Sachverhalt Fall 12 Sachverhalt Angenommen, im Winter 2012/2013 erreicht die Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland ein bislang unerreichtes Ausmaß. Angesichts dessen will die Bundesregierung den Staatsausgaben „effektiv einen Riegel vorschieben“. Sie erarbeitet daher den Entwurf für eine Verfassungsänderung, mittels derer ein „Haushaltskontrollrat“ gebildet werden soll. Dieses Kontrollgremium soll bei allen Gesetzesvorhaben des Bundes gehört werden und Stellungnahmen zur Haushaltsverträglichkeit des jeweils geplanten Gesetzes abgeben dürfen. Erachtet der Haushaltskontrollrat ein Vorhaben für zu ausgabenintensiv, soll er – durch Beschluss mit absoluter Mehrheit – sein Veto gegen den Gesetzentwurf erheben dürfen. Der entsprechende Entwurf darf dann vom Bundestag in dieser Form nicht mehr als Gesetz beschlossen werden. Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Sachverhalt Fall 12 Der Haushaltskontrollrat – insgesamt 15 Mitglieder – setzt sich aus 7 Bundestagsabgeordneten, jeweils 3 Vertretern aus dem Arbeitgeber- und dem Arbeitnehmerlager sowie 2 Hochschullehrern der Volkswirtschaft zusammen. Die 7 Abgeordneten werden jeweils zu Beginn einer Legislaturperiode vom Bundestag gewählt, die Vertreter der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerseite werden für den gleichen Zeitraum von ihren jeweiligen Verbänden (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bzw. Deutscher Gewerkschaftsbund) gewählt. Die beiden Volkswirtschaftsprofessoren wählt, ebenfalls für die Dauer einer Legislaturperiode, die Hochschulrektorenkonferenz. Die Gesetzesvorlage wird seitens der Bundesregierung ordnungsgemäß zunächst dem Bundesrat zugeleitet, der von seinem Recht auf Stellungnahme keinen Gebrauch macht. Im Bundestag zeichnet sich schon bei der ersten Lesung des Entwurfs ein breiter Konsens unter den Abgeordneten ab. Daher wird bereits nach der zweiten Lesung über die Verfassungsänderung abgestimmt. Mehr als zwei Drittel der insgesamt 614 Abgeordneten stimmen für das Gesetz, auch im Bundesrat findet sich eine Zweidrittelmehrheit. Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Sachverhalt Fall 12 Das so beschlossene Gesetz wird – nach erfolgter Gegenzeichnung durch das zuständige Mitglied der Bundesregierung – vom Bundespräsidenten ausgefertigt. Noch vor Weiterleitung des ausgefertigten Gesetzestextes an die Schriftleitung des Bundesgesetzblattes nimmt der Bundespräsident allerdings die Einladung des USPräsidenten zu einer längeren Exkursion in Alaska an. Die Weiterleitung des Gesetzestextes soll daher der Präsident des Bundesrats übernehmen. Nach einer arbeitsreichen Nacht in einer verfassungsrechtlichen Fachbibliothek gelangt der Bundesratspräsident jedoch zu der Überzeugung, das vom Bundestag beschlossene Gesetz sei „politischer Unsinn“ sowie „formell und materiell eklatant verfassungswidrig“. Der Bundesratspräsident versucht deswegen, über Satellitentelefon Rücksprache mit dem Bundespräsidenten zu halten. Er erreicht ihn jedoch nicht, und auch in den folgenden Tagen misslingen alle Kontaktversuche. Dem Bundesratspräsidenten ist bekannt, dass sich der Bundespräsident während der Beratungen des Gesetzesentwurfs mehrfach positiv über das Vorhaben geäußert hatte. Dennoch leitet der Präsident des Bundesrats das Gesetz nicht weiter, sondern streicht sogar die Unterschrift des Bundespräsidenten unter dem Text der Verfassungsänderung aus. Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Sachverhalt Fall 12 Als der Bundespräsident aus dem Urlaub zurückkehrt, ist er zwar über die Vorgänge „nicht erfreut“; er will sich aus dieser Angelegenheit allerdings vollkommen heraushalten. Der Bundestag ist empört. Die „Verletzung der Legislativrechte des Bundestags durch den Bundesratspräsidenten“ sei „skandalös“. Auch bringe dieser „Deutschland an den Rand des finanziellen Ruins.“ Insbesondere seien Nichtweiterleitung und Namensstreichung „Unverschämtheiten“; der Präsident des Bundesrats habe ja gewusst, „wie der Bundespräsident, den er ja nur zu vertreten hatte, zu dem Gesetzesvorhaben stand.“ Es sei folglich „gar nicht zulässig gewesen, während der Vertretungsphase gegen den Willen des Vertretenen zu handeln.“ Aufgabe: Kann der Bundestag die behauptete Verletzung seiner Rechte mit Aussicht auf Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen?

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Lösung Fall 12 • Der Bundestag könnte möglicherweise mittels eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht die behauptete Verletzung seiner Rechte geltend machen. • A. Zulässigkeit • 1. Zuständigkeit • Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 13 Nr. 5 BVerfGG • 2. Parteifähigkeit • Bundestag ist zulässiger Antragsteller, vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 BVerfGG

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Lösung Fall 12 •

auch der Präsident des Bundesrats wäre im Organstreitverfahren – hier als Antragsgegner – parteifähig, da er Teil des Bundesrats und im Grundgesetz (GG) sowie in der Geschäftsordnung des Bundesrats (GO BR) mit eigenen Rechten, etwa in Art. 52 Abs. 2 Satz 1 GG, § 6 GO BR, ausgestattet ist, § 63 BVerfGG



aber: nicht der Präsident des Bundesrats, sondern der Bundespräsident muss als Antragsgegner im Organstreitverfahren fungieren



der in das vakante Amt des Bundespräsidenten einrückende Präsident des Bundesrats vertritt – es handelt sich um eine spezifisch verfassungsrechtliche Art der Stellvertretung, nicht um eine nach Art der §§ 164 ff. BGB – nicht den das Amt Ausübenden, sondern die Präsidentschaft selbst, das Amt



nach Rückkehr des Bundespräsidenten von seiner Exkursion muss er daher auf Antragsgegnerseite den Organstreit austragen, § 63 BVerfGG Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 12 •

3. Streitgegenstand •

bestimmt sich nach § 64 Abs. 1 BVerfGG



danach muss eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners – auch hier: des Bundespräsidenten als „Amt“ – vorliegen



hier: Nicht-Weiterleitung der beschlossenen Verfassungsänderung und der Namensstreichung



daher: zulässiger Streitgegenstand (+)

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Lösung Fall 12 • 4. Beschwerdebefugnis • Bundestag behauptet, durch die Nicht-Weiterleitung bzw. Namensstreichung der Verfassungsänderung in seinen Rechten im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens verletzt zu sein • erscheint nicht von vorneherein ausgeschlossen: Der Bundestag hat das „primäre Recht“ bei der Gesetzgebung auf Bundesebene („Legislative“); dieses Recht könnte vorliegend verletzt sein, falls es keinen zu rechtfertigenden Grund für das „Stoppen“ der beschlossenen Verfassungsänderung in der allerletzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens gab • Beschwerdebefugnis (+)

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Lösung Fall 12 • 5. Rechtsschutzbedürfnis • entfällt nicht deswegen, weil es dem Bundespräsidenten nach seiner Rückkehr unbenommen (gewesen) sein könnte, die Verfassungsänderung selbst auszufertigen • laut Sachverhalt beabsichtigt er dies nicht – darauf hat der Bundestag keinen Einfluss • zudem ist eine solche Möglichkeit der Ersetzung der Entscheidung des Präsidenten des Bundesrats durch den eigenen Entschluss des Bundespräsidenten wohl abzulehnen, da Art. 82 GG in erster Linie der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit dient

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Lösung Fall 12 •



6. Form und Frist •

Anforderungen an Form und Frist richten sich nach §§ 23 Abs. 1, 64 Abs. 2 und 3 BVerfGG



von ihrer Einhaltung kann mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Sachverhalt ausgegangen werden

7. Zwischenergebnis •

Organstreit ist zulässig

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Lösung Fall 12 •

B. Begründetheit

• Antrag des Bundestags ist begründet, wenn der Bundestag durch das Verhalten des Präsidenten des Bundesrats in Vertretung des Amtes des Bundespräsidenten tatsächlich in seinen Rechten verletzt wurde • 1. Vorüberlegung • einschlägiges, möglicherweise verletztes Recht des Bundestags ist dessen Gestaltungsspielraum im Rahmen der Gesetzgebung (Einschätzungsprärogative) • eine Verletzung dieses Rechts kommt nur in Betracht, wenn der Präsident des Bundesrats in Ausübung der Befugnisse des Bundespräsidenten die Verfassungsänderung hätte ausfertigen müssen

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Lösung Fall 12 •

2. Handeln des Bundesratspräsidenten für den Bundespräsidenten •

zunächst bedarf der Klärung, ob und inwieweit der Präsident des Bundesrats überhaupt „für“ den Bundespräsidenten zu handeln befugt ist



Art. 57 GG überträgt bei Verhinderung oder vorzeitiger Erledigung des Amtes dem Präsidenten des Bundesrats die Wahrnehmung der Aufgaben des Bundespräsidenten



bei längerer Exkursion (+)

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Lösung Fall 12 • 3. Bindung des Bundesratspräsidenten an die Auffassungen des Bundespräsidenten? • fraglich ist, ob der Präsident des Bundesrats befugt ist, die Geschäfte des Bundespräsidenten i.S.v. Art. 57 GG auch gegen dessen vermuteten oder ausdrücklich erklärten Willen zu führen • nach h.M. besteht – zumindest im Außenverhältnis – keine Bindung des Bundesratspräsidenten an Entscheidungen oder Stellungnahmen des Bundespräsidenten vor dessen Verhinderung • dies ergibt sich bereits aus Art. 57 GG, der bewusst anders formuliert wurde als etwa Art. 69 Abs. 1 GG

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Lösung Fall 12 • während in letzterer Vorschrift ein ernannter Bundesminister als Stellvertreter bezeichnet wird, delegiert Art. 57 – mangels einschränkenden Tatbestands – die Befugnisse des Bundespräsidenten im Verhinderungsfall vollumfänglich an den Präsidenten des Bundesrats • zwischen beiden Organwaltern besteht also kein Rechtsverhältnis, aufgrund dessen der Vertretene den Umfang der Vertretungsmacht selbst – ausdrücklich oder konkludent – festlegen kann • Folge: Präsident des Bundesrats kann – wenn ihm nach Eintritt des Verhinderungsfalls Bedenken bezüglich des ausgefertigten Gesetzes kommen – die Weiterleitung stoppen bzw. die Unterschrift des Bundespräsidenten streichen

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Lösung Fall 12 • Zweifel hieran könnten sich allenfalls aus dem Umstand ergeben, dass ein ausgefertigtes Gesetz dann einer zweifachen Kontrolle unterzogen würde – nachdem bereits der Bundespräsident zumindest das verfassungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes geprüft hat, stünde dieses auf dem abermaligen Prüfstand, nun auf dem des Präsidenten des Bundesrats • betrifft nach hM nur das „Innenverhältnis“ zwischen Bundespräsident und Bundesratspräsident • Zwischenergebnis: Bundesratspräsident ist nicht an Ausfertigung durch Bundespräsident gebunden

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Lösung Fall 12 •

4. Prüfungsrecht des Präsidenten des Bundesrats •

Nichtweiterleitung der Verfassungsänderung bzw. die Rückgängigmachung ihrer Ausfertigung greift freilich nur dann nicht in die Gesetzgebungsrechte des Bundestags ein, wenn der Präsident des Bundesrats aufgrund seiner Prüfung den beschlossenen Art. 76 a GG tatsächlich „stoppen“ durfte



der Ihnen bekannte Meinungsstreit in Bezug auf das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten kann dabei über Art. 57 GG auf die Frage nach den Befugnissen des Präsidenten des Bundesrats übertragen werden



im Ergebnis sind hier folgende Lösungen vertretbar: • (1) der Bundespräsident verfügt nur über formelles Prüfungsrecht • Konsequenz: Der Bundesratspräsident hätte das Gesetz Anfänger imformell Öffentlichenverfassungsmäßig Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß verkünden müssen, soweitÜbung dasfürGesetz ist ist das Gesetz ausschließlich materiell verfassungswidrig, ist der Organstreit begründet, weil der Bundesratspräsident

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Lösung Fall 12 • Konsequenz: Der Bundesratspräsident hätte das Gesetz verkünden müssen, soweit das Gesetz formell verfassungsmäßig ist ist das Gesetz ausschließlich materiell verfassungswidrig, ist der Organstreit begründet, weil der Bundesratspräsident insoweit nicht prüfungsberechtigt ist • (2) der Bundespräsident verfügt über formelles und materielles Prüfungsrecht • Konsequenz: Bundesratspräsident durfte Verkündung verweigern, wenn dieses formell und/oder materiell verfassungswidrig ist

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Lösung Fall 12 • (3) der Bundespräsident verfügt über materielles Prüfungsrecht nur in Fällen evidenter Bedenken bzgl. der materiellen Verfassungsmäßigkeit • Konsequenz: Bundesratspräsident durfte Verkündung verweigern, wenn dieses formell und/oder evident materiell verfassungswidrig ist

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Lösung Fall 12 •

5. Verfassungsmäßigkeit von Art. 76 a GG •

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit •

(1) Zuständigkeit •



für Änderungen des Grundgesetzes ist der Bund unproblematisch zuständig, vgl. Art. 79 Abs. 2 GG

(2) Verfahren •

(a) Schlussabstimmung bereits nach zwei Beratungen („Lesungen“) im Bundestag



Frage, ob ein Verstoß gegen den (als verfassungsgemäß unterstellten) § 78 Abs. 1 GO BT Auswirkungen auf das formelle verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzentwurfes hat Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 12 •

dass Verstöße gegen die Geschäftsordnung des Bundestages als solche nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen, ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art. 82 GG, der auf die „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze“ abstellt, dem Bundespräsidenten also nur ein Prüfungsrecht dahingehend gewährt, ob ein Gesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen ist



stellt der Verstoß nicht gleichzeitig auch einen autonomen Verstoß gegen die Verfassung dar, ist er zwar rechtswidrig, bewirkt aber keine weiteren Rechtsfolgen



hier: Verstoß gegen Bestimmungen und Inhalte des Grundgesetzes ist nicht ersichtlich Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 12 •

(b) Abstimmungsmehrheiten •



laut Sachverhalt findet sich in Bundestag wie Bundesrat jeweils eine Zweidrittelmehrheit; damit ist den Erfordernissen an die Beschlussfassung bei verfassungsändernden Gesetzen gemäß Art. 79 Abs. 2 GG Genüge getan

(3) Zwischenergebnis •

Art. 76 a GG ist formell verfassungsgemäß



entgegen der Ansicht des Präsidenten des Bundesrats konnte die Verweigerung der Ausfertigung daher jedenfalls nicht auf die behauptete formelle Verfassungswidrigkeit gestützt werden Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 12 •

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit •

wichtig: vorliegend geht es um eine Verfassungsänderung; Prüfungsmaßstab ist daher Art. 79 Abs. 3 GG, der nur die Grundsätze der Staatsstrukturprinzipien unter Schutz stellt



(1) möglicherweise verletzte Verfassungsnorm •

Art. 76 a GG könnte möglicherweise gegen das Demokratieprinzip bzw. das Prinzip der Volkssouveränität verstoßen und deswegen verfassungswidrig sein, Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG

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Lösung Fall 12 •

(2) Ausübung von Staatsgewalt durch den Haushaltskontrollrat? •

Wahrnehmung seiner durch Art. 76 a GG vermittelten Rechte durch den Haushaltskontrollrat ist Ausübung von Staatsgewalt



dies gilt zumindest für den Fall der Einlegung eines Vetos gegen einen Gesetzentwurf (Verhinderung eines Gesetzes gehört ebenso wie sein Beschluss zur Materie „Gesetzgebung“)



gilt dies auch für das Recht, Stellungnahmen zur Haushaltsverträglichkeit eines Gesetzgebungsvorhabens abzugeben? Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 12 •

Stellungnahmen sind keine Maßnahmen mit Entscheidungscharakter (nur politische Wirkung)



aber: auch sie beeinflussen die Entscheidungsfindungsprozesse des Gesetzgebungsverfahrens



Initiativberechtigten werden nicht allein aufgrund eines möglichen Vetos, sondern bereits aufgrund drohender politischer Kritik seitens des Haushaltskontrollrats von bestimmten Gesetzesvorhaben Abstand nehmen oder diese so formulieren, dass möglichst geringer Widerstand von Seiten der Kontrolleure zu erwarten ist



im Ergebnis kann dies aber offen bleiben Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

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Lösung Fall 12 •

(3) Legitimation des Haushaltskontrollausschusses? •

da jedenfalls die Einlegung eines Vetos als Staatsgewalt zu qualifizieren ist, muss diesbezüglich eine ununterbrochene personelle wie sachliche Legitimationskette vom Volk hin zum Haushaltskontrollrat bestehen



aber: Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sowie die beiden Hochschullehrer sind nicht vom Volk i.S.d. Gesamtheit des Staatsvolks legitimiert, sondern werden aus einem jeweils begrenzten Personenkreis heraus bestimmt; Ernennung beruht nicht auf dem Willen des Volkes, sondern auf der Entscheidung partikularer Interessenvertretungen



Rechtsstatus der Mitglieder des Kontrollrats, die keine Abgeordneten sind, beruht also nicht auf einer Reihe von Berufungsakten, die ihren Ausgangspunkt im Entschluss des gesamten Volkes haben Übung für Anfänger im Öffentlichen Recht / Prof. Dr. Alexander Proelß

Lösung Fall 12 • ihnen fehlt mithin die erforderliche personelle Legitimation • demokratisch legitimiert sind aber die 7 Abgeordneten des Bundestags • Haushaltskontrollrat stellt sich daher als ein „gemischtes Gremium“ dar, in welchem sowohl Mitglieder vorhanden sind, die sich auf eine personell und sachlich ununterbrochene Legitimationskette zum Souverän stützen können, als auch Mitglieder, denen diese Eigenschaft fehlt • Folge: für die Frage der Legitimation des Ausschusses insgesamt kommt es maßgeblich darauf an, dass die die Entscheidung tragende Mehrheit sich ihrerseits aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder ergibt

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Lösung Fall 12 •



hier: erforderliches Legitimationsübergewicht nicht gegeben, da die Bundestagsabgeordneten im Haushaltskontrollrat eine Minderheit darstellen

(4) Zwischenergebnis •

Art. 76 a GG verstößt in erheblicher Weise und offensichtlich gegen das Prinzip der Volkssouveränität



dieses in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Prinzip gehört zum Kernbestand des Demokratieprinzips und ist deswegen über Art. 79 Abs. 3 GG gegen Verletzungen durch Verfassungsänderungen geschützt

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Lösung Fall 12 •

C. Ergebnis •

wegen des evidenten Verstoßes von Art. 76 a GG gegen das Prinzip der Volkssouveränität war der Präsident des Bundesrats in Ausübung der Befugnisse des Bundespräsidenten berechtigt, die Ausfertigung der Verfassungsänderung zu verweigern



Organstreitverfahren hätte daher keine Aussicht auf Erfolg



etwas anderes gilt nur dann, wenn man das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten auf die Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beschränkt; in diesem Fall wäre der Organstreit begründet und hätte Aussicht auf Erfolg

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