Inhaltsverzeichnis ECHT HESSISCH? Modul 1: Modul 2 Modul 3 Modul 4 MODUL 5

1 Inhaltsverzeichnis ECHT  HESSISCH?   3   Modul  1:   MÄRCHEN.  ILLUSTRATIONEN,  VERORTUNG  UND  PROVENIENZ  DER  TEXTE   „ÄCHT  HESSISCH?“   WO ...
Author: Eike Schulz
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Inhaltsverzeichnis ECHT  HESSISCH?  

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Modul  1:   MÄRCHEN.  ILLUSTRATIONEN,  VERORTUNG  UND  PROVENIENZ  DER  TEXTE   „ÄCHT  HESSISCH?“   WO  SCHLIEF  DORNRÖSCHEN?   WO  SCHÜTTELT  FRAU  HOLLE  IHRE  BETTEN  AUS?   WO  REISTE  DER  DÄUMLING?   MÄRCHEN  AUS  DEM  VOLK?  

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Modul  2   VON  FRIEDVOLL  BIS  DÜSTER.  ZUR  BEDEUTUNG  DES  WALDES   DER  MÄRCHENWALD   RABEN   DIE  TAUBE   DER  WOLF   DER  WALD   DER  ASCHENBRENNER   HARZSCHARRER  UND  PECHSIEDER   DER  KÖHLER   HOLZHAUER  

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Modul  3   ARMUT  UND  REICHTUM.  LEBEN  IN  VERSCHIEDENEN  WELTEN   DIE  WOHNKÜCHE  ALS  ALLZWECKRAUM   LÄNDLICHE  ARBEIT  AM  BEISPIEL  DER  FLACHSVERARBEITUNG   KÜCHE   DIE  WOHNSTUBE   TEXTILE  HANDWERKSKUNST  

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Modul  4   STEREOTYPE  IN  MÄRCHEN  UND  REALITÄT   SCHICKSALSRAD   SPIEGEL   DIE  SORGENDE  MUTTER   DIE  STIEFMUTTER  /  HEXE   DER  MÄCHTIGE  KÖNIG   DER  BÖSE  WOLF  ALS  LÜSTERNER  UNHOLD   DER  ABENTEUERLUSTIGE  PRINZ   DER  PANTOFFELHELD   DIE  PRINZESSIN   DIE  PECHMARIE  

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MODUL  5   ÜBERGÄNGE  IM  MENSCHLICHEN  LEBEN   GEBURT   TAUFE   KINDTAUFE  IN  DER  CAPPLER  KIRCHE   HOCHZEIT   TOD   „MIT  HAUT  UND  HAAREN“   DIE  KRONEN  FÜR  DIE  TOTEN   „HESSISCHES  LEICHENBEGÄNGNIS  IM  WINTER“  VON  LUDWIG  KNAUS  (1871)  

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ECHT HESSISCH? Die Brüder Grimm betonten den hessischen Ursprung der Märchen und ihre Herkunft aus dem einfachen Volk. Die Erzählungen aber stammten aus ganz verschiedenen Regionen. Und wie nebenbei geben die Märchen Auskunft über das Leben und den Alltag im 19. Jahrhundert sowie die damaligen Wert- und Moralvorstellungen. Hier beginnt nun eine Entdeckungsreise durch die Welt der Märchen und durch das Alltagsleben der Vergangenheit. Real Hessian? Country Life Fairy tales The Brothers Grimm stressed that the fairy tales were of Hessian origin and were derived from common folk. The stories, however, come from various regions. And en passant, these fairy tales give information about life and daily routine of the 19th century as well as ideals and moral values of the time. You are about to begin a journey of discovery through the world of fairy tales and the everyday life of the past.

Modul 1: MÄRCHEN. ILLUSTRATIONEN, VERORTUNG UND PROVENIENZ DER TEXTE Was viele Menschen glauben: Die Brüder Grimm wanderten durch Hessen und sammelten den hessischen Volksgeist in Märchenform. Sie trafen alte Frauen in Spinnstuben und auf Bauernhöfen und ließen sich althergebrachte Geschichten erzählen. Was viele Menschen nicht erwarten: In Wirklichkeit luden sich die Brüder Grimm junge, gebildete Damen ins Haus und lauschten ihren Erzählungen am Teetisch. Dann setzten sie sich an den Schreibtisch und schrieben das Gehörte nieder. Manches entnahmen sie aber auch alten Schriften, die sie in Archiven und Bibliotheken in ganz Deutschland fanden. Außerdem veränderte Wilhelm Grimm viele Märchentexte im Laufe der Zeit. Er fügte Dinge hinzu, ließ anderes weg und kombinierte verschiedene Textvarianten miteinander. Besonders deutlich wird das, wenn man die Urfassung der grimmschen Märchensammlung von 1810 mit der letzten von den Brüdern selbst betreuten „Ausgabe letzter Hand“ von 1857 vergleicht. Insgesamt 156 Märchen umfassen die beiden Bände der Erstausgabe der „Kinderund Hausmärchen“ von 1812 und 1815. In den folgenden Ausgaben wurden Texte durch andere ersetzt und es kamen weitere Märchen hinzu. Die Ausgabe letzter Hand enthielt 211 Erzählungen. Nicht alle der gesammelten Texte gelangten auch zur Veröffentlichung. Die Brüder Grimm hofften, germanische Ursprünge in der mündlichen Überlieferung ausmachen zu können. Sie berücksichtigten dabei nicht die europaweite Verbreitung vieler Märchen. Die Schreibstube als „Ort des Geschehens“ war eine entscheidende Station des Weges von der Erzählung bis zum heute bekannten Märchen. FAIRY TALE: ILLUSTRATIONS, LOCALIZATION AND PROVENIENCE OF THE TEXTS What many people belief: The brothers Grimm wandered through Hesse and collected „Hessian

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Volksgeist“ in fairy tale form. That they met up with elder women in spinning rooms and on farmsteads and let them tell heirloom stories. What many people don’t expect: In reality they invited young, educated ladies to their house and would listen to their stories at the tea-table. Afterwards they would sit down at their desk and write down the things heard. But also many things they learned from ancient writings, which they found in archives and libraries throughout Germany. More over Wilhelm Grimm changed many fairy tale texts over time. He added things, would leave out others, and also combine different variants of text with one another. This is especially notable if the original version of 1810 is compared with the brothers last self-drafted edition, the „definitive edition“ from 1857. Both first edition volumes of 1812 and 1815 together contain 156 fairy tales. In the edition to follow texts where replaced through others and more fairy tales were added. The definitive edition contains 211 pieces. Not all of the collected works found their way to publication. The brothers Grimm hoped to make out Germanic wellspring in the folk memory/oral traditions. They did not consider the fairy tales wide spread throughout Europe. The typing room as the „place of happening“ was a defining station on the stories way from the beginning to the today well-known fairy tale.

„ÄCHT HESSISCH?“ 1815 erschien der zweite Band der Kinder- und Hausmärchen. Die Grimms nannten die Geschichten „urdeutsch“ und „ächt hessisch“. Auch wenn dieser Hinweis ab der zweiten Auflage 1819 nicht mehr zu lesen war, glauben viele Leserinnen und Leser immer noch an den echt hessischen und urdeutschen Ursprung der Märchen. Die Motive der Märchen haben in Wirklichkeit verschiedene europäische und außereuropäische Wurzeln, stammen aber auch aus literarischen Quellen, zum Beispiel aus der Feder des Dichters Giambattista Basile (1575 –1632), der aus italienischen Erzähltraditionen schöpfte. Besonders zu erwähnen sind französische Vorbilder. Außerdem führte die Verarbeitung grundlegender menschlicher Erfahrungen zu Ähnlichkeiten in Märchen unterschiedlicher Kulturen. Das sind etwa Fragen von Leben und Sterben, Gut und Böse, Arm und Reich, der Sexualität, des Verhältnisses von Frau und Mann sowie von Herr und Knecht. Zur Verortung der Märchen in Hessen hat der Marburger Künstler Otto Ubbelohde (1867–1922) entscheidend beigetragen. Seine Illustrationen erwecken den Eindruck, Handlungsorte der Erzählungen darzustellen, auch wenn dies nicht Ubbelohdes Absicht war. Er verfremdete seine Zeichnungen, indem er verschiedene Elemente verknüpfte oder den Blickwinkel veränderte. Als Vorlage aber dienten ihm reale Orte. So hat es für den Betrachter den Anschein, als spiele „Aschenputtel“ auf dem Christenberg bei Mellnau oder „Rapunzel“ in Amönau. Diese Orte wurden durch die Zeichnungen zu Erinnerungsorten, die der regionalen Bevölkerung kulturelle Identität stiften und nicht zuletzt zum Besuch von Touristen führen. Die Verbindung der Märchen mit den realen Orten befriedigt die Sehnsucht nach Fantastischem im Alltag. Anders als die Erzählformen Sage und Legende, sind Märchen jedoch weder mit Orten noch mit Zeiten verknüpft. Grimms Märchen sind durch die Arbeit der Brüder mit Hessen und der deutschen Sprache verbunden. An Hessen oder Deutschland gebunden sind sie nicht, sondern auf jeden Ort der Welt übertragbar.

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“TRULY HESSIAN“? The second volume of “Children’s and Household Tales” was published in 1815. The Grimms called the stories “typically German” and “real Hessian”. Although this note was no longer to be found in the second edition in 1819, many readers still believe in the “typically German” and “real Hessian” origin of the fairy tales. In fact, the fairy tales themes have various European and non-European roots. However at the same time, they come from literary sources penned by, for example, writer Giambattista Basile (1575–1632) who drew upon Italian storytelling traditions. Also worth mentioning, in particular, are the French literary templates. Furthermore, the process of basic essential human experiences led to similarities in fairy tales of various cultures. These concerned matters of life and death, good and evil, the poor and the rich, sexuality and the relationship between man and woman or between master and servant. The Marburg artist Otto Ubbelohde (1867–1922) contributed significantly to localizing the fairy tales in the State of Hesse. His illustrations convey the impression of the stories settings even if this was not his intention. He alienated his drawings by introducing various elements or shifting the angles. But his points of reference were real places. To the beholder it may appear as if “Cinderella” takes place in Christenberg, near Mellnau or “Rapunzel” in Amönau. These locations became memorial sites through his drawings, which endowed cultural identity to the local population and led to an influx of tourists. The fusion of fairy tales with real-place settings fulfilled the longing for a combination of fantasty with everyday life. Unlike narrative forms such as sagas and legends, fairy tales are neither linked to places nor times. Grimms fairy tales are bound to Hesse and the German language through the brothers’ work. At the same time, they are not tied to Hesse or Germany because their settings are transferable to any other place on earth.

WO SCHLIEF DORNRÖSCHEN? Seine erste Fassung des Märchens „Dornröschen“ schrieb Jacob Grimm, nachdem ihm Marie Hassenpflug die Geschichte 1810 erzählt hatte. Der Name Dornröschen stellt vermutlich eine Übertragung aus einem orientalischen Feenmärchen dar. In Deutschland trat er erstmals 1790 im Titel der deutschen Übersetzung der Märchen des Grafen Josef Anton Hamilton auf. Hamiltons Märchen erschienen in der sogenannten „Blauen Bibliothek aller Nationen“ und bildeten eine Zusammenstellung aus französischen Feenmärchen und Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“. Das Märchen ist in vielen europäischen Ländern verbreitet. Außerdem existieren arabische, indische und malaiische Versionen. Otto Ubbelohde verortete „Dornröschen“ in Mittelhessen. Das von ihm gezeichnete Schloss ähnelt sehr Schloss Weilburg. Ubbelohde kopierte reale Orte jedoch nicht vollständig, sondern kombinierte Landschaften und Architekturteile zu neuen Ansichten. Daher lässt sich für die Zeichnung kein alleiniges Vorbild finden. Auch Otto Ubbelohdes Illustrationen schaffen eine fantasievolle Märchenwelt, welche die Leser aus der Realität an einen fiktiven Handlungsort führen kann. WHERE DID SLEEPING BEAUTY SLEEP? The original version of “Sleeping Beauty” was written by Jacob Grimm and was based on the wordings of Marie Hassenpflug when she told him the story in 1810. The German name “Dornröschen” presumably originates from an Oriental fairy tale. In Germany, it first appeared in 1790 in the title of the German translation of the fairy tales by Count Josef Anton Hamilton. Hamilton’s tales were released in the so-called “Blue Library of All Nations”, which was a compilation of French fairy tales and stories from “Arabian Nights”. Aside from “Sleeping Beauty” being widely known in many European countries, there are also Arabic, Indian, and Malayan versions. Otto Ubbelohde localized “Sleeping Beauty” in mid-Hesse. The castle he drew resembles the castle in Weilburg. Ubbelohde, however, did not copy real places entirely, instead he combined landscapes and

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architectural elements to create new sights. Therefore the drawings cannot be exactly allocated to one specific place. What is more, Otto Ubbelohde’s illustrations create a fabulous fairy tale world that brings the reader from reality into a fictitious setting.

WO SCHÜTTELT FRAU HOLLE IHRE BETTEN AUS? Für die Brüder Grimm war „Frau Holle“ von besonderer Bedeutung. Sie zogen eine Verbindung zur Sage von der Göttin „Frau Holda“, welche in der Region um den Hohen Meißner in Nordhessen erzählt wurde. Die Grimms glaubten, ein Märchen aus germanischer Zeit gefunden zu haben. Dortchen Wild erzählte den Brüdern 1811 ihre Version der „Frau Holle“. Der Pfarrer Goldmann aus Hannover konnte die Geschichte ergänzen. Die bildliche Verortung des Märchens in Hessen geschah durch Otto Ubbelohde. Auf seiner Illustration ist der Rimberg bei Caldern zu sehen. Andere Künstler hingegen zeichneten Märchenlandschaften, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Die Fülle der verschiedenen Märchenillustrationen belegt, dass Märchen überall verortet werden können und in manchen Illustrationen auch keine Verortung erfahren. Das Märchen von Frau Holle ist heute international bekannt: In Indonesien zählt es seit der Kolonialzeit zu den beliebtesten Erzählungen. In Frankreich schüttelt Frau Holle die Kissen als „Dame Hiver“ aus, in Nordamerika und Großbritannien ist sie als „Mother Hulda“ bekannt. WHERE DOES MOTHER HULDA SHAKE HER BEDDING? For the Brothers Grimm “Mother Hulda” had a special significance. They drew a connection to the saga of the goddess “Frau Holda” which had been told within the region of the high Meißner in northern Hesse. The Grimms believed they had found a fairy tale of Germanic times. In 1811, Dorothea Wild told the brothers her version of “Mother Hulda”. Pastor Goldmann from Hannover completed the story. The visual localization of the tale in Hesse was achieved by Otto Ubbelohde. The Rimberg near Caldern is shown on his illustration. In contrast, other artists drew fairy tale sceneries or landscapes which could not be clearly allocated. The abundance of various tale illustrations proves that the tales can be located everywhere and in some illustrations settings are inconsequential. Today, the fairy tale of “Mother Hulda” is internationally known. In Indonesia, it has been one of the most popular tales since the colonial era. In France “Mother Hulda” shakes her bedding as “Dame Hiver”, and in North America and the United Kingdom, she is known as “Mother Hulda”. (and in Germany she is known as “Frau Holle”)

WO REISTE DER DÄUMLING? Das Erzählmotiv des daumengroßen Jungen war in ganz Europa bekannt. 1621 wurde die Geschichte eines gewissen „Tom Thumb“ von Richard Johnson in England publiziert. Aus Frankreich ist „Le petit poucet“ bekannt, und in Skandinavien gibt es einen „Svend Tomling“. Eine späte Abwandlung findet sich in der Romanfigur „Oskar Matzerath“, die Günter Grass der Figur des Däumlings nachempfunden hat. 6

Die Brüder Grimm haben zwei Fassungen der Erzählung veröffentlicht: „Daumesdick“ und „Daumerlings Wanderschaft“. In beiden Fällen begibt sich ein Winzling auf die Reise und erlebt wunderliche Dinge. Er ist im Magen einer Kuh eingesperrt, hilft Räubern dabei, des Königs Taler zu stehlen, und vieles mehr. Die Vorlage erhielten die Brüder 1816 von Friedrich Wilhelm Carové, einem Juristen, Schriftsteller und Philosophen aus Heidelberg. Otto Ubbelohde hat den Däumling in der Wetterau verortet. Der Illustrator Josef Hegenbarth verzichtete ganz auf eine Lokalisierung. Die große Vielfalt der Darstellungen zeigt, dass Märchen weltweit verstanden werden. WHERE DID THUMBLING TRAVEL? The story of the little thumb-sized boy was known all over Europe. In 1621, the story of a certain “Tom Thumb” was published in England by Richard Johnson. “Le petit poucet” in France and “Svend Tomling” in Scandinavia were also well known. A later variation can be found in the character of “Oskar Matzerath” in the novel of the same name written by Günter Grass who had based the character on “Thumbling”. The Brothers Grimm published two versions of the story: “Daumesdick” and “Thumbling’s Travels”. In both cases, a thumbsized child embarks on a journey and experiences quaint, fantastical things. He is locked-up in a cow’s stomach, assists robbers to steal the kings’ thaler, and has many other adventures. The Brothers Grimm got Thumbling’s prototype in 1816 from Friedrich Wilhelm Carové, a jurist, writer, and philosopher from Heidelberg. Otto Ubbelohde localized Thumbling at the Wetterau. The Austrian-Hungarian illustrator Josef Hegenbarth completely did away with any localization. The vast variety of the portrayals shows that fairy tales are globally understood.

MÄRCHEN AUS DEM VOLK? Entgegen der verbreiteten Meinung sind die Märchen der Brüder Grimm meist gar nicht so hessisch, wie Wilhelm und Jakob Grimm selbst behauptet haben. Etwa 60 Märchen beruhen auf literarischen Vorlagen des italienischen Schriftstellers Giambattista Basile und des Franzosen Charles Perrault. Darüber hinaus sind verschiedene Märchen mit Geschichten aus der arabischen Sammlung „Tausendundeine Nacht“ aus dem 14. Jahrhundert verwandt, die Anfang des 18. Jahrhunderts ins Französische übersetzt wurden. Die Vorlagen für die Kinder- und Hausmärchen gelangten durch Freunde und Bekannte zu den Grimms. Es waren keineswegs ältere Frauen aus dem Volk, die die Märchen erzählten, sondern junge Damen aus dem Bürgertum. Hierzu gehörten zum Beispiel die Töchter der Apothekerfamilie Wild und die Schwestern Hassenpflug aus höherem Beamtenhaushalt in Kassel. Diese Schwestern kannten die französischen Märchensammlungen aus ihrer Kindheit. So sind „Der gestiefelte Kater“, „Blaubart“ und „Daumerlings Wanderschaft“ direkt bei Perrault entlehnt. Wilhelm Grimm hat einige Märchen nicht mit in die späteren Ausgaben aufgenommen, weil er sie für „zu französisch“ hielt. Darunter war auch „Der gestiefelte Kater“. Die Beiträgerin Dorothea Viehmann galt lange Zeit als ideale hessische Märchenfrau. Doch sie war hugenottischer Abstammung und gab viele Märchen aus französischen

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Quellen an die Brüder Grimm weiter. Andere wichtige Märchenbeiträger waren die adeligen Familien von Haxthausen und von Droste-Hülshoff aus Westfalen. FAIRY TALES FROM THE COMMON FOLK? Contrary to common belief, most fairy tales of the Brothers Grimm were not as Hessian as the Brothers Grimm claimed them to be. Approximately sixty fairy tales were based on the literary models of the Italian writer Giambattista Basile and the Frenchman Charles Perrault. Furthermore, various fairy tales were related to stories from the Arabian collection “Arabian Nights” from the fourteenth century, which had been translated into French at the beginning of the eighteenth century. The templates for “Children’s and Household Tales” found its way to the Brothers Grimm through friends and acquaintances. By no means were these stories told by elderly women from the common folk but more so by young ladies of the bourgeoisie. Among these young women were, for instance, the daughters of the chemist family Wild and the sisters Hassenpflug of a higher civil servant household in Kassel. These sisters knew the French fairy tale collections from their childhood. Consequently, “Puss in Boots”, “Bluebeard”, and “Thumbling’s Travels” were directly borrowed from Perrault. Wilhelm Grimm did not include some of those tales in later editions because he thought they were “too French”. Among these tales was “Puss in Boots”. For a long time, the contributor Dorothea Viehmann had been classified as the ideal Hessian storyteller. However, she was herself of Huguenot ancestry and had conveyed to the Brothers Grimm numerous fairy tales that had French sources. Other important fairy tale contributors worth mentioning are the aristocratic families von Haxthausen and von Droste-Hülshoff from Westphalia.

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Modul 2 VON FRIEDVOLL BIS DÜSTER. ZUR BEDEUTUNG DES WALDES Für die hessische Landbevölkerung gehörte der Wald zur unmittelbaren Umgebung und stellte einen Ort des alltäglichen Lebens und Arbeitens dar. Mit zunehmender Verstädterung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert schwand seine Bedeutung als Teil der wirtschaftlichen Lebensgrundlage. Dafür gewann der Wald als symbolischer Ort an Popularität, entwickelte sich sogar zur Quelle mystischer Naturerfahrung. Die Romantik machte ihn zum Sinnbild menschlichen Seelenlebens: Wünsche und Sehnsüchte, aber auch existenzielle Ängste wurden in ihn hineinprojiziert. Kritiker von Aufklärung und Rationalismus stilisierten den Wald zum Hort natürlichen Lebens und des Volksgeistes. Die nationale Bewegung sah in ihm ein Element deutscher Identität. Der Erfolg der Grimmschen Märchen hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie die romantischen Vorstellungen von Wald widerspiegeln. FROM PEACFUL TO GRIM – THE SIGNIFICANCE OF THE FOREST The forest belonged to the immediate environment of the rural population of Hesse and embodied the location of everyday life and labor. At the same time, it was a source of mystical experiences with nature. With the increasing urbanization and industrialization in the 19 th century, its importance as part of basic, economic livelihood faded. Conversely, it gained popularity as a symbolic place. The Romantic era made it into a symbol of the human spiritual life. Dreams and desires as well as existential anxieties were projected into it. Critics of Enlightenment and of Rationalism stylized the forest as a shelter of natural life and Volksgeist. The national movement saw an element of German identity within it. The success of the Brothers Grimm’s fairy tales could certainly be partly attributed to the fact that they reflect the romantic idea of the forest.

DER MÄRCHENWALD Der Wald ist ein symbolisch aufgeladener Ort, der vielen Märchen als Kulisse dient. Einsam und fernab der Stadt stellt er den Schauplatz außergewöhnlichen Geschehens dar. Im Wald werden Kinder ausgesetzt und Hexen treiben ihr Unwesen. „Rumpelstilzchen“ tanzt ums Feuer, „Rotkäppchen“ trifft den bösen Wolf und „Die Bremer Stadtmusikanten“ entdecken das Räuberhaus. Märchen präsentieren den Wald entweder als düster und bedrohlich oder als freundlich und schützend. Der wilde und finstere Wald findet sich besonders in Schreckmärchen. Diese sollen vor Gefahren warnen. Die Bedrohlichkeit des Waldes betonen lauernde Gefahren: wilde Tiere, Hexen, Räuber und allerlei seltsame Gestalten. Auch das Verlaufen im Wald ist ein häufig vorkommendes Element. Andererseits erscheint der Wald als idyllischer Ort. Er spendet Zuflucht, hier findet sich Trost und die Wesen des Waldes bieten ihre Hilfe an. Die sieben Zwerge geben „Schneewittchen“ ein neues Zuhause und auch „Brüderchen und Schwesterchen“ bekommen im Wald eine sichere Bleibe. Geschichten über den Wald können auf tatsächliche Erfahrungen zurückgehen. Erlebnisse der Waldarbeiter vermischten sich mit abergläubischen Vorstellungen der Landbevölkerung. In den schriftlichen Märchenaufzeichnungen sind reale Hinter9

gründe jedoch nicht zu finden. Die bürgerlichen Leser und Leserinnen der Städte wollten vorzugsweise Fantastisches und Schauerliches lesen. THE ENCHANTED FOREST The forest is a symbolically-loaded place which acts as the setting of many fairy tales. Lonesome and far away from the boroughs, it serves as the venue of extraordinary occurrences. Children are sent out there and witches are up to no good. “Rumpelstiltskin” hops around his fire, “Little Red Riding Hood” meets the big bad wolf, and “The Town Musicians of Bremen” spot the robbers’ cottage. Fairy tales depict the forest either as grim and threatening or kind and protective. The savage and sinister forest is found mostly in scary fairy tales. They serve to warn of peril. The threat presented by the woods emphasizes many dangers: wild, savage beasts, witches, robbers and various other figures. Getting lost in the woods is also a common occurring theme. On the other hand, the forest can appear as a quaint, idyllic site. It provides refuge: here, one can find comfort and the forest creatures are keen to offer help. The seven dwarfs give “Snow-white” a new home, and “The Brother and Sister” find a safe place to stay. Stories about the forest can be traced back to actual experiences. Experiences of lumbermen were mingled with superstitious visions of the rural population. In the records of the written works however, no real backdrops are to be found. The urban bourgeois readership preferred to read fantastical and gruesome stories.

RABEN Krähen und Raben galten als die intelligentesten Vögel. Diese Eigenschaft schreiben ihnen auch die Märchen zu. Raben geben Rat und helfen, wie im Märchen „Der treue Johannes“, in dem sie drohende Gefahren voraussagen. Mit Hilfe der Raben kann der Diener den König beschützen. Weil sie Zukünftiges voraussagen sollen, galten sie als Schicksalsverkünder, aber auch als Unglücksv.gel. Sie erscheinen als Tiere des Todes und der Verwünschung. Im Märchen „Die sieben Raben“ verflucht der Vater seine Kinder: „Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden!“ Die Raben stehen sinnbildlich für verwandelte Verstorbene. Erst als die jüngere Schwester ihren verwandelten Brüdern nach langer Suche einen Ring der Eltern bringt, löst sich die Verwünschung. THE RAVEN Crows and ravens are said to be the most intelligent birds. This characteristic is also attributed to them in the Brothers Grimm fairy tales. Ravens give advice and help people, as in “Faithful John”, where they foretell danger. With the ravens’ help, the servant is able to protect the king. Because they are supposed to be able to tell the future, they are considered heralds of fate, but also as birds of misfortune. They sometimes appear as animals of death and condemnation. In “The Seven Ravens”, the father curses his children and says, “I wish the boys would all turn into ravens”. Ravens allegorize the conversion of the dead into other forms. Only when the younger sister finds her transformed brothers, after a long search, and gives them their parents ring are they released from the curse.

DIE TAUBE Das Märchen versieht die Taube mit positiven Eigenschaften. Sie zeichnet sich durch ihre Schönheit, Zärtlichkeit und Zuneigung aus, symbolisiert Liebe und Fruchtbarkeit. Im Märchen „Aschenputtel“ tritt die Taube auch als Wegweiserin und Berichterstatterin auf. Sie zeigt dem Prinzen die wahre Braut. Der Dummling im Märchen „Die weiße Taube“ kann Menschen von einem Zauber erlösen, indem er der Taube folgt. Die erlöste Prinzessin heiratet den Dummling. In der Märchenwelt ist die Taube oft weiß, 10

in der Bibel kündigt sie das Ende der Sintflut an. Im Juden- und Christentum steht die Taube für Frieden und Erlösung. Allerdings weist die Erzähltradition der Taube auch eine negative Rolle zu. In der Fabel „Die Taube und die Krähe“ von Äsop spiegeln ihr Stolz und ihre Arroganz die Naivität der Menschen wider. THE DOVE Fairy tales endow doves with positive characteristics. Their features are beauty, gentleness and affection. They symbolize love and fertility. In “Cinderella”, the dove also appears as a guidepost and as commentator. It was the dove that showed the prince his real bride. Simpleton in “The White Dove” is able to redeem people from spells put up on them by following a dove. The redeemed princess weds Simpleton. In the fairy tale world, the dove is always white. In the Bible it heralds the end of the deluge. In Judaism and in Christianity, the dove stands for freedom and salvation. However, the storytelling tradition also ascribes a negative note upon the dove. In the fable “The Dove and the Crow” by the Greek fabulist and storyteller Aesop (c. 620–564 BC), the dove’s pride and arrogance mirror the naiveté of mankind.

DER WOLF Der Wolf stellt eine der bedeutendsten Tierfiguren des Märchens dar und gilt als ein Geschöpf mit zwei Gesichtern. In Märchen wie „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ oder „Rotkäppchen“ erscheint er als bösartiger Handlungsträger. Die ihm zugewiesenen Charaktereigenschaften wie Habgier, Hinterhältigkeit und Streitlust werden dem Wolf jedoch immer zum Verhängnis. Am Ende der Märchen bezahlt er mit dem Tod. Positive Darstellungen des Wolfes zeigen Erzählungen, in denen Kinder von Wölfen aufgezogen werden, und Legenden, welche die Herkunft der Menschen vom Wolf ableiten. THE WOLF The wolf portrays one of the most significant animal characters in fairy tales and is considered a creature with two faces. In fairy tales such as “The Wolf and the Seven Little Goats” or “Little Red Riding Hood”, he appears as a vicious agent. However, the ascribed characteristics such as greed, sneakiness and pugnacity always mean his end. At the end of the fairy tale, he pays with his death. Positive portrayal of the wolf is shown in tales where children are raised by wolves and in legends where the origin of mankind is derived from wolves.

DER WALD Holz war ein unverzichtbarer Rohstoff zum Heizen und Bauen. Es bildete die Basis vieler Betriebe und Gewerbe. Der Wald wurde auch landwirtschaftlich genutzt, denn Eicheln und Bucheckern dienten als Futter für Schweine. Auch Rinder, Schafe und Ziegen trieb man in den Wald, wo sie Blätter und junge Triebe von den Bäumen fraßen. Weideflächen außerhalb des Waldes gab es kaum. Um Ackerland zu gewinnen, rodeten die Bauern Teile der Wälder. Die intensive Nutzung blieb nicht ohne Folgen. Vielerorts war von „Holzknappheit“ die Rede. Um den Wald zu schützen, aber auch, um seine Erträge kontrollieren zu können, entstanden ab dem späten 18. Jahrhundert Forst- und Holzverordnungen. Sie regelten die Waldnutzung und die Holzpreise sowie die Bestrafung von Forstvergehen. Auf die Einhaltung der Bestimmungen achteten Forstbeamte. Eine weitere Maßnahme war die Wiederbewaldung abgeholzter Flächen, die auch Nachteile mit sich brachte, denn aus natürlichen Laubmischwäldern wurden reine Nadelwälder. In 11

ihnen fanden die Viehherden kein Futter mehr, und in der folgenden Zeit ersetzte die Wiesenbeweidung die Waldweide. Auch für die Ausübung anderer Berufe konnte der Wald bald nicht mehr als Grundlage dienen. THE WOODS Wood was an indispensable raw material for heating and building. It provided the basis for many businesses and trades. The forest itself also had an agricultural use in that acorns and beechnut served as food for swine. Cattle, sheep and goats were herded into the forest where they fed on leaves and saplings. Grazing land outside the woods rarely existed. To gain cropland, farmers would clear parts of the woods. However, the intensive use of the forest had negative consequences. In many places, shortage of timber was evident. To protect the forest and also to control its harvest, wood and timber regulations were generated in the late 18th century. These regulations controlled forest use as well as the price of wood and penalties were imposed for timber offences. Foresters observed adherence to these timber regulations. Another measure taken for forest protection was reforestation of lumbered areas, but this came with a disadvantage. What used to be naturally evolved mixed forests turned into mere coniferous woodland. In this new type of forest, the animal herds did not find any more forage and with time, hayfield grazing had replaced the wood pasture. Eventually, the forest no longer served as a basis for other occupations either.

DER ASCHENBRENNER Asche spielt in zahlreichen Märchen eine wichtige Rolle und erfüllt unterschiedliche Funktionen. Die Helden der Märchen „Hänsel und Gretel“ und „Räuberbräutigam“ streuen Asche aus, um ihren Weg zu markieren und zurückzufinden. In anderen Märchen, wie beispielsweise dem vom tapferen Schneider, wird die Asche benutzt, um dem Gegner die Sicht zu nehmen. Ganz anders als es das Märchen „Aschenputtel“ vermuten lässt, gehörte Asche zu den gefragten Rohstoffen. Aschenbrenner gewannen die Asche durch die Verbrennung von Ästen, Laubwerk und umgestürzten, faulen Baumstämmen. Als wichtigen Rohstoff für die Glasherstellung verkauften sie die Asche vor allem an Glashütten. Asche wurde auch von Seifensiedereien benötigt, bis die Seife im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend industriell hergestellt wurde. Ab dem 18. Jahrhundert häuften sich Berichte von Forstbeamten über illegal handelnde Aschenbrenner, die durch das Verbrennen junger Bäume den Wald schädigten. Die Herrschenden versuchten, die Nebennutzungen des Waldes zu unterbinden, denn diese standen den neuen ertragsorientierten Zielen im Wege. Ob die Aschenbrenner wirklich als Waldverwüster handelten, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Auch wenn sich ihr Ruf verschlechterte, bildeten sie bis zur Industrialisierung einen wichtigen Berufszweig. Aschenbrenner hielten sich so lange an einem Ort auf, bis das verfügbare Brennmaterial verbraucht war. Sie lebten überwiegend in einfachen Unterständen oder Hütten aus Baumstämmen, Rinden und Moos. THE “ASCHENBRENNER“ Ash or cinder plays an important role in numerous fairy tales and has various functions. The heroes in “Hansel and Grethel” and in “The Robber Bridegroom” scatter cinder to mark their trail and find their way back. In other fairy tales, for instance “The Gallant Tailor (Seven with one Blow)”, ash is used to obstruct the rival’s sight. Unlike the idea one gets from the fairy tale “Cinderella”, ash was a natural

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resource that was much in demand. “Aschenbrenner” obtained ash by burning branches, foliage, and fallen, rotten trees. Being an important raw material for glass-making, ash was sold primarily to glass-foundries. Ash was also needed by soap works until soap was produced industrially in the 19th century. From the 18th century onwards, reports from forestry officers piled up about charcoal burners who dealt with their trade illegally, by incinerating young trees and ruining the woods. The land rulers made attempts to prohibit the illegal usage of the woods as this hindered the new source of earnings forests offered. Whether or not the “Aschenbrenner” indeed acted as forest-destroyers can no longer be verified. Even as their reputation declined, the fact remains that their trade was an important occupational branch up until the time of industrialization. “Aschenbrenner” would stay in one place as long as combustible material was available. They mainly lived in simple shelters made out of trunks, bark, and moss.

HARZSCHARRER UND PECHSIEDER Der Harzscharrer gewann aus Nadelbäumen Baumharz, das von Pechsiedern weiterverarbeitet wurde. Pech ist eine schwarze flüssige Masse und wurde in unterschiedlichen Formen in verschiedenen Bereichen benutzt. Es diente beispielsweise zur Abdichtung von Fässern und zur Färbung von Materialien. Früher benutzte man siedendes Pech zur Verteidigung von Burgen und Schlössern. Schusterpech hingegen wurde zur Festigung des Schuhmacherzwirns gebraucht. Außerdem verwendete man es als Wagenschmiere und in der Lackherstellung. Zunächst schälten die Harzscharrer die Rinde von Kiefern, Fichten, Tannen und Lärchen teilweise ab. Das Harz fingen sie in Töpfen auf, sammelten es in Holzfässern und verkauften es den Pechsiedern zur Weiterverarbeitung. Die Arbeit der Harzscharrer oder Pechhauer war kein eigentlicher Lehrberuf. Oft erlernten Söhne die Fertigkeit von ihren Vätern. Die Pechsieder destillierten oder erhitzten das angekaufte Harz und trennten es so von seinen flüchtigen Bestandteilen. Es entstand das eigentliche schwarze Pech. In einem anderen Herstellungsprozess verwendete man ganze Hölzer. Das Pech entstand hier neben Teer und Holzkohle beim Verschwelen von harzhaltigem Holz im sogenannten Pech- oder Schmeerofen. In Märchen hat Pech eine negative Bedeutung. In „Frau Holle“ wird die Pechmarie mit Pech übergossen, um ihr trotziges Verhalten und ihre Faulheit zu bestrafen. Wegen seiner klebrigen Anhaftung steht das Pech symbolhaft für Unglück und einen schlechten Ruf. Die Pechmarie wird bei ihrer Rückkehr als „die schmutzige Jungfrau“ beschimpft. RESIN SCRATCHER AND PITCH BOILER The resin scratcher extracted resin from coniferous trees that he gave to the pitch boiler for further processing. Pitch is a black thick pulp and was used in various forms for different purposes. For instance, it was used to seal barrels and to dye all kinds of materials. In the past, boiling pitch was used to defend castles and fortresses. Shoemaker pitch on the other hand was used to tighten cobbler threads. It was also used as cart grease and for paint fabrication. First, the resin scratchers peeled the bark of pine, spruce, fir, or larch. They collected the resin in pots, stored it in wooden barrels and sold it to the pitch boiler for further processing. The jobs of resin scratcher and pitch boiler were not occupations that were taught. Often the sons would learn one or the

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other as a practical skill from their fathers. The pitch boiler distilled or heated up the resin purchased from the resin scratcher and separated it from its volatile parts. This is how black pitch is actually formed. In another manufacturing process one would use whole lumber. Pitch, as well as tar and charcoal, are derived by carbonizing wood containing resin in so-called pitch ovens. In fairy tales, pitch has a negative meaning. In “Mother Hulda”, Calamity Jane gets doused with pitch as punishment for her laziness and defiant behavior. Due to its sticky characteristic, pitch symbolically stands for misfortune and a bad reputation. Calamity Jane is berated as “dirty maiden” upon her return.

DER KÖHLER Holzkohle fand Verwendung als Brennstoff für die Eisenverhüttung und Metallgewinnung, aber auch zum Filtrieren von Wasser. Als Brennstoff trat sie mit der Intensivierung des Steinkohleabbaus in den Zechen in den Hintergrund. Köhler erzeugten die Holzkohle durch Verschwelen von abgelagertem Holz. Sie bereiteten zunächst einen freien Platz auf dem Boden vor. Dann schichteten sie um einen Schacht aus mehreren Stangen Holzscheite zu kegelförmigen Haufen auf. Diese „Meiler“ wurden mit Schichten aus Gras, Laub, Moos und Erde luftdicht abgeschlossen und durch den Schacht entzündet. Die Holzkohle entstand bei einer Temperatur zwischen 300 und 350° C. Dieser Prozess dauerte sechs bis acht Tage, bei großen Meilern auch mehrere Wochen. Am Rauch konnte der Köhler erkennen, ob der Verkohlungsprozess optimal verlief. Der Schwelbrand durfte weder erlöschen noch der Meiler in hellen Flammen aufgehen. Um den Prozess zu überwachen, mussten die Köhler auch nachts ihren Schlaf unterbrechen. Unter diesen Bedingungen waren die Köhler nicht nur Ruß, Qualm und Schmutz ausgesetzt. Sie zogen sich auch oft Verbrennungen zu. Nach dem Durchkohlen des Meilers wurde die Kohle in mehreren Arbeitsvorgängen abgetragen. Die einfachen Hütten der Köhler standen meist in der Nähe der Meiler. Auch das Märchen „Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein“ erzählt von Köhlern. Hier leben sie in ärmlichen Verhältnissen im Wald. Dem Märchenhelden können sie nur gekochte Kartoffeln anbieten. Im Märchen besitzen sie allerdings geheime Schätze, um die sie am Ende betrogen werden. THE CHARCOAL BURNER Charcoal was used as fuel for iron-making and extractive metallurgy, as well as for the filtering of water. But with the increase of hard coal mining, charcoal encountered a backward step in significance as a fuel resource. Charcoal burner produced char by carbonizing aged wood. They prepared a place in the ground by setting up a shaft with multiple bars. Then they put wooden billets layer upon layer into cone-shaped piles. These charcoal kilns were hermetically sealed with layers of grass, foliage, moss and soil and inflamed through the shaft. The char evolved at a temperature of between 300 and 350 degrees Celsius. This process lasted from six to eight days and bigger charcoal kilns took up to several weeks. The Charcoal burner could tell by the smoke if the process was progressing as it should. It was important that the smoldering fire wasn’t extinguished and, at the same time, the charcoal kiln didn’t burst into flames. To monitor the process, the coaler had to interrupt his sleep in the night. Under these conditions, coalers were not only exposed to soot, dense smoke and filthiness, they also often contracted

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burns. After carbonization, the char was ablated in several steps. The charcoal burners’ simple barracks were often in the vicinity of the charcoal kiln. The fairy tale “The Knapsack, the Hat, and the Horn” mentions coalers. Here they live in poor conditions in the woods. The fairytale heroes can only offer “some boiled potatoes with salt”. However, they are in possession of hidden treasures, which they lose at the end as a result of betrayal.

HOLZHAUER Holzhauer fällten Bäume, entfernten die Äste und hackten Brennholz. Außerdem waren sie für den gefährlichen Transport der Stämme aus unwegsamem Gelände ins Tal zuständig. Mit dem Beginn der intensiven Abholzungen im frühen Mittelalter bildeten die Holzhauer einen eigenen Berufsstand. Sogenannte „Holzerschaften“ existierten bis ins 19. Jahrhundert. Die Holzhauer kamen aus unterbäuerlichen Schichten der Dörfer. Als Tagelöhner arbeiteten sie oft im Auftrag von Holzhändlern. Die stetig wachsenden Siedlungen benötigten Bauholz. Außerdem schlugen die Holzhauer große Mengen Feuerholz für regionale Glashütten, Salzsiedereien und Privathäuser. Holzhauer bildeten die größte Gruppe der Waldarbeiter. Sie wurden schlechter bezahlt als die stärker spezialisierten Harzscharrer, Flößer, Köhler oder Holzbrenner und waren nicht so angesehen wie diese. Auch in den Märchen der Brüder Grimm wird die Armut der Holzhauer thematisiert: Im Märchen „Marienkind“ arbeitet der Vater als Holzhacker. Aufgrund der finanziellen Notlage der Familie entscheidet er sich, seine Tochter der Jungfrau Maria zu überlassen. Der Vater im Märchen „Der Geist im Glas“ muss als Tagelöhner die Bäume mit einer geborgten Axt schlagen. Axt und Handsäge gehörten zu den wichtigsten Arbeitsgeräten der Waldarbeiter. Um den Ertrag zu steigern, wurden die Axtform und die Bezahnung der Handsägen weiter verbessert. Die ersten mechanischen Sägen gab es Mitte des 19. Jahrhunderts. THE LUMBERJACK Lumberjacks cut down trees, removed branches, and chopped firewood. In addition to this, they were responsible for the dangerous transport of trunks from impassable grounds into the valley. At the beginning of intensive deforestation in the Early Middle Ages, the lumberjacks established their own trade. The so-called “Timber Communities” existed until the 19th century. Lumberjacks came from lower rural classes. They often worked as peons on behalf of timber merchants. The steadily growing rural and urban settlements were in need of construction timber. Furthermore, the lumberjacks chopped large amounts of firewood for the regional glass factories, salt works and private homes. Lumberjacks represented the largest group among the forest workers. They were badly paid earning less than the more specialized resin scratcher, craftsmen and charcoal burner and they did not enjoy the same occupational standing as the previously named. The lumberjacks’ poverty is a theme commonly addressed in the Brothers Grimm fairy tales. In “Our Lady’s Child”, the father works as a lumberjack. Due to financial distress of the family, he decides to relinquish his daughter to the Virgin Mary. The father in the fairy tale “The Spirit in the Glass Bottle” is a day laborer and has to cut down trees with a borrowed axe. Axe and handsaw are among the most important work tools of lumbermen. To boost the crop, the form of the axe and the blades of the handsaw were continually improved. The first mechanical saws appeared in the mid-19th century.

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Modul 3 ARMUT UND REICHTUM. LEBEN IN VERSCHIEDENEN WELTEN Im Märchen „Aschenputtel“ zwingt die Stiefmutter das Mädchen zu harter Arbeit im eigenen Haus. Wie sah im Vergleich damit der ländliche Arbeitsalltag im 19. Jahrhundert aus? Armut und Reichtum sind immer eine Sache des Vergleichs. In den Dörfern lebten wohlhabende und weniger wohlhabende Bewohner nebeneinander. Das Landleben war für die meisten Menschen durch harte körperliche Arbeit geprägt. Lebensmittel und einige Dinge des täglichen Gebrauchs stellten sie selbst her. Zur Aufbesserung ihres Auskommens verkauften oder tauschten sie die im häuslichen Gewerbe hergestellten Produkte. Landarbeiter und Tagelöhner verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf den Höfen der Bauern. Sie besaßen bis auf einen Garten kaum oder überhaupt kein Land. Wenn es der Hofherr zuließ, konnten sie eine kleine Parzelle pachten und bewirtschaften. Möglichkeiten, durch eigene Arbeit „reich“ zu werden, gab es auf dem Land bis ins 20. Jahrhundert kaum. Schon bei der Geburt war der gesellschaftliche Stand festgelegt: Kinder von Bauern, Kleinbesitzern, Landarbeitern oder Tagelöhnern gehörten wiederum zu diesen Gruppen, die sie kaum verlassen konnten. Einen Hof zu besitzen stellte in den meisten Fällen die Grundlage von finanziellem Wohlstand dar. Je vermögender ein Bauer war, desto mehr Einfluss besaß er im Dorf. In jedem Fall stellte der Hofbesitzer die oberste Autoritätsperson für alle Familienmitglieder und Hofangestellten dar. POVERTY AND WEALTH LIFE IN TWO DIFFERENT WORLDS In “Cinderella”, the stepmother forces the girl to conduct hard manual labor in her own house. But what did the rural every-day life of the 19th century look like in comparison? Poverty and wealth was always a matter of definition and comparison. In the villages, wealthy and less affluent residents lived door to door. Rural life to most of the people was marked by harsh, physical labor. They had to produce food and other things needed for everyday life themselves. To improve their livelihood they sold or traded these handmade products. Farm workers and day laborers earned their living on farmsteads. Except for a garden, if that, they did not posses any land. If permission was granted by the master, they could lease and till little parcels of land. Becoming “rich” through one’s own labor hardly existed in rural areas until the 20th century. One’s social standing was already determined at birth. Children of farmers, farm workers or day laborers belonged to a social group that was almost impossible to leave. In most cases, to possess a farm signified the basis of financial wealth. The wealthier the farmer was, the more influence he had within his community. The farm owner personified the uppermost authority for all family members and farm workers.

DIE WOHNKÜCHE ALS ALLZWECKRAUM Das Leben in Armut wird in zahlreichen Märchen der Brüder Grimm thematisiert. Hänsel und Gretel wurden in der ursprünglichen Textfassung von ihren Eltern aus purer Not im Wald ausgesetzt. Dort sollten sie für sich selber sorgen – oder verhungern. Das wenige Essen, das der Familie zur Verfügung stand, reichte kaum für die beiden Erwachsenen, jedenfalls nicht für eine ganze Familie. Diese Form von Armut war in der Realität auf dem Land immer wieder zu finden. Der Wohnraum ärmerer 16

Landbewohner war beschränkt. Oft kochte und wohnte man in einem einzigen Raum, in dem die gesamte Familie auch alle täglichen Arbeiten durchführte. Die kärgliche Ausstattung der Wohnküche spiegelt das geringe Einkommen der Familie. Ein Tisch und wenige Sitzgelegenheiten stellten meist die einzigen Möbel dar. Die wenigen Küchengeräte fanden ihren Platz an der Wand oder auf dem Boden. Essgeschirr war rar und bestand oft nur aus einfachen Tellern und Holzlöffeln. Auch die Auswahl an Nahrungsmitteln war bescheiden und eingeschränkt. Manchmal ernährten sich ärmere Familien wochenlang nur von Erbsen, Linsen, Rüben und Kartoffeln. Im Sommer machte frisches Gemüse den Speiseplan abwechslungsreicher. Fleisch war sehr teuer und kam daher nur an besonderen Feiertagen auf den Tisch. Auf kleinstem Raum spannen die Menschen Flachs, stampften Butter oder reparierten Werkzeug und andere Gegenstände. Die meisten ärmeren Familien ernährten sich vom eigenen kleinen Acker. Was sie nicht selbst benötigten, verkauften sie oder tauschten es gegen Waren, die sie nicht selbst herstellen konnten. Dazu gehörten Flachs zum Spinnen, Wachs für Kerzen sowie Kleidungsstücke. THE KITCHEN AS ALL-PURPOSE ROOM Living in poverty is one of the central themes in numerous tales of the Brothers Grimm. In the original version of “Hänsel and Grethel”, they were sent out to the woods due to extreme poverty. There they were forced to care for themselves – or die of starvation. The little food the family had at hand was hardly enough to feed the two adults, yet alone the whole family. This form of poverty could be found in real life in rural areas. The housing space of poorer country dwellers was limited. Oftentimes, they lived and cooked in one room, the same one where the entire family conducted their daily tasks. The scantily-equipped kitchen-/living room mirrored the humble income of the family. One table and a few seats mostly constituted the only pieces of furniture. The very few kitchen tools could be found hung up on the wall or on the floor. Dishes were rare and were often only simple plates or wooden spoons. The selection of food was just as modest and restricted. Poorer families would sometimes live for weeks on nothing but peas, lentils, turnips, and potatoes. It was only in summer that fresh vegetables would introduce a little variety to the diet. Meat was expensive and was therefore served only on special occasions. In confined space, people would strain flax, churn butter or repair tools and other utilities. Most of the poorer families survived with whatever their own little acre produced. What they did not need for themselves they would sell or trade for goods they were not able to make themselves. Among these were flax for spinning, wax for candles and items of clothing.

LÄNDLICHE ARBEIT AM BEISPIEL DER FLACHSVERARBEITUNG Wie viele andere Erzählungen berichtet auch das Märchen „Die drei Spinnerinnen“ von der Mühsamkeit der Flachsverarbeitung. Ein schönes Mädchen gilt als faul und möchte nicht spinnen. Durch eine Lüge seiner Mutter kommt es als vermeintlich fleißige Flachsspinnerin an den Königshof. Drei Frauen helfen ihm und dürfen als Gegenleistung zur Hochzeit des Mädchens mit dem Königssohn kommen. Dieser ist entsetzt über den „breiten Platschfuß“ der ersten Helferin, die „große Unterlippe“ der zweiten und den „breiten Daumen“ der dritten. Weil er darin Ergebnisse des ewigen Flachsspinnens erkennt, verbietet der Prinz seiner Frau, sich jemals wieder einem Spinnrad zu nähern. Flachs wurde in ganz Deutschland angebaut. Nach der Ernte und Röste trocknete 17

man den Flachs auf den Wiesen, strich mit der Reffe die Samenkapseln ab und trocknete ihn vollständig durch Darren am Feuer. Mit einer Flachsbreche wurden die groben Fasern gewonnen. Der feinere Bast entstand anschließend durch gezielte Schläge mit Schwingstöcken und Schwingschwert. Um die Flachsfasern spinnen zu können, mussten sie dann durch Hechelbretter gezogen werden, zuerst durch gröbere, dann feinere Zähne. Vom Rocken aus, einem runden Stab, wurde die gekämmte Flachsfaser zum Spinnrad geführt. Hier entstand der eigentliche Faden. Es gehörte viel Übung dazu, um die unterschiedlich starken Pflanzenfasern zu verspinnen. Aus den Fäden wurden schließlich die robusten Leinenstoffe für Kleidung oder Haustextilien gewebt. Die meisten Kleidungsstücke bestanden aus Leinen oder aus Wolle. WORKING LIFE AS IN FLAX PROCESSING Like many other fairy tales, “The Three Spinners” also tells a tale of the tediousness of flax processing. A pretty girl doesn’t want to spin and is considered lazy. Through a lie her mother tells, she arrives at the royal court allegedly as a diligent flax spinner. Three spinsters, however, help her and in return are allowed to attend the wedding of the girl, to the king’s son. The prince is horrified when he sees the “broad flat foot” of the first spinster, the “enormous hanging lip” of the second, and the “wide thumb” of the third. Because he sees therein the result of perpetual flax spinning, he forbids his beautiful bride to ever touch a spinning wheel again. Flax was cultivated throughout Germany. After harvest, it was dried on meadows and its seeds vessels were wiped off with a cradle scythe and then left to dry thoroughly through kiln-drying by the fire. The bigger fibers were won with the flax brake. The finer fibers were obtained by beating the flax with swinging sticks and swinging blades. To spin the flax fibers, they were pulled together through hackling boards, first with coarse then with finer sprockets. From the distaff, a round stick, the combed flax fiber was led to the spinning wheel. This is where the actual thread was made. It took a lot of practice to spin the plant fibers of varying strengths. Out of these threads the sturdy linen, which was essential for clothing and household textiles, was woven. Most garments were made out of linen or wool.

KÜCHE „Die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen“ sagt Aschenputtel zu den Vögeln in einem der wohl bekanntesten Märchen der Brüder Grimm. Im Märchen helfen verschiedene Vögel Aschenputtel dabei, die Linsen von der Asche zu trennen. Wohlhabende Bauern konnten auf Helfer zurückzugreifen. Sie beschäftigten Mägde und Knechte, die die härteren Arbeiten erledigten. Als „Gesinde“ lebten sie mit der Bauernfamilie zusammen auf dem Hof. Die Knechte arbeiteten auf dem Feld, holten Holz und kümmerten sich um die Pferde. Die Mägde waren für den Haushalt zuständig und halfen bei der Beaufsichtigung von Kindern. Außerdem erledigten sie Arbeiten im Stall und halfen auf dem Feld. Wie Aschenputtel hatte auch das Gesinde einen langen Arbeitstag. Er begann für die Mägde morgens mit dem Wasserholen und dem Anfeuern des Herdes. Im Gegensatz zu den als Allzweckräumen genutzten Wohnküchen ärmerer Haushalte diente die Küche eines wohlhabenden Bauernhauses hauptsächlich als Arbeitsraum. Hier wurde die tägliche Küchenarbeit verrichtet, gekocht und gebacken. Die Hofangestellten aßen in der Küche, teilweise auch die Bauernfamilie. Zu besonderen Anlässen buken die Frauen Waffeln. Zum Süßen des Teigs benutzten sie meist Honig, da Zucker ein Luxusgut war. Viele Gegenstände der Küchen in wohlhabenden Haushalten wurden als Wandschmuck genutzt. Gebrauchsware aus Materialien wie Kupfer oder aufwendiger Keramik repräsentierten den Reichtum ihrer Besitzer. Geschirr stand offen in 18

Schüsselbänken; Töpfe und Pfannen hingen am Herd. Oft erwärmte das Feuer der Küche durch eine Verbindung auch den Ofen der angrenzenden Wohnstube. KITCHEN “The good must be put in the dish, the bad you may eat if you wish” is how “Cinderella” instructed the “gentle dove, the turtle-dove, and all the birds” in probably one of the best-known fairy tales by the Brothers Grimm. In this fairy tale, various birds help Cinderella pick the lentils out of the ashes. Well-off farmers could afford to employ helpers. The employed maids and servants would carry out and finish the tougher work. As farmhands, they lived alongside the farmer’s family on the farm. The servants worked in the fields, fetched firewood, and took care of the horses. The maids were in charge of the household and helped look after the children. In addition, they worked in the stable and also helped in the fields. Like “Cinderella”, the servants had long working days. For the maids, it began early in the morning with fetching water and starting the fire of the stove. Contrary to the kitchens in poorer homes where they were used as all-purpose rooms, the kitchens of wealthier farmhouses functioned mainly as working rooms. The daily kitchen work such as cooking and baking was done here. The workers ate in the kitchen; at times, the farmer’s family did too. On special occasions the women baked waffles. To sweeten the dough they usually used honey. Sugar was a luxury. Many daily kitchen objects were used as wall decorations. In wealthier households, articles of daily use made out of materials such as copper or elaborate pottery reflected the wealth of their owner. Dishes such as studded bowl-shelves, pots and pans often hung by the stove. The kitchen fire frequently heated up the oven of the sittingroom close by.

DIE WOHNSTUBE Die Märchen der Brüder Grimm zeigen die unterschiedlichen Lebensverhältnisse der Menschen. Wie im Märchen „Aschenputtel“ erwähnen sie auch die Wohnräume der Wohlhabenden. Die Stiefschwestern möchten nicht, dass Aschenputtel mit ihnen in der feinen Stube sitzt. Dabei gehört Aschenputtel doch eigentlich auch zur Familie, wird aber von Stiefmutter und den Stiefschwestern wie eine Dienstmagd behandelt und damit herabgesetzt. Die Wohnstube diente vorrangig als Aufenthaltsort des Hausherren und seiner Familie. Es war etwas Besonderes, einen Wohnraum zu haben, in dem nicht auch geschlafen oder gearbeitet wurde. Auch die Ausstattung der Stube zeugte davon. Wohlhabende Menschen kauften ihre Möbel in der Stadt oder bestellten sie bei Schreinern. Diese fertigten aus verschiedenen Hölzern Einzelstücke für die reichen Auftraggeber. Verzierungen an den Möbeln wie Schnitzereien oder Einlegearbeiten dienten zur Repräsentation von Wohlstand. Auch Öfen gehörten im 19. Jahrhundert noch nicht zur selbstverständlichen Ausstattung eines Wohnraumes, sondern wiesen auf relativen Reichtum hin. Die vom Ofen ausgehende Gemütlichkeit konnten sich nur wohlhabende Menschen leisten. In der warmen Wohnstube hielt sich die Familie abends und im Winter auf und verbrachte ihre Zeit mit Ausbesserungen und Handarbeiten. Die Frauen stickten oder klöppelten Spitzen, um Stoffe zu verzieren. Für diese Zierarbeiten blieb Zeit, wenn Gesinde als Dienstpersonal bezahlt werden konnte, welches die täglich anfallende Arbeit im Haus erledigte. THE PARLOR The Brothers Grimm’s fairy tales illustrate the diverse living conditions of people. In “Cinderella”, they also comment on the housing of wealthier people. The stepsisters did not want to have Cinderella around with them in the parlor. Cinderella actually belongs to the family. However, she is treated, by her stepmother and stepsisters, like a live-in maid, thereby degraed. The parlor was primarily the living space of the man of the house and his family. It was something extraordinary to have a living room that did not, at the same time, also serve as bedroom and working room. The furnishings also confir-

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med this. Wealthy people bought their furniture in the cities or had them custom-made by carpenters, who would make individual pieces from different wood for their rich clients. Ornaments, such as carvings or inlays, were signs of wealth. Ovens were also not standard in 19th century homes. They were a sign of relative prosperity. Only the wealthy could afford the comfort and warmth of an oven. In the evenings and during winter the family would spend most of their time in the warm living room, repairing things and performing minor tasks. Women stitched or made lace to decorate fabrics. There was enough time for such decorative tasks if one could afford to pay servants to carry out the daily household work.

TEXTILE HANDWERKSKUNST Ihre Kenntnisse des Klöppelns und Stickens gaben Frauen an die nachfolgende Generation weiter. Die Mädchen erlernten die Techniken bereits als Kinder und perfektionierten sie mit zunehmendem Alter. Die fertigen Stücke dienten dem Eigengebrauch oder wurden nach Auftrag hergestellt. Beim Klöppeln wird das Garn zuerst auf spindelförmige Klöppel aufgewickelt. Dann werden die Fäden paarweise miteinander verflochten. Stecknadeln fixieren die entstehende Arbeit auf einem Kissen. Weißstickereien sind Techniken, bei denen mit einem weißen Faden auf weißem Stoff gestickt wird, manchmal auch mit einem schwarzen Faden auf schwarzem Stoff. Oft stickten Frauen aus ärmeren Verhältnissen oder diejenigen, die aufgrund eines körperlichen Gebrechens nicht in der Landwirtschaft mitarbeiten konnten, erwerbsmäßig. Die Frauen verzierten die Textilien mit Metallfäden, Perlen und Pailletten und bestickten sie mit Monogrammen und Ornamenten wie Herzen, Vögeln oder Menschenfiguren. Im 19. Jahrhundert rückte ländliche Handwerkskunst in den Blick bürgerlichen Interesses. Manche Bewunderer der traditionellen Techniken glaubten, in der Weißstickerei Verbindungen zu Arbeiten des Mittelalters zu sehen und „uralte“ Symbole zu erkennen. TEXTILE CRAFTSMANSHIFT Women passed on their handicraft skills of lace-making and stitching to the succeeding generations. Girls learned the techniques as children and perfected them as they grew older. The wrought pieces were made for personal use or per order. Coiling the thread to a spindle-shaped tatting makes lace. Then the threads are woven in pairs. Pins fixate the work on a pillow. White embroidery is a technique where a white thread is stitched on white fabric; sometimes also a black thread on black fabric. Often poorer women or those who, due to physical disability, could not help farm the land, stitched to earn a living. The women decorated the fabrics with metal yarns, pearls or sequins and embroidered them with monograms and ornaments, such as hearts, birds or human figures. In the 19th century, rural craftsmanship became popular amongst the bourgeoisie. Some admirers of the traditional techniques believe white embroidery has a connection with works of the Middle Ages and see “ancient” symbols in them.

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Modul 4 STEREOTYPE IN MÄRCHEN UND REALITÄT „Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere hässlich und faul.“ (Frau Holle) Wie im Märchen „Frau Holle“ begegnen den Hörern und Lesern in den Märchen viele charakteristische Figuren. Ob mächtiger König oder böse Stiefmutter: Ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen sind ihrer Rolle entsprechend weitgehend festgelegt und keinesfalls zufällig. Die typischen Eigenschaften der Märchenfiguren spiegeln die Moralvorstellungen sowie Geschlechterverhältnisse des 19. Jahrhunderts. Die Beiträge der verschiedenen Gewährsleute zeichnen dabei höchst unterschiedliche Figuren. Märchen geben so Auskunft über Wünsche und Ideale, über Probleme und Konflikte der damaligen Zeit. Die „Kinder und Hausmärchen“ sollten entsprechend der Absicht der Brüder Grimm auch als Erziehungsbuch wirken. Stereotype reduzieren die Wirklichkeit auf einfache Bilder. In der Ausstellung werden positive und negative Zuschreibungen einander gegenübergestellt und verdeutlicht. Im Märchen sind nicht immer alle Figuren eines Typus gleich. Und außerhalb jener Welt sind eindeutige Zuordnungen von Gut und Böse kaum möglich. Ein Blick in den Spiegel zeigt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Trotzdem fanden und finden auch in der Realität stereotype Zuschreibungen statt. STEROTYPES IN FAIRY TALES AND IN REALITY “A widow had two daughters, one was pretty and industrious, and the other was ugly and indolent.” (“Mother Hulda”) As in “Mother Hulda”, the reader encounters many characteristic figures in the fairy tales. Whether mighty king or evil stepmother, their features and ways of behavior are largely fixed to correspond to their roles and are certainly not coincidental. These typical features of fairy tale figures reflect the moral values and gender relations of morality of the 19 th century. Contributions from other sources reveal a variety of characters. Fairy tales provide information about hopes and ideals, as well as about problems and conflicts of the time. It was the intention of the Brothers Grimm that the “Children and Household Tales” be regarded as an educational book as well. Stereotypes reduce reality to simple images. In this exhibition, their positive and negative attributions are brought face-toface and elucidated. However, even in fairy tales, characters of the same type are not always alike. And outside the fairy tale world, distinct specifications such as good and evil are hardly possible. One look in the mirror proves that every person is unique. Nevertheless, even in reality, stereotype role attributions are evident.

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SCHICKSALSRAD Es besteht für die BesucherInnne die Möglichkeit an einem Schicksalsrad zu drehen: Mensch, nun dreh am Schicksalsrad! Sei wie’s die Gesellschaft sagt! Füge Dich! Hast du Zweifel, hast du Sorgen? Schau, was aus dir geworden! Man, now spin the wheel of fortune! Be as society demands! Accept your lot! Do you have a worry or a doubt? Now look at how you’ve turned out!

SPIEGEL Im Modul befindet sich ein Spiegel mit folgender Aufschrift: Mensch, sieh dich im Spiegel an! Er löst dich nun aus deinem Bann. Doch sagt der Spiegel, was du bist? Zeigt er, wie es wirklich ist? Wer gibt ihm seine Meinung ein? Bist du es, und nur du allein? Man, look at yourself in the mirror! It will now release you from your spell. But does the mirror tell you what you are? Does it show how it really is? Who is it that tells it what to think? Is it you and you alone?

DIE SORGENDE MUTTER Ist es Ihnen schon einmal aufgefallen? Liebevolle und sorgende Mütter kommen in den Märchen der Brüder Grimm kaum vor. Meist sterben sie bei der Geburt ihres Kindes oder zu Beginn der Handlung, wie die Mutter von Hänsel und Gretel, die Mutter der Goldmarie in „Frau Holle“ und die Mutter Schneewittchens. Ist die leibliche Mutter noch am Leben, hat sie eine starke Bindung zu ihren Kindern, wie zum Beispiel die Mutter von Schneeweißchen und Rosenrot. Dieses Märchen wurde übrigens als einziges von Wilhelm Grimm frei erfunden. Doch selbst tote Mütter können Gutes bewirken und zugunsten ihrer Kinder in das Geschehen eingreifen. So schenkt die Mutter ihrem „Aschenputtel“ die schönsten Kleider und ermöglicht ihr den ersehnten Besuch des königlichen Balls. Der Figur der „sorgenden Mutter“ liegt das bürgerliche Ideal der „guten Ehefrau und Mutter“ zugrunde. Diese Idee hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. „Gute Mütter“ zeichneten sich durch Aufopferung, bedingungslose Liebe, Fürsorglichkeit und Geduld aus. Sie sollten fromm, keusch und gehorsam sein. 22

Auf dem Land sah die Lebenswirklichkeit anders aus. Hier nahm die Mutter direkt nach der Geburt ihre Arbeit in Haus und Hof wieder auf. Die Kinder wurden der Obhut anderer Familienmitglieder oder des Gesindes übergeben. Bereits kurz nach dem Kleinkindalter übernahmen die Kinder Teile der gemeinsamen Arbeit. Der „sorgenden Mutter“ steht die Märchenfigur der „schlechten Mutter“ gegenüber. Sie tritt meist in der Gestalt der „bösen Stiefmutter“ auf, die sich schlecht um die ihr anvertrauten Kinder kümmert. THE CARRING MOTHER Has it ever come to your attention? Affectionate and caring mothers are rarely found in the Brothers Grimm’s fairy tales. They usually die, either at childbirth or at the onset of the storyline, just like the mother in “Hansel and Grethel”, or the mother of “The Golden Girl” in “Mother Hulda” and the mother of “Snow-White”. If the biological mother is still alive, she is strongly committed to her children, as in the example of “Snow-White and Rose-Red’s” mother. This incidentally is the only complete fictitious fairy tale to be written by Wilhelm Grimm. But even deceased mothers can interfere with proceedings in favor of their own children. For example, “Cinderella’s” mother gives her the most beautiful gowns and makes it possible for the girl to join the eagerly awaited royal ball. The character of the “caring mother” underlies the middle-class’s ideal of “the good wife and mother”. This idea had originated in the 19th century. “Good mothers” signified devotion, unconditional love, and patience. They were pious, pure, and obedient. In rural life, everyday reality was anything but. Here the mother postpartum promptly resumed her work in the house and at the farm. The children were given to the custody of other family members or fellow servants. At early childhood, children had to undertake portions of the common work. The “caring mother” is juxtaposed in opposition with the “wicked mother”. The latter mostly appears in the character of the “evil stepmother” who does not care about the children that have been entrusted to her.

DIE STIEFMUTTER / HEXE Stiefmutter und Hexe sind ähnliche Charaktere. Die Stiefmutter ist boshaft, neidisch, rachsüchtig und eitel. Sie behandelt ihre Stiefkinder schlecht, lässt sie hungern oder stellt ihnen scheinbar unlösbare Aufgaben. So muss „Aschenputtel“ innerhalb kurzer Zeit Erbsen und Linsen sortieren, die Stieftochter aus „Die drei Männlein im Walde“ soll im Winter Erdbeeren finden. Meist tritt die Stiefmutter in Begleitung ihrer leiblichen Kinder auf. Diese sind wie Aschenputtels Stiefschwestern „garstig und schwarz von Herzen“. Ebenso boshaft, rachsüchtig und hochmütig ist die Märchenhexe. Sie nimmt sehr unterschiedliche Gestalten an. Mal tritt sie als schöne Stiefmutter auf, wie in „Schneewittchen“, mal als steinalte Frau mit krummer Nase, wie in „Hänsel und Gretel“, mal in Gestalt einer Nachteule, wie in „Jorinde und Joringel“. Manchmal verspeist sie Menschenfleisch, wie die Köchin im Märchen „Fundevogel“. Beide Märchengestalten haben Anknüpfungspunkte zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Die Stiefmutter ist das Gegenbild zum bürgerlichen Ideal der „guten, sorgenden Mutter“ des 19. Jahrhunderts. Mit Hilfe der Figur der „bösen Stiefmutter“ konnten 23

die Brüder Grimm das Wunschbild der „guten Mutter“ umso deutlicher zeichnen. Die Hexe hingegen besitzt einen älteren Ursprung. Gerade in ländlichen Gegenden wurden Frauen aus vielen Gründen der Hexerei beschuldigt. Man machte sie für sterbendes Vieh und schlechte Ernten verantwortlich. Außerdem sollten sie Menschen mit Krankheiten belegen können. THE STEPMOTHER / THE WITCH Stepmothers and witches are similar characters. The stepmother is wicked, envious, vindictive, and vain. She mistreats her stepchildren, starves them and makes them do seemingly impossible tasks. Thus, “Cinderella” has to pick a dishful of lentils from the ashes; the stepdaughter in “The Three little Men in the Wood” must fetch strawberries in winter. Usually the stepmother appears in the company of her biological children. These children, like the stepsisters in “Cinderella”, are “vile and black of heart”. The fairy tale witch is just as vicious, vindictive, and arrogant. She takes on very different forms. She might appear as a beautiful stepmother as in “Cinderella”, other times as old as the hills with a crooked nose as in “Hansel and Gretel”, or in the shape of a night owl, as in “Jorinda and Joringel”. She is also known to eat human flesh as the cook in “Foundling-Bird”. Both fairy tale characters have connecting points to the people’s reality of life. The stepmother is the counter-image to the bourgeois ideal of the “good caring mother” of the 19th century. By means of the figure of the “evil stepmother”, the Brothers Grimm were able to draw an even more distinct image of the ideal “good mother”. The witch’s image, on the other hand, is of older origin. In rural areas particularly, women were accused of witchcraft for a variety of reasons: They were made responsible for dying cattle and bad harvest. Furthermore, they were accused of putting diseases upon people.

DER MÄCHTIGE KÖNIG Im Märchen stellt der König eine positive Figur dar. Als Herrscher über Land und Leute entscheidet er allein und erteilt seine Befehle. Der König repräsentiert die männliche Vorherrschaft. Seine Macht ist unbeschränkt, wie im Märchen „Rumpelstilzchen“. Dort sperrt er die Müllerstochter ein und verlangt von ihr, für ihn Stroh zu Gold zu spinnen. Häufige Eigenschaften des Königs sind Strenge und Weisheit, aber auch die Begierde nach Gold und Reichtum. Seine Vorliebe gilt den Pferden und der Jagd. Oft ist er alt und tritt als Vater auf, der einen Bräutigam für seine Tochter sucht. Wie die Märchen war auch die Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts auf die Vorherrschaft des Mannes ausgerichtet. Im Bürgertum gab es die Idealvorstellung vom Mann und Vater, der als oberste Autorität allen Familienmitgliedern übergeordnet war. Man ging davon aus, dass der Mann außer Haus arbeitete und die Familie repräsentierte. Aufgabe der Frau sollte die Aufsicht über den Haushalt sein. Auch auf dem Land galt der Vater als oberste Autoritätsperson. Allerdings war die Trennung zwischen den Geschlechtern nicht so strikt wie in den bürgerlichen Idealvorstellungen. Denn in die Landwirtschaft waren Männer und Frauen gleichermaßen eingebunden, auch wenn sie je eigene Arbeitsbereiche hatten. Die Männer waren hauptsächlich für die risikoreichen Arbeiten auf dem Feld, im Wald oder Steinbruch zuständig. Die Frauen erledigten in erster Linie die Arbeiten im Haus, halfen aber auch auf dem Feld und bei der Versorgung der Tiere.

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THE MIGHTY KING In fairy tales, the character of the king is a positively portrayed figure. As ruler over the land and its people, he alone makes decisions and gives orders. The king represents male supremacy. His rule is absolute, as in the fairy tale “Rumpelstiltskin”. There he locks up the miller’s daughter in a room full of straw and tells her to spin that straw into gold for him. Common characteristics of the king are strength and wisdom, but also the lust for gold and riches. He is known to have a fondness for horses and hunting. He is often aged and appears as the father in search of a bridegroom for his daughter. As in fairy tales, the society of the 18th and 19th centuries was strongly influenced by male supremacy. The ideal concept of the bourgeoisie was that the man and the father be the superior and headmost authority of all family members. It was assumed that the man would work outside the house and was the representative of the family. Housekeeping was the wife’s duty. In rural areas, the father was depicted also as a person of higher authority. However, gender segregation was not as strict as it was in the middle-class ideal. Men and women were equally involved in farming even if each had their own working areas. Men primarily carried out the hazardous works in the fields, in the wood or in the stone quarry. Women, for their part, mainly handled work inside the house but also helped in farming and in taking care of the animals.

DER BÖSE WOLF ALS LÜSTERNER UNHOLD Die Figur des Unholds kann viele Gestalten annehmen. Es gibt den mächtigen Unhold wie das zauberkundige Rumpelstilzchen. Im Märchen „Rotkäppchen“ ist es die Gestalt eines Wolfes. Der Unhold verkörpert menschliche Eigenschaften, die als böse und unerwünscht verstanden werden. Innerhalb der Erzählungen wird mit dem Unhold eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse getroffen. Der Wolf bedroht das unschuldige Rotkäppchen. Psychoanalytiker deuteten das Begehren des Wolfes als Symbol für die sexuelle Begierde des Mannes. Die Absicht des Märchens sahen sie darin, junge Mädchen für die Gefahr der Verführung und des Missbrauchs zu sensibilisieren. In der Zeit der Brüder Grimm wurde die Sexualmoral neu organisiert. Männern wurde neben Stärke und Vernunft auch eine höhere sexuelle Lust und Gier nachgesagt. Frauen dagegen wurden als schwach und gefühlsbetont dargestellt. Im bürgerlichen Idealbild bestand die Ehre der Frau in ihrer Unschuld und Unberührtheit. Deshalb sollten Frauen vor Verführung bewahrt werden. Ihre Jungfräulichkeit und Keuschheit galten als besonders schützenswertes Gut. Zwar galten auch auf dem Dorf religiöse und gesellschaftliche Vorstellungen von der sexuellen Unberührtheit vor der Ehe als Ideal. Doch besonders arme Bedienstete mussten viele Jahre arbeiten, bevor sie sich eine Existenz aufbauen und eine Familie gründen konnten. Deshalb wurde es innerhalb des Dorfes oft toleriert, wenn Verlobte vor der Ehe Sex hatten oder sogar Kinder bekamen. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war also nicht unüblich, musste sich aber im Rahmen dörflicher Normen bewegen. THE BAD WOLF AS LUSTFUL FIEND The fiend’s character can adopt many figures. There is, for example, the mighty fiend as in the magically skillful “Rumplestiltskin”. In “Little Red Riding Hood”, it is the figure of a wolf. The fiend embodies human features that are perceived as evil and undesirable. Within the story, the fiend provides a clear distinction between good and evil. The wolf threatens innocent Little Red Riding Hood. Psychoanalysts interpret the wolf’s craving as a symbol of men’s sexual desires. The aim of this particular fairy tale was to make young girls be aware of the danger of seduction and abuse.

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In the Brothers Grimm’s lifetime sexual morality underwent a change in the way it was viewed. Aside from having strength and reason, men were said to have a higher sexual craving and sexual appetite. Women, on the other, were considered weak and emotional. In the bourgeoisie, a woman’s honor ideally comprised of her innocence and virginity. Therefore, women were meant to be safeguarded from seduction. Their virginity and chastity were considered to be valuable assets worth protecting. Religion and the social ideal of sexual virginity before marriage applied in rural areas too, but poorer peasants in particular had to work hard for many years before they could build up a home and start a family. Therefore, in the villages, it was often tolerated when engaged couples had premarital sex or even had children. Premarital intercourse was therefore not unusual but was confined in its rural norms.

DER ABENTEUERLUSTIGE PRINZ Die Märchen beschreiben den Prinzen als naiven, neugierigen, furchtlosen und ausdauernden jungen Mann. Niemals trägt er einen eigenen Namen oder weist eine erkennbare Persönlichkeit auf. Der Prinz ist stark, mutig und treu. Er trifft immer die richtigen Entscheidungen, besonders in der Liebe. Das macht ihn zu einer sprichwörtlichen Figur: zum Märchenprinzen. Das Publikum sympathisiert mit ihm und überträgt die eigenen Wünsche auf ihn. Die Hochzeit ist die Bestimmung des Prinzen. Erst die heimgeführte Braut macht ihn zum König und verhilft ihm zu seiner vorbestimmten Rolle. Um die Braut zu gewinnen, muss er seine Männlichkeit beweisen, Mutproben und Kämpfe bestehen. Im Märchen „Dornröschen“ kennt der namenlose Prinz das Schicksal seiner Vorgänger, die ebenfalls die Prinzessin retten wollten und dabei zu Tode gekommen sind. Aber er fürchtet sich nicht, seine Neugier ist stärker als die Angst vor dem Tod. „Ich will durch die Hecke dringen und das schöne Dornröschen befreien“, ruft der Prinz in der Erstausgabe von 1812. Er gelangt mühelos in das Reich der Prinzessin und weiß sofort, was zu tun ist. Ganz selbstverständlich erlöst er die Verwunschene mit einem Kuss. Der Märchenprinz zeigt das Idealbild des bürgerlichen Mannes auf. Gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts verstärkten es. Mit der Einführung der Wehrpflicht wurde der Militärdienst Teil des männlichen Lebenszyklus. Dort sollte der Mann militärische und „männliche“ Tugenden wie Ehre, Freiheitssinn, Kameradschaft und Patriotismus erlernen. Das Idealbild sah den Mann als ehrenvollen Krieger und furchtlosen Beschützer des Staates. Durch die „Schule der Männlichkeit“ sollten auch die Benimmregeln für das tadellose Auftreten des Mannes in der Gesellschaft geprägt werden. THE ADVENTUROUS PRINCE Fairy tales describe the prince to be naïve, curious, fearless, and persistent. Neither is he called by his name nor does he show a recognizable personality. The prince is strong, brave, and faithful. He always makes the right decisions, especially in matters of love. All this literally makes him into a “Prince Charming”. The audience sympathizes with him. Marriage is his destiny. Not until he takes home his bride can he become king and play his predestina-

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ted role. To win his bride, he has to prove his virility, withstand tests of courage and win battles. In “Sleeping Beauty”, the nameless prince knows of his predecessors’ fate who also wants to save the princess and thereby find death. But he is not afraid; his curiosity is stronger than his fear of death. “Nevertheless, I do not fear to try; I shall win through and see lovely Rosamund”, the prince calls out in the first edition of 1812. He effortlessly arrives at the princess’ kingdom and knows exactly what to do. He releases the enchanted girl from the curse, with a kiss of course. “Prince Charming” illustrates the ideal picture of the middle-class man. Social developments of the 19th century reinforced it. The introduction of compulsory military service made this become part of the young men’s cycle of life. While at service, men had to learn military as well as “masculine” virtues such as honor, sense of freedom, fellowship, and patriotism. The ideal picture portrayed men as honorable warriors and fearless protectors of the state. In this “School of Manhood”, men should also learn good manners and the rules of etiquette for a flawless appearance and conduct in society.

DER PANTOFFELHELD Der Pantoffelheld stellt ein scherzhaftes Negativbild des Mannes dar, eines Mannes, wie er eigentlich nicht sein sollte. Es schildert ihn als feige, ängstlich, seiner Frau unterlegen. Der Pantoffelheld ordnet sich unter, fügt sich jeder Erniedrigung und wird der Geschlechterrolle „Mann“ nicht gerecht. Gleichzeitig strahlt er eine närrische und sonderbare Gelassenheit aus, mit welcher der Leser sympathisieren kann. Im Märchen „Die faule Spinnerin“ möchte der Mann, dass seine Frau spinnt, weil es zu ihren Aufgaben gehört. Sie hat jedoch keine Lust dazu. Mit List schafft sie es, ihn dazu zu bewegen, dass er selbst mit dem Spinnen beginnt. Der Erzähler des Märchens bemerkt am Ende: „Aber das musst du selbst sagen, es war eine garstige Frau.“ Die Erzählungen und Schwänke, die von einem Pantoffelhelden handeln, machen sich über den Machtverlust des doch eigentlich „starken“ Geschlechts lustig. Der Pantoffelheld erfüllt die für den Mann vorgesehene Rolle nicht. Seine Frau wird mit bösem und negativem, einnehmendem Charakter dargestellt. Als ein sichtbares Zeichen für den Rollentausch der Geschlechter erhält der Pantoffelheld weibliche Symbole wie Nüsse, Eier, eine Schürze oder einen Pantoffel. Der Pantoffel wurde als Bezeichnung für das weibliche Geschlecht verwendet, steht aber auch für die Herrschaft über andere. In der Lebenswirklichkeit des 19. Jahrhunderts war die Familie auf den Mann angewiesen. Besonders im Bürgertum erwirtschaftete ausschließlich er durch seine Erwerbstätigkeit das Familieneinkommen. Das Idealbild verlangte, dass der normengeleitete, vernünftige und kluge Mann seine emotionale, treue und naive Frau unter Kontrolle hatte. Anders verhielt es sich auf dem Land, wo Männer und Frauen zusammen den Lebensunterhalt erwirtschafteten, wenn auch durch unterschiedliche Tätigkeiten. THE HENPECKED HERO The henpecked hero constitutes a facetious, negative male image that shows how a man should not be! He is described as cowardly, anxious, and dominated by his wife. The henpecked hero is subservient, submits himself to all kinds of humiliation, and does not fulfill the male gender role. At the same time, he radiates a foolish and strange calmness that the reader sympathizes with. In “The Lazy Spinner”, the man wishes his wife to spin, this being one of her duties. She, however,

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doesn’t feel like doing it. Cunningly, she manages to have him spin himself. The narrator at the end of the fairy tale remarks: “But you yourself must admit she was an odious woman!” The stories and parodies involving henpecked heroes make fun of the loss of power of the purportedly “strong” gender. The henpecked hero does not fulfill the manly role. His wife is depicted as an evil and negatively ingratiating character. As a visual sign of the reversal of gender roles the henpecked hero is attributed with female symbols such as nuts, eggs, aprons, and a slipper. The slipper was used as a designation of the female gender but at the same time stands for domination over others. In the reality of life in the 19th century, the family depended on the man. Especially in the middleclass, he alone generated the family’s income through his occupation. The ideal image required that the standard, sensible and knowledgeable men would have their emotional, faithful, and naïve wives under control. This was not the case in rural life where man and wife earned their livelihood together, even if each one carried out separate activities.

DIE PRINZESSIN Zu den beliebtesten Märchenfiguren zählt die Prinzessin. Sie ist stets die Schönste, und am Ende heiratet sie einen reichen Prinzen, mit dem sie glücklich bis in alle Ewigkeit lebt. Für dieses Glück zahlt sie aber mit dem Verlust ihrer Individualität. Sie nimmt Demütigungen in Kauf oder erträgt Langeweile. Manchmal wartet sie viele Jahre lang auf einen Mann, der sie rettet, küsst und heiratet. Oder aber ihr Vater sorgt für den passenden Prinzen, manchmal sogar, indem er sie aus Dank verschenkt oder als Wetteinsatz verspielt, wie im Märchen „Sechse kommen durch die ganze Welt“. Wie der Prinz trägt auch die Prinzessin keinen eigenen Namen. Sie repräsentiert allgemein erwünschte Eigenschaften einer Frau: Anmut und Reinheit, Demut und Fleiß. Ist sie einmal störrisch oder widersetzt sich, führen Strafen zu Einsicht und Zähmung der Widerspenstigkeit. Auch in der Realität des 19. Jahrhunderts sollte die Erziehung Mädchen auf ihre spätere Tätigkeit als Ehefrauen und Mütter vorbereiten. Im städtischen Bereich gab es spezielle Mädchenschulen. Dort standen auch Sprachen, Erdkunde, Schönschreiben und Singen auf dem Plan, denn eine Frau sollte ihrem Ehemann eine geistreiche Gesprächspartnerin sein. Gebildet galt sie als fähiger, die Kinder zu erziehen und die Dienstboten anzuweisen. Belesenheit und Geschick wogen oft Armut oder Unansehnlichkeit auf. Auf dem Land konnte die strikte Trennung der Geschlechter nicht umgesetzt werden. Auch im Märchen wiegen Fleiß und Klugheit manchmal schwerer als der fehlende Adelsstand, und das arme Mädchen wird am Ende zur Prinzessin. So ist es etwa in den Märchen „Die kluge Bauerstochter“ oder „Die drei Spinnerinnen“, wenn der Fleiß auch hier nur vorgetäuscht ist. THE PRINCESS The princess is probably the most popular fairy tale character. She is always the most beautiful and at the end weds a wealthy prince with whom she lives happily ever after. But she pays for this good fortune with the loss of her individuality. She suffers indignity or bears boredom. Sometimes she waits many years for a man who will come to save, kiss, and marry her. Or her father makes sure that the suitable prince comes along; sometimes he gives her away as a gesture of gratitude or even gambles her as a wager, as in “Six Soldiers of Fortune”. Like the prince, the princess does not have a name. She embodies commonly desirable female features: Grace and purity, humility and diligence. If she is stubborn or defiant at some point, punishment leads her to discretion and taming of her unruliness.

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In the reality of the 19th century, upbringing and education involved preparing young girls for their duties later as mothers and wives. In urban areas, special schools for girls were established. Foreign languages, geography, fine penmanship and singing were taught because women were supposed to be witty conversational partners to their husbands. If well-educated, she was considered more capable to raise the children and to instruct personnel. Literacy and skill often offset poverty or dowdiness. In rural areas, the strict gender separation was not possible due to a shortage of teachers. Even in fairy tales, diligence and cleverness sometimes prevail over the missing nobility and at the end the poor girl becomes the princess. This occurs in “The Peasant’s Wise Daughter” and in “The Three Spinners”, even if in this case, diligence is only feigned.

DIE PECHMARIE Das Gegenstück zur Goldmarie im Märchen stellt die Figur der Pechmarie dar. Sie ist faul, launisch, habgierig, vorlaut und hässlich. Aufgrund dieser Eigenschaften wird sie am Ende mit Hohn und Spott überzogen: „Die war es wohl zufrieden und meinte, nun werde der Goldregen kommen, die Frau Holle führte sie auch hin zu dem Thor, als sie aber darunter stand, ward statt des Golds ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. ,Das ist zur Belohnung deiner Dienste‘, sagte die Frau Holle und schloß das Thor zu. Da kam die Faule heim, ganz mit Pech bedeckt, und das hat ihr Lebtag nicht wieder abgehen wollen.“ Solche launischen jungen Frauen gibt es auch unter anderen Namen. Sie werden ebenfalls mit Armut oder gar dem Tod bestraft. Im Märchen „König Drosselbart“ ist es sogar die Prinzessin, die sich arrogant verhält. Zur Strafe wird ihr Wille gebrochen. Sie wandelt sich zu einer fleißigen und demütigen Frau. „Ich und der Bettelmann sind eins“, erklärt König Drosselbart, „und ich bin auch der Husar gewesen, der dir die Töpfe entzwei geritten hat; und das alles ist nur dir zur Besserung und zur Strafe geschehen, weil du mich ehedem verspottet hast, jetzt aber soll erst unsere Hochzeit gefeiert werden.“ Die Vorstellung vom Gehorsam und der Willenlosigkeit der Frau entsprach den damals üblichen gesellschaftlichen Erwartungen. Obwohl es kein Gesetz gab, das explizit den Gehorsam der Frau forderte, führte die Rechtsprechung zur Abhängigkeit der Ehefrauen von ihren Männern. Ohne die Zustimmung ihres Mannes durfte eine Frau keine berufliche Tätigkeit ausüben. Zudem konnte er über ihre Einkünfte verfügen oder ihren Besitz veräußern. CALAMITY JANE Calamity Jane is the counterpart of “The Golden Girl”. She is lazy, moody, greedy, rude, and ugly. For these characteristic features, she is scorned and mocked at the end. „The lazy thing was well pleased, and thought that the shower of gold was now coming; so Mother Hulda led her to the door, and as she stood in the doorway, instead of the shower of gold a great kettle full of pitch was emptied over her. “That is the reward for your service,” said Mother Hulda, and shut the door. So the lazy girl came home all covered with pitch, and the cock on the top of the well seeing her, cried: “Cock-a-doodle doo! Our dirty girl has come home too!” And the pitch remained stuck to her, and never, as long as she lived, was it able to be removed.“ Such moody young women are also known under different names. They are likewise punished with poverty or even with death. In “King Thrushbeard” it is the princess herself who behaves contemptu-

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ously. As punishment her will is overpowered and she becomes a hardworking, diligent, and humble woman. “I and the fiddler who has been living with you in that wretched hovel are one” the king explains. “And I was also the hussar who rode through your crockery. This was all done to humble your proud spirit, and to punish you for the insolence with which you mocked me.” “Be comforted, the evil days have past; now we will celebrate our wedding.” The perception of the woman’s obedience and absence of will conformed to the general social expectations of the time. Although there was no existing law that explicitly demanded women’s submission, jurisdiction led to the dependency of wives on their husbands. Without the consent of her husband, a woman was not allowed to engage in any occupation. Moreover, he could dispose of her income or even sell her belongings.

MODUL 5 ÜBERGÄNGE IM MENSCHLICHEN LEBEN Die Grimmschen Heldinnen und Helden sind während der Märchenhandlung unsterblich. Wie bei „Frau Holle“ oder „Schneewittchen“ besuchen sie das Totenreich und kehren unversehrt zurück. Der Tod bedeutet an dieser Stelle Wandel. Mit dem Tod eines Helden oder einer Heldin vollzieht sich sein oder ihr Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Das menschliche Leben ist geprägt und geordnet durch Übergänge. Jeder Übergang stellt auch eine Krise dar, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft und ihre Ordnung. Bräuche und Sitten markieren die Übergänge, machen sie lebbar und geben Orientierungshilfen. Sie helfen, diese Krisen zu bewältigen und in das soziale Leben zurückzufinden. Durch diesen Bereich der Ausstellung begleitet das Märchen „Der Gevatter Tod“. Es erzählt von verschiedenen Übergängen im menschlichen Leben. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der letzte und endgültige Übergang: der Tod. Er tritt als Person auf und steht einem Kind seit der Taufe und später bei der Berufsausübung als Arzt zur Seite. Eine Hochzeit wird in diesem Märchen nicht thematisiert. Trotzdem wird sie hier vorgestellt, denn sie symbolisiert die früher allgemein vorgesehene und erwünschte Grundsteinlegung für eine neue Familie. Die Darstellung der Übergänge konzentriert sich auf die Lebensumstände der bäuerlichen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts in Hessen. PASSAGES IN HUMAN LIVES In the story lines of the Brothers Grimm’s fairy tales, heroes and heroines are immortal. In “Mother Hulda” or in “Snow-White”, they visit the netherworld and return unscathed. Death at this point signifies transformation. With the heroes or heroine’s demise, transition to a new phase of life takes place. Human life is characterized and sorted out by transitions. Each passage is outlined by a crisis for each individual as well as for the community and its order. Customs and mores mark the passages, make them livable and offer guidance. They help characters deal with a crises and find their way back to

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social life. The fairy tale “Godfather Death” will accompany you through this section of the exhibit. It tells of the different passages in human life. The central point of the story is the final and definite passage: death. Godfather Death appears as a person supporting a child from its baptism onwards. There is no mention of a wedding in this fairy tale yet one is presented in this exhibit. Marriage symbolized the foundation that at the time was generally foreseen as the ideal and desired basis for a new family. The passages depicted therein focus on the living conditions of the rural population of the 19th century in Hesse.

GEBURT Auf dem Land wurden Kinder bis weit ins 19. Jahrhundert zu Hause geboren, meistens im Bett oder im Wohnraum, im Winter direkt am Kamin. Stroh oder Asche bedeckte den Boden, um Geburtsflüssigkeit und die Nachgeburt aufzufangen. Türen und Fenster wurden geschlossen, auch um böse Geister fernzuhalten. Bei plötzlich einsetzenden Wehen bekam eine Mutter ihr Kind durchaus während der Arbeit, zum Beispiel auf dem Feld oder im Stall. Ärzte wurden nur bei Komplikationen hinzugezogen. Um die Gebärende kümmerten sich die Frauen aus der Familie oder der Nachbarschaft, meist half eine Hebamme dem Kind auf die Welt. Die Männer waren normalerweise nicht anwesend. Eine Dorfhebamme arbeitete nach traditionellem Wissen und nach eigener praktischer Erfahrung. Sie musste rund um die Uhr einsatzbereit sein. Auch nach der Geburt sorgte sie für Mutter und Säugling. Es war eine zeit- und kraftraubende Arbeit, die bis ins 19. Jahrhundert in Form von Naturalien bezahlt wurde. In Grimms Märchen kommen keine Hebammen vor. Stattdessen holt zum Beispiel ein Storch einen Jungen aus einem Brunnen, wie im Märchen „Die beiden Wanderer“. Wenn Stiefmütter den Hebammendienst im Märchen übernehmen, führen sie meist nichts Gutes im Schilde. Auch wenn im 19. Jahrhundert eine Geburt gut verlaufen war, starben in den ersten Wochen und Monaten viele Säuglinge aufgrund von mangelnder Hygiene, fehlender medizinischer Versorgung, aber auch wegen schlechter Behandlung. Nicht selten starben Mütter bei der Geburt – so kamen in Märchen wie in der Realität oft Stiefmütter vor. Der Umgang mit Kindern sah ganz anders aus als heute. Solange ein Kind zu klein war, um zu arbeiten, wurde es auch als Belastung empfunden. Babys und Kleinkinder mussten die meiste Zeit des Tages unbeachtet in selbst gebauten Vorrichtungen, in Wiegen, Kinderstühlchen oder „Gehschulen“, verbringen. Auch Märchen thematisieren die schlechte Behandlung von Kindern. Den Geschwistern im Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ ergeht es so schlecht, dass sie beschließen, von zu Hause fortzulaufen. BIRTH Well into the 19th century, mothers in rural areas gave birth at home. This took place in bed, in the sitting room or by the fireplace (in winter). The floor was covered with straw or ashes to absorb birth fluids and the placenta. Windows and doors were closed to keep evil spirits away. In some instances, due to sudden contractions announcing the onset of labor, mothers would give birth at work, either in the fields or in the stables.

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Physicians were only consulted if complications occurred. Women in the family or in the neighborhood took care of the women who were in labor; in most cases a midwife helped deliver the child. Men were not usually present. A rural midwife worked according to traditional knowledge or her own practical experience. She had to be fit for service around the clock. She did not only take care of the mother but also administered infant post-natal care. Well into the 19 th century, this was a time-consuming and energy-sapping task, which was paid in kind. Midwives do not appear in the Brothers Grimm’s fairy tales. Instead, as in “The Two Travelers”, a stork fetches a little boy from the well. In the fairy tales, if stepmothers took on the midwife’s duties, they usually had evil intentions or were up to some sort of mischief. Also well into the 19th century, quite a number of infants died even if delivery went well, because of insufficient hygiene or lack of medical care and sometimes because of mistreatment. It was common for women to die during childbirth – this is how stepmothers come into the picture, in fairy tales as well as in real life. Children were treated very differently to how they are treated today. As long as they were too young to work they were considered a burden. Babies and infants spent most of their days unattended in selfbuilt devices, cradles, highchairs, or walkers. Fairy tales address the mistreatment of children. The siblings in “The Brother and Sister” were in such a desolate situation that they decide to run away from home.

TAUFE Die Taufe bedeutet in der christlichen Kirche die Aufnahme eines Menschen in die Glaubens- und Kirchengemeinschaft. Durch sie vollzieht sich die Reinwaschung von der Sünde. Jesus Christus selbst wurde von Johannes getauft und gab seinen Jüngern den Auftrag, sich als Zeichen des Glaubens taufen zu lassen. Die Taufe symbolisiert als einmaliger Akt den Anfang der Verbindung zwischen Mensch und Gott, die durch das „aqua vitae“ (Wasser des Lebens) vollzogen wird. Der Pfarrer benetzt oder begießt den Kopf des Täuflings mit Wasser und tauft ihn „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Im 19. Jahrhundert fand die Taufe meist in der Kirche statt. Wegen der hohen Säuglingssterblichkeit taufte man in der Regel einige Tage nach der Geburt. So waren manchmal neben dem Geistlichen und dem Kind nur die Hebamme und der Pate oder die Patin, nicht aber die Mutter anwesend. Haustaufen gab es nur in Notfällen oder in reichen Familien. Die Paten waren für das Kind während der Taufzeremonie eine Art Stellvertreter. Später sollten sie ihr Patenkind an den Glauben heranführen und ihm als gutes Beispiel dienen. Durch die Patenschaft erweiterte sich der soziale Verwandtenkreis. Starben die Eltern, waren die Paten für die weitere (christliche) Erziehung verantwortlich. Zur Absicherung des Kindes wurden gerne wohlhabende Paten gewählt. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich die Taufe zu einem Familienfest. Besonders im bürgerlichen Bereich schenkten Paten den Schützlingen Tauftaler oder Patenbriefe, die Namen, Tauftag und Taufdatum enthielten. Im Märchen „Gevatter Tod“ lehnt der Vater Gott als Gevatter, also als Paten, ab, da dieser seiner Meinung nach die armen Menschen vergesse, während er den Wohlstand der Reichen vergrößere. Der Vater im Märchen wählt als Paten für sein Kind den in seinen Augen gerechten Tod, vor dem alle gleich sind. „Am anderen Morgen kam der Tod und hielt das Kind über die Taufe“, heißt es im Märchen. Der personifizierte Tod schenkt dem Patenkind die Gabe, in seinem Einvernehmen über Leben und Tod zu walten. Das Patenkind nutzt diese Gabe als Arzt und kommt dadurch zu finanziellem Wohlstand, wie es der Tod dem Vater versprochen hat. Doch schließlich zahlt der Arzt als Strafe für einen Tabubruch mit dem eigenen Leben. 32

BAPTISM Baptism in the Christian Church meant the inclusion of one person into the community of faith. The washing away of sin is performed through the act of baptism. Jesus Christ himself was baptized by John the Baptist and he instructed his evangelists to be christened as a sign of their faith. Baptism symbolizes, as a singular act, the beginning of the bond between man and God, which is consummated by the “aqua vitae”, the water of life. The pastor poures water on the head of the person to be baptized and christens him “In the name of the Father, and of the Son, and of the Holy Spirit”. In the 19th century, baptisms mostly took place in church. Because of the high infant mortality it was usually administered within a few days after delivery. Hence, at times, aside from the pastor and the infant, only the midwife and the godparents were in attendance, not the mother. Home baptisms only took place in emergency cases or in the homes of wealthier families. The godparents were the infants’ representatives during the christening ceremony. Later they should lead their godchild’s faith and serve as role models. Through the godparents, the social circle of relatives expanded. If the parents were to die, it was the godparents’ responsibility to take care of the godchild’s further (Christian) education. For the infant’s security, wealthier godparents were often chosen. Baptism only evolved as a family celebration over time. In the bourgeoisie particularly, godparents gave their protégées baptismal silver coins or godparents-letters wherein name, day and date of christening were stated. In “Godfather Death” the father rejects God as his child’s godfather because, in his opinion, God has forgotten the poor people while magnifying the prosperity of the rich. As godfather for his child, the father in this fairy tale chooses instead righteous Death to whom, in his belief, all are equal. „Death appeared as he had promised, and served as godfather in an orderly manner“, the fairy tale states. The personified Death endows upon the godchild the gift of deciding over life and death with his agreement. The godchild makes use of the gift as a doctor and therefore gains prosperity, as promised by Death to the father. But ultimately, the doctor pays with his life as punishment for breaking a taboo.

KINDTAUFE IN DER CAPPLER KIRCHE Der Genremaler Otto Piltz (1846 –1910) schuf mehrere Gemälde, die Szenen in der Cappeler Kirche zeigen. Als Genrebild muss das Gemälde vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit und dem Interesse des Künstlers gesehen werden. Der Betrachter des Bildes „Kindtaufe in der Cappeler Kirche 1879“ blickt, vom Altar aus gesehen, auf die Personen im Kirchenraum. Hebamme, Patin und Vater des Kindes begeben sich mit dem Täufling in Richtung Altar und Taufbecken. In den Kirchenbänken verfolgt das dörfliche Publikum das Geschehen andächtig. Wie bei vielen Genrebildern ist auch hier die gezeigte Szene gestellt. Sie entstand nicht als Abbild einer real stattfindenden Taufe, sondern wurde in Folge intensiver Studien mit Modellen konstruiert. CHRISTENING IN THE CHURCH OF CAPPEL The genre painter Otto Piltz (1846 –1910) created several paintings that show scenes in the Church of Cappel. As a genre picture, the painting has to be viewed from the perspective of its time of origin and the artist’s interest. The beholder of “Pedobaptism in the Church of Cappel 1879” looks at the people in the church interior from the vantage of the altar. Midwife, godmother, and the father, carrying the infant to be baptized, proceed towards the altar and baptismal font. Seated in the pews, the rural audience piously follows the procedure. As in many other genre paintings, the scene shown here is also posed. It is not a portrayal of an actual baptism taking place but is the result of intensive studies with the use of models.

HOCHZEIT Eine Hochzeit im ländlichen Hessen des 19. Jahrhunderts war nichts Romantisches. Die Liebesheirat kannte man oft nur aus Märchen, bis sie sich als ein Ideal des 19. 33

Jahrhunderts allmählich in der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzte. Die Verheiratung folgte wirtschaftlichen und praktischen Erwägungen. Dazu gehörte auch, dass die Braut etwas von Haushaltsführung verstehen musste. Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm enthalten neben den bekannten Zaubermärchen auch Legenden oder Schwänke. Besonders die Schwänke geben Auskunft über damalige Moralvorstellungen. Der Bräutigam aus „Die Schlickerlinge“ kennt nur zwei Kriterien für seine Wahl: Die Braut muss fleißig und sparsam sein. Das faule Mädchen wirft den Flachs zum Spinnen weg, sobald es nur einen kleinen Knoten darin findet. Die fleißige Dienstmagd des faulen Mädchens sammelt das Weggeworfene und fertigt sich daraus ein Kleid. Als der junge Mann, der zuerst um das faule Mädchen geworben hatte, dies erfährt, heiratet er die Dienstmagd. Fleiß und Sparsamkeit, also haushälterische Fähigkeiten, sind hier wichtiger als Rang und Schönheit. In diesem Schwank klingt neben der Partnerwahl auch das Problem der Unterschiede in der Kleidung von „Arm“ und „Reich“ an. Die sich auf dem Land seit dem 19. Jahrhundert ausbildende Tracht war damals keineswegs eine Kleidung, die soziale Unterschiede äußerlich verschwinden ließ. Nicht jeder konnte sich eine Festtagstracht oder Teile davon leisten. So wird von Mägden berichtet, die an einigen Veranstaltungen nicht teilnehmen konnten, weil sie keine der dafür benötigten Trachtenteile besaßen. WEDDING A wedding in rural Hesse in the 19th century was not romantic. Marriage out of love was often only known in fairy tales, until gradually it established itself as an ideal of the 19th century bourgeois society. Marriage followed economical and practical considerations, including the presumption that the bride had some understanding of household management. Aside from the well-known enchanted stories, “The Children and Household Tales” by the Brothers Grimm also include legends and drolleries. The drolleries provide information about the attitudes of morality of the time. The bridegroom in “Odds and Ends” only has two criteria for his choice: The bride has to be diligent and economical. The lazy girl throws away a whole heap of flax for spinning even though she only finds one little knot in it. The lazy girl’s industrious maid gathers these bits and makes herself a dress out of them. As the young man, who at first wooed the lazy girl, hears this, he weds the maid. Thus, housekeeping skills such as diligence and thrift were more important than rank and beauty. Apart from the issue of mate selection, this drollery likewise depicts the problem of clothing distinctions between the rich and the poor. The costumes worn back then in rural areas were certainly outfits that outwardly dispersed social differences. Not everybody could afford a festive costume or the parts thereof. So it is told of maids who could not attend events because they were not in possession of the required festive attire.

TOD Die Beerdigung ist ein fester Bestandteil der Trauerbewältigung der Hinterbliebenen. Vor allem aber sollte sie nach früherer Vorstellung den Weg der Verstorbenen ins Totenreich bahnen und den Aufenthalt dort erleichtern. Die Seele wird daran gehindert, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Der tote Körper kann unter der Erde vergehen.

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In Hessen konnte der Weg vom Totenbett bis zum Grab so aussehen: War ein Sterbefall zu erwarten, kamen Freunde, Angehörige und Nachbarn, um Beistand zu leisten. In Oberhessen wurde es teils vermieden, am Ende des Bettes zu stehen. Man glaubte, der Todeskampf würde dadurch verlängert und der oder die Sterbende könnte die Lebenden durch seinen oder ihren Blick mit sich ziehen. Nach Eintreten des Todes wurden die Uhren angehalten und erst nach der Beerdigung wieder in Gang gesetzt. Um über den Todesfall zu informieren, läutete eine Kirchenglocke. Dies geschah mancherorts auch, um die Seele aus dem Dorf zu vertreiben. Nachbarn oder eine Totenfrau kleideten die Leiche an, mit Abendmahlskleidung oder einem „Totenhemd“. Die Totenwache begann und dauerte in der Regel zwei bis drei Tage. In dieser Zeit zimmerte der Tischler den Sarg. Beim Einsargen achtete man darauf, dass kein Besitz von Lebenden in den Sarg gelangte. Nicht einmal Tränen durften in den Sarg fallen. Am Tag der Beerdigung holte der Pfarrer den Sarg beim Sterbehaus ab. Der Leichenzug begleitete den Verstorbenen zum Friedhof. Das „Totengeläut“ ertönte. War der Zug am Grab angelangt, folgten die Einsegnung durch den Pfarrer, ein Lied und ein dreifacher Erdwurf mit der Hand. Nach dem Trauergottesdienst in der Kirche trafen sich die Gäste zum „Leichenschmaus“. Er sollte Leib und Seele zusammenhalten, die der Tod voneinander zu trennen drohte. DEATH The funeral is an inherent part of mourning with the bereaved trying to cope with their loss. But above all, according to early belief, it should pave the way of the departed soul to the netherworld and lighten its stay there. In that manner, the soul may be prevented from returning to the world of the living. The dead body can decompose beneath the earth. In Hessen the path from the deathbed to the grave may have been like this: If death was expected, friends, relatives, and neighbors gathered together to lend support. In Upper Hesse, standing at the foot of the bed was mostly avoided. They believed that this would prolong the death-struggle and that one glimpse of the dying person at the living could mean he or she would take the latter along. After death, the clocks were stopped and would only be turned back on after the funeral. The church bells were rung to announce the bereavement. In some places this was also done to expel the departed soul from the village. Neighbors or a “death-woman” dressed the corpse with a communion dress or a burial shroud. A death vigil began and generally lasted two to three days. During this time a coffin would be built. When the body was laid in the coffin one would make certain that no belongings from the living were inside with the corpse. Not even a tear was allowed to drop in it. On the day of the funeral the pastor came to fetch the coffin from the house of the deceased and the funeral procession escorted the deceased to the graveyard. A knell rang out. Upon reaching the grave, the pastor’s blessing was followed by a hymn and the throwing of soil. Guests met for a “funeral feast” following the funeral service in church. The feast was supposed to keep body and soul together which death threatened to tear apart.

„MIT HAUT UND HAAREN“ Seit dem 18. Jahrhundert gehörten Bilder und Schmuck aus Haaren in Europa und den USA zu den emotional hoch besetzten Trauer-, Freundschafts- und Familienandenken. Die persönliche Beziehung zu dem oder der Toten wurde durch solche Objekte zum Ausdruck gebracht. Sie ermöglichten ein Fortdauern der Gemeinschaft mit den Verstorbenen. 35

Das Haupthaar war, wie in dem Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, mit einer magischen Qualität behaftet. Jemandem seine Haare zu geben, bedeutete, ihm sein Leben anzuvertrauen, denn Haare standen für den Menschen in seiner Gesamtheit. WITH SKIN, HAIR AND ALL! Since the 18th century, pictures and trinkets made out of hair in the USA and Europe belonged to the highly emotionally-attached grief, friendship and family mementos. Such objects expressed one’s personal relationship with the departed. They enabled a continued companionship with the deceased. Hair was tainted with magical qualities, as in the fairy tale “The Devil with the Three Golden Hairs”. To give somebody one’s hair meant to entrust him with one’s life, because hair stood for the person’s entirety.

DIE KRONEN FÜR DIE TOTEN Der Gebrauch von Totenkronen und -kränzen hob das Begräbnis von verstorbenen Kindern und Unverheirateten wie im Märchen „Das Totenhemdchen“ besonders hervor. Die nicht erlebte Hochzeit wurde auf diese Weise nachgeholt. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert waren solche Kronen und Kränze überall in Deutschland verbreitet. Wie die Hochzeitskronen wurden sie bunt geschmückt und als Andenken in die Kirche gehängt, auf das Grab gestellt oder mit hineingelegt. Als die Herstellung der Kronen zu teuer wurde, führte man Kronen ein, die mehrmals verwendet und bei der Gemeinde entliehen werden konnten. CROWNS FOR THE DEAD Funeral crowns and wreaths highlighted the burial of departed children and unmarried people, as in the fairy tale “The Shroud”. The wedding that did not take place in life is in this way symbolically fulfilled. From the 17th to the 19th century, crowns and wreaths could be found all over Germany. Like bridal crowns they were brightly decorated and were hung as remembrance in the church, placed on the grave, or put inside it. As the production of the crowns became too expensive, reusable ones, which could be borrowed from the parish, were introduced.

„HESSISCHES LEICHENBEGÄNGNIS IM WINTER“ VON LUDWIG KNAUS (1871) Das Bild zeigt einen Hof im Schwälmer Dorf Willingshausen. Vor den Sargträgern steigt derVater des verstorbenen Kindes die Stufen hinab. Links im Hof versammelt sich die Trauergemeinde. Sie besteht aus Dorfbewohnern, Chor und Lehrer. Vor der Treppe steht der Pfarrer. Der Lehrer ist städtisch gekleidet. Die Kinder im Vordergrund tragen städtische und viel zu große Schwälmer Kleidung gemischt. Kleidung war sowohl eine Frage der Norm als auch eine Angelegenheit von Geld und Geschmack. Durch den Blick des bürgerlichen Malers auf das Landleben ist die Szene einerseits verklärt, andererseits unstimmig, denn die roten Kappen und weißen Schürzen der Mädchen entsprechen nicht den Trauervorschriften.

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‚Hessian Funeral Service in Winter‘ by Ludwig Knaus (1871) The painting shows a farm in Willingshausen, Schwalm. The old father of the dead child is walking down the steps. On the left side of the farm the mourners gather. It consists of villagers, the choir, and a teacher. The pastor stands in front of the steps. The teacher is elegantly dressed. The children in the foreground wear a combination of urban clothing and oversized Schwalm attire. Clothing wasn’t simply a matter of norm, but also of wealth and taste. Seen through the eyes of the bourgeois painter, the rural life scene is glorified on one hand and is inconsistent on the other: The mourning norms are violated several times by the women’s red caps and white aprons.

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