Kriegsende 1945 in Reesdorf von Andrea und Michaela Kranepuhl

Im April 1945 neigte sich der Zweite Weltkrieg, der am Ende insgesamt weltweit über 50 Millionen Tote gefordert haben würde, dem Ende zu.1 Besonders im Osten Europas hatten die Deutschen einen Vernichtungskrieg entfesselt, in dem nicht nur 6 Millionen Juden, sondern auch Millionen anderer Zivilisten – Kinder, Frauen, alte Menschen – durch deutsche Grausamkeit gequält und getötet worden waren. In diesen Frühlingstagen erreichte jener Krieg auch die brandenburgische Provinz und richtete sich nun in seiner Unbarmherzigkeit auch gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Die Reesdorfer hatten seit 1940 und verstärkt seit 19422 viele Nächte und so manchen Tag angstvoll in ihren Kellern gesessen und um ihr Leben und ihren Hof gebangt, wenn die britischen und amerikanischen Bomberverbände auf ihrem Weg nach Berlin vereinzelt auch den

Großraum

Beelitz

bombardierten.

Zerstörungen

des

Dorfes

waren

jedoch

glücklicherweise bis zu diesem Zeitpunkt ausgeblieben. Schwerer wog jedoch, dass viele Familien bereits um gefallene Söhne, Brüder, Ehemänner und Väter trauerten - Männer, die im blinden Glauben an „Führer, Volk und Vaterland“ oder vielleicht auch ahnend, welches Unrecht hier verübt wurde, für das Dritte Reich in den Krieg gezogen waren. Die eigentlichen Kampfhandlungen hatten bis zum April 1945 in weiter Ferne stattgefunden. Und wenn auch Ängste vor der herannahenden Roten Armee – teils durch die offizielle Propaganda, aber auch durch die Berichte der im Dorf eintreffenden Flüchtlinge – immer weiter geschürt worden waren und auf der Landstraße – wie sich Herr Wiesenack erinnert vor und hinter dem Dorf bereits Panzersperren errichtet worden waren, lief das Leben in Reesdorf jedoch noch in verhältnismäßig „normalen“ Bahnen. In den Tagen des April 1945 sollte sich dies jedoch grundlegend ändern. Frau Höhne berichtet, dass sie bereits Anfang April in der Ferne die näherrückende Front mit ihren donnernden Geschützen hörten. „1945 bin ich aus der Schule gekommen,“ erinnert sich auch Herr Kaplick. „Da hatten wir in Beelitz unsere Konfirmationsfeier und hörten von Weitem schon das Bummern. Da hat irgendwer gesagt: ´Die Front ist schon in Cottbus.´ Das muss irgendwann Mitte April gewesen sein.“ (Anm.: Wahrscheinlich war es Sonntag, der 15. April, da die Rote Armee an diesem Tag tatsächlich schon an der Oder stand.) 1 2

Benz, Drittes Reich, S. 264. Ebd., S. 203.

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Spätestens als mit dem Durchbruch der 1. Weißrussischen Front durch die deutschen Heereslinien bei der Schlacht um die Seelower Höhen ab dem 16. April der Vormarsch der Roten Armee auf Berlin begonnen hatte,3 mussten den Dorfbewohnern ernste Zweifel am propagierten Endsieg kommen. In den Folgetagen wuchs die Angst unter den Reesdorfern, denn nun wurde das Grollen der nahenden Kämpfe immer lauter. Da selbst in den Reihen der Wehrmacht nur noch ein bruchstückhafter Informationsfluss gegeben war, so dass die Deutschen auf das Vorrücken der übermächtigen Roten Armee nur noch reagieren konnten,4 ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Dorfbewohner keine Ahnung hatten, wann und woher die Sowjets kommen würden. Nur dass sie kommen würden, war sicher. Unterdes rückten die alliierten Streitkräfte von allen Seiten näher an die Reichshauptstadt heran. Am 20. April standen die Amerikaner im Westen bei Magdeburg und Dessau. Im Osten näherte sich die 1. Weißrussische Front unaufhaltsam Berlin, während die erste Ukrainische Front nun bereits kurz vor Wünsdorf und Jüterbog stand. An diesem Tag wurde zudem der große Verschiebebahnhof in Neuseddin von der US Air Force bombardiert. Dabei wurden sowohl der Bahnhof als auch der Ort teilweise zerstört und es gab zahlreiche Tote.5 Die Explosionen und nachfolgenden Brände hörten und sahen auch die Reesdorfer. Bereits zwei Tage später erreichte die Rote Armee die Linie Beelitz – Treuenbrietzen6 und besetzte am 23. April auch Reesdorf. Mancher Dorfbewohner wurde dabei vom plötzlichen Erscheinen der feindlichen Soldaten überrascht. So erzählt Frau Brüning: „Einmal bin ich in den Garten gegangen und plötzlich – das Tor war noch gar nicht richtig offen – hörte ich ´Herreje, herreje´. Das klang wie ´Hurra´ auf Russisch. Da sah ich auch schon viele Russen in einer Reihe auf das Dorf zulaufen und bin dann schnell auf den Hof getürmt.“ „Ich stand in der Küchentür“ erinnert sich dazu Herr Kaplick „und vorn zur Haustür kam jemand rein. Er trug Zivil und ging in die Stube an den Schrank. Den hatte er aufgemacht und riss die Sachen raus. Ich ging hinterher und sprach ihn an: ´Was machen Sie denn da? Wo wollen Sie denn da hin?´ Da rief er mir etwas zu, das wie Russisch klang. Das war der erste Russe, der mir begegnet ist. Ich war ja erst 14 Jahre alt. Ich hab mich ganz furchtbar erschrocken.“ Während dieser ersten Besetzung des Dorfes durch die Rote Armee blieb es noch relativ ruhig im Dorf und die Soldaten öffneten ein geheimes Lebensmittellager eines Berliner

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Lakowski, Stich, Kessel von Halbe, S. 16ff. Ebd., S. 112ff. 5 Helle, Nachkriegsjahre, S. 24. 6 Schiefer, Historischer Atlas, S. 28ff. 4

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Kaufmannes in der Dorfstraße 18, in dem sich nun auch die Reesdorfer mit Waren „bedienten“, die schon lange nicht mehr im Laden zu haben waren. Aber einige Dorfbewohner wurden bereits auch Opfer von Plünderungen und die Furcht vor Vergewaltigungen durch die russischen Soldaten begann in diesen Tagen. Frau Höhne berichtet, dass die in dieser Zeit noch auf ihrem Hof lebende russische Zwangsarbeiterin Anna die Frauen des Hofes mehrmals vor den Soldaten beschützt habe. Am 26. April begann der Gegenangriff der zur 12. Armee (Wenck-Armee) gehörenden Divisionen „Scharnhorst“ und „Theodor Körner“ auf den Großraum Beelitz.7 Dabei wurde am 27. April unter heftigen Kämpfen auch Reesdorf vom Grenadierregiment Scharnhorst 1 der Wehrmacht eingenommen, welches den Befehl erhielt, nicht weiter vorzudringen und die erreichte Stellung zu halten.8 Auch die Sturmgeschützbrigade 1170 war an diesen Kämpfen beteiligt.9 Frau Schone schildert, wie ihre Familie diese Kämpfe erlebte: „Wir versteckten uns in unserem Keller in der Scheune; das war, als sie schon geschossen haben. Da blieben wir über Nacht drin und hörten, wie über uns kleine Kanonen rasselnd durch die Scheune in den Garten geschoben wurden. Am nächsten Nachmittag sind wir doch zuletzt aus dem Keller rausgekommen. Alles war ruhig. Da haben wir auf einmal gesehen, dass die deutschen Soldaten alle da standen, wo jetzt der Friedhof ist – da standen an der Seite des Weges lauter Reisbundmieten. Und da lagen lauter Tote umher – Russen und Deutsche. Darum sind wir dann nachher auch aus dem Dorf geflohen. Wir haben den Deutschen dann etwas zu essen gebracht und die Toten dort liegen sehen – auch jenseits der Straße. Das war ein ganz schön schwerer Tag.“ Auch Herr Kaplick erinnert sich, dass nach einigen Tagen die Front wieder hörbar näher rückte: „Dann saßen wir wieder im Keller. Wir hörten, dass es klirrte, als ob eine Granate in unser Haus eingeschlagen war. Genau hinter der Haustür bis auf den Flur ist sie geflogen, da haben die Stücke davon gelegen, und vom halben Dach waren die Steine runter. Es wurde immer schlimmer, immer lauter und als wir aus dem Kellerfenster schauten, sahen wir, wie ein Schuss in die Seite der Kirche hineinging. Als wir draußen plötzlich deutsche Soldaten sahen, haben wir gedacht, dass wir jetzt auch wieder rausgehen können.“ Die Rote Armee war wieder abgezogen. Herr Thietke berichtet, dass die sowjetischen Soldaten auf ihrem Rückzug die Straße nach Beelitz verminten. Einige Zeit später kam jedoch noch ein Lkw der Roten Armee, der den Anschluss verpasst hatte. Der mit „Beute“ beladene 7

Ulrich, Scharnhorst, S. 86ff. Gellermann, Armee Wenck, S. 84. 9 Ulrich, Scharnhorst, S. 89. 8

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Lkw explodierte kurz vor dem Ortsausgang und brannte aus. Teile der Ladung und menschliche Körperteile lagen überall herum und hingen von den Stromleitungen. Aufgrund dieser militärischen Lage wurde auch die bei Halbe eingekesselte 9. Armee aufgefordert, ihre Ausbruchsbemühungen auf den Großraum Beelitz zu konzentrieren.10 Der südlich von Beelitz erwartete Durchbruch der Reste der vormals bei Halbe eingekesselten 9. Armee und einer großen Zahl an Flüchtlingen, die sich ihnen angeschlossen hatte, führte dazu, dass der Kampf um Beelitz umso erbitterter geführt wurde.11 In Reesdorf wurde – anders als in Beelitz oder in den weiter östlich gelegenen Dörfern – in diesen Tagen kaum gekämpft. Herr Thietke beschreibt diese Tage Ende April als eine relativ ruhige Phase. Den Kampflärm hörte man nur aus der Entfernung, aber jetzt versetzten die Tiefflieger die Reesdorfer in Angst und Schrecken, wenn sie plötzlich auftauchten und das Dorf beschossen. Herr Wiesenack berichtet, dass sich in diesen Tagen kurzfristig ein Behelfslazarett im Gasthof befand, in dem sich die Soldaten notdürftig selbst verarzteten. Die daneben wohnenden Wiesenacks konnten die Schreie der Verwundeten aus dem Bühnenkeller hören. In einiger Entfernung zum Dorf - in Richtung Schäpe - befand sich die zur Division „Scharnhorst“ gehörende III. Schwere Abteilung des Artillerieregiments, die bis in die Nacht vom 1. auf den 2. Mai Beelitz beschoss.12 Desweiteren agierten auch das Füsilierbataillon und Teile der 1. sowie der 3. Kompanie des Pionierbataillons der Division „Scharnhorst“ im Gebiet um Reesdorf – vorrangig wahrscheinlich in den Wäldern westlich des Dorfes. Da man erwartete, dass die fliehenden Soldaten und Zivilisten aus dem Korridor zwischen Elsholz und Wittbrietzen in Richtung Reesdorf/Beelitz-Heilstätten kommen würden, sollten die bei Reesdorf stehenden Verbände nur noch die Rettung der Flüchtenden sicherstellen. Der ursprüngliche Plan, mit den Manövern im Großraum Ferch-Beelitz-Treuenbrietzen einen Zusammenschluss der 9. und der 12. Armee vorzubereiten, um in der Folge mit diesen Kräften die Reichhauptstadt zu entsetzen, war nun endgültig als illusorisch erkannt worden.13 „Nur nicht den Russen in die Hände fallen!“ war für alle die Parole. Für die Dorfbewohner war es eine angsterfüllte Zeit, denn der Kampflärm war überall um sie herum und niemand wusste, was als nächstes passieren würde. Die Reesdorfer „wohnten“ nun schon seit Mitte April überwiegend in ihren Kellern und verließen diese nur, um die Tiere zu versorgen. Neben den zivilen Flüchtlingen durchquerten jetzt auch immer mehr deutsche

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Lakowski, Stich, Kessel von Halbe, S. 113f. Ebd., S. 128. 12 Schulze, 19 Tage Krieg, S. 321/326ff. 13 Ulrich, Scharnhorst, S. 85. 11

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Soldaten auf dem Rückzug die Gegend um Reesdorf. Die Letzten waren vom 30. April bis Anfang Mai die Reste der 9. Armee – ein Bruchteil der ursprünglich eingekesselten 200 000 Soldaten. Die vollkommen erschöpften Männer (Anm.: Es waren je nach Quelle zwischen 3000 und 30000, denen der Ausbruch aus dem Kessel von Halbe gelang.) kamen aus Richtung

Rieben/Elsholz/Schönefeld

oder

wenige

auch

aus

Richtung

Zauchwitz/Schlunkendorf in den Großraum Beelitz hinein und strebten zu großen Teilen – unter ständigem Beschuss durch die Rote Armee – nach Südwesten auf einen ca. 5 km breiten Frontabschnitt zwischen den Beelitzer Heilstätten und Reesdorf zu, um hinter die deutschen Linien (der Divisionen „Scharnhorst“ und „Hutten“) zu gelangen und von dort vielleicht Richtung Westen zum Brückenkopf Barby abtransportiert zu werden.14 Die wenigen in Reesdorf ankommenden Soldaten waren erleichtert, den „Russen“ entkommen zu sein, doch es gab keine Ruhepause für sie, denn auch die in Reesdorf stehenden Soldaten der 12. Armee wollten nur noch eines – „verschwinden“, denn auch sie konnten der Roten Armee keinen Widerstand mehr leisten und wollten sich um jeden Preis vor der sowjetischen Gefangenschaft retten.15 In diesen Tagen von Ende April bis zum 1. Mai packten die meisten Reesdorfer das Nötigste auf einen Hand- oder Pferdewagen, vergruben das wenige Wertvolle irgendwo auf dem Grundstück und flohen. Hauptsache nach Westen, zu Verwandten, vielleicht über die Elbe „zum Amerikaner“ lautete auch hier in der bestehenden Panik die Devise. So erzählt Frau Schone, dass sie durch die Kämpfe vom 26./27. April so verängstigt waren, dass sie am nächsten Morgen sofort nach Neuendorf aufbrachen. Als sie auch dort Schüsse hörten, flohen sie weiter zu Verwandten nach Rottstock und als auch hier am nächsten Tag gekämpft wurde, ging die Flucht weiter nach Freienthal. Herr Kaplick berichtet, dass sie zwei Tage nach diesen Kämpfen das Dorf verließen: „Die Deutschen sagten: ´Also, ihr müsst verschwinden!´ Der Wagen stand ja schon fertig beladen unter dem Torhaus. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Nur das Nötigste – und dann ab in Richtung Elbe. Zuerst sind wir bis nach Neuendorf gefahren. Dort waren wir – ich weiß nicht – zwei oder drei Tage. Mein Vater ist dann immer mit dem Fahrrad von Neuendorf nach Reesdorf gefahren, um die Kühe zu füttern. Dann kam die Front immer näher und wir mussten weiterfahren. Wir sind dann von Neuendorf in Richtung Brück gefahren. Vor Brück stand mitten in der Nacht alles voller Armee. Mit Autos. Wir mussten dann mit den Pferden durch den Wald durch. Unser Vater ist vorgegangen und hat geschaut, wo die Bäume breit 14 15

Schiefer, Historischer Atlas, S. 50. Schulze, 19 Tage Krieg, S. 317ff.

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genug auseinander standen, dass wir da durchkamen. Erst bis nach Freienthal und dann nach Damelang.“ So war auch kaum ein Bewohner im Dorf, als ein Wagen mit Munition, der auf dem Hof der Familie H. (Dorfstraße 5) stand, von russischen Tieffliegern beschossen wurde. Die Explosion löste ein Feuer aus, das Haus und Wirtschaftsgebäude bis auf die Grundmauern niederbrennen ließ. Herr Thietke, dessen Familie als eine der wenigen nicht geflohen war, sah das gerade heruntergebrannte Gehöft: „Ich sehe noch heute vor mir die rote Glut und die beiden Schornsteine. Das war an dem Tag, als der Krieg dann vorbei war. (Anm.: Gemeint ist der Tag an dem die Kampfhandlungen im Bereich Reesdorf endeten – also der 1. Mai 1945.) Da sind wir ins Dorf gegangen (Anm.: Die Familie wohnte außerhalb des Rundlings.) – es hingen überall Drähte. Das Bild geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Es ist noch genau so wie an dem Tag, als es passiert war.“ Alle anderen Wohnhäuser des Ortes blieben weitgehend unversehrt, aber es brannten neun Scheunen, vier Ställe und ein Schuppen nieder.16 Darüber hinaus waren verschiedene Gebäude teilweise zerstört oder beschädigt. Der Großteil dieser Zerstörungen war auf Bomben oder den massiven Tieffliegerbeschuss zurückzuführen. „Wir hatten unseren Wagen gepackt und waren mit den Pferden bis nach Neuendorf geflohen“ erzählt Frau Brüning. „Dann wollten wir wieder zurück, als uns Leute aus Beelitz begegneten, die sagten: ´Fahrt bloß nicht nach Reesdorf, ganz Reesdorf brennt!´ Dann wollten wir zu Verwandten nach Neschholz, als uns zwischen Brück und Trebitz Tiefflieger beschossen. Meine Schwester hatte ein Baby. Das hielt sie immer unter sich, um es zu schützen.“ Am 1. Mai um 17.00 Uhr wurde mit der Losung „Y+3 Sommernachtstraum“ vom Divisionsstab der Belziger Kommandantur der allgemeine Rückzugsbefehl der 12. Armee durchgegeben. Daraufhin verließ am späten Abend die Schwere Artillerie Reesdorf; auch die anderen noch im Bereich des Dorfes agierenden deutschen Soldaten zogen ab. Nun war der Weg für die endgültige Besetzung des Dorfes durch die Rote Armee frei. Da diese praktisch kampflos erfolgte, kam es zu keinen weiteren Zerstörungen im Dorf. Für die Reesdorfer ging der Krieg aber weiter. Viele waren noch auf der Flucht und kehrten häufig erst zurück, als sie von der Roten Armee eingeholt wurden, so dass sich das Dorf erst ab dem 4. oder 5. Mai langsam wieder füllte. Die Rückkehrer waren entsetzt über den Zustand ihres Reesdorf, denn 16

Folgende Gebäude waren niedergebrannt: Dorfstr. 3 – Stall, Dorfstr. 5 – komplettes Gehöft, Dorfstr. 6 – Scheune und Stall, Dorfstr. 8 – Scheune, Dorfstr. 9 – Scheune, Dorfstr. 14 – Scheune, Dorfstr. 15 – Scheune, Dorfstr. 17 – Scheune und Stall, Dorfstr. 19 – Stall, Dorfstr. 21 – Schuppen, Dorfstr. 25 – Scheune, Dorfstr. 30 – Scheune.

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sie hatten in den letzten Apriltagen ein Dorf verlassen, dessen Gebäude zwar Spuren der Kampfhandlungen aufwiesen, aber sonst weitgehend intakt waren. Nun waren nicht nur Scheunen und Ställe abgebrannt, sondern auch das komplette Gehöft der Familie H. Dieser Umstand verstärkte wahrscheinlich noch das Gefühl totaler Verwüstung, denn es handelte sich um eines der größeren Gehöfte im Dorf und es ist bis heute das erste, das man sieht, wenn man in den Rundling kommt, da es dem Eingang gegenüber liegt. Darüber hinaus hatten nicht nur die sowjetischen Soldaten, sondern auch die endlich befreiten Zwangsarbeiter, die auf ihrem Weg in die Heimat durch Reesdorf zogen, die Häuser nach Brauchbarem durchwühlt. „Als wir zurückkamen“ erinnert sich Frau Brüning „war aus den Stuben alles rausgeschmissen worden. Auf dem Hof lag ein großer Haufen – Knöpfe und Bratpfannen und sonstwas alles. In der Stube hatten sie eine große Tafel aufgebaut – Bettdecken und sowas hatten sie als Tischdecken genommen. Da haben sie gegessen und manche hatten ja noch Vieh dabei, das sie wohl geschlachtet und bei der Rast unterwegs hier gegessen haben. Und scheinbar haben sie hier auch übernachtet.“ Für die Dorfbewohner war nun die Angst vor den Besatzern, die – geprägt durch den deutschen Vernichtungskrieg im Osten – nur wenig Veranlassung sahen, die deutsche Zivilbevölkerung zu schonen, das bestimmende Gefühl. Die Frauen des Dorfes versteckten sich Nacht für Nacht vor den sowjetischen Soldaten, die auch in Reesdorf Frauen vergewaltigten. Alle Reesdorferinnen, die zum Kriegsende keine kleinen Kinder mehr waren, berichten übereinstimmend, dass sie ständig in der Angst lebten, „dass die Soldaten kommen“ und viele Nächte (und wohl auch Tage) in kleinen Verschlägen, Löchern oder sonstigen Verstecken zusammengekauert verbrachten. Das Treiben ihrer Soldaten veranlasste die RoteArmee-Führung zu Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge. „Und dann haben sie alle Frauen aus dem Dorf zusammengeholt – ob alt oder jung. Wir mussten uns alle nackt ausziehen und dann haben sie uns da untersucht (Anm.: Die Untersuchungen fanden im Haus Dorfstraße 15 statt.),“ berichtet Frau Schone. Diese Untersuchung diente aber mit Sicherheit nicht der Gesunderhaltung der Dorfbevölkerung, sondern wurde aus Sorge um das Wohlergehen der Soldaten durchgeführt. Unmittelbar nach der Besetzung des Dorfes – erinnert sich Herr Thietke – begann die Rote Armee auch ein kleines Lager aus 10 - 15 Baracken im Wald in Richtung Beelitz – etwa 500 Meter vom Dorf entfernt – zu errichten. Die neuen Unterkünfte wurden mit Möbeln der Reesdorfer ausgestattet. Manche Reesdorfer bringen mit diesen Geschehnissen auch den Selbstmord der Familie W. am 8. Mai 1945 in Verbindung. Der Mann begab sich mit seiner Frau, seiner Tochter und 7

einer Hausangestellten in ein Wäldchen nahe der Nieplitz und erschoss dort zunächst die Frauen und dann sich selbst. Die Leichen hatten schon etwa 14 Tage in den Wiesen gelegen, bevor sie gefunden wurden. Die Beelitzer Militärkommandantur ordnete an, dass die Leichen zu holen seien und einige Reesdorfer brachten die vier Toten mit dem Ackerwagen ins Dorf. „Als man die Familie Wolter gefunden hatte, wurden sie auf einen Wagen geladen und beim Akazienwäldchen vis à vis des jetzigen Sportplatzes abgestellt,“ erzählt Herr Parthier. „Das haben wir als Kinder gesehen, wie der Wagen mit den Leichen darauf stand.“ Ein traumatisches Ereignis war in diesen ersten Nachkriegstagen für viele Reesdorfer – und natürlich in besonderem Maße für die Familie des Opfers – die Ermordung eines jungen Mannes. Seine Frau hatte wenige Tage nach Kriegsende entbunden und so lag sie an diesem 20. Mai noch im Wochenbett, als sowjetische Soldaten in das Haus der Familie eindrangen. Der junge Vater wollte seine Frau vor den Eindringlingen schützen und stellte sich vor sie. Davon fühlten sich die Soldaten offensichtlich so provoziert, dass sie ihn niederstachen. Der junge Mann erlag seinen Verletzungen. Diese Geschichte und auch der Selbstmord der Familie W. sind tief im kollektiven Gedächtnis der Reesdorfer eingebrannt. Sie stehen stellvertretend für die Schrecken, die jeder Dorfbewohner in jenem Frühjahr und Sommer 1945 durchlebte.

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Quellen: Die im Text verwandten Zitate entstammen transkribierten Interviews, die in den Jahren 2009 und 2010 mit Reesdorfer Zeitzeugen geführt wurden.

Literatur: Benz, Wolfgang, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000. Gellermann, Günther W., Die Armee Wenck – Hitlers letzte Hoffnung, Aufstellung, Einsatz und Ende der 12. Deutschen Armee im Frühjahr 1945, Koblenz 1984.

Helle, Matthias, Nachkriegsjahre in der Provinz, Der brandenburgische Landkreis Zauch-Belzig 1945 bis 1952, Berlin 2008.

Lakowski, Richard; Stich, Karl, Der Kessel von Halbe 1945, Das letzte Drama, Berlin 1998.

Schiefer, Joachim, Historischer Atlas zum Kriegsende 1945 zwischen Berlin und dem Erzgebirge, Beucha 1998. Schulze, Henrik, 19 Tage Krieg, Die RAD-Infanteriedivision „Friedrich-Ludwig-Jahn“ in de Lücke zwischen 9. Und 12. Armee, Die Mark Brandenburg im Frühjahr 1945, Hoppegarten bei Berlin, OT Hönow 2011.

Ulrich, Heinz, Die Infanterie-Division Scharnhorst, Ihr Einsatz im April/Mai 1945, Oschersleben 2011.

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