Die Jugend, die wir verloren haben

Sozial Extra 11|12 2013: 15-19 DOI 10.1007/s12054-013-1097-8 Beruf und Qualifikation  Die Jugend, die wir verloren haben Über die Unzufriedenheit j...
Author: Kai Schreiber
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Sozial Extra 11|12 2013: 15-19

DOI 10.1007/s12054-013-1097-8

Beruf und Qualifikation 

Die Jugend, die wir verloren haben Über die Unzufriedenheit junger Menschen in Europa

Wenn die Jugend der „Seismograph der Gesellschaft“ ist und spürt, dass ihre Chancen und Hoffnungen schwinden, sollte die Gesellschaft in Sorge sein. Zersetzungsprozesse zwischen dem lähmenden Gewicht einer desillusionieren Gegenwart und den hochfliegenden Zukunftsvorstellungen sind es, die die europäische Jugend auf die Straßen treibt. Warum die bedrückend hohe Jugendarbeitslosigkeit mehr ist als eine konjunkturelle Not des Augenblicks.

„Der Zeitpunkt, zu dem eine neue Generation das Licht der Welt erblickt, ist wichtig“ notierte F. Scott Fitzgerald in einem Essay über die Jugend. Weiter heißt es: „Eine ausgeprägt individuelle Generation entspringt am ehesten Jan-Philipp einer Zeit der Not und des Drucks“ (FitzgeKüppers *1983 rald 2012, S. 332). Die heutige Jugend erhält Studierte Sozialarbeit, zwar die Ordnung der Gegenwart aufrecht, Politikwissenschaften aber die Beziehung zur Zukunft formuliert sie und Soziologie in Emden, Kiel und Zürich. Sein bereits im Konjunktiv. In einer Zeit der subtiInteresse gilt Diskursen zu gesellschaftlichen len Angst, trotz qualifizierter Ausbildung keiStrukturfragen und eine feste Arbeitsstelle zu bekommen, verzweines gerechten Gemeinfeln junge Menschen zunehmend über ihre wesens. Zur Zeit lebt er in Vancouver, Kanada. schlechten Berufschancen und entwürdigenwww.jpkueppers.de den Beschäftigungsverhältnisse. Und die nahe Zukunft sieht auch nicht verheißungsvoller aus, wie bereits die internationale Arbeitsorganisation (ILO) verlauten ließ (ILO 2012, S. 13ff.). Die Welt der Desillusionierung

In der hochkomplexen und unüberschaubaren neuen Krisensequenz der Gegenwart, hervorgegangen aus der Weltfinanzkrise seit 2007, wird unter neoliberalen Vorzeichen und in wissenschaftlicher Grausamkeit eine „Strukturreform“ implementiert, die Zustände im Wirkungszusammenhang der Banken- Fiskal- Realwirtschaftskrise „stabilisieren“ sollte. Für staatliche Versicherungen und pragmatische ordnungspolitische Rettungsmaßnahmen wurden Milliardenbeträge aufgebracht, die sich ihrer komplexen Multiplikatoren-Effekte wie einer konstanten Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten sowie deren Angst vor einer perspektivlosen Lebensordnung entzogen. Zur Refinanzierung der milliardenschweren Rettungspakete wird drakonisch an staatlichen Sozialausgaben

und an der Gesundheitsversorgung gespart, die den Anschein von wohlmeinender Haushaltskonsolidierung tragen1. Komplexe Gesellschaften sind nicht mit den bisherigen politischen „End-of-Pipe“-Problemlösungsversuchen – und ihren negativen Verzögerungseffekten – fehlertolerant zu entwickeln. Die durch chronische Suspendierung ihrer Wahrnehmung leidenden Virtuosen symbolischer Politik (wenn man den Erwartungshorizont von sozialer Gerechtigkeit in Aussicht stellt) befördern oder dulden zumindest gesellschaftliche Fragmentierungsprozesse, die soziale Krisen eskalieren lassen (s. Abbildung 1). In diesem Sinnzusammenhang sind die Vorzeichen eines europäischen Austeritätsregimes und seiner sozialen Folgewirkungen insbesondere in ärmeren EU-Ländern zu nennen (s. McKee et al. 2013; Stuckler/Basu 2013). Unsere „Leistungsträger“ verleugnen die gesamteuropäische Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen ihrer an die Finanzmärkte angepasste technokratische Krisenpolitik. Sie verspielen mit ihrem Defizit an strategischem Denken in Wirkungsnetzen nicht nur die Grundlagen der Stabilität, sondern auch die einer lebenswerten Zukunft. Dass sich der Protest in manchen europäischen Ländern radikalisiert, mag bei dieser skandalösen Situation wenig verwundern. • Was haben die europäischen Funktionseliten bisher der Jugend gebracht? • Wo werden sie per Abkommen dazu verpflichtet, persönlich für die Auswirkungen ihrer „Verdrängungspolitik“ auf nachfolgende Generationen zu haften? • Wo ist der mutige Versuch erkennbar und wo der politische Wille, die nächste Regierungserklärung „Mehr für die Jugend wagen!“, umzusetzen? Habermas ist sicher Recht zu geben, wenn er die „himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit“ darin sieht, „dass die sozialisierten

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Die Jugend steht vor der drängenden Herausforderung, komplexe Probleme zu lösen. Ihre Belange anzuhören,

ernst zu nehmen und sie nach besten Kräften zu unterstützen sollte zur Verantwortungsbereitschaft des politisch handelnden Personals gehören. Ihr politisches Fehlen verstößt nicht nur gegen den Maßstab der Nachhaltigkeit, auch kann es sich zur massiven Bedrohung für die Stabilität des Gemeinwesens aufschaukeln.

Keywords / Stichworte Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Jugend in Europa, fehlendes normatives politisches Korrektiv, komplexe gesellschaftliche Folgeprobleme, Denken in Wirkungszusammenhängen, kapitalistische Verwertungslogik, Verantwortungsdiffusion

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Beruf und Qualifi kation  Kosten des Systemversagens die verletzbarsten sozialen Gruppen am härtesten treffen“ (Habermas 2011, S. 99). Wo der Staat die innergesellschaftlichen Verwerfungen der Finanz- und Bankenkrise nicht zu lindern vermag, entstehen schutzlose entpolitisierte Räume von Arbeitslosigkeit, Desillusion und letzten Endes verzweifelten Gewaltakten, die in Griechenland bereits den demokratischen Konsens der Gesellschaft aufbrechen. Dieses Europa als Entwurf für die ausweisende politische Schande, ist einzig in den europäischen Regierungen verwurzelt. Bis heute ist kein Politiker zu einer Geste bereit, aus der Finanz- und Bankenkrise und ihren destruktiven Dynamiken jene Lehren zu ziehen, die offenkundig zu Protokoll stehen. Bis heute gibt es keine klaren Verantwortungsverhältnisse geschweige denn die politische Durchsetzungsmacht, eine international schwebende Finanzdiplomatie durch Kapitalverkehrskontrollen zu beschneiden.2 Die komplexen gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungszusammenhänge zwischen der bisherigen gestalterischen Duldungstoleranz unserer handelnden Mandatsträger und einer sozial besonders verletzlichen Jugend, sind als „Teufelskreis“ mit wechselnden Beziehungen zu werten und lassen sich wie in Abb.1 grafisch darstellen: Vorurteile von Erwachsenen

Häufig ist die Rede von einer jungen wohlhabenden Generation, die in relativ stabilen und sicheren Verhältnissen aufgewachsen ist, keine harten Zeiten durchleben musste, nie vor die Fähigkeit der Wahl gestellt wurde, Auswege zu finden und dabei eigene Risiken einzugehen. Auch wenn die heutige keine klassische politische Generation ist, wie in der Zeit um 1968, scheint es, wie der Journalist Heribert Prantl schreibt, als sei das verfestigte Vorurteil über die hedonistischen Jungwesen so gar nicht mehr richtig: „Die Menschen gehen nicht auf Distanz zur Politik – sie gehen auf die Straßen, sie besetzen Plätze; das ist keine Distanz, das ist etwas anderes. Sie entfernen sich nicht von der Politik, sondern versuchen, sie zu beeinflussen“ (Prantl 2011, S. 7). „Aufbegehren ist vor allem Sache der Jugend“, schreibt dazu der Historiker Tony Judt. „Statt sich resignierend zurückzulehnen, neigen junge Leute eher dazu, Probleme zu benennen und Lösungen zu verlangen“ (Judt 2011, S. 130). Und ihre Sorgenliste ist lang. „Ihre Sorgen gelten der Welt, die sie übernehmen werden“ (a. a. O., S. 13). Der junge Sozialwissenschaftler Wolfgang Gründinger hat die opportunistische Verantwortungsbereitschaft treffend formuliert, als er sagte: „Nicht die Jugend ist politikverdrossen, sondern die Politik ist jugendverdrossen!“ (2012, S. 110). Mit einem tief empfundenen Misstrauen gegenüber jedweder Parteipolitik, suchen sie „andere Wege, sich auszudrücken und sich in die Gesellschaft einzubringen“ (a. a. O., S. 117). Die Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte ihre „alternativlose“ europäische Integrationsstrategie mit dem markigen und durchaus rätselhaften Halbsatz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“. Diese unisono vorgetragene politische Konsensformel zeigt deutlich den fiskalischen Tunnelblick auf. In leidenschaftlicher Spar16

Abb.1: Teufelskreis zwischen politischer Indolenz gegenüber den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Problemlagen und jungen Menschen. Die Symbole haben folgende Bedeutung: Die kausalen Bezüge aus diesem Ausschnitt aus einem Wirkungsnetz können untereinander verstärkend (+) und/oder schwächend (-) wirken. Dreiviertelkreis mit (+) = „Teufelskreis“-Funktion. Dreiviertelkreis mit (-) = Dieser trägt zur Stabilisierung des Gesamtzusammenhangs bei, ohne dass es zu extremen Ausschlägen im gesamten Wirkungsablauf kommt.

samkeit verspielt die Politik auch die letzten Glaubenssätze, der Jugend Perspektiven zu eröffnen. Junge Leute verstehen sich besser als Mitglieder einer internationalen europäischen Gemeinschaft, als es ihre jeweiligen Regierungen vollmundig anstreben. In erster Linie sind sie es, die ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union (EU) wahrnehmen, den europäischen Integrationsprozess voranbringen und heute schon in der grenzenlosen Blogosphäre leben. Es klingt paradox: Je ergiebiger unser Unbehagen über soziale Ungerechtigkeit wird, desto eindringlicher leben wir die europäische Idee. Ihre Identitätsstiftung samt mobilisierenden Wirkungskreisen findet in ausdifferenzierten Räumen der Blogosphäre statt. Junge Netzaktivisten sind die weltoffenen Architekten eines verbundenen europäischen Demos. In Günter Grass’ „Rede vom Verlust“ (Grass 1992, S. 58) finden sich folgende – hier auf die Jugend übertragene – Sätze, die uns helfen können, unser Bewusstsein über die Jugend klarer zu sehen: „Sie wären Gewinn für uns nach so viel Verlust. Sie könnten uns lehren, wie nichtig Grenzen sind; denn die jungen Leute kennen keine Grenzen. Die Jugend ist überall in Europa zu Hause, sie sind, was wir zu sein vorgeben: geborene Europäer!“ Glühender Brandschaden

Junge Europäer sind gut ausgebildet und fi nden dennoch keine gesicherte Arbeit. Dieses „europäische Schicksal“ erfährt die europäische Jugend zum ersten Mal, notiert der Soziologe Ulrich Beck: „Besser ausgebildet denn je, trifft sie mit ihren Erwartungen auf den durch drohenden Staatsbankrott und Wirtschaftskrise ausgelösten Niedergang der Arbeitsmärkte“ (Beck 2011, S. 128f.). Ein flüchtiger Blick auf die strukturellen Umbrüche des europäischen Arbeitsmarktes zeigt eine prekäre Generation zwischen Arbeits-

losigkeit und stagnierten Löhnen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Und dennoch gehen wir eine eigentümliche Verbindung ein: Wir richten unseren Arbeitsethos entlang einer Linie von Selbstverwirklichung und Eigennutz aus, spielen ruhelos dienliche Stellungsspiele im neoliberalen Positionsgefüge durch, die einem Halt und klare Zukunftswege zeigen sollen, der beklemmenden Angst zu entkommen. Der glühendste aller Brandschäden, die Arbeitslosigkeit, drückt sich empirisch durch die Arbeitslosenquote aus.3 Die weit schlimmer zu lesende soziale Realität individueller Folgen flexibilisierter Arbeitsverhältnisse beschrieb der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem 1998 veröffentlichten Buch „Der flexible Mensch“ („The Corrosion of Character“). In Europa sehen die Auswirkungen veränderter sozialer Herrschaftsverhältnisse nicht anders aus. Die kapitalistische Verwertungslogik und ihr an betriebswirtschaftlicher Rationalität orientierten Dialekt von Flexibilität, Konkurrenz und Wettbewerb sind auch in europäischen Arbeitsverhältnissen deutlich zu spüren. Eine neoliberale Ideologie und ein Resultat der vielgelobten „Agenda 2010“ und seiner Hartz-Gesetze (Borchert 2013), die erlaubt, den Arbeitslohn immer weiter unter eine menschenwürdige Existenzschwelle zu drücken und eine wachsende Anzahl an Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor anzusiedeln (Destatis 2012). Diese Abenteuer des flexiblen Kapitalismus, und seiner omnipräsenten ökonomischen Rationalität, bestimmen psychische und physische Krankheiten, die vom medialen Sendebewusstsein in ihren ursächlichen Anstößen selten umfassend erklärt werden. Menschen, die Arbeit verlieren, zeigen Anzeichen von lähmender Gleichgültigkeit, verzichten auf soziale Pflichten und einfachste kulturelle Bedürfnisse, fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, verlieren zwischenmenschliche Bindungen, sind hilfsund orientierungslos, zerstören ihr Selbstwertgefühl bis – wie in Griechenland bereits nachweisbar – zum Selbstmord. Auch kann es beim Zusammenhalt zu einem „Rückfall von der höheren kulturellen Stufe der politischen Auseinandersetzung auf die primitivere der individuellen gegenseitigen Gehässigkeit“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 61) kommen, wie bereits die Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ belegte. Und selbst der soziale Frieden kann, bei politischer Untätigkeit, Arbeitslosen eine JobPerspektive zu eröffnen, erodieren, wie die Ereignisse während des „Arabischen Frühlings“ zeigten. Unsere Gesellschaftsordnung lässt es zu, dass „manche unserer besten jungen Menschen so in Isolation und Hoffnungslosigkeit geraten, dass kein anderer Weg aus ihrer Verzweiflung herausführt als Fanatismus und Zerstörung“ (Fromm 1976, S. 130). Und was tun die Politiker? Sie fangen an, die Problematik wahrzunehmen4, jedoch ohne tiefgreifenden Diskurs und Einbindung derjenigen, die es betrifft und heute bereits schonungslos die Folgen des demonstrativen politischen Desinteresses zu spüren bekommen. Das im Jahr 2010 vorgestellte Programm „Jugend in Bewegung“ (!) ist eine Leitinitiative der „Strategie Europa 2020“, die im Kern die Bildung und Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen verbessern

„NICHT DIE JUGEND IST POLITIKVERDROSSEN, SONDERN DIE POLITIK IST JUGENDVERDROSSEN!“ WOLFGANG GRÜNDINGER, 2012

möchte, um sie in „Lohn und Brot“ zu bringen. Die neuste Initiative der EU, sechs Milliarden Euro für die Jugendarbeitslosigkeit aufzubringen, ist gemessen an der Dimension der Maßnahme bereits mit begründeten Zweifeln an ihrer Wirksamkeit vorbelastet. Doch wie steht es um die deutsche Jugend? Deutschland hat als einziges OECD-Land heute eine niedrigere Arbeitslosenquote als vor Beginn der Finanzkrise. Die deutsche Jugend lässt sich weder durch die Krise noch durch unsicher gewordene Lebensläufe und Perspektiven von ihrer optimistischen Grundhaltung abbringen. Der letzten (16.) Shell-Jugendstudie, die Sichtweisen, Stimmungen und Erwartungen der Jugend in Deutschland seit 1953 untersucht, ist zu entnehmen, dass zwar die Jugend optimistisch in die Zukunft schaut, sich die soziale Kluft insbesondere auch wegen der hinlänglich bekannten Situation „sozialer Differenzen“ im Bildungsbereich jedoch ausweitet (vgl. Shell Deutschland Holding, 2010, Albert, M. et. al., 2010). Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Spanien wesentlich höher als in Deutschland, doch trügt der Blick auf die vergleichsweise geringe Jugendarbeitslosenzahl. Viele Jugendliche haben auch in Deutschland keine Arbeit - sie hängen zumeist in einem Übergangssystem fest. Ihnen steht dann eine „Maßnahmenkarriere“ in einer breiten Palette aus berufsvorbereitenden, ausbildungsbegleitenden und ergänzenden kommunalen Angeboten bevor. Jene staatlich finanzierten Qualifizierungsmaßnahmen des dualen Berufsbildungssystems entstanden ursprünglich als politisches Mittel zur Bewältigung einer als temporär eingeschätzten Krise auf dem Arbeitsmarkt. Heute haben sie sich als Teilbereich beruflicher Bildung eingefügt, was höchst bedenklich stimmt. Die Gesichter der Jugend

Die Gesichter der Jugend Europas haben eines gemein: sie eint die Wut über das Verhalten von gewählten Politikern, die ihre Zukunft – im wahrsten Sinne des Wortes – verspielen. Die Kurzatmigkeit des politischen Krisenmanagements in der Finanzkrise verspielt ihr Vertrauen in nachhaltige politische Problemlösungen. 17

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Beruf und Qualifikation  Wen wundert es, dass die Jugend ihr selbstbestimmendes Recht auf Zukunft immer deutlicher artikuliert und von ihren politischen Mandatsträgern einfordert. • Die griechische Jugend revoltiert gegen das stark verwurzelte, von Partikularinteressen zerfressene politische System und krasse Sozialkürzungen, • am spanischen Protestzug aus Empörung über die politische und soziale Situation beteiligten sich nur im Jahr 2011 mehr als 130.000 Menschen in über 50 Städten, • die zwei Gesichter einer Generation in Frankreich, die génération perdue („verlorene Generation“) und génération sacrifiée („aufgegebene Generation“) protestieren gegen ein verkrustetes Bildungs- und Ausbildungssystem, • die „Bewegung des 12. März“ junger Portugiesen protestiert gegen hohe Arbeitslosigkeit und kuriose Beschäftigungsverhältnisse, • und selbst die geduldig phlegmatische Windstille und Geborgenheit der vergleichsweise privilegierten deutschen Jugend scheint zum Protest bereit, wenn man an 2009 und 2010 denkt. Seit dem Jahr der weltweiten Empörung 2011 stellte sich die Jugend deutlicher als zuvor gegen ihre Regierungen, die ihnen in absehbarer Zukunft keine Anreize und Perspektiven bieten, ja sie nicht einmal mehr ernsthaft öffentlich anhört. In vielen EU-Ländern ist damit das Phänomen des „brain drain“ verbunden, der Abwanderung von akademisch qualifizierten jungen Leuten, die in ihren Herkunftsländern dringend gebraucht, aber keine ihrer Qualifikation entsprechende Arbeit finden. Generationenspiel zu Lasten der Jugend

Für den Philosophen Dieter Thomä ist die Politik immer auch ein Generationenspiel, das sie seit Jahrzehnten nicht sonderlich gut beherrscht: „Wenn denn das politische Generationenspiel ein Staffelstab ist, dann reicht die derzeit herrschende Generation einen Staffelstab an die folgende weiter, der mit Bleigewichten beschwert ist ... man könnte auch sagen, damit sei der Tatbestand des Verbrechens gegen die Zwischenmenschlichkeit erfüllt“ (Thomä 2011, S. 46). Tatsächlich zeigt sich die gegenwärtige politische Verantwortung zumeist darin, Lasten der Gegenwart auf die Zukunft umzuschichten. Man könnte von unterlassener Hilfeleistung an nachrückenden Generationen sprechen. Es darf der Politik nicht gleichgültig sein, wenn die Jugend mit ihrem Schicksal, mit ihrer Zukunft, hadert. Daher sollte die Jugend am Gebot in seiner strengen Form festhalten und um keinen Preis faule Kompromisse um ihrer Zukunft Willen eingehen. Bei aller erforderlichen Kompromissbereitschaft gibt es Umstände, in denen offene und kollektive Verweigerung notwendig werden. Es gibt keine triftigen Gründe oder Umstände für Zugeständnisse, wenn die eine Seite den „Gesellschaftsvertrag“ aufkündigt und nicht mehr in Haftung für ihr Tun genommen werden kann. Nachfolgenden Generationen wird die Luft zum Atmen genommen. Ihre Sorge gilt dem Überleben. Die unter einer Politik ohne Rückgrat leidende europäische Jugend fehlt mehr und mehr 18

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Abb. 2: Harmonisierte Arbeitslosenquote (Alter 15-24 Jahre), ausgewählte Länder Quelle: Angaben von Eurostat (laufende Veröffentlichungen, Juli 2013)

die Kraft an etwas anderes zu denken, als an ihr eigenes Fortkommen. Und dieses „strafende Schicksal“ zahlen Bürger und gerade junge Menschen in den ökonomisch schwächeren Ländern mit der geballten „harten Währung ihrer alltäglichen Existenz“ (Habermas 2011, S. 99). Was ist zu tun?

Eine wirksame Abhilfe wäre natürlich Arbeit. Doch wenn sich die politisch Handelnden an maßgeblichen öffentlichen Regulierungsstellen auch als verantwortliche Gemeinwesenarbeiter verstünden (s. Küppers 2013, S. 40), – und diese Erkenntnis kann freilich noch lange dauern – kann eine nachhaltige, und somit im eigentlichen Verständnis des Wortes immer auch enkeltaugliche Zukunftspolitik ohne lebenslange – staatliche – Schuldverschreibungen zweierlei tun: 1. Eine nachhaltige Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik investiert ins Bildungs- und Ausbildungssystem, denkt über Wissen und Wert nach und fragt, was junge Menschen in Zeiten hochkomplexer gesellschaftlicher Umbrüche lernen sollten, um sie fit für morgen zu machen. 2. Und für eine garantierte Grundsicherung für sozial besonders Verletzliche zu sorgen, auf deren festen Boden erst über dringende Zukunftsfragen nachgedacht werden kann – Wurzeln geschlagen werden – , ohne permanent zehrende Existenzängste ausstehen zu müssen. Wer als Teil der Gesellschaft respektiert wird, setzt sich eher mit der Gestaltung der Geschicke des Gemeinwesens auseinander und übernimmt Verantwortung. Vielleicht aber richten wir unseren Blick allzu oft verengt auf das verantwortungsbewusste Schweigen politischer Akteure und übersehen dabei eine Bewegung, die von unten aus den Tiefen eines entwürdigenden Gesellschaftsteils ausgeht – von uns selbst. Es bedarf der Visionen und Ideale jüngerer Generationen, denn es ist unsere Zukunft, die gestohlen wird. Von unserem Mut zum

freien Denken und klugen Handeln hängt unsere Zukunft maßgeblich ab. Es liegt auch an uns, die Zukunft Europas mutig in die Hand zu nehmen5. Die junge Generation hat die Fähigkeit, die schier überwältigenden komplexen Herausforderungen zu lösen und den weiteren Fortgang der Dinge selbst zu bestimmen. Auch, wenn es einen Augenblick braucht und der Beweis noch zu erbringen ist politisch Wirksam zu werden, und ihre Zukunft erfolgreich zu gestalten. Wenn es der moralischen „Empörung bedarf, damit neue Ideen entstehen“ (Boltanski 2010, S. 52), so gilt dies bei hinreichend kontroversem Potenzial heute mehr denn je. Es ist der Blick der Jugend, der neugierig nach Außen gerichtet ist und ihre Fähigkeit selbstständig zu urteilen, was der Zukunft einen Hoffnungsschimmer vorausschickt. Unsere Hoffnungen richten sich bereits auf die Zukunft, der schon unsere Gedanken und unsere Arbeit gehören.

1. Zum Entwicklungspfad des neoliberalen Transformationsprozesses (und seiner politischen Entmachtung sozial korrigierend einzugreifen) von den späten 1970 Jahren bis zum vorläufigen Höhepunkt seiner derzeitigen Entwicklungen einer Weltfinanz- und -fiskalkrise siehe „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ von Wolfgang Streeck (2013). 2. Siehe

dazu den Beitrag „Merkels Erzählungen“ von Marc Brost. In: DIE ZEIT, 7. November 2013.

3. Folgt

man dagegen der verhältnismäßigen Höhe der Arbeitslosigkeit, so zeigt sich empirisch ein „weniger“ dramatisches Ausmaß. Siehe Beitrag von Ilaria Maselli, online unter: http://www.boell.de/de/2013/10/17/jugendarbeitslosigkeit-europa-gaengige-ansichtenkritisch-hinterfragt

4. Nachzulesen etwa im Aufsatz des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble auf Ciceroonline vom 3. Juni 2013 mit dem Titel „Das ist eine Gefahr für die Gesellschaft“. 5. Siehe

dazu den Aufruf von Stéphane Hessel mit dem Titel „Indignez-vous!“ (2010), auf Deutsch: „Empört Euch!“



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Empört Euch, Europäer. In: Der Spiegel, Nr. 34/2011 (S. 128-129) BOLTANSKI, LUC (2010).

Regeln sind nicht göttlich. In: Die Zeit, Nr. 19/2010 (S. 52) BORCHERT, JÜRGEN (2013).

„Warum die Agenda 2010 als Erfolg begriffen wird, ist mir ein Rätsel“. In: Süddeutsche Zeitung, 14.03.2013, online unter: http:// www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sozialrichter-juergen-borchert-warumdie-agenda-als-erfolg-begriffen-wird-ist-mir-ein-raetsel-1.1623776 DESTATIS (2012).

Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn ist gestiegen. Pressemitteilung Nr. 308 vom 10.09.2012, online unter: https://www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/09/PD12_308_62.html FITZGERALD, F. SCOTT (2012).

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Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Allensbach und Bonn: edition suhrkamp JUDT, TONY (2011).

Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit. München: Carl Hanser KÜPPERS, JAN-PHILIPP (2013).

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Haben und Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland. Göttingen: Steidl GRÜNDINGER, WOLFGANG (2012).

Die Zukunftssucher. Wie Deutschland enkeltauglich wird. Hamburg: Edition Körber-Stiftung HABERMAS, JÜRGEN (2011).

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