Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS. Samstag, 30. April Uhr

Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. April 2011 - 11.05 – 12.00 Uhr Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estl...
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GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. April 2011 - 11.05 – 12.00 Uhr

Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Musikauswahl: Babette Michel Moderation: Henning von Löwis

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

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- unkorrigiertes Exemplar -

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MODERATOR

Ein Rentner in Narva über die Geschichte seiner Heimatstadt:

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O-TON REIN ANNIK Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner.

MODERATOR …und eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung von Iwangorod über die Perspektiven Iwangorods und Narvas: O-TON TATJANA SCHAROVA Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft – Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte. Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu minimieren.

MODERATOR Gesichter Europas – Heute: Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland. Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Am Mikrofon: Henning von Löwis. MUSIK MODERATOR Es war einmal eine Stadt mit einer Brücke, die die Menschen verband. Sie konnten die Brücke passieren – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Und sie mussten keinen Pass vorzeigen, kein Visum haben.

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Diese Stadt hieß Narva , lag in der UdSSR, vor 1918 in Russland – gehörte einst zum Gouvernement Sankt Petersburg. Heute ist alles anders in Narva. Seit die UdSSR untergegangen ist, die Republik Estland ihre Unabhängigkeit wiedererlangte und der Europäischen Union beitrat endet an dieser Brücke EU-Europa. Und das hat Folgen für die Menschen – im estnischen Narva und im russischen Iwangorod. Jede Phase des europäischen Einigungsprozesses trennt die Einwohner der Zwillingsstädte weiter voneinander. Morgen, am 1. Mai, öffnen Deutschland und Österreich als letzte der alten EU-Länder ihren Arbeitsmarkt für Bürger aus Osteuropa. Dann können sich die Bewohner Narvas mit estnischer Staatsbürgerschaft ohne spezielle Arbeitserlaubnis in der gesamten Europäischen Union bewerben. Den Bewohnern Iwangorods ist das verwehrt. Es leben vorwiegend Russen an beiden Ufern des Grenzflusses Narva. Estlands drittgrößte - Estlands östlichste – Stadt hat zwar einen estnischen Bürgermeister, doch etwa 95 Prozent der rund 70.000 Einwohner sind ihrer Herkunft nach Russen. Und nicht wenige von ihnen haben Verwandte und Bekannte in Iwangorod oder im gerade mal hundert Kilometer entfernten Sankt Petersburg. ATMO MOTORGERÄUSCHE REPORTERIN Es ist immer das gleiche Bild – zu jeder Tageszeit, und manchmal auch des Nachts: Quer durch die Stadt Narva, den zentralen Peetri Platz entlang, quält sich eine Autoschlange in Richtung Schlagbaum. Direkt hinter der Passkontrolle führt eine Autobrücke über einen Fluss: Drüben beginnt die Russische Föderation. Meistens stehen die Wagen mit laufenden Motoren herum. In einer Parkanlage neben der Straße - in monumentaler Größe und strahlendem Weiß - erhebt sich der Lange Hermann, der berühmte Wachtturm der Hermannsfeste. Doch die Wartenden sind nicht in Stimmung für kulturhistorische Erbauung. ATMO MÄDCHENSTIMME, PAPA ERZÄHLT REPORTERIN

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„Wir fahren nach St. Petersburg – nach Hause“, ruft ein Mädchen durch die offene Autotür. Hier, in Estland, hat sie ihre Großeltern besucht – jetzt geht es zurück in die russische Heimat. Auf dem Fahrersitz: ihr Vater. O-TON VATER Ihre Großeltern wohnen in Estland, aber meine Tochter lebt bei meiner Frau, drüben, in Russland. Ich selbst lebe auch in Estland. Wie es eben so passiert im Leben … REPORTERIN Russischer Herkunft sind sie beide, russische Staatbürgerin aber ist nur die Tochter. Der Vater hat den EU-Pass der Republik Estland – an diesem Grenzübergang ist das ein entscheidender Vorteil. O-TON VATER An keiner anderen Grenze der Welt muss man so lange warten. Ich mit meinem Schengener Pass darf die Grenze ohne Wartezeit passieren. Aber alle anderen stehen hier drei Tage. REPORTERIN Verwandtenbesuch – das ist hier das Zauberwort für den Grenzübertritt. Ein Abkommen zwischen Russland und Estland gibt den Bewohnern von Narva und seiner Zwillingsstadt Iwangorod das Recht auf ein Langzeitvisum für das Nachbarland – denen jedenfalls, die am anderen Flussufer Familie haben. Tatsächlich aber geht es wohl den wenigsten hier um einen Besuch bei der Oma oder bei der Ex-Frau. Das wird schnell klar im Gespräch mit den Fahrern, die rauchend am Straßenrand stehen. O-TON FAHRER Ich fahre zum Tanken rüber. Ich komme aus einer Stadt, die liegt etwa 60 Kilometer von hier. Aber die Anfahrt lohnt sich. Benzin ist in Russland nur halb so teuer wie in Estland. O-TON FAHRER Nur das Benzin bewegt diese Autoschlange. Entschuldigung, aber das ist so. Wir müssen ja auch irgendwie über die Runden kommen. Hätten wir Gehälter wie in Europa, würden wir hier nicht stehen.

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ATMO AUTOTÜR REPORTERIN Die Schengener Grenze mag zu den best bewachten der Welt zählen – die Bewohner von Narva überschreiten sie für eine Tankfüllung. Wer sich nicht selbst drei Tage lang in die Schlange stellen mag, der kann über eine spezielle Agentur einen Warteplatz buchen – kostenpflichtig, versteht sich. Dann wird er per SMS auf dem Laufenden gehalten, wie schnell es vorangeht, und wann der Zeitpunkt für den eigenen Grenzübertritt gekommen ist. Doch selbst dieser nützliche Service hebt die Laune der Wartenden kaum. O-TON ALEKSANDR Hat denn Europa vor irgendwas Angst? Vor Russland vielleicht? Warum setzt ihr uns diese Grenze vor die Nase? Russland hat doch auch keine Angst! Russland setzt sich für Visa-freien Grenzverkehr ein! REPORTERIN Der Mann stellt sich als Aleksandr vor. Seine Frau Elena sitzt auf dem Beifahrersitz. Sie sind Russen, beide Mitte 50. In Narva wohnen sie fast ihr ganzes Leben. Auch sie fahren an diesem Tag zum Tanken nach Russland und für etwas, das sie als „Business“ bezeichnen. Beim stundenlangen Schlangestehen haben sie sich in Rage geredet über die verworrenen Verhältnisse in diesem seltsamen, neuen Europa: ER hat einen russischen Pass, SIE einen estnischen. O-TON ELENA Zu Sowjetzeiten waren wir alle Russen. Aber ich arbeite ich als Krankenschwester in einem staatlichen Krankenhaus. Dort hat man mir mit Entlassung gedroht, wenn ich nicht die estnische Staatsbürgerschaft annehme. Ich musste estnisch lernen und Sprachprüfungen ablegen. Auf der anderen Seite kann man mit der estnischen Staatsbürgerschaft leichter Wohnungen kaufen. Auch sonst gibt es Privilegien. REPORTERIN Elena bekommt ihr Gehalt in Estland, Aleskandr macht kleine Geschäfte mit Freunden in Russland – auf diese Weise reicht das Geld gerade eben. In

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Narva kann nur überleben, wer ein wirtschaftliches Standbein im Ausland hat, glaubt das Ehepaar. Viele ihrer Freunde, die wie sie selbst eigentlich kurz vor der Rente stehen, haben sich als Putzkräfte in Norwegen oder Irland verdingt. Und der Sohn, ein diplomierter Ingenieur, lebt mit seiner Familie in Finnland. O-TON ALESKANDR Öffnet Deutschland jetzt nicht auch endlich seinen Arbeitsmarkt? Mein Sohn wäre gerne mit seiner Familie nach Deutschland gegangen. Aber die Entscheidung, wo man leben und arbeiten will, richtet sich eben meistens danach, wie gut oder schlecht man sich aufgenommen fühlt. REPORTERIN Endlich taucht vor der Windschutzscheibe der Schlagbaum auf. Jenseits des Flusses, am anderen Ende der Autobrücke, sieht man schon die Flagge der Russischen Föderation flattern. Aleskandr gibt Gas. Dann, schon im Rollen, steckt er noch einmal den Kopf aus dem Seitenfenster. O-TON ALEKSANDR Sagen Sie Ihrer Regierung, dass wir hier wieder einen freien Übergang brauchen! Die Grenze muss weg! Wir wollen hier so eine Grenze, wie ihr Deutschen sie habt - mit Österreich und anderen Staaten. MUSIK MODERATOR Es war einmal eine reiche Stadt Narva. Doch weil sie reich war – und zudem an der Grenze zwischen dem russischen Zarenreich und dem Baltikum lag, in dem zunächst die Dänen, dann der Deutsche Orden und ab 1581 die Schweden herrschten, war Narva stets bedroht. Und die Bürger mussten sich etwas einfallen lassen, um ihren Reichtum zu schützen. Eine Sage erzählt davon, „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“. MUSIK

In den Tagen, als Narva noch eine reiche Stadt war, zog einst von Russland oder von Polen her der grimmige Feind mit großer Heeresmacht heran, um

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die Stadt einzunehmen und auszuplündern. Zum Glück erhielten die Bewohner einige Tage vorher durch ihre Spione Nachricht, so dass sie noch Zeit hatten, den größten Teil ihres Goldes und Silbers zusammenzuraffen und in der Mündung des Flusses unweit der See zu versenken. Darauf wurden die Tore geschlossen und die Schanzen besetzt. Mit Proviant war die Stadt so reichlich versehen, dass eine Hungersnot nicht zu besorgen stand; die festen Mauern und Werke rings um die Stadt, der tiefe, breite Fluß einerseits, und die mit Wasser gefüllten Wallgräben andrerseits wehrten den Feind ab, so dass er nicht eindringen konnte. Er belagerte die Stadt bis zum Herbst, musste aber dann unverrichteter Sache abziehen. Nach dem Abzuge des Feindes hatten die Bürger der Stadt nichts Eiligeres zu tun, als an die Mündung des Flusses zu gehen, um ihren Schatz aus seinem Versteck heraufzuholen. Unglücklicherweise aber hatten sie ihn zu nahe am Meere auf den Grund gesenkt; die heftigen Stürme hatten oftmals die Tiefe aufgewühlt und die Geldfässer gegeneinander geschüttelt und zerbrochen, der vom Meere ausgeworfene Sand aber hatte später alles bedeckt und festgelegt, sodaß man nur wenig von dem versenkten Gelde wieder erlangte. Der größte Teil dieses Schatzes der Vorzeit ruht bis zum heutigen Tage auf dem Grunde des Flusses und des Meeres, und niemand weiß, welchem Glückskind er einmal in die Hände fallen wird.

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MODERATOR Der Handelsplatz Narva ist in sieben Jahrhunderten immer wieder auch Kriegsschauplatz gewesen. Im Großen Nordischen Krieg erlitten die Heere von Peter I. in der Schlacht von Narva

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am 30. September 1700 eine verheerende Niederlage. Vier Jahre später war der Zar dann erfolgreicher und eroberte Narva. Im Zweiten Weltkrieg tobte die erbitterte Schlacht um den Brückenkopf Narva, in der sich 1944 die Rote Armee und die Heeresgruppe Nord der Wehrmacht gegenüberstanden. Auf deutscher Seite kämpften Freiwillige der Waffen-SS aus ganz Europa. Als die „Festung Narva“ fiel und die Waffen schwiegen gab es das alte Narva nicht mehr.

Die Geschichte hat Spuren hinterlassen. Und manche, die das Gestern in dieser Stadt miterlebten, erinnern sich. ATMO FAHRSTUHLMUSIK REPORTERIN Die alte Hansestadt mit ihrer 700-jährigen Geschichte - die Wellness-Hotels am Ostsee-Strand von Narva-Joesuu, dem früheren Hungerburg - die aufwändig renovierte und als Museum hergerichtete Hermannsfestung. In den Hochglanzprospekten, die stapelweise im Schaufenster ausliegen, locken Mittelaltermärkte, Biker-Touren und Kulturevents. Die Stadt Narva, das ist offensichtlich, hat den boomenden Baltikum-Tourismus als neues wirtschaftliches Standbein entdeckt. Gerade vor ein paar Wochen hat die Touristeninformation ihre neuen Geschäftsräume am Peetri Platz bezogen. Jetzt steht - inmitten von kunterbunten Auslagen und funkelnden SouvenirVitrinen - ein alter Herr. Etwas nachdenklich rückt er seine Schlägermütze zurecht. O-TON REIN ANNIK Das ist ein historischer Ort für mich. Genau an dieser Stelle stand vor dem Krieg ein Lebensmittelgeschäft. Meine Mutter hat hier als Verkäuferin gearbeitet. Hier am Peetri Platz ATMO REPORTERIN

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Rein Annik: Der lebhafte Rentner ist Este, doch sein Russisch ist akzentfrei – anders geht es nicht in dieser Stadt der Russen, von denen die wenigsten auch nur gebrochen die Landessprache sprechen. Doch mit dem, was er zu erzählen hat, klagt Annik, stoße er bei den Russen sowieso auf taube Ohren. Schließlich gehört er zu den ganz wenigen Zeitzeugen, die schon in Narva gelebt haben, bevor die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in ihren über zwei Jahre währenden Schlachten hier verbrannte Erde hinterließen. Es ist die Geschichte vom blutigen Untergang einer estnischen Stadt. O-TON REIN ANNIK Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner. ATMO REPORTERIN Hinter dem Schaufenster glänzt regennass der Asphalt des Peetri Platzes, den die Russen „Petrovskij“ nennen – nach Peter dem Großen. Früher war hier kein Parkplatz, sondern ein quirliger Markt. In den verwinkelten Gassen der Hansestadt wohnten Esten und Juden, Deutsche und Tartaren, Ukrainer und Schweden, erzählt Annik. Die Erinnerung an dieses alte, das estnische Narva wach zu halten – dafür hat er sich viele Jahre lang als Lokalpolitiker in verschiedensten Funktionen eingesetzt. Heute lebt der 80-Jährige zurückgezogen. Zu einer Zeitreise durch das Narva seiner Kindheit aber lässt er sich immer noch gerne überreden. Der Anfang vom Ende kam 1940, erzählt Annik. Die estnische Regierung – erschrocken über die näher rückende Deutsche Wehrmacht im Westen, und eingeschüchtert durch Stalins Gewaltandrohungen aus dem Osten – unterzeichnete damals den Beitrittsvertrag zur Sowjetunion.

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Der Peetri Platz hatte damals Kopfsteinpflaster, und alles, was darüber fuhr, machte dieses Tik-Tik-Tik-Geräusch. Als die sowjetische Armee in Estland einrollte, da schallten die Ketten der Panzer durch die ganze Stadt. Ich war damals vier Jahre alt. Mit meinem Großvater zusammen habe ich mir die einrückenden Truppen angeschaut. ATMO SCHRITTE – TÜR - GURT REPORTERIN Heute gibt es auf dem Peetri Platz nichts als eine Parkfläche und die Autoschlange vor dem Grenzübergang. Annik lässt sich auf den Fahrersitz seines Wagens fallen. Die Stadtbesichtigung beginnt im Wohnviertel – dort, wo sich in sozialistischer Tristesse Häuserblock an Häuserblock reiht. O-TON REIN ANNIK Ab 1942 haben die sowjetischen Truppen die Stadt fast jede Nacht aus ihren Flugzeugen bombardiert. Ihr wichtigstes Ziel waren die beiden Brücken zwischen Narva und Iwangorod - die hölzerne, und die Eisenbahnbrücke. Über die versorgte die Deutsche Wehrmacht die Front bei Leningrad – andere Versorgungsrouten gab es nicht. Unsere Familie hatte damals einen kleinen Hund. Der begann immer schon zehn Minuten vor dem Bombenalarm zu bellen. So haben wir es dann rechtzeitig in den Keller geschafft. Was für ein Hund! ATMO AUTO REPORTERIN Graue Stichstraßen, zerfallene Hinterhöfe, verrußte Häuserfronten – was immer vor der Windschutzscheibe des Wagens auftaucht, bekommt durch die Erinnerung des alten Mannes seine eigene Geschichte. O-TON REIN ANNIK Hier vor uns, diese Parkanlage, die nannten wir damals den „dunklen Wald“. Dunkel, weil die Bäume so dicht stehen. Vor dem Krieg sind die jungen Leute hier hingegangen, um zu tanzen, um sich zu küssen und zu lieben. .... Ach wie schade. Diese Stadt gibt es nicht mehr. ATMO

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REPORTERIN Mehrmals zog die Front über Narva hinweg. Erst geriet die Stadt unter deutschen Beschuss. Nachdem die Wehrmacht die Sowjets zurückgeschlagen und die Stadt besetzt hatte, gingen die Bomben der Roten Armee auf die beiden Brücken nieder. Ein einziges Holzhaus aus der Vorkriegszeit hat diesen Dauer-Beschuss überlebt – jetzt lugen seine schiefen Wände zwischen den Häuserfronten hervor. Auffallend unbeschadet ist auch eine prächtige russisch-orthodoxe Kirche. Für die Sowjets, erzählt Annik, war sie von strategischer Bedeutung - als Orientierungspunkt für die Luftwaffe. Nur deshalb blieb sie verschont. Von den anderen Gebäuden blieben, wenn überhaupt, Ruinen. O-TON REIN ANNIK Da vorne, dieses rote Backsteingebäude, dort wohnte mein Freund. Wir waren damals fünf oder sechs Jahre alt. Als Narva bombardiert wurde, hat er sich mit seiner Mutter im Keller versteckt. Sie müssen wohl geglaubt haben, dass sie dort sicher sind. Aber das Gebäude hatte damals ein hölzernes Dach, die Bombe hat es einfach durchschlagen. Der Vater meines Freundes war zu dieser Zeit an der Front. Und das erste, was er fand, als er nach Narva zurückkehrte, war die Zeitung mit der Todesanzeige. Sowas muss man sich mal vorstellen. Da kommt einer von der Front, und das erste was er liest, ist die die Nachricht vom Tod seiner Familie ... ATMO ANNIK REPORTERIN Zu keiner Zeit war das sowjetische Bombardement verheerender als am 6. März 1944. Was immer bis zu diesem Tag noch stand, fiel jetzt dem Feuerinferno zum Opfer. Das Wasser der Narva, erzählt Annik, war rot vom Blut der Soldaten. Die meisten Einwohner aber hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Anniks Vater, der damals als Chauffeur arbeitete, hatte ein Auto zur Verfügung. Andere flohen mit Pferdschlitten oder Handkarren – jeder wie er konnte. Die meisten kehrten nie nach Narva zurück.

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Jetzt taucht vor der Windschutzscheibe eine prächtig verzierte Fassade mit Säulenportal auf. Eines der wenigen Gebäude, von denen genug übrig war, dass eine Restaurierung sich lohnte. Das Kulturhaus, sagt Annik, und lacht. Nach dem Krieg begann hier das Leben neu. O-TON REIN ANNIK Hier gab es ein Kino, und man konnte tanzen. Die Sitte, dass Mädchen mit Mädchen tanzen, die stammt aus Narva – wussten Sie das? Weil es hier so lange keine Männer gab. REPORTERIN Annik selbst kehrte erst im Jahr 1957 in die Stadt seiner Kindheit zurück. Doch er erkannte sie kaum wieder: Narva war jung, weiblich und russisch geworden. Stalin hatte angeordnet, die Ruinenwüste mit Bulldozern einzuebnen, und dann als Industriezentrum wieder aufzubauen. Tausende junger Frauen fanden Arbeit in der Textilfabrik Kreenholm. Später zogen Ingenieure und Bauarbeiter aus dem ganzen Sowjetreich nach Narva, sie bauten Elektrizitätswerke. Auch Annik fand eine Anstellung als Elektroingenieur, fast vierzig Jahre überwachte er die Stromnetze der Stadt. ATMO KRÄHEN Das Ufer der Narva – das ist für ihn bis heute der schönste Platz. Auf einem Parkplatz, unter alten Bäumen, stellt er seinen Wagen ab. Hinter der historischen Stein-Balustrade, die das Steilufer säumt, nimmt der Rentner seine Schlägermütze ab. Ein schneidender Wind zaust sein weißes Haar: Von hier oben eröffnet sich der Blick auf ein halbes Jahrtausend Weltgeschichte. Ein Fluss, zwei Brücken, zwei Burgen – zwei Weltreiche, eine Grenze. O-TON REIN ANNIK Was für ein Anblick! Die Hermannsfeste! Und da drüben die Iwangoroder Festung. Wenn es die Altstadt noch gäbe - Narva wäre mit Touristen überflutet.

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REPORTERIN 1991, als die Esten ihre Unabhängigkeit von Russland erklärten, ging Annik in die Politik. Estnisch wurde zur Staatssprache erklärt - allein Narva blieb ein russische Stadt: Im Stadtrat waren damals gerade acht von 31 Sitzen von gebürtigen Esten besetzt. Und von denen, sagt Annik bitter, ist heute noch ein einziger übrig. Langsam hebt er seine Hand, und weist mit dem Finger auf die Außenmauer der Hermannsfeste – dorthin, wo hoch über dem Fluss die estnische Flagge weht. O-TON REIN ANNIK Sehen Sie die estnische Flagge? Aufgestellt haben wir sie im Jahr 2001 – ohne Aufsehen zu erregen. Damals war der Innenhof für die Öffentlichkeit geschlossen, er wurde von zwei Hunden bewacht. Am anderen Morgen eilten die Stadtvertreter der kommunistischen Fraktion zu der Festung, um sich das Malheur anzuschauen: Die estnische Flagge - au weia! Sofort haben sie den leitenden Polizeichef herbeikommandiert. Er sollte die Hunde erschießen, und die estnische Flagge wieder herunterlassen. Der Polizeichef aber war selbst ein Este, und er antwortete ihnen: „Erschießen Sie die Hunde doch selbst!“. So haben sie gestritten und gestritten, bis endlich jemand auf die Idee kam, in der Hauptstadt Tallinn anzurufen. Und da bekamen sie zu hören: „Jawohl, das hat so seine Richtigkeit. Ab jetzt werden in Estland nur noch estnische Flaggen wehen.“ MUSIK MODERATOR Estland heute – das ist NATO-Land, EU-Land und seit dem 1. Januar 2011 auch EURO-Land. Etwa zeitgleich mit der EURO-Einführung schloss das traditionsreichste Unternehmen Narvas seine Tore – die 1857 gegründete Textilfabrik Kreenholm, einst die größte Baumwollspinnerei des Russischen Reiches. Zu Sowjetzeiten waren hier nach dem Zweiten Weltkrieg einmal 12.000 Näherinnen beschäftigt. Heute liegt die Arbeitslosenquote in Narva bei 16 Prozent. Viele, die jung und ungebunden sind, machen sich auf der Suche nach Arbeit auf in Richtung Westen – und manche in Richtung Osten. Längst locken auch Unternehmen

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jenseits der Grenze in Russland mit ansehnlichen Gehältern und guten Karrieremöglichkeiten. Ab 1. Mai 2011 steht Bürgern Estlands der Arbeitsmarkt von ganz EU-Europa offen. Der Haken bei der Sache: Es reicht nicht in Estland zu leben – man muss einen estnischen Pass besitzen. ATMO ARBEITSAMT REPORTERIN Die Frau hinter dem Schreibtisch macht ein ernstes Gesicht. Dann fährt sie mit verlegener Geste ihre Hand durchs Haar. O-TON BERATERIN In unserer städtischen Internet-Stellenbörse gab es gestern genau null Stellenanzeigen. Kein einziges. Letzte Woche waren es immerhin noch fünf. Auf der anderen Seite weist unsere Statistik 6000 Arbeitslose auf. Tut mir leid – das sieht nicht gut aus. Es gibt hier jetzt nur wenige Stellen. Sehr wenige. ATMO BERATUNGSZIMMER REPORTERIN Sergej und Ivan schauen sich an. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt von Narva, so scheint es, wird immer hoffungsloser. Die jungen Russen sind Anfang 20, beide haben eine Berufsausbildung. Sergej, ein sportlicher Typ in abgewetzter Lederjacke, ist ausgebildeter Schweißer. Bis vor kurzem hat er sich mit Gelegenheitsjobs in Russland durchgeschlagen. Jetzt wünscht er sich nichts sehnlicher als eine gesicherte Existenz in seiner Heimatstadt. Sein Freund Ivan, der seine Sweatshirt-Kapuze ins Gesicht gezogen trägt wie ein HipHopper, hat in Narva erst Programmierer gelernt, wurde dann auf Arbeitsamts-Kosten zum Ventilationstechniker umgeschult. Freie Stellen aber gibt es in beiden Berufen nicht. Und so steht er jetzt schon wieder hier und sucht Arbeit. O-TON IVAN Irgendwas eben, mit sozialer Absicherung oder wenigstens mit Krankenversicherung. Da habe ich nun schon zwei Berufsabschlüsse, und trotzdem will mich niemand. Inzwischen bin ich soweit, dass ich überall hin

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gehen würde. Hier hält mich nichts. Hier bin ich den Arbeitgebern zu jung, und ich habe keine Berufserfahrung. Das ist natürlich ein Hindernis. REPORTERIN Ob er denn die estnische Staatsbürgerschaft besitze, fragt die Arbeitsamtberaterin. Ivan nickt. Mit einem EU-Pass, erklärt sie weiter, könne man sich bald ohne jeden bürokratischen Aufwand in der gesamten Europäischen Union bewerben. Das biete vielfältige Möglichkeiten für qualifizierte junge Leute – und das Arbeitsamt unterstützt diese Abwanderung. O-TON BERATERIN Wir tun ja alles, um unseren Klienten aus der Arbeitslosigkeit herauszuhelfen. Und wenn jemand für sich Chancen im Ausland sieht, dann halten wir ihn nicht zurück. Wir unterstützen ihn nach Kräften, damit er dort Arbeit findet. Zum Beispiel veranstalten wir Infotage über Berufsmöglichkeiten im Ausland. .... ATMO PAPIERRASCHELN REPORTERIN Die Beraterin reicht Ivan einige Handzettel herüber. Eine Einladung zu einer Infoveranstaltung übe die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei, und Informationen über Stellenvermittlungsprogramme verschiedener EU-Länder darunter auch eine Ausschreibung der deutschen Bundesanstalt für Arbeit, die in Estland um Ärztenachwuchs wirbt. Ivans Miene hellt sich auf. O-TON IVAN Ich würde gerne nach Finnland gehen. Dort ist es schön, dort habe ich schon mal gejobbt. Deutschland fände ich auch gut. Da lässt es sich bestimmt gut leben, und Deutsch war meine erste Fremdsprache in der Schule. Über Deutschland habe ich sogar schon mal ein Referat gehalten. ATMO PAPIERRASCHELN REPORTERIN Interessiert blättert Ivan in den Flyern. Sein Freund Sergej hat dem Gespräch wortlos gelauscht. Ob der EU-Markt denn auch für Menschen mit russischem Pass geöffnet sei, fragt er seine Beraterin. Diese schüttelt bedauernd den Kopf. Sergej ist russischer Staatsbürger, ihm ist der Weg nach Europa

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versperrt. Immerhin, sagt die Beraterin, könne er als Einwohner von Narva die estnische Staatsbürgerschaft beantragen. Voraussetzung sei allerdings eine Prüfung in der Landessprache Estnisch – und diese mit dem Finnischen verwandte Sprache auf hohem Niveau zu erlernen, sei nicht ganz einfach. Genervt verdreht Sergej die Augen. Ohne estnische Sprachekenntnisse kann er sich nur in Russland bewerben – aber von dort ist er ja gerade zurückgekehrt. Nun ist er ratlos. O-TON SERGEJ Im Prinzip bin ich ja für alles Mögliche offen. Iwangorod etwa liegt nahe, dort kann man zu Fuß hingehen. Aber bei dem Hyundai-Werk, das dort im vergangenen Jahr aufgemacht hat, gibt es schon jetzt eine Warteliste. Man muss einen Antrag ausfüllen, und wenn einer kündigt, dann rückt man einen Platz auf. Ich könnte natürlich auch nach St. Petersburg zurückgehen. Da sind die Einkommen jetzt deutlich höher als hier. Das Problem ist nur, dass das Gehalt dort in Rubel ausgezahlt wird, und der Kursverlust ist riesig. Sogar jetzt, wo es in Estland den Euro gibt. Trotzdem bliebe mehr übrig, als ich hier je verdienen könnte – wenigstens in Narva. ATMO TÜRKLAPPEN, EMPFANGSRAUM REPORTERIN Als die Freunde das Arbeitsamt verlassen, ist ihre Stimmung gedrückt. Sergej und Ivan sind schon zusammen zur Schule gegangen. Eigentlich sind beide Russen mit ständigem Wohnsitz in Estland. Und doch werden sie wohl bald getrennte Wege gehen – ob sie es nun wollen oder nicht. Denn Iwans berufliche Zukunft liegt in Europa, Sergejs in Russland. Den Unterschied macht nur die Staatsbürgerschaft – und die haben sie selbst gewählt, beiläufig, irgendwann vor ein paar Jahren. Die Tragweite dieser Entscheidung begreift Ivan erst jetzt. O-TON IVAN Ich hatte die Wahl zwischen dem europäischen und dem russischen Pass. Und mich hat Europa mehr gereizt. Da gibt es bessere Perspektiven. Außerdem habe ich eine estnische Oma, darum fiel mir der Sprachtest nicht so schwer. Aber ehrlich gesagt: Damals war ich gerade sieben. Es war wohl

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mehr die Entscheidung meiner Eltern. Die haben mir gesagt: Was willst du mit einem russischen Pass – nimm den europäischen! MUSIK MODERATION Narva – das war einmal ein Kleinod im fernen Osten Europas. Eine prächtige Stadt mit vielen Gesichtern. Ein Reisender aus Deutschland namens Hermann Kassebaum, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmachte das deutsche Narva zu entdecken, war nicht wenig überrascht über das, was sich seinem Auge bot.

„Narwa! Es liegt an der baltischen Nordbahn, die von Petersburg über Gatschina hierher und weiter nach Reval führt. Wer die Stadt vom Bahnhofe her betritt, erlebt zunächst eine herbe Enttäuschung. Man hat ihm von einer alten deutschen Ordensstadt erzählt, die gleich anderen Baltenorten das Gepräge ihrer deutschen Herkunft an der Stirn trage, und was ihn hier umfängt, ist die Langeweile einer russischen Kleinstadt. Bis auf das Straßenpflaster erscheint alles echt russisch. Die Stöße und Püffe, welche dieses bis zur Unwahrscheinlichkeit schlechte Pflaster dem Reisenden versetzt, werden auch durch die Federn und Gummireifen des Wagens, der auch jetzt noch diese kostbare und seltene Bereifung trägt, nur halbwegs gemildert. Aber die Sprünge des leichten Wägelchens verhindern wenigstens ein allzu trübseliges Sinnen. So nimmt uns nach geraumer Zeit ein weiter Platz auf, wie er den östlichen Städten eigen ist. Was ihn einfasst an nüchternen, kahlen Häusern, befreit uns nicht von dem bedrückenden Gefühl des Versinkens in die trostlose, russische Einförmigkeit. Auch der buntschillernde Obelisk in der Mitte, der dort, wie in vielen Städten, auch des Baltenlandes, als erzwungener Ausdruck einer nie gekannten und nicht geschuldeten Dankbarkeit für irgend einen der russischen Herrscher seit Peter dem Großen aufragt, bringt keine Erlösung. Aber vor uns wölbt sich’s zur Höhe, und dort ragen weiße Häuser und Mauern und schlanke Türme gen Himmel. Das muß das Narwa sein, das wir suchten. Und zur Rechten, das ist gewisslich die Burg, die des Deutschtums Ostwacht hielt seit ungezählten Jahrhunderten!“ MUSIK MODERATOR Die Stadt jenseits des Stromes ist viel kleiner als Narva. Und sie ist so gut wie völlig unbekannt in der Welt.

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Oder kennen Sie vielleicht Iwangorod? Und doch: Auch Iwangorod – Narvas kleine russische Schwester mit 11.000 Einwohnern – möchte Touristen anlocken. Und sie möchte Brücken schlagen über die Brücke zu jenen, die schon in EU-Europa angekommen sind. Was für russische Patrioten aber keinesfalls bedeutet: Abkehr von Russland. ATMO FRAUENKLACKERSCHRITTE REPORTERIN Es ist neun Uhr in der Früh. Schräg fällt die Morgensonne durch die Fenster, bildet Schattenspiele auf dem welligen PVC-Boden. ATMO HANDYTELEFONAT REPORTERIN Noch ist das Gebäude der Stadtverwaltung von Iwangorod so gut wie menschenleer. Tatjana Scharova aber nimmt bereits die ersten Telefonate entgegen. Hellwach sitzt sie im Konferenzsaal, ein Aktenordner mit der Aufschrift „Tourismus“ liegt bereit: der gehört gerade zu den vielversprechendsten Zukunftsbranchen. Die junge Frau spricht mit vorgelehntem Oberkörper, um jedem ihrer Worte Nachdruck zu verleihen. O-TON TATJANA SCHAROVA Nicht einmal die Reisebusse, die unseren Grenzübergang ohnehin passieren, machen hier einen Halt für eine Burgbesichtigung – nicht die russischen Touristen auf dem Weg nach Tallinn, und auch die europäischen Touristen auf dem Weg nach St. Petersburg. Zur Sowjetzeit war eine Besichtigung Festung Iwangorod Standard. Jetzt müssen wir alles neu aufbauen. Unsere Burg ist groß und schön – aber sie braucht dringend Investitionen. ATMO STADTVERWALTUNG REPORTERIN Tatjana Scharova: 36 Jahre, dunkler Pagenkopf, dezent geschminkte Lippen: Die Russin ist das neue Gesicht des Stadtrats von Iwangorod. Gerade Anfang des Jahres hat sie ihr Amt als Leiterin angetreten. Davor hatte sie zehn Jahre für die städtische Visastelle gearbeitet, regelmäßig fuhr sie mit Stapeln von Pässen ins Konsulat nach St. Petersburg, um für die Antragsteller aus

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Iwangorod Visa und Staatsbürgerschaftspapiere zu besorgen. Das hat ihr politisches Profil geprägt. O-TON TATJANA SCHAROVA Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft – Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte. Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu minimieren. ATMO REPORTERIN Durch hartnäckigen Papierkrieg, das ist ihre Erfahrung, lässt sich sogar die Schengener Grenze überwinden. Zwar haben die Stadtverwaltungen von Narva und Iwangorod längst einen Sonderstatus für die Einwohner der Zwillingsstädte erstritten – die Konditionen aber mussten mit jeder Phase des Europäischen Einigungsprozesses neu verhandelt werden. Erst war der papierlose Grenzübertritt allen erlaubt, dann nur noch denjenigen, die drüben Verwandte nachweisen können. Inzwischen ist das Chaos perfekt: In beiden Zwillingsstädten gibt es russisch-stämmige Einwohner mit estnischem EUPass und mit russischer Staatsbürgerschaft, solche mit und ohne Langzeitvisum für den Nachbarstaat. Darüber hinaus gibt es die Staatenlosen. Das sind diejenigen, die sich bis heute nicht für eine Staatsbürgerschaft entschieden haben, weil sie gerne einen EU-Pass hätten, aber den obligatorischen Sprachtest im Estnischen scheuen. Und dann sind da noch diejenigen mit doppelter Staatsbürgerschaft - und dieses Rechtsphänomen kann nicht einmal die Leiterin des Stadtrats richtig erklären. O-TON TATJANA SCHAROVA Die russische Gesetzgebung erlaubt die doppelte Staatsbürgerschaft – die estnische nicht. Aber es gibt da einen Paragrafen – so hat man es mir wenigstens erklärt – dass nach estnischem Recht im Fall von verwandtschaftlichen Beziehungen Ausnahmen zulässig sind. … So nach dem

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Motto: „Nun ja, eigentlich ist es verboten, aber irgendwie geht es doch.“ Tja. Solche Eigentümlichkeiten gibt’s bei uns auch. REPORTERIN Tatjana selbst hat ein Langzeitvisum für die EU in ihrem russischen Pass: Ihr Bruder lebt in Narva. O-TON TATJANA SCHAROVA Das Überschreiten der Grenze ist ja für uns inzwischen kein Problem mehr. Eigentlich braucht man dazu nur den Wunsch und das richtige Wetter. Bei Regen mag ich ja nicht über die Brücke gehen ... ATMO GEMURMEL AUF DEN FLUREN DER STADTVERWALTUNG REPORTERIN Inzwischen ist es Mittag geworden, und die Flure der Stadtverwaltung sind voller Menschen: In Gruppen drängen sie von der Straße herein, warten vor Bürotüren, tauschen sich aus, falten Formulare. Ob unter ihnen wohl auch solche sind, die ihr Verwandtschaftsvisum nach Narva als Ticket in den EUArbeitsmarkt benutzen? Tatjana Scharova lächelt verbindlich. Dann schwärmt sie von den Karrieremöglichkeiten, die sich heute in Russland böten Iwangorod eingeschlossen. Hier habe gerade im vergangenen Jahr ein Hyundai-Werk aufgemacht hat, und es gebe gut bezahlte Arbeit genug. Nein, eine Massenflucht aus Russland in die EU fürchtet sie nicht. O-TON TATJANA SCHAROVA Viele meiner Bekannten aus Narva sind damals zum Arbeiten nach Finnland oder England gegangen. Doch während der Finanzkrise sind alle zurückgekehrt, weil es da auch keine Arbeit mehr gab. Ob jetzt wieder jemand in die EU will ... ich schließe es nicht aus, aber konkret habe ich noch von keinem gehört. REPORTERIN Und sie selbst – als Akademikerin mit Führungserfahrung, familiär ungebunden? Hat sie das europäische Ausland nie gelockt? Tatjana schüttelt den Kopf.

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O-TON TATJANA SCHAROVA Ich wollte die estnische Staatsbürgerschaft nie haben, und ich will sie bis heute nicht. Was habe ich in Estland verloren, oder in Europa? Ich bin Russin, und mit gefällt das Leben in Russland. Ich bin Patriotin. MUSIK O-TON VIKTOR KIRILLOV Viktor Kirillov

Zwei Festungen Als wären zwei zornige Helden Zusammengekommen zum tödlichen Duell … Und plötzlich, wie durch Zauberhand, zu Stein erstarrt. Ihre Gesichter sind voller Runzeln und Schrammen, die bewegte Zeiten hinterlassen haben. Nun sind sie einander ewig Feind Welch törichte Bürde! Seit langem haben die Ufer Frieden geschlossen Doch starr der mürrische Blick, grausam und unversöhnlich, belauern einander die Festungskolosse. Und doch – mag ich mich auch irren – So scheint mir, in schlaflosen Nächten träumen sie insgeheim, einander die Hände zu reichen. Unbeweglich sind die steinernen Hände, die dunklen Seelen von Unruhe befallen, so ahnen sie doch die Notwendigkeit die Jahrhunderte währende Feindschaft zu begraben.

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Wie sehr braucht die Welt Versöhnung! Wie stark sind Zwietracht und Zank! Möge es geschehen, dass irgendwann nicht Streit zum Augenblick erstarrt, sondern Liebe und Verbrüderung! O-TON VIKTOR KIRILLOV MUSIK MODERATOR Deutlicher lässt sich eine Welten-Grenze nicht markieren als hier am Ufer der Narva. Auf westlicher Seite die Hermannsfeste, eine Burg des Deutschen Ordens aus dem 13. Jahrhundert. Auf östlicher Seite die Festung Iwangorod, erbaut von Iwan III. im Jahre 1492. Zwei wuchtige Monumente, die Herrschaftsansprüche dokumentieren. Kurzzeitig wehte in den Zwischenkriegsjahren über beiden Burgen die estnische Flagge, dann für Jahrzehnte die sowjetische. Heute markieren sie wieder eine Grenze. Das heißt für die Festung Iwangorod: Hier beginnt, hier endet ein Imperium, das sich von der Ostsee bis zum Pazifik erstreckt. Iwangorod ist das Tor nach Russland. ATMO SCHRITTE, SCHWERE TÜR, GEPLAPPER REPORTERIN Das Mauerwerk ist Meter dick, die Steine herausgehauen aus grobem Fels. Wer sich beim Erklimmen der Festungsmauer daran abstützt, der kann die nasse Kälte des Vorfrühlings spüren. O-TON STADTFÜHRERIN Gleich kommen sieben Stufen – auf geht’s! … Wir befinden uns im dritten Wachturm, er wird der „Schießpulver-Turm “ genannt. Alle Namen der zehn Türme beziehen sich auf ihre Form oder Funktion: Es gibt den Proviantturm, den Wasserturm, die „Sturmglocke“. Und einer heißt: „Langer Hals“. Das haben sich die italienischen Architekten ausgedacht, die die Festung erbaut haben. ATMO SCHRITTE

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REPORTERIN Die steinernen Treppenstufen haben eine unbequeme Höhe, und sie sind rutschig. Doch mit geübtem Schritt strebt die Stadtführerin voran. Der Weg führt an der Innenseite der alten Stadtmauer entlang – eine gewaltige, zinnenbewehrte Ruine, die früher einmal das gesamte mittelalterliche Iwangorod umfasste. Und dann herauf, in Richtung „Schießpulver-Turm“. ATMO STADTFÜHRERIN Irina Arefego, eine zierliche 50-Jährige, redet, als sei jeder einzelne Tourist, den es an diesen äußersten Zipfel des russischen Riesenreiches verschlägt, ein Fest für sie – es ist eine Litanei von Tragödien, Intrigen und Legenden, die sich in diesem über 500 Jahre alten Gemäuer abgespielt haben sollen. Es sind die Geschichten von Ivan III., der die Festung einst erbaute als Bollwerk gegen den Deutschen Orden. Vom Livländischen und vom Großen Nordischen Krieg. Von der Zeit unter schwedischer, russischer, estnischer und schließlich sowjetischer Herrschaft. Durch die Schießscharten dringt ein eisiger Wind. O-TON STADTFÜHRERIN Dieses Loch, hier im Boden, ist eine Falltür. Hier geht es zwei Meter runter. Insgesamt gibt es vier Falltüren. Aber die Kinder sind immer enttäuscht, wenn sie hören, dass nicht ein einziger litauischer Ritter hier je hineingefallen ist. Diese Burg ist nie im Sturm genommen worden. ATMO KRÄHEN REPORTERIN Dann auf einmal - als man schon wähnte, der steinerne Gang nehme kein Ende mehr – ist das Plateau des Wachtturms erreicht. Der Wind zerrt an den Mänteln, und in allen Himmelsrichtungen ist der Blick frei bis zum Horizont. Weit unten, am Fuße der historischen Stadtmauer, fließt die Narva. Und am anderen Ufer, nicht mehr als einen Pfeilschuss entfernt: Der „Lange Hermann“, der berühmte Wachtturm der Festung von Narva - mit der Flagge der Republik Estland.

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O-TON STADTFÜHRERIN Die Grenzlinie zwischen der EU und der Russischen Föderation verläuft in der Mitte des Flusses. Hier fahren die Grenzbeamten Patrouille. Das Baden ist hier verboten, einen Strand gibt es weiter dahinten. Aber Fischen ist erlaubt. Da unten ist die Akustik ist sehr gut, man kann bis zum anderen Ufer herüberreden. Ich kenne zwei alte Damen, die nicht mehr hinter irgendwelchen Visa herlaufen wollen. Also verabreden sie sich an den Flussufern und rufen herüber. Naja, sie müssen schreien, weil die Strömung der Narva wild ist. Aber das andere Ufer ist wirklich nahe. ATMO KRÄHEN REPORTERIN Wie tote Augen glotzen die Fenster der beiden Burgen sich an. Die Iwangoroder Festung ist eine imposante Ruine, weitläufig wie eine Mittelalterstadt – im Innenhof jedoch leer, wenn man von zwei verfallenen Kapellen absieht. Die Hermannsfeste dagegen wirkt fast zierlich und elegant. Kein Wunder, sagt Stadtführerin Irina mit betretenem Gesichtsausdruck. Die sei ja auch aufs Professionellste restauriert, und innen zum mehrstöckigen Museum ausgebaut. O-TON STADTFÜHRERIN Der Lange Hermann war bereits im Jahr 1968 vollständig restauriert. Estland war damals eine Sowjetrepublik, darum hat man dort begonnen. Immer schon sind die Reisegruppen dort heraufgestiegen, und haben von oben in unsere zerstörte Festung hineingeschaut – die ist ja fast fünf Hektar groß. Bei uns haben sie kaum angefangen, da kam die Perestrojka – und die Restaurierungspläne waren dahin. ATMO WIND/KRÄHEN REPORTERIN Die Russische Föderation und die Europäische Union – die Machtblöcke des neuen Europa. Man muss auf den „Schießpulver-Turm“ steigen, um zu begreifen, wie unvermittelt sie an den Ufern der Narva aufeinanderstoßen. Hier kann man lange stehen, und seinen Blick schweifen lassen über beide Ufer – über die Wohnblocks und Industriegebäude, zwischen denen vereinzelt

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ein Kirchendach oder die historische Fassade eines Bürgerhauses hervorlugt. Über die Narva-Brücke mit ihren Schlagbäumen, über die Zollhäuschen und die wartenden Autoschlangen. Und selbst Irina, die diesen Anblick in ihrem Leben schon tausende Male genossen hat, hält einen Moment lang inne. O-TON STADTFÜHRERIN Was für ein einzigartiger Platz: In alten Schriften steht geschrieben, dass Iwangorod auf dem Stein erbaut ist, den Narva vom anderen Ufer herübergeworden hat. Da hinten, an der schmalsten Stelle des Flusses, sind es gerade 150 Meter bis Estland. Wo sonst auf der Erde stehen sich zwei feindliche Burgen so dicht gegenüber? Zu Sowjetzeiten gab es ein Gedicht. Darin hieß es, Narva sei die Braut, Iwangorod der Bräutigam. Doch zwischen ihnen fließt eine Fluss. Sie können einfach nicht zusammenkommen. MUSIK

MODERATOR Im Deutschlandfunk hörten Sie die Sendung Gesichter Europas: Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland. Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. Musik & Regie: Babette Michel. Die Sage „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“, die historische Stadtbeschreibung von Hermann Kassebaum und die Lyrik aus der Feder von Viktor Kirillov wurden gelesen von Volker Risch. Am Mikrophon war Henning von Löwis. MUSIK

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