Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol

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Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol

Ullrich Meise1, 2 und Karl Stieg 3

Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol Grundlagen für diese kurze Darstellung der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung im Bundesland Tirol sind der „Tiroler Psychiatrieplan“ [11], der Bericht der Gesundheitsabteilung des Landes Tirol „Tiroler Psychiatriereform 1995 – 2005“ [1], die Erhebungen zum außerstationären Bereich des ÖBIG aus den Jahr 2005 [21] und Daten der Vereine Gesellschaft für Psychische Gesundheit- pro mente tirol, Psychosozialer Pflegedienst sowie START aus dem Jahre 2007, sowie einige Artikel zu Themen der Versorgungsforschung, die sich auch auf unser Bundesland beziehen.

IST-Zustand der psychiatrischen Versorgung 2007 Stationärer Bereich In der Tabelle 1 ist die Entwicklung der stationären und teilstationären Bereiche zwischen den Jahren 1995 und 2005 dargestellt. Werden die Tagesklinikplätze zu den Betten gerechnet beträgt die Bettenmessziffer (BMZ) – bezogen auf die aktuelle Wohnbevölkerung – 0.64 Betten/1000 Einwohner. 1

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Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck Gesellschaft für Psychische Gesundheit – pro mente tirol Psychiatriekoordination des Landes Tirol

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 Tab. 1: Ausbau von Betten- und Tagesklinikplätzen (incl. der Betten in Spezialbereichen)

Bezirk Innsbruck-Stadt0 Innsbruck-Land1 Schwaz1 Imst2 Landeck2 Reutte2 Kufstein3 Kitzbühel3 Lienz4 Betten Gesamt

Ausbauziel 1995 2005 (laut TirKAP 2003) Differenz Betten TK Betten TK Betten inklusive TK +/145 --- 142 18 157 +3 503 --- 241 20 230 +31 ------------------------------30 (KH Zams) -30 ----------------25 8 40 (BKH Kufstein) -7 --------------------30 (BKH Lienz) -30 648 --- 408 46 487 -33

0)

Versorgung über Univ. Klinik für Psychiatrie Innsbruck Versorgung über PKH Hall, Primariat A 2) Versorgung derzeit über PKH Hall, Primariat B, in Zukunft geplant über KH Zams 3) Versorgung derzeit über PKH Hall, Primariat B und über BKH Kufstein 4) Versorgung derzeit über PKH Hall, Primariat B, in Zukunft BKH Lienz 1)

TK= Tagesklinikplätze

Die im Tiroler Psychiatrieplan ausgeführte Dezentralisierung ist bereits fortgeschritten. Im Bezirkskrankenhaus Lienz steht bereits eine psychiatrische Abteilung zur Verfügung, die jedoch aus Personalgründen den Betrieb noch nicht aufnehmen konnte. Die geplante Aufstockung von Betten der psychiatrischen Abteilung im Bezirkskrankenhaus Kufstein befindet sich in der konkreten Planung; lediglich im Bezirkskrankenhaus Zams wurde bislang mit der Umsetzung der psychiatrischen Abteilung noch nicht begonnen. Tabelle 2 stellt die Anzahl der Betten dar, die derzeit Spezialberei-

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chen gewidmet sind. Diese Betten sind in der in Tabelle 1 ausgewiesenen Anzahl von Betten beinhaltet, was die getrennte Zuordnung der Ressourcen, die für die Akut (Grund)- und für die Spezialversorgung erforderlich sind, erschwert. Wird die tatsächlich vorhandene BMZ zwischen Akutversorgung und Spezialbereichen getrennt dargestellt, stehen heute in Tirol für die stationäre/tagesklinische Akutversorgung 249 Betten (BMZ= 0,35 /1000 EW) und für die Spezialversorgung 205 Betten (BMZ= 0,29 /1000 EW) zur Verfügung. Mit diesen BMZ werden Betten und Tagesklinikplätze gemeinsam ausgewiesen.

Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol Tab. 2: Ausbau der Anzahl der Betten in Spezialbereichen lt. TirKAP Spezialbereich* Systemisiert 1995 Systemisiert 2005 Veränderungen+/Alkohol- und 55 63 +8 Drogenentwöhnung Forensik 24 16 -8 Geronto32 55 +23 psychiatrie +5 Kinder- und 20 25** Jugendpsychiatrie Psychosomatik 26 46 +20 Betten Gesamt 157 205 +48 *)

**)

BMZ: Alkoholentwöhnung 0,1/1.000EW, Drogenentwöhnung 0,03-0,04/1.000 EW, Kinder- und Jugendpsychiatrie 0,1-0,2/1.000EW, Psychosomatik 0,05-0,07/1.000 EW; BMZ für Forensik und Gerontopsychiatrie österreichweit nicht definiert inkl. 8 Betten der Klinischen Abteilung für Kindes und Jugendpsychiatrie und pädiatrische Psychosomatik der Univ. Klinik für Kinder und Jugendheilkunde Innsbruck

Ambulanter Bereich Tabelle 3 gibt die Anzahl der niedergelassenen Fachärztinnen für

Psychiatrie und FachärztInnen für Psychiatrie und Neurologie in den Bezirken wieder. Diese sind für die Jahre 1995 und 2005 aufgeschlüs-

Tab. 3: Anzahl der niedergelassenen FachärztInnen für Psychiatrie und Psychiatrie/Neurologie 1995 Bezirk mit ohne KV KV Innsbruck-Stadt 4 15 Innsbruck-Land 2 1 Schwaz 1 2 Imst 1 --Landeck 1 1 Reutte 1 --Kufstein 2 --Kitzbühel ----Lienz 1 1 Anzahl 13 20

Ausbauziehl Differenz 2005 (laut TirKAP 2003) 2005 mit ohne mit mit KV KV KV KV 3 21 3,9 -0,9 2 3 5,3 -3,3 1 2 2,6 -1,6 1 1 1,8 -0,8 1 1 1,5 -0,5 1 --1,1 -0,1 2 3 3,2 -1,2 1 1 2,0 -1,0 1 --1,7 -0,7 13 32 23,1 -10,1

mit KV= FachärztInnen mit § 2 Kassenvertrag ohne KV= WahlärztInnen

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 Tab. 4: Anzahl der klinischen PsychologInnen/GesundheitspsychologInnen und PsychotherapeutInnen (lt. ÖBIG 2004) Klinische PsychologInnen/ Gesundheitspsychologinnen Bezirk 1995 2005 Innsbruck-Stadt 116 270 Innsbruck-Land 17 62 Schwaz 7 7 Imst 5 14 Landeck 7 25 Reutte 2 7 Kufstein 2 4 Kitzbühel 0 6 Lienz 1 2 Anzahl 157 397

PsychotherapeutInnen 1995 2005 224 341 35 47 10 13 7 16 12 20 6 10 5 11 1 5 2 3 302 466

In den Zahlen der PsychotherapeutInnen ist eine unbekannte Anzahl von Klinischen PsychologInnen beinhaltet.

selt in FachärztInnen mit und FachärztInnen ohne §2 Kassenvertrag. Die Differenz zum Ausbauziel (ein Facharzt pro 30 000 Einwohner) bezieht sich auf jene FachärztInnen mit §2 Kassenvertrag. Tabelle 4 bildet die Anzahl der Klinischen PsychologInnen/und GesundheitspsychologInnen sowie der PsychotherapeutInnen ab. Da PsychologInnen oft auch die Berufsbezeichnung PsychotherapeutIn führen, werden diese in beiden Berufsgruppen berücksichtigt, was, bezogen auf die Anzahl der Personen, ein falsches Bild vermittelt. Im „Modell Tirol“ (dabei wird die Behandlung zur Gänze von der TGKK getragen) behandeln pro Jahr 250 PsychotherapeutInnen Patienten, für die 1000 Behandlungsplätze zur Verfügung stehen.

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Sozialpsychiatrisch/rehabilitativer (komplementärer) Bereich Entsprechend dem Tiroler Psychiatrieplan werden diese Angebote für die Bereiche Psychosozialer Dienst, Tagesstruktur, Wohnen und Arbeit getrennt dargestellt. In Tabelle 5 sind – für das gesamte Bundesland – die im Jahr 2007 in diesen Bereichen verfügbaren Ressourcen (Fachkräfte oder Behandlungsplätze) dargestellt. Ausgehend von den im Psychiatrieplan festgelegten Richtwerten (Anhaltszahlen), werden, bezogen auf den niedrigsten Richtwert, bestehenden Abweichungen berechnet. In Abbildung 1 wird der Ausbaugrad des komplementären Bereiches in den Bezirken graphisch

Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol Tab. 5: Tirolweiter Ausbau des sozialpsychiatrisch/ komplementären Bereiches Bereich

Anzahl Anzahl Zahl der Anhaltszahlen 1995 2007 Einrichtungen (Richtwerte) 2007

42,3*

90,6*

14

Tagesstruktur Wohnen

188

388

16

73

139

23

Arbeit

24

114

7

Psychosozialer Dienst

Differenz zum unteren Richtwert 2007 13-16Fachkräfte +1,5* (VZÄ)/ 1000 (1000 EW) 0,3-0,4 Plätze/ +180,4 1000 (1000 EW) 0,3-0,4 Plätze/ -68,6 1000 (1000 EW) 0,3-0,5 Plätze/ -93,8 1000 (1000 EW)

*

Anzahl der Fachkräfte Eine unbekannte Anzahl von Fachkräften der Psychosozialen Dienste erbringt Leistungen für die mobile Wohnbetreuung.

dargestellt. Abweichungen vom Ist-Zustand werden – ausgehend vom unteren Sollwert – in Prozent ausgewiesen.

Psychosozialer Dienst In diesen Ausführungen sind die Nachsorgeeinrichtungen für die

Abbildung 1: Ausbaugrad komplementärer Bereich

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 Gerontopsychiatrie (VereinVAGET) sowie für Alkohol- (Verein BIN) und Drogenentwöhnung (Verein BIT) sowie die Therapienetz GmbHHaus am Seespitz) nicht aufgeführt. Ebenso nicht erfasst wurden jene Leistungen, die durch die Vereine mobiler Hilfsdienst (MOHI) und Integriertes Wohnen (IWO) erbracht wurden. Insgesamt wurden von den Vereinen Gesellschaft für psychische Gesundheit – pro mente tirol (GPG), dem psychosozialen Pflegedienst (PSP) sowie dem Verein START im Jahr 2007 1459 PatientInnen mit komplexen psychischen Störungen betreut. Die Erbringung dieser Betreuungsleistungen erfolgte etwa zu 40% durch DGKS/ P, zu etwa 20% durch SozialarbeiterInnen, sowie zu etwa 20% durch PsychologInnen bzw. PsychotherapeutInnen. FachärztInnen für Psychiatrie sind dabei nur am Rande eingebunden, da ärztliche Leistungen laut Tiroler Rehabilitationsgesetz nicht vergütet werden. Da ein Teil der im Bereich „Wohnen“ betreuten KlientInnen (57 Wohnplätze in 10 Einrichtungen) mobil über psychosoziale Dienste betreut werden, sind in der Zahl der für den „Psychosozialen Dienst“ ausgewiesenen Fachkräften auch jene beinhaltet, die eigentlich dem „Wohnen“ zugeordnet werden müssten.

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Wohnen In dieser Darstellung findet sich nicht die Pflegeklinik des Landes Tirol. Sie ist am Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses Hall in Tirol untergebracht und verfügt über 121 Betten; im Jahr 2007 betreuten 103 Fachkräften (VZÄ, davon 3 Ärzte) 180 Patienten. Ebenso unberücksichtigt sind jene Leistungen, die durch Obdachloseneinrichtungen, dem Verein Integriertes Wohnen (IWO), den Einrichtungen des DOWAS sowie in diversen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und für Drogenkranke erbracht werden. In den Einrichtungen für Wohnungslose in der Hunoldstraße (Städtische Herberge) sowie im Alexihaus in Innsbruck u.a. werden eine erhebliche Zahl von chronisch psychisch Kranken betreut [2]. Der Bereich betreutes Wohnen findet sich fast ausschließlich in den Bezirken Innsbruck Stadt und Innsbruck Land. Er besteht aus zwei Wohnheimen (davon eines für Kinder und Jugendliche) sowie 21 Wohngemeinschaften (davon eine für Essstörungen). Die BewohnerInnen der 13 Wohneinrichtungen der GPG werden durch eigene Teams und jene der 10 Wohngemeinschaften des PSP durch Mitarbeiter vom psychosozialen Dienst betreut. Insgesamt wurden im Jahr 2007 155 PatientInnen in den Wohnheimen und Wohngemein-

Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol schaften behandelt. Während die mobile Wohnbetreuung (57 Plätze) vor allem durch DGKS/P des PSP erfolgte, stehen für die 72 Wohnplätze der GPG-pro mente tirol 29 Fachkräfte (VZÄ) zur Verfügung. Diese Teams setzen sich etwa zu 50% aus PsychologInnen und zu 25% aus SozialarbeiterInnen zusammen.

rufliche Rehabilitationseinrichtung für Alkoholkranke sowie einige sozioökonomische Betriebe). Die Anzahl der Plätze beträgt 114; im Jahr 2007 wurden 206 KlientInnen von – wiederum bezogen auf VZÄ – 37 therapeutischen und handwerklichen Fachkräften betreut. Weitere 96 Personen erhielten eine Betreuung am ersten Arbeitsmarkt durch die Arbeitsassistenz bzw. das Job-Coaching.

Tagesstruktur Die 16 Einrichtungen zur Tagesstrukturierung (Tageszentren, Beschäftigungsinitiativen) verfügen über 385 Plätze; im Jahr 2007 wurden darin 750 PatientInnen betreut. Zusätzlich findet sich in Innsbruck ein niederschwelliger „Patiententreff (Cafe)“, der regelmäßig von 90 unterschiedlichen KlientInnen frequentiert wurde. An Fachpersonal stehen in den tagesstrukturierenden Einrichtungen 57 Fachkräfte (VZÄ) zur Verfügung. Bei der Hälfte handelt es sich um handwerkliches Fachpersonal; das therapeutische Personal besteht zu etwa gleichen Teilen aus SozialarbeiterInnen und aus PsychologInnen/PsychotherapeutInnen.

Selbsthilfe Unter dem Dach der HPE (Hilfe für psychisch Erkrankte) gab es im Jahr 2007 fünf Angehörigen-Selbsthilfegruppen, die in unterschiedlichen Regionen tätig waren. Für Betroffene haben sich 6 Selbsthilfegruppen etabliert. Seit vier Jahren ist im Bereich Prävention das „Tiroler Bündnis gegen Depression“ sehr erfolgreich tätig.

Diskussion Grundsätzlich hat die Psychiatriereform in Tirol – berücksichtigt man, was in den letzten 15 Jahren an Einrichtungen und Diensten geschaffen wurde – einige der gesteckten Ziele erreicht.

Arbeit Für diesen Bereich finden sich in Tirol 7 Einrichtungen (2 Arbeitstrainingszentren (ARTIS), eine be-

Nachstehend werden die einzelnen Versorgungssegmente kurz kommentiert. Bezüglich der„Politik und Strategie“, die der Psychi-

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 atriereform zugrunde liegt, verweisen wir auf eine entsprechende Homepage [34] und die im Anhang aufgeführte Literatur.

Stationärer Bereich Seit dem Jahre 1989 wurden in der Tiroler Psychiatrie ca. 500 Betten abgebaut [10]. Auch wenn 121 Betten als „Pflegeklinik des Landes Tirol“ aus dem Bereich des Psychiatrischen Krankenhauses administrativ ausgegliedert wurden und dadurch diese Betten vom Gesundheits- in den Sozialbereich verlegt wurden, konnten letztlich etwa 50% der psychiatrischen Betten abgebaut werden. Der Psychiatrieplan Tirol [11] legte für die stationäre psychiatrische Grundversorgung (Akutversorgung) eine Bettenmessziffer (BMZ) zwischen 0,5 bis 0,7 Betten/1000 EW fest. Diese Anhaltszahl wurde auch in einer Untersuchung bestätigt, an der die Abteilung Krankenanstalten des Landes Tirol mitgewirkt hat [14]. Die erforderlichen BMZ für Spezialbereiche wie für die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Psychosomatik, die Behandlung von Abhängigkeitserkrankten oder für die Forensische Psychiatrie würden zwar berücksichtigt und festgelegt; jedoch wurden sie im Plan nicht näher beschrieben.

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Auch wurden im Tiroler Psychiatrieplan die Tagesklinikplätze nicht – wie später durch die LKF (Leistungsorientierte Krankenhausfinanzierung) bestimmt – in die BMZ eingerechnet. Ihr Bedarf – zusätzlich zu den stationären Kapazitäten – wurde mit 18 Plätzen/100.000 EW angegeben. Der Umstand, dass Tagesklinikplätze heute nur auf Kosten von Betten eingerichtet werden können, wirkt sich auf die Entwicklung dieses Behandlungsangebotes negativ aus. Für die Akutversorgung (Grundversorgung) verfügen wir heute in Tirol für die stationäre und tagesklinische über zu wenig Betten. Anhaltszahlen (wie die BMZ) sollten auf empirisch fundierte Grundlagen erstellt werden. Eine in der Versorgungsregion „Tirol-West“ durchgeführte Untersuchung, verwendete dazu Daten der LKF [14]. Dabei zeigte sich, dass im Jahr 1998 22,5% der Patienten mit einer psychiatrischen Hauptdiagnose in öffentlichen Krankenanstalten, die nicht über eine psychiatrische Abteilung verfügten, stationär behandelt wurden. Damit konnte errechnet werden, dass ein Schwellenwert von 0,5 Betten/1000 EW für die Akutversorgung der Psychiatrie nicht unterschritten werden sollte. In der aktuellen Bedarfsplanung werden die Betten, die heute für die Spezialbereiche vorgehalten

Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol werden – wahrscheinlich aus Unkenntnis – immer in die Akutversorgung eingerechnet. Somit könnte der Fehlschluss gezogen werden, dass im stationären Bereich ein Überangebot besteht. Auch ist seit 1995, dem Jahr in dem der Psychiatrieplan von der Landesregierung beschlossen wurde, die Tiroler Bevölkerung um etwa 10% angewachsen. Auf Grund des bestehenden Aufnahmedruckes können bei sehr hoher Bettenauslastung zunehmend steigende Aufnahmezahlen bei sinkender Verweildauer beobachtet werden. So wurden im Jahre 2006 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Innsbruck bereits 5.715 Patienten stationär aufgenommen; ihre mittlere Verweildauer betrug 7,47 Tage. Wird diese hinsichtlich der Wochenendentlassungen korrigiert, betrug die mittlere Verweildauer 12 Tage. Neben der Bettenreduktion fand auch eine Dezentralisierung statt. Von den 3 Standorten, die für eine psychiatrische Abteilung in Bezirkskrankenhäusern vorgesehen sind, wurden bereits 2 umgesetzt bzw. sie sind in Umsetzung begriffen. Es findet sich derzeit eine Psychiatrische Abteilung im Bezirkskrankenhaus Kufstein (die ausgebaut werden soll) sowie eine im Bezirkskrankenhaus Lienz. Ausständig ist noch die psychiatrische

Abteilung im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Zams. Im Rahmen des RSG (Vorschlag 2008) und seiner Planung für das Jahr 2015 soll die Gesamtbettenzahl auf 474 reduziert werden, wobei dieser Bettenabbau im Zentralraum stattfinden soll.

Ambulanter Bereich Obwohl mittlerweile in jedem Bezirk ein Facharzt oder eine Fachärztin für Psychiatrie mit §2 Kassenvertrag niedergelassen ist, weist dieser wichtigeVersorgungsbereich nach wie vor eine deutliche Unterversorgung auf. Heute fehlen – ausgehend vom Bedarf von einem Facharzt mit Kassenvertrag/30.000 EW – 10 FachärztInnen; das heißt, die heute vorhandene Anzahl von Kassenärzten müsste verdoppelt werden. Auch müssten Kassenstellen für FachärztInnen für Kinder und Jugendpsychiatrie geschaffen werden. Als erster Schritt wäre eine §2- Stelle für Innsbruck-Stadt hilfreich. Was die die klinischen PsychologInnen und PsychotherapeutInnen betrifft, stellt sich die personelle Ausstattung besser dar; jedoch konzentriert sich der überwiegende Anteil dieser Behandlungsangebote in der Stadt Innsbruck.

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 Sozialpsychiatrisch/rehabilitativer (komplementärer) Bereich Innerhalb der letzten 20 Jahre wurden etwa 50% der Psychiatriebetten – vor allem in den Langzeitbereichen – abgebaut. Ein Transfer dieser im Gesundheitsbereich frei gewordenen Ressourcen in den Sozialbereich, aus dem die Sozialpsychiatrie finanziert wird, fand jedoch nur unzureichend statt. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, ist im Zentrum des Bundeslandes (vor allem der Bezirk Innsbruck Stadt) der komplementäre Bereich relativ gut ausgebaut. Dies war auch notwendig, da besonders in der Vergangenheit Kranke mit komplexem Betreuungsbedarf aus ganz Tirol in die Landeshauptstadt übersiedelten. Erst in den letzten Jahren konnten dieses Versorgungssegment verstärkt dezentralisiert werden, sodass sich diese Migration in Zukunft verringern müsste. Der Bereich „Tagesstruktur“ ist gut ausgebaut; dafür stellt sich der Bedarf höher dar als ursprünglich angenommen. Bezogen auf die Planungszahlen finden sich heute vor allem Defizite für die Bereiche „Wohnen“ und „Arbeit“; diese sind in einigen Bezirken nach wie vor noch nicht existent.

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Der seit langer Zeit geforderte psychiatrische Notfalldienst konnte bislang noch nicht verwirklicht werden; Tirol ist das einzige österreichische Bundesland, das einen solchen Dienst noch nicht vorhält.

Einige wichtige Herausforderungen für die nächsten Jahre Grundsätzlich sollte das Kernanliegen einer zeitgemäßen psychiatrischen Versorgung, die Dezentralisierung und „Gemeindenähe“ von stationären, ambulanten und rehabilitativen Betreuungsangeboten weiter verfolgt werden. Die negativen Auswirkungen einer unzureichenden Erreichbarkeit von Behandlungseinrichtungen konnten wir gut belegen [13]. Auch wurde untersucht, wie sich – am Beispiel der stationären Behandlung – durch die Regionalisierung die Inanspruchnahme verändert [18]. Anstelle der noch üblichen Diskussion über Einrichtungen (bausteinbezogener Planungsansatz) sollte, wie bereits im „Tiroler Psychiatrieplan“ vorgeschlagen, ein Planungs- und Organisationsmodell verfolgt werden, das ausgehend von den Behandlungs- und Versorgungsbedürfnissen der Patienten den Funktionsbezug sowie die dynamischen Aspekte im Zusammenwirken der einzelnen Einrichtungen und Dienste berücksichtigt (funktionaler Planungsan-

Ullrich Meise und Karl Stieg, Die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Tirol satz). Bei dem stationären, ambulanten und rehabilitativen Versorgungsangebot handelt es sich um kommunizierende Gefäße; werden in einem Bereich Veränderungen gesetzt, wirkt sich dies in den anderen Bereichen aus. Es sollten daher – wie es leider in der Vergangenheit geschehen ist – isolierte vom Gesamtkonzept losgelöste Umsetzungsschritte vermieden werden. Ob ein Behandlungsbaustein dem Gesundheits- oder dem Sozialbereich zuzuordnen ist, sollte für die Planung und Umsetzung keine Rolle spielen. Dies entspräche auch dem heute geforderten Ansatz einer „Integrierten Versorgung“. Hinsichtlich der erforderlichen Einrichtungen sollte vorrangig die noch fehlende Abteilung am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Zams geschaffen werden. Die Zahl der Kassenstellen für §2 Fachärzte müsste deutlich erhöht und zumindest eine §2 Kassenstelle für einen Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie eingerichtet werden. Auch müssten sich die Positionen in der Honorarordnung an den Anforderungen, denen eine moderne Psychiatrie unterliegt, orientieren. Der Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie muss koordiniert aufund ausgebaut werden. In diesem Zusammenhang sollte – auch aus

Gründen der Prävention – nicht vergessen werden, dass für unterhaltspflichtige Kinder von psychisch erkrankten Eltern Hilfsangebote eingerichtet werden. Wie Erhebungen in einer Arbeitsgruppe zeigen [2], stehen in den Einrichtungen zur Wohnungslosenhilfe in Innsbruck zumindest etwa 200 Menschen mit zumeist komplexen psychischen Störungen in Betreuung. Obwohl bereits erste Schritte gesetzt wurden, die Wohnungslosenhilfe, den stationären psychiatrischen und den sozialpsychiatrischen Bereich zu koordinieren, ist in diesem „blinden Fleck“ der psychiatrischen Versorgung noch einiges zu tun. Auch sollte den Ursachen nachgegangen werden, warum in der Psychiatrie eine zunehmende „Forensifizierung“ festzustellen ist; d.h. warum vermehrt Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in den Maßnahmenvollzug geraten und dann oft über viele Jahre in forensischen Einrichtungen untergebracht werden. 10,4% der Tiroler Bevölkerung weisen einen Migrationshintergrund auf; 1,8% unserer Bevölkerung stammen aus der Türkei; 2,8% aus dem ehemaligen Jugoslawien. Zusätzlich finden sich in Tirol noch eine relevante Anzahl Asylwerber aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Für diese Gruppen, die ein

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Gemeindenahe Psychiatrie 4/2008 erhöhtes psychisches Morbiditätsrisiko aufweisen, wäre der Aufbau entsprechende Angebote erforderlich, die kulturelle Besonderheiten berücksichtigen. Auch – wie schon erwähnt – wäre die Errichtung eines ambulant aufsuchenden psychiatrischen Notfalldienstes, der bereits seit langem geplant und seitens der Angehörigen gefordert wird, vordringend erforderlich. Faktisch kaum Angebote finden sich für die Bereiche MHP und MDP („Psychische Gesundheitsförderung und Prävention“). Im Grünbuch der EU-Kommission wird ihr Stellenwert besonders hervorgehoben [3]. Erfahrungen mit dem „Tiroler Bündnis gegen Depression“ zeigen, welch hoher Bedarf in der Bevölkerung dafür artikuliert wird. Was die Entwicklung der psychischen Gesundheitsversorgung betrifft, setzten die WHO und die EU-Kommission in den letzten Jahren bemerkenswerte Initiativen [3,23,24,32,33]. Unter dem Motto „Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“ wurden sehr fortschrittliche Reformvorschläge präsentiert [16].

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[20] ÖBIG: Österreichischer Strukturplan Gesundheit 2005 (ÖSG). Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, Wien (2006) [21] ÖBIG: Planung Psychiatrie 2007. Dokumentation der außerstationären psychiatrischen Versorgung; Gesundheit Österreich GmbH, Wien (2007) [22] Österreichischer Rechnungshof: Psychiatrie auf dem Prüfstand. Zusammenfassung des Berichtes des ÖR über die psychiatrische Versorgung in Österreich: In Meise U, Hafner F, Hinterhuber H (Hrsg) Gemeindepsychiatrie in Österreich, 55-83. VIP-Verlag, Innsbruck (1998) [23] pro mente austria: EU einig für psychische Gesundheit. Zeitschrift des österreichischen Dachverbandes der Vereine und Gesellschaften für psychische und soziale Gesundheit; Heft 2 (2005) [24] pro mente austria: Sozialpsychiatrie: Neue Ziele durch klare Orientierung. Zeitschrift des österreichischen Dachverbandes der Vereine und Gesellschaften für psychische und soziale Gesundheit; Heft 4 (2005) [25] Rössler W, Meise U: Neue Trends in der psychiatrischen Versorgung: Neuropsychiatr 7, 171-175 (1993) [26] Rössler W (Hrsg): Psychiatrische Rehabilitation. Springer-Verlag Berlin – Heidelberg – New York (2004) [27] Rutz W: Social psychiatry and public mental health: present situation and future objectives. Time for rethinking and renaissance? Acta Psychiatr Scand 113 (Suppl 429), 95-100 (2006) [28] Wancata J, Benda N, Hajji M, Lesch OM, Müller C: Psychiatric disorders in gynaecological, surgical and medical departments of general hospitals in an urban and rural area of Austria. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol, 31, 220-226 (1996) [29] Wancata J, Kapfhammer HP, Schüssler G, Fleischhacker WW: Sozialpsychiatrie: Essentieller Bestandteil der Psychiatrie. Psychiatrie & Psychotherapie. 3, 58-64 (2007)

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Korrespondenz: Univ. Prof. Dr. Ullrich Meise Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie, Medizinische Universität Innsbruck [email protected] Dr. Karl Stieg Psychiatriekoordination des Landes Tirol [email protected]

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