Fall 4

Ausgangsfall: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen X. Dieser wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das letztinstanzliche strafgerichtliche Urteil ist rechtskräftig. X erhebt gegen dieses Urteil Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Zur Begründung führt er an, das Urteil verletze seine Meinungs- und Kunstfreiheit. Seine Darbietung habe erkennbar kabarettistischen und satirischen Charakter gehabt und sich „nicht mit der katholischen Kirche als solcher und ihren Glaubensinhalten auseinandergesetzt“; vielmehr habe er eine „im Ansatz sachbezogene Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche“ geübt. Hat die Verfassungsbeschwerde des X Aussicht auf Erfolg?

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Sachverhalt Fall 4

Zusatzfrage: Die Staatsanwaltschaft lehnt die Erhebung einer Anklage gegen X ab. D und A betreiben erfolglos das gesetzlich vorgesehene Klageerzwingungsverfahren (§§ 172 ff. StPO); das zuständige Oberlandesgericht verwirft abschließend ihren Antrag als unbegründet. D und A meinen, die staatliche Justiz habe ihnen den grundrechtlich gebotenen Schutz in verfassungswidriger Weise versagt. Können Sie mit Aussicht auf Erfolg Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben?

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Sachverhalt Fall 4

§ 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) (1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

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Lösung Fall 4 •

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde •

1. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts •



(+) gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

2. Beschwerdefähigkeit •

grundsätzlich ist im Falle von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG „jedermann“ grundrechtsfähig und damit auch beschwerdefähig (vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG)



als natürliche Person ist X ohne weiteres grundrechts- und damit beschwerdefähig Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 4 •



3. Beschwerdegegenstand •

gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein



X wendet sich gegen das strafgerichtliche Urteil, mit dem er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, d.h. gegen einen Akt der Judikative



es liegt ein zulässiger Beschwerdegegenstand vor

4. Beschwerdebefugnis •

Möglichkeit, dass X selbst, gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechten verletzt wurde (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG)? Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 4





Urteil sanktioniert ein Verhalten, das möglicherweise in den Schutzbereich der Kunst- und/oder Meinungsfreiheit fällt („Heiligsprechung“)



vorliegend jedenfalls möglich, dass im gegen X ergangenen strafgerichtlichen Urteil diese Grundrechte nicht gebührend in Rechnung gestellt wurde

5. Rechtswegerschöpfung bzw. Subsidiarität, vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG •

bei dem Strafurteil handelt es sich ausweislich des Sachverhaltes um ein letztinstanzliches Urteil, daher (+)

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Lösung Fall 4 •

6. Form und Frist •





von der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen an Form und Frist (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) ist auszugehen

7. Zwischenergebnis: Verfassungsbeschwerde des X ist zulässig

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde •

Die Verfassungsbeschwerde des X ist begründet, wenn das strafgerichtliche Urteil in verfassungswidriger Weise in die Grundrechte des X eingreift.

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Lösung Fall 4 •

1. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG (Kunstfreiheit) •

a) Schutzbereich der Kunstfreiheit betroffen? • im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG ist zwischen dem Werkbereich, d.h. der künstlerischen Betätigung selbst, und dem Wirkbereich, also der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks, zu unterscheiden • für einen Eingriff in den Schutzbereich der Kunstfreiheit ist ausreichend, wenn entweder der Werkbereich oder der Wirkbereich tangiert ist • (1) Werkbereich • betroffen, wenn die „Heiligsprechung“ Kunst i.S.v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG darstellt Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 4 • was unter Kunst zu verstehen ist, ist umstritten • nach Auffassung des BVerfG lässt sich Kunst nicht generell definieren (BVerfGE 67, 213 ); dies entbinde „indessen nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten Rechtsanwendung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorliegen“ (ebd., ) • daher Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kunstbegriffen erforderlich • nach dem materiellen Kunstbegriff ist wesentlich für die künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (Kunst als Ausdruck schöpferischen Gestaltens) Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 4 • nach dem materiellen Kunstbegriff ist wesentlich für die künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (Kunst als Ausdruck schöpferischen Gestaltens) • hier: in der von X inszenierten „Heiligsprechung“ kommt eine Kritik des X an der Sexualpolitik der katholischen Kirche zum Ausdruck; zudem verkörpert die Inszenierung, wie sich den Kostümen, den Gesängen und der Heiligsprechung selbst entnehmen lässt, ein schöpferisches Handeln des X insbesondere dadurch, dass der Ritus einer Heiligsprechung nachgeahmt und verändert wird

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Lösung Fall 4 • nach dem formellen Kunstbegriff ist Kunst, was sich herkömmlich anerkannten Gegenständen der Kunst zuordnen lässt • hier: bei der „Heiligsprechung“ handelt es sich um eine theaterähnliche Inszenierung, die einer anerkannten Kunstgattung – nämlich Theater und Parodie – zugeordnet werden kann • nach dem offenen Kunstbegriff ist Kunst geprägt durch ihre vielfältige Interpretationsmöglichkeit und eine vielstufige Informationsvermittlung • hier: die von X inszenierte „Heiligsprechung“ verkörpert Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 4 • Zwischenergebnis: nach allen Kunstbegriffen ist von Kunst i.S.v. Art. 5 Abs. 3 GG auszugehen; der Werkbereich der Kunstfreiheit ist betroffen • (2) Wirkbereich betroffen? • Wirkbereich der Kunstfreiheit wäre betroffen, wenn das strafgerichtliche Urteil die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks tangieren würde • hier ist allerdings zu beachten, dass die strafrechtliche Verurteilung des X keine Auswirkung auf die bereits stattgefundene Darbietung der „Heiligsprechung“ hat; X kam es gerade darauf an, diese während des Papst-Besuchs zu inszenieren, was ihm vorliegend auch gelungen ist

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Lösung Fall 4 • Verurteilung des X hat also – wenn überhaupt – nur Folgen für etwaige zukünftige Inszenierungen seines Kunstwerks • Folge: Wirkbereich nicht betroffen • (3) Problem: Politische Aussage • trotz Betroffenheit des Werkbereichs der Kunstfreiheit könnte eine Eröffnung des Schutzbereichs dennoch dahinstehen, weil X mit seiner Aufführung eine „im Ansatz sachbezogene Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche“ üben wollte; insofern könnte die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG dem Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG als lex specialis vorgehen • BVerfG: Kunstfreiheit ist gegenüber der Meinungsfreiheit lex specialis (vgl. nur BVerfGE 30, 173