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Josef W. Meri: Relics of Piety and Power in Medieval Islam. In: Alexandra Walsham (Hrsg.): Relics and Remains. Oxford / New York 2010. S. 97–120.

Renaissance ›R.‹ (frz. ›Wiedergeburt‹) ist der seit dem 19. Jh. von Kunst- und Kulturhistorikern benutzte Begriff zur Bezeichnung der Blütezeit der Künste in Italien und anderen Ländern Europas im 14., 15. und 16. Jh. Die Metapher der Wiedergeburt impliziert, dass die ! Künste an einem bestimmten Punkt in eine todesähnliche Starre gefallen waren. Ital. Dichter und Gelehrte des 14. und 15. Jh. bewunderten die Errungenschaften der Griechen und Römer und bemühten sich um eine ›Wiedergeburt‹ von deren Bildung, Dichtkunst und Malerei. Sie schufen damit auch die Vorstellung einer überwundenen Phase des Niedergangs zwischen ! Antike und ihrer eigenen Zeit: das Bild eines glanzlosen und im Niveau zurückgefallenen ! Mittelalters. Der erste, der mit dem ital. Begriff rinascita die Erneuerung von ! Malerei, ! Bildhauerei und ! Architektur insgesamt kennzeichnete, war Giorgio Vasari (Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori, 2 Bde., 1550). Diese Wiedergeburt umfasste nicht allein die Wiedergewinnung eines hohen Maßes an Kunstfertigkeit, sondern auch eine Wiederbeschäftigung mit Formen und Bedeutungen der klassischen Bildhauerei, Architektur und Schriften zur Kunst. Im 17. und 18. Jh. verblasste der Reiz des Neuen. Der antike ! Stil war schlichtweg zum guten Stil geworden. Von den Kunstakademien (! Akademie) ausgehend, setzte sich die geschmackliche Vorliebe für klassische Formen bis zum Ende des 18. Jh. fort, als Gelehrte und Sammler mittelalterlicher Kunst europäische Künstler kritisierten, sie

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hätten sich heidnische Formen zu eigen gemacht. Das 19. Jh. schätzte die Frömmigkeit und Authentizität mittelalterlicher Kunst und misstraute der inhaltslosen Virtuosität, wie sie durch die Akademien fortgeführt wurde. Gemäß dem Maler Paillot de Montabert (Dissertation sur les peintures du Moyen Age, 1812) »vergibt man in sehr unpassender Weise den Namen Renaissance an eine Epoche, in der [die Malerei] anfing, die letzten Symptome des Verfalls zu zeigen«. Die kunstgeschichtliche Forschung hingegen war unter dem Eindruck von Georg Wilhelm Friedrich Hegels These, die Kunst sei an ihrem Ende angelangt und künftig allein als Gegenstand historischer Studien von Wert, dazu bereit, sich mit jeder ! Epoche im Rahmen ihrer eigenen Maßstäbe zu befassen. Die Kunst lege Zeugnis ab von der kontinuierlichen geistigen Entwicklung der Menschheit. Der bis dahin als vorbildlich erachtete Stil Raffaels wurde von nun an als ein Stil unter vielen betrachtet. Die nostalgischen oder relativistischen Verteidigungen des Mittelalters beflügelten eine Rechtfertigung des 15. und 16. Jh. auf neuer Argumentationsgrundlage: Der Historiker Jules Michelet (Histoire de France, Bd. 7, 1855) bezeichnete nicht allein die Wiederbelebung der Künste, sondern die historische Periode als Ganzes als ›R.‹. Dabei erachtete er die philologische und archäologische Wiederbelebung der Antike als weniger zentral und betonte stattdessen die Neugier des Zeitalters, seine Liebe zur Natur, seinen Willen zum Heldentum sowie seinen mutigen und skeptischen Geist. Seit Jacob Burckhardts wegweisender Studie Die Cultur der Renaissance in Italien (1860) bevorzugen deutsch- und englischsprachige Wissenschaftler das frz. Wort ›R.‹. Burckhardt folgte Michelet in dessen Definition des Wesens dieser Zeit als der »Entdeckung der Welt und des Menschen« und sprach damit einen Widerspruch an, der sich in den frühesten Darstellungen der R. durch die ital. Humanisten und Dichter verbarg: Giottos vielgepriesener Naturalismus hatte nämlich wenig mit der

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Wiedergeburt der Antike zu tun. Seit Burckhardt wird der Terminus generell auf Perioden künstlerischer und kultureller Blüte angewandt (z. B. karolingische R., Palaiologische R., Harlem R.). Die Würdigung der Kultur der ital. R., und damit einhergehend die der Säkularisierung der Kunst und des Denkens, stellt seit Burckhardt das genaue Gegenteil der Vorliebe für das Mittelalter dar, wie sie erstmals während der Romantik um 1800 zum Ausdruck kam. Entsprechend bedeutete ›R.‹ für John Addington Symonds (Renaissance in Italy: The Age of the Despots, 1875) eine »Wiedergeburt der Freiheit – der Geist der Menschheit, der das Bewusstsein und die Kraft zur Selbstbestimmung wiedererlangt und mithilfe der Kunst die Schönheit der äußeren Welt wie die des Körpers wahrnimmt«. Bernard Berenson (Florentine Painters of the Renaissance, 1896) definierte die R. als Glauben an die »Fähigkeit des Menschen, die Welt zu besitzen und sie zu unterwerfen«. Wie viele weitere Vertreter der Moderne schätzte Aby Warburg (Die Erneuerung der heidnischen Antike, 1932) die Kunst des Quattrocento für deren Bemühen um die lebhaften Formen der Antike, da diese mit ihren eigenen gesteigerten Erfahrungen von körperlicher Existenz übereinstimmten. Zu den jüngeren Kunsthistorikern, die Burckhardts Interpretation der Periode erweiterten, gehört Michael Baxandall (Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, 1972; dt. 1987), der wie Warburg die Florentiner Gemälde als Ausdruck einer frisch erblühten Erfahrung sozialen Lebens deutete. Auch Joseph Leo Koerner (The Moment of Self Portraiture in German Renaissance Art, 1993) argumentierte, dass ein R.Maler, der sein Selbstsein zum Gegenstand machte, damit nicht nur Neuland für die Kunst entdeckt, sondern auch die eigentliche Idee einer neuen Epoche, eines Neuanfangs entwickelt habe. Derlei Einschätzungen wurde stets durch Untersuchungen zu den irrationalen, magischen und wunderlichen As-

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pekten der Zeit entgegengetreten (Eugenio Battisti, L’antirinascimento, 1962). Zudem klagte etwa Wilhelm Worringer (Abstraktion und Einfühlung, 1908), dass das bloße Vergnügen, welches die R.-Künstler in der ! Nachahmung natürlicher Formen fanden, eine stärker nach innen gerichtete, spirituelle Auseinandersetzung mit der Realität verhindert habe. Jüngere Positionen diskreditieren die R. als eurozentristischen und elitären Mythos, der die Tatsache eines kulturübergreifenden Austauschs und die ausdauernde Vitalität von nicht-autonomen Formen der Kunst verdecke (Reframing the Renaissance, hrsg. von Claire Farago, 1995). Unter dem Eindruck der Weltkriege und der Krise der europäischen Zivilisation Mitte des 20. Jh. lieferte Erwin Panofsky (Renaissance and Renascences in Western Art, 1960; dt. 1979) die überzeugendste Darstellung zur Originalität der R. Die Linearperspektive der R. (! Perspektive) habe ein neues Verständnis der Distanz zwischen betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt zum Ausdruck gebracht, indem sie die Projektion eines dreidimensionalen ! Raums auf die zweidimensionale Oberfläche eines Gemäldes einbezog. Diese neue Sichtweise habe es Gelehrten wie Künstlern der R. ermöglicht, die antike Welt zum ersten Mal als eigenständige Kultur mit eigenen ! ›Stil‹ wahrzunehmen. Panofsky hob hervor, dass der Kunsthistoriker aus diesem Grund einen »besonderen Anteil« an der Frage nach der Wirklichkeit der R. habe. Inzwischen sind viele Kunsthistoriker von Panofskys Darstellung der R. als einer nahezu zwangsläufigen Grundlage für die Moderne abgerückt. Selbst jene, die an die Unverwechselbarkeit der R. glauben, ziehen es vor, ihre Kriterien für eine Periodisierung aus nicht-künstlerischen Lebensbereichen zu ziehen. Angeführt werden z. B. die Erfindung der Druckerpresse, die Entdeckungsreisen, die Überlegenheit in Astronomie oder Anatomie, der Aufstieg der Marktwirtschaft, die Entstehung der National-

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staaten oder die Reformation. Sie folgen eher ihren Kollegen aus benachbarten Disziplinen und ersetzen den Begriff ›R.‹ durch ›Frühe Moderne‹. Damit betonen sie den Bruch mit dem Mittelalter und die Verbindung zur ! Moderne und spielen den Stellenwert der hohen Kultur der Griechen und Römer herunter. Jene Kunsthistoriker, die auf dem retrospektiven, historisierenden Charakter dieser Zeit beharren, favorisieren weiterhin den Begriff ›R.‹ (Ingrid Rowland, Culture of the High Renaissance, 1998; Alexander Nagel / Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, 2010). Christopher S. Wood Wallace Ferguson: The Renaissance in Historical Thought. Boston 1948. Nachdr. 2006. August Buck (Hrsg.): Der Begriff und das Problem der Renaissance. Darmstadt 1969. Enno Rudolph: Die Renaissance als erste Aufklärung. 3 Bde. Tübingen 1998. Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen. Stuttgart 2002. James Elkins / Robert Williams (Hrsg.): Renaissance Theory. New York / London 2008.

Reproduktion Als ›R.‹ (lat. re- = ›abermals‹, producere = ›hervorbringen‹) bezeichnet man die vervielfältigte Abbildung eines Kunstwerks, normalerweise in anderem Format und Medium, so dass eine Verwechslung mit dem ! Original weder beabsichtigt noch möglich ist. Die R. unterscheidet sich dadurch ebenso von der durch einen anderen