Die Maus, die nichts konnte

Markus Orths / Hirschstraße 31 / 76133 Karlsruhe / [email protected] Die Maus, die nichts konnte 1 Irgendwo, im fernen Nirwanien, lebte einmal eine Maus,...
Author: Barbara Seidel
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Die Maus, die nichts konnte 1 Irgendwo, im fernen Nirwanien, lebte einmal eine Maus, die nichts konnte. Sie wohnte mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einem Erdloch, nahe beim Wald und beim Bach, der sich durch den Wald schlängelte. Die Maus hieß Tommy, aber meist wurde Tommy einfach nur Tollpatsch genannt. Denn Tommy konnte tatsächlich rein gar nichts, was eine Maus können sollte. Er konnte weder gut sehen noch gut schnuppern. Auch fiel er ständig über seine eigenen Pfoten, und diese Pfoten waren viel zu platt und flach und taugten nicht zum Buddeln. Die Mäuse-Eltern sorgten sich um Tommy. Sie verboten ihm, das Erdloch zu verlassen. Das war viel zu gefährlich für einen Tollpatsch wie Tommy. Sie ermahnten Tommys Geschwister, ein Auge auf ihn zu werfen. Vor allem, wenn sie, die Eltern, auf Futtersuche waren. So wie jetzt. So wie in dieser Nacht, in der die Geschichte beginnt. Die Kinder schliefen tief und fest. Es war schon Spätherbst, und um Nahrung zu beschaffen, mussten die Eltern sich weit vom Bau entfernen. Als die Kinder am frühen Morgen erwachten, waren die Eltern immer noch nicht zurückgekehrt. Das bedeutete nichts Gutes. Es gibt überall Feinde, vor denen Mäuse sich fürchten müssen. Die Mäuse-Kinder wussten nicht, was sie tun sollten. Paul, der Älteste, sagte: „Wir warten.“ Die anderen nickten. Also warteten sie. Sie warteten eine Stunde und noch eine und noch eine, aber nichts geschah. Sophie sagte: „Ich habe Hunger.“ „Dann hol was von den Vorräten“, sagte Walter. Sophie fragte: „Wo sind die Vorräte?“ Alle schauten zu Paul. Paul wusste immer genau, welche Sachen sich wo im Bau befanden. Wenn man einen Ball suchte oder ein 1

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Werkzeug oder was zu essen: Paul kannte den Platz. Das war nicht einfach. Denn das Erdloch hatte viele Gänge, fast wie ein Labyrinth. Paul kroch los, gemeinsam mit Walter, und die beiden kamen kurz darauf mit Nüssen zurück. Walter war so stark, dass er vier Nüsse auf einmal schleppen konnte. Die fünfte Nuss trug Paul. „Für jeden eine“, sagte er. Die Mäuse knabberten schweigend. Nach dem Essen waren die Eltern immer noch nicht zurückgekehrt. „Und jetzt?“, fragte Emma, die jüngste. „Jemand muss draußen nachschauen!“, sagte Paul. Alle Augen richteten sich auf Sophie. Sophie sprang in die Höhe. Noch ehe die anderen etwas hätten hinzufügen können, flitzte sie aus dem Loch. Sie rannte alle möglichen Wege ab, in der näheren Umgebung, so schnell, wie nur Sophie es konnte. Selbst ein Uhu hätte nur einen Blitz gesehen. Nach einer halben Stunde kam sie zurück, außer Atem, und die anderen fragten sie, ob sie etwas entdeckt hatte. Sophie schüttelte traurig den Kopf. Die Mäuse schluckten. „Und jetzt?“, fragte Walter. „Wir warten“, sagte Paul, der Älteste. Und wieder warteten die Mäuse. Eine Stunde und noch eine und noch eine, aber die Eltern tauchten nicht auf. „Wir müssen“, sagte Paul, „jemanden zur Fähre schicken.“ Alle Augen richteten sich auf Emma. Emma nickte. Sie schlich zum Ausgang und schob sich langsam und leise hinaus. Emma war nicht so schnell wie Sophie, aber sie war geschickt und behielt immer die Übersicht bei dem, was sie tat. Ein paar Schritte, schon duckte sie sich hinter einen Stein. Noch ein paar Schritte, dort lag ein schützendes Stück Holz. Und weiter ging es, bis sie eine Wurzel sah, die aus dem Boden ragte. Hier vorn lag ein großes Blatt, das vom Baum gesegelt war. Überall gab es wunderbare Verstecke, von denen aus man mit scharfen Augen die Lage 2

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überblicken konnte. Langsam, aber ganz sicher pirschte Emma voran zur Fähre. Die Fähre: Das war der Spitzname einer Schildkröte, die auf ihrem Panzer eine Sitzbank geschnallt hatte und jeden, der ihr ein Salatblatt gab, auf die andere Seite des Baches brachte. „Fähre!“, rief Emma und klopfte an den Panzer. Die Schildkröte öffnete ihre Augen. Alles, was sie tat, tat sie langsam. Träge. Als koste es ihr zu viel Mühe. „Oh“, sagte die Fähre. „Die kleine Emma Maus. Was willst du denn hier?“ „Ich bin auf der Suche nach meinen Eltern. Sie sind seit letzter Nacht verschwunden. Hast du sie gesehen?“ „Ja, klar!“, sagte die Fähre. „Und wo?“ „Sie sind in den Wald gegangen. Immer am Bach entlang. Und ... eh ... noch was“, sagte die Schildkröte und wurde ein bisschen verlegen. „Und was?“, fragte Emma. „Eine Schlange.“ „Eine Schlange?“ „Ziemlich groß. Sie ist hinter deinen Eltern hergekrochen.“ Emma hielt den Atem an. Dann stürzte sie zurück in den Bau. Als sie ihren Geschwistern Bericht erstattete, blickten alle stumm zu Boden. Die Vorstellung, ihren Eltern könnte etwas zugestoßen sein, ließ ihre Herzen schneller schlagen. Tommy, die Maus, die nichts konnte, schluckte leise. Seine Eltern! Die alles für ihn getan und jede Gefahr von ihm ferngehalten und sich immer um ihn gesorgt hatten! Jetzt waren sie selber in Gefahr. Jetzt brauchten sie seine Hilfe. In die Stille hinein meldete er sich zu Wort, und seine Stimme bebte, als er sagte: „Wir ... wir müssen etwas unternehmen.“ Die anderen vier sahen ihn an. „Was willst du denn schon unternehmen?“, fragte Walter, und er hätte das du eigentlich nicht so gemein betonen müssen. 3

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„Ich weiß nicht“, flüsterte Tommy, „aber wir können nicht hier hocken bleiben und einfach nur warten.“ „Vorläufig schon!“, sagte Paul. „Wir warten!“ Tommy schwieg. Die Mäuse warteten eine Stunde und noch eine und noch eine, und bald war schon wieder Abend. „Wir schlafen jetzt“, sagte Paul. „Morgen werden wir sehen, was zu tun ist.“ „Morgen!“, rief Tommy. „Morgen ist es vielleicht zu spät.“ „In der Nacht sollen wir sowieso im Loch bleiben“, sagte Paul. Die anderen Geschwister nickten. Und legten sich schlafen. Nur Tommy nicht. Jemand, dachte Tommy, muss den Eltern hinterher. Jemand muss nachsehen, was da passiert ist. Und wenn der starke Walter, der kluge Paul, die schnelle Sophie und die geschickte Emma den Eltern nicht halfen, dann musste eben er es tun, er, der Tollpatsch! Tommy sammelte all seinen Mut, und als seine Geschwister schon fest schliefen, schlich er, das heißt, er stolperte eher, zum Ausgang. „Ich werde sie finden!“, sagte Tommy. „Ganz sicher!“

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2 Tommy, die Maus, die nichts konnte, schaute hinaus in die Nacht. Er hatte noch niemals in seinem Leben das Erdloch verlassen. Großes Verbot seiner Eltern: weil er, Tommy Tollpatsch, so ungeschickt war und weil draußen so viele Gefahren lauerten. Jetzt aber brauchten seine Eltern Hilfe. Einen ganzen Tag waren sie schon verschwunden. Vielleicht hatten sie sich auf der Flucht vor der Schlange im Wald verirrt. Oder waren in eine Falle getappt, von Jägern aufgestellt. Und konnten nicht mehr heraus. Und brauchten jemanden, der ihnen die Pfote reichte. Sollten seine Geschwister doch warten. Er nicht. Nein. Er würde aufbrechen und seine Eltern suchen. Tommy war fest entschlossen. Er blickte in alle Richtungen. Er konnte fast nichts erkennen. Der Mond wurde von Wolken verdeckt. Er wusste nicht, was zu tun war. Er wusste nur, dass etwas zu tun war. Schon hatte er eine Pfote nach draußen gesetzt. Er hörte einen Uhu. Er hörte ein Rascheln. Er hörte das entfernte Schreien eines Tiers. Er schüttelte sich. Aber er schlich weiter. Er schlich mutig weiter. Tommy kam – die anderen hatten ihm davon erzählt – zum Bach. Er stand am Ufer und blickte neugierig ins Wasser. Ihn überkam ein merkwürdiges Gefühl. Das Wasser, das war wunderschön! Wie es da gurgelte und plätscherte in der Nacht. Und das roch so unglaublich gut. Dieses Wasser! Himmlisch, frisch, grün, moosig und algig. Tommy wusste nicht, woher er das Wort algig kannte. Er wurde magisch angezogen vom Rauschen des Baches, er steckte eine Vorderpfote ins Wasser. Das war ein komisches Gefühl. Er war kurz davor, hineinzuspringen, doch im letzten Augenblick zuckte Tommy zurück. Seine Mutter hatte den Geschwistern immer gesagt: „Vorsicht vor dem Bach! Mäuse sind wasserscheu! Mäuse können nicht gut schwimmen!“ Also ging Tommy am Bach entlang Richtung Wald. Als er den Wald sah, wurde ihm mulmig. Der war ja dunkel! Stockdunkel! Mit 5

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hohen Bäumen, Büschen, mit Wind, der durch die Äste und Zweige strich. Mit Geräuschen der Nacht. Ein Krächzen, Knicken, Brummen und Rascheln. Tommy riss sich zusammen. Wenn ich es nicht tue, dachte er, wird niemand meinen Eltern helfen. Egal, wie ungeschickt ich bin, ich will es versuchen. Aber Tommys platte, flache Pfoten waren für den Wald mehr als ungeeignet, und wenn er auf einen Stock trat oder auf einen Tannenzapfen, schrie er auf vor Schmerz. Und weil Tommy nicht gut sehen konnte und eigentlich eine Brille gebraucht hätte – wenn es denn Brillen für Mäuse geben würde –, rammte er des Öfteren gegen einen Baumstamm. Oder stolperte über Wurzeln, Steine und Stöcke. Trotzdem, Tommy ließ sich nicht unterkriegen. Er folgte dem Gurgeln des Baches, denn die Schildkröte namens Fähre hatte seiner Schwester ja gesagt, die Eltern seien am Bach entlang in den Wald gehuscht. Da spürte Tommy einen Tropfen. Und noch einen. Und noch einen. Tommy schaute nach oben. Auch das noch! Regen! Der Boden wurde glitschiger, Tommy rutschte jetzt fast bei jedem Schritt aus. Das Wasser durchnässte ihn bis auf die Knochen. Immerhin hielt ihn die Kühle des Regens wach. Denn Tommy war furchtbar müde, jetzt, mitten in der Nacht. Ab und zu fielen ihm trotz des Regens kurz die Augen zu. So auch jetzt. Er passte einen Moment lang nicht auf, und plötzlich wurde ihm der Boden unter den Pfoten weggerissen. Er ruderte wild. Er schrie auf. Er stürzte nach unten. Fiel ungefähr einen Meter tief, ehe er unsanft auf dem Boden landete. Tommy brauchte ein paar Sekunden, um seine Gedanken zu ordnen. Was war geschehen? Wo war er? Er sah sich um. Er konnte kaum etwas erkennen in der Dunkelheit. Tommy tastete alles ab. Er war gefangen. In einer Grube. Mit Rändern, hoch über ihm. Eine Falle, dachte er. Eine Falle, die ein Jäger aufgestellt hat, um irgendein Tier zu fangen. Tommy witterte ängstlich in alle Richtungen. Was sollte er jetzt tun? 6

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Er dachte nach. Gut, sagte er sich, ich bin eine Maus, also werde ich wohl den Rand der Grube hochklettern können. Er versuchte es, doch rutschte er immer wieder hinunter. Gut, dachte er, ich bin eine Maus, also werde ich wohl einen Gang graben können, durch eine der Wände nach oben. Er versuchte es, doch seine Pfoten waren fürs Graben mehr als ungeeignet. Er gab auf. Es bleibt mir nichts übrig, dachte er schließlich, als abzuwarten und zu hoffen, dass jemand kommt und mir hilft. Die ganze Nacht über regnete es. Das Regenwasser sammelte sich in der Grube. Tommy stellte sich auf die Hinterpfoten und hielt sich am Rand der Grube fest. Er machte sich so lang er konnte. Es half nichts: Bald schon reichte Tommy das Wasser bis zur Hüfte. Er blickte nach oben. Das Wasser würde ihm bald bis zum Hals reichen. Wenn der Regen nicht aufhörte, würde er hier drinnen ersaufen. Was sollte er tun? Ihm war kalt. Er zitterte. Der Regen peitschte immer wilder und heftiger auf die Erde und den Wald, und das Wasser in der Grube stieg immer schneller an. Noch eine Stunde verstrich und noch eine und noch eine. Zum Glück ging jetzt die Sonne auf. Tommy rief immer wieder um Hilfe, aber nichts geschah. Jetzt musste er schon auf Zehenspitzen stehen, um seine Nase aus dem Wasser zu halten, ein letztes Mal schrie er, dann wurde Tommys Mund vom Wasser überspült. Jetzt ist alles vorbei, dachte Tommy. Aber dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte: Kaum war er vom Wasser verschluckt, paddelten seine Pfoten wie von selbst, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Tommy ging nicht unter. Seine Pfoten machten gleichmäßige Bewegungen: Das Wasser trug ihn. War es das, was man Schwimmen nannte? Dann schwamm Tommy gerade. Ja! Tommy schwamm von der einen Seite der Grube zur anderen und wieder zurück. Er lachte. Er fühlte sich wohl im Wasser. Das machte ungeheuer Spaß. Dieses herrliche Gefühl, vom Wasser getragen zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben gab es endlich etwas, was Tommy auf Anhieb konnte. Sogar gut konnte. Etwas, für das er wie geschaffen war. 7

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Seine flachen Pfoten passten sich wie Flossen dem Wasser an. Und wenn es weiter regnete, wenn das Wasser weiter stieg, würde es Tommy nach oben tragen, ganz von allein, er könnte aus der Grube schwimmen und weiter seine Eltern suchen. Eine Stunde verstrich und noch eine und noch eine, und dann hatte Tommy es geschafft: Die Grube war randvoll mit Wasser, und er konnte mühelos hinausschwimmen und auf den Boden des Waldes krabbeln. Er war gerettet!

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3 Tommy schüttelte sich. Er blickte zurück. Er konnte immer noch nicht glauben, was gerade geschehen war. Auf der Suche nach seinen Eltern war er in eine Grube gefallen. Der Regen hatte die Grube, in die er gefallen war, bis obenhin mit Wasser gefüllt. Und er war nicht ertrunken, nein, er hatte sich selbst befreit. Er konnte schwimmen. Sogar sehr gut schwimmen. Es gab endlich etwas, was er konnte. Auf Anhieb! Er! Die Maus, die eigentlich nichts konnte! Er, den alle nur Tollpatsch nannten! Und er brannte darauf, es seinen Eltern zu erzählen. Sie wären stolz auf ihn. Aber dazu musste er seine Eltern erst einmal finden. Und kaum stand Tommy im Trockenen, hatte er wieder das Gefühl, alles falsch zu machen. Seine Pfoten passten einfach nicht zum Wald, zur Erde, seine Pfoten passten viel besser ins Wasser, ins Nasse. Tommy dachte nach: Meine Eltern, sagte er sich, sind am Bach entlang in den Wald gegangen. Wenn sie aber am Bach entlang gegangen sind, dann kann ich ihnen doch viel schneller und besser folgen, wenn ich in den Bach hineinspringe und schwimme, statt ihnen mit meinen Plattpfoten hier im Wald hinterher zu stolpern. Also los! Tommy ging zum Ufer, stieg auf einen Stein und sprang ohne zu zögern in den Bach. Das Wasser war brausend kalt. Aber Tommy genoss das Schwimmen, es war, als hätte er jahrelang, ja, sein Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Seine Mutter hatte immer gesagt: Mäuse sind wasserscheu. Mäuse können nicht gut schwimmen. Mäuse ersaufen im Wasser. Jetzt aber nahm sich Tommy vor, seiner Mutter zu sagen: Man muss die Dinge einfach mal ausprobieren. Etwas wagen. Wenn man das nicht tut, wird man nie erfahren, was man kann. Schwimmend hielt Tommy Ausschau, er hoffte, seine Eltern irgendwo zu sehen, am Ufer des Baches, im Wald. Aber so sehr er

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auch schaute, er sah nichts, nur hin und wieder zerzauste Vögel, die sich Regen aus dem Gefieder schüttelten. Und dann ging alles ganz schnell. Vor ihm verwandelte sich der Bach in einen rauschenden Wasserfall. Tommy paddelte, aber er schaffte es nicht mehr, zum rettenden Ufer zu schwimmen. Der Sog war zu groß. Tommy hielt die Luft an. Dann wurde er in die Tiefe gerissen, herumgewirbelt und unter Wasser gedrückt. Die Wucht des Wasserfalls riss ihn mit sich und spülte ihn in einen großen See. Zum ersten Mal in seinem Leben öffnete Tommy die Augen unter Wasser. Erstaunlich, wie gut er plötzlich sehen konnte! Ja, viel schärfer und besser als an Land. Alles lag vor ihm wie gemalt, nichts entging seinem Blick. Und was er sah, erfüllte ihn mit Staunen. Wasserpflanzen, Fische und andere Wassertiere, alles lag vor ihm: atemberaubend schön. Atemberaubend? Tommy sackte langsam auf den Grund des Sees, stieß sich mit den Pfoten ab und schwamm nach oben, an die Wasseroberfläche. Er streckte den Kopf hinaus und atmete tief ein. Ein Stück weit war er schon vom Ufer entfernt. Das Wasser um ihn her brodelte wie eine kochende Suppe. Der Regen prasselte heftig auf die Oberfläche des Sees. Aber Tommy hatte keine Zeit, sich zu erholen. Denn schon hörte er ein neues Geräusch. Ein anderes Geräusch als das Prasseln des Regens. Ein merkwürdiges Geräusch. Wie aus weiter Ferne. Ein Quatschen und Pratschen. Er lauschte angestrengt, nein, das kam nicht von hier oben. Also steckte er den Kopf wieder ins Wasser. Ja! Daher kam das Geräusch. Überall unter Wasser herrschte heillose Aufregung. Die Fische und Wassertiere blubberten immer wieder ein kurzes, zischelndes Wort, das Tommy nicht verstand. Und alle flüchteten. In eine Richtung. Als hätten sie mächtig Angst vor irgendetwas oder vor irgendjemandem. Schon war Tommy allein. Schon sah er einen Schatten, der durchs Wasser auf ihn zuschoss. Schon war der Schatten bei ihm, vor ihm, und Tommy zuckte zusammen. Denn der Schatten entpuppte sich als großer Fisch mit länglichem, spitzem Maul. Der Fisch 10

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schaute Tommy an aus ruhigen, braunen Fischaugen. Er schien erstaunt zu sein, dass dieses Tier dort vor ihm auf der Stelle paddelte und nicht die Flucht ergriff wie alle anderen Wassertiere. „Wer bist du?“, fragte der Große Fisch. „Eine ... eine Maus“, sagte Tommy. „Mäuse sind wasserscheu, hab ich gehört.“ „Das dachte ich auch bis vor kurzem.“ „Warum haust du nicht ab?“, fragte der Große Fisch. „Vor mir hauen immer alle ab.“ „Warum sollte ich denn abhauen?“, fragte Tommy. „Gute Frage“, sagte der Große Fisch. „Es gibt keinen Grund. Die anderen hauen ab, weil ich so groß bin. Sie denken, ich will sie fressen. Sie denken, wenn ein Fisch so groß ist wie ich, dann muss er auch andere Fische fressen. Dabei stimmt das nicht. Alles, was ich verschlinge, sind Schlingpflanzen.“ „Dann bin ich nicht in Gefahr?“, fragte Tommy. „Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich freue mich, dass ich endlich mal jemanden im See treffe, der nicht fortschwimmt, wenn ich komme. Mit dem ich mal was unternehmen kann. Mit dem ich mal reden kann! Bleibst du länger hier?“ „Kommt drauf an. Ich suche meine Eltern. Die sind am Bach entlang gegangen. Ich bin dem Bach gefolgt und hier im See gelandet. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“ „Aha“, sagte der Große Fisch. „Ich glaube, da gibt es jemanden, der dir helfen kann.“ Tommy schaute neugierig. „Die Alte Aga“, sagte der Große Fisch. „Und wer ist das, die Alte Aga?“ „Die Alte Aga ist eine Sitz-Kröte. Sie sitzt schon so lange am Ufer, dass sie festgewachsen ist. Sie weiß alles. Sie sieht alles. Alles, was geschieht in der Welt. Seit Jahrhunderten sitzt sie dort. Sieht sich alles an, was um sie herum geschieht. Seit Jahrhunderten sitzt sie alles aus. Komm, ich bring dich zu ihr.“

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Gemeinsam schwammen Tommy und der Große Fisch Richtung Ufer. Tommy fiel erst jetzt auf, wie problemlos er mit dem Fisch hatte sprechen können. Minutenlang hatte er den Kopf unter Wasser gehalten, ohne aufzutauchen. Er hatte sich schon ganz und gar ans Wasser gewöhnt. Tommy kroch ans Ufer und schüttelte sich. Der Große Fisch streckte seinen Kopf hervor. „Da drüben!“, sagte er und deutete mit dem Maul auf einen Stein. „Du musst nur ein paar Schritte gehen, hinterm Stein hockt sie, die Sitz-Kröte.“ „Ich dank dir!“, rief Tommy „Komm bald wieder!“, rief der Große Fisch. „Mach ich!“, sagte Tommy. Er winkte und drehte sich um. Jetzt war es bald geschafft. Die Alte Aga würde ihm sicher helfen. Die Alte Aga musste ihm helfen. Etwas anderes war undenkbar. Sie würde ihm sagen, wo seine Eltern sich befanden, und dann wäre endlich alles wieder gut.

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4 Tommy sah nach oben. Die Sonne schien. Seit zwölf Stunden war er jetzt schon unterwegs auf der Suche nach seinen Eltern. Was für ein ganz und gar merkwürdiger Tag. Er war gar kein Tollpatsch, wie alle dachten! Es gab etwas, was er konnte, gut konnte: schwimmen. Nicht nur schwimmen. Tauchen! Unter Wasser sprechen! Unter Wasser sehen und riechen und hören und sogar atmen? Wer war er eigentlich? Vielleicht würde er auch das erfahren, wenn er zur Alten Aga ging. Dort hinter dem Stein sollte sie sitzen, die Sitz-Kröte. Der Große Fisch im See hatte ihm die Richtung gewiesen. Tommy ging jetzt Richtung Stein, und sein Herz klopfte, weil er nicht wusste, was ihn dort, hinterm Stein, erwartete. Die Alte Aga saß fett und feist auf ihrem Platz, grün-braun und grau getupft. Sie rührte sich nicht. Ihr Kopf ragte ein klein wenig über den Stein. So hatte sie einen Ausblick über den See und über alles, was dort vor sich ging. Tommy näherte sich. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Da drehte die Kröte langsam den Kopf. Sie musterte Tommy ausgiebig. Und öffnete ihr Maul. Das quietschte ein bisschen, als hätte sie lange nicht mehr gesprochen. Die Alte Aga fragte ihn: „Wie heißt du?“ „Tommy“, sagte Tommy. „Hallo Tommy.“ „Aber ... aber meine Geschwister nennen mich Tollpatsch“, fügte Tommy hinzu. „Wieso denn das?“ Die Alte Aga sah Tommy lange an. Der Blick der Kröte ließ Tommys Herz schneller schlagen. Er hatte das Gefühl, er müsse der Kröte alles erzählen, alles sagen, was ihn bedrückte. „Ich weiß nicht“, sagte Tommy. „Ich kann nichts richtig! Ich kann weder gut buddeln noch schwer tragen wie mein Bruder Walter, ich kann weder organisieren noch planen wie mein Bruder Paul, 13

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ich kann nicht schnell rennen wie meine Schwester Sophie, und ich kann mich nicht so gut verstecken wie meine Schwester Emma. Ich kann nichts von dem, was eine Maus können muss. Ich kann nichts von dem, was meine Geschwister können.“ „Ja“, sagte die Alte Aga. „Dafür gibt es eine Erklärung.“ „Und welche?“ „Die Erklärung ist einfach: Du bist keine Maus.“ „Wieso?“, fragte Tommy. „Meine Eltern sind Mäuse.“ „Ich habe dich beobachtet. Vorhin. Im See. Ich habe dich schwimmen sehen. Mäuse sind wasserscheu. Mäuse können nicht gut schwimmen. Du aber schwimmst wie ein Seehund. Also bist du keine Maus.“ „Was bin ich denn dann?“, fragte Tommy. Die Alte Aga schloss für einen Augenblick die Augen. Als wolle sie eine lange Reise in ihren eigenen Kopf antreten und erkunden, an was sie sich alles erinnern konnte. Als wolle sie in die Vergangenheit blicken. Dann öffnete sie die Augen, holte tief Luft, blickte Tommy an und lächelte. „Willst du das wirklich wissen?“, fragte die Sitz-Kröte. „Ja“, flüsterte Tommy, der neugierig und ängstlich zugleich war. Er ahnte: Das, was die Kröte ihm jetzt erzählen würde, würde sein Leben verändern. Für immer. „Du bist keine Maus“, sagte die Alte Aga. „Jedenfalls keine einfache Maus. Keine gewöhnliche Maus. Du bist eine besondere Maus. Du bist ... na ja, du bist ... eine Tauchmaus.“ „Eine ... was?“, fragte Tommy. „Eine Tauchmaus?“ „Eine Tauchmaus ist eine Maus, die richtig gut schwimmen kann. Eine Maus, die tauchen kann. Und wenn du dich traust, kannst du eines Tages auch unter Wasser atmen.“ „Davon habe ich noch nie gehört“, sagte Tommy. „Ja“, sagte die Alte Aga. „Ich habe die letzte Tauchmaus vor mehr als hundert Jahren gesehen.“ „Also gibt es nicht so viele Tauchmäuse?“, fragte Tommy.

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„Doch, schon. Vielleicht sogar sehr viele. Man weiß es nicht. Das Problem ist: Die Tauchmäuse wissen oft selber gar nicht, dass sie Tauchmäuse sind. So wie du. Sie leben ein Leben als Maus. Sie stolpern durch die Welt. Sie tun, was man von ihnen erwartet. Sie scheitern in allem. Sie können nicht rennen, nicht buddeln, nicht schnuppern, nicht gut sehen, sie können nichts von dem, was die anderen Mäuse so gut können, sie sind in ihrem Mäuse-Leben die reinsten Nichts-Könner. Die meisten Tauchmäuse ergeben sich in ihr Schicksal und leben ein Leben als Außenseiter. Nur selten, ganz selten, hat eine Tauchmaus den Mut, etwas zu wagen, etwas zu riskieren, etwas auszuprobieren. Ins Wasser zu springen. Und sie merkt ganz plötzlich: Das Wasser trägt. Sie merkt ganz plötzlich, dass sie schwimmen kann.“ So lange die Alte Aga schon dort sitzen musste, so groß war jetzt ihr Bedürfnis zu reden. Von Wort zu Wort entspannte sich ihr Mund immer mehr, die Sätze kamen flüssiger über die Lippen. Es machte ihr offensichtlich große Freude, endlich mal wieder mit jemandem zu sprechen. Noch eine ganze Weile erzählte sie Tommy vom Leben der Tauchmäuse, und je mehr sie redete, umso mehr erkannte Tommy, dass er überhaupt kein Tollpatsch war. Jede Maus kann irgendetwas, dachte er. Und sei sie noch so klein. Jede Maus hat ein Talent. Man muss nur herausfinden, was es ist. Doch da fiel Tommy wieder ein, weshalb er überhaupt hier war. Und er fragte die Alte Aga, ob sie seine Eltern gesehen hätte. Die Alte Aga blickte ihn an. „Wie sehen sie aus, deine Eltern?“, fragte sie. Und nachdem Tommy genau beschrieben hatte, wie sein Vater und seine Mutter aussahen, nickte die Sitz-Kröte, streckte nachdenklich die Zunge raus und überlegte. Dann blickte sie zum Himmel: Es regnete immer noch. Sie blickte zum Wasserfall, dessen Wasser sich in den See ergoss, und dann sagte die Alte Aga: „Abwarten.“ „Was meinst du?“, fragte Tommy.

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„Abwarten. Setz dich einfach hierhin, neben mich, und warte ab. Das ist manchmal eine gute Möglichkeit, ein Problem zu lösen. Ich kenne mich damit aus. Ich mache nichts anderes. Ich sitze hier den ganzen Tag, seit Jahrhunderten. Wenn ich Durst habe, denke ich, irgendwann wird es schon wieder anfangen zu regnen, und dann regnet es auch wirklich eines Tages. Wenn ich Hunger habe, denke ich, irgendwann wird sich schon mal wieder eine Fliege hier auf den Stein setzen, um sich zu sonnen. Die kommt dann auch, und ich schnappe sie mir. Und jetzt deine Eltern. Ich denke: Irgendwann werden sie von allein hier auftauchen!“ Tommy schwieg. Da er selber keine bessere Idee hatte, kauerte er sich erst einmal neben die Sitz-Kröte. Der Regen hörte nicht auf. Aber das Wasser störte ihn nicht. Er blickte zum See und zum Wasserfall und dachte an alles, was heute geschehen war. Was für ein ganz und gar merkwürdiger Tag.

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5 Tommy, die Tauchmaus, saß mit der Alten Aga am Ufer des Sees, nahe beim Wasserfall, und wartete. Er wartete eine Stunde und noch eine und noch eine, aber nichts geschah. Er wurde unruhig. Zappelig. Sollte er wirklich dem Rat der Alten Aga folgen und nichts tun? Gar nichts? „Ich bin aufgebrochen, um meine Eltern zu suchen!“, sagte Tommy plötzlich. „Ich kann nicht hier sitzen und einfach nur warten!“ „Weißt du“, sagte die Alte Aga, „ich bin uralt. Ich sitze hier seit dreizehn Ewigkeiten. Ich verfüge über eine höchst seltene Gabe. Die Gabe des inneren Sehens. Wenn ich die Augen schließe, kann ich in die Vergangenheit blicken. Ich kann genau sehen, was geschehen ist. Ganz so, als wäre ich dabei gewesen. Als hätte ich es miterlebt. Ich weiß genau, was deinen Eltern zugestoßen ist.“ „Ja“, rief Tommy, „und warum erzählst du es mir nicht?“ „Nur die Ruhe“, sagte die Sitzkröte. „Nur die Ruhe!“ Und dann schloss sie langsam die Augen und sagte: „Ich sehe es vor mir, Tommy. Dort, deine Eltern, am Bach, sie flüchten vor der Schlange, sie flüchten in den Wald. Eine fette, biestige Schlange mit zwei spitzen Giftzähnen. Und deine Eltern sind klein, flink, geschickt, schnell. Doch deine Mutter! Sie tritt in eine Scherbe. Sie kann nicht mehr richtig kriechen. Die Schlange kommt näher. Dein Vater bedeckt deine Mutter mit Laub, und er lockt die Schlange hinter sich her. Weg vom Versteck seiner Mutter. Tief hinein in den Wald. Und dann schüttelt er die Schlange ab. Er schafft es! Die Gefahr ist gebannt. Er rettet sich selbst. Aber er hat sich heillos verlaufen dabei. Sucht stundenlang deine Mutter und ihr Versteck. Und deshalb kehren deine Eltern viel später zum Bau zurück als geplant. Und stellen fest: Tommy ist nicht mehr da. Und sie beschließen sofort, dich zu suchen!“ „Ehrlich?“

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„Ja, meinst du, sie lassen dich im Stich? Walter und Emma bleiben bei der Mutter. Dein Vater aber, Paul und Sophie kriechen in den Wald, folgen dem Bach. Aber sie kommen nur langsam voran, der Regen lässt nicht nach. Er stürzt immer noch in Strömen vom Himmel. Und dann, plötzlich, unaufhaltsam, rauscht eine riesige Welle heran, in ihrem Rücken. Das sind Wassermassen, die sich durch den Regen in den Zuflüssen des Bachs gesammelt haben. Und der Bach tritt über die Ufer und wird zu einem einzigen wilden Fluten. Und dein Vater, Paul und Sophie werden vom Wasser gepackt und fortgerissen, sie halten sich an vorbeiwirbelnden Stöcken fest, um nicht zu ersaufen. Doch da! Ein Wasserfall ...“ Jetzt öffnete die Alte Aga die Augen. Und im selben Moment hörte Tommy einen Schrei. Einen lauten, durchdringenden Schrei. Diese Stimme! Diese Stimme kannte er! Und da sah Tommy schon seinen Vater und seinen Bruder Paul und seine Schwester Sophie. Und sie alle wurden vom Wasserfall durch die Luft gewirbelt und landeten laut schreiend im See, wurden unter Wasser gedrückt und verschwanden in den grünen Tiefen. Tommy kauerte dort wie angewachsen. Da stieß ihn die Alte Aga unsanft in die Seite. „Jetzt bist du dran!“, sagte sie. Und Tommy wusste, was sie meinte. Er sprang sofort in die Fluten. Seine Flossen teilten das grüne Wasser. Sein Blick durchdrang den Tang und die Algen und die Pflanzen, er sah seinen Bruder, seine Schwester, die sich aneinander klammerten. Tommy packte beide, Paul links, Sophie rechts, und zog sie nach oben, mit kräftigen Stößen seiner Pfoten. Er schleifte sie ans Ufer. Dort lagen sie und keuchten. Tommy aber war schon wieder im See. Er suchte unter Wasser nach seinem Vater. Er hatte ihn doch gesehen! Sein Vater war doch dabei gewesen! Und jetzt? Und wenn er schon ertrunken war? Tommy tauchte auf. Er sah über das Wasser hinweg, aber hier oben konnte er viel weniger erkennen als dort unten, im Grünen. Schon wollte er wieder abtauchen, als plötzlich etwas geschah, was Tommy nicht für 18

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möglich gehalten hätte. Neben ihm teilte sich die Wasseroberfläche und sein Vater wurde aus dem Wasser geschleudert, in hohem Bogen, hinaus ans Ufer. Ein Busch fing ihn auf. Und wer hatte den Vater geworfen? Der Große Fisch! Er hatte ihn mit seinem Maul gepackt und aus dem Wasser katapultiert. „Danke!“, rief Tommy dem Großen Fisch zu. „Keine Ursache!“, rief der Große Fisch. „Ach! Und: Besuch mich doch mal! Ich wohne im alten Ruderbootwrack, am anderen Ende des Sees.“ „Mach ich!“, sagte Tommy. Und als Tommy diese Worte aussprach, wusste er, dass er hier bleiben würde, hier bleiben musste, im See, wo er schwimmen und tauchen konnte, so viel er wollte, hier, dachte er, bin ich zu Hause! Die Mäuse lagen sich in den Armen und lachten und weinten. Und dann wurde ein paar Stunden lang nur erzählt. Tommys Vater, Paul und Sophie staunten nicht schlecht, als sie hörten, was geschehen war. „Aber eins muss ich dir sagen“, sagte der Vater am Schluss zu Tommy in strengerem Tonfall. „Du hättest auf Paul hören müssen. Du hättest den Bau nicht verlassen dürfen.“ „Aber dann wäre all das hier niemals passiert“, sagte Tommy. „Genau“, sagte der Vater. „Dann wären wir alle nicht in Gefahr geraten.“ „Aber dann“, sagte Tommy, „hätte ich auch niemals herausgefunden, dass ich eine Tauchmaus bin.“ „Hm“, sagte der Vater nachdenklich. „Das ist richtig.“ Manchmal, dachte Tommy, ist es richtig, abzuwarten. Und manchmal ist es richtig zu handeln. Na ja. Die Schwierigkeit bestand nur darin, herauszufinden, wann man abwarten und wann man handeln sollte. Jetzt räusperte sich Tommy und sagte: „Wisst ihr, ich muss euch etwas sagen: Ich bleibe hier. Ich kann nicht anders. Ich habe endlich etwas gefunden, was ich kann: schwimmen, tauchen, unter 19

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Wasser sehen, hören. Ich muss einfach hier bleiben. Das Wasser ist mein Element!“ Sein Vater sah ihn lange an. Dann lächelte er. „Glaub bloß nicht“, sagte er und legte Tommy die Pfote auf die Schulter, „glaub bloß nicht, dass wir dich allein lassen. Wir suchen uns einen Platz, hier in der Nähe. Wir buddeln ein neues Erdloch. Wir ziehen um. Die ganze Familie. Dann können wir uns jederzeit sehen. Und du? Du kannst schwimmen und tauchen, so viel du willst.“ „Ehrlich?“, sagte Tommy. „Das wollt ihr tun? Für mich?“ „Na klar! Du bist unser Sohn. Wir lieben dich. Wir haben dich immer geliebt. Auch, als du nichts konntest. Oder besser: als wir dachten, dass du nichts konntest! Und jetzt hast du uns gezeigt, was du drauf hast! Jetzt hast du uns gerettet! Du bist alles andere als ein Tollpatsch. Du bist ein Held!“ Tommy strahlte. Jetzt war er eine Maus, die doch etwas konnte. „Tommy Tauchmaus!“, flüsterte die Alte Aga. „Klingt doch klasse!“ Und dann schloss sie ganz langsam ihre Augen.

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