Betekenisvol leren. Bilingualer Unterricht Deutsch in den Niederlanden

Betekenisvol leren Bilingualer Unterricht Deutsch in den Niederlanden Een praktijkgericht onderzoek door de heren drs. F. Kahnert en drs. H.V. Willkow...
Author: Gertrud Arnold
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Betekenisvol leren Bilingualer Unterricht Deutsch in den Niederlanden Een praktijkgericht onderzoek door de heren drs. F. Kahnert en drs. H.V. Willkowei

Universiteit Utrecht 2007

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL

0. Inhaltsverzeichnis 0. Inhaltsverzeichnis

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1. Einleitung

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2. Bilingualismus und bilingualer Unterrich

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2.1 Bilingualismus

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2.1.1 Gesellschaftlicher Bilingualismus

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2.1.2 Individueller Bilingualismus

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2.1.3 Entwicklung der Zweisprachigkeitsforschung

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2.2 Bilingualer Unterricht

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2.2.1 Ziele

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2.2.2 Grundlagen

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2.2.3 Probleme

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3. Bilingualer Unterricht Deutsch praktisch: Das Valuascollege Venlo

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3.1 Das Valuascollege und seine Stellung in Venlo

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3.2 Die Entstehung des bilingualen Zweiges

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3.3 Aufbau und Konzept des zweisprachigen Unterrichts

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3.4 Vorläufige Evaluation des Projekts tto Duits

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3.5 Eindrücke einer deutsch-niederländischen Mathematikstunde

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4. Bilingualer Deutschunterricht in den Niederlanden – Auswertung, Aussichten und mögliche Alternativen 5. Literatur

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL

1. Einleitung In der folgenden Arbeit geht es um den bilingualen Unterricht, wie er an vielen niederländischen und Schulen inzwischen angeboten wird. Unser besonderes Augenmerk richten wir dabei auf den bilingualen Unterricht mit der Unterrichtssprache Deutsch, wie er in den Niederlanden an bislang einer, künftig aber vielleicht mehreren Schulen angeboten wird. Der Anfang der Arbeit enthält eine Einführung in die Themen Bilingualismus und bilingualer Unterricht, im zweiten Teil stellen wir das Venloer Valuascollege vor, eben jene Schule, die mit dem Pilotprojekt tto Duits von sich reden gemacht hat. Abschließend werten wir die Ergebnisse aus und bieten einen Ausblick auf die Zukunft.

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL

2. Bilingualismus und bilingualer Unterricht 2.1 Bilingualismus Wenn wir über Bilinguismus sprechen, kommen wir ohne eine Definition oder zumindest Darstellung des Begriffs nicht aus. Grundsätzlich muss man zwischen gesellschaftlichem und individuellem Bilinguismus unterscheiden. Auffallend ist, dass gesellschaftlicher Bilinguismus theoretisch im Grunde völlig ohne individuellen Bilinguismus auskommen kann und umgekehrt. Dies wirkt auf den ersten Blick paradox, lässt sich aber in der Realität oft beobachten.

2.1.1 Gesellschaftlicher Bilingualismus Von gesellschaftlichem Bilingualismus spricht man immer, wenn in einem Land mehr als eine Sprache offiziell (nach anderen Definitionen auch inoffiziell) gebraucht werden. Beispiele für bilinguale Gesellschaften sind Kanada (Amtssprachen sind Englisch und Französisch), Belgien (Niederländisch, Französisch und Deutsch), Luxemburg (Lëtzebuergesch, Deutsch, Französisch) oder die Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch). In den meisten dieser Länder ist die Sprachverteilung jedoch regional komplementär distribuiert, die regionalen Sprachgemeinschaften sind in sich dann nur monolingual.

2.1.2 Individueller Bilingualismus Individueller Bilingualismus bezeichnet die Kompetenz eines Individuums sich in mehr als einer Sprache auf annähernd muttersprachlichem Niveau auszudrücken. Die Fähigkeit, sich eine zweite Sprache anzueignen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beginnend sei hier eigentlich ein NichtFaktor zu nennen, nämlich Intelligenz oder Sprachbegabung: die Fähigkeit, mehr als eine Sprache zu erlernen und auch zu sprechen, ist grundlegend im Menschen veranlagt und nicht an überdurchschnittliche Intelligenz oder Begabung gekoppelt. So wurde exemplarisch gezeigt, dass auch geistig behinderte Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ohne besondere Anstrengung Kenntnisse in mehreren Sprachen erwerben können, wenn ihre Lebensumstände dafür günstig sind.1 Ein weiterer oft genannter Faktor ist das Alter des Lernenden. Die Muttersprache wird im sogenannten Erstsprachenerwerb erlernt, der völlig ohne Unterricht auskommt. Im Fall der frühkindlichen Mehrsprachigkeit können auch mehrere Sprachen im Erstsprachenerwerb erlernt 1

NIEDERBERGER (2000)

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL werden, dies ist zum Beispiel der Fall in binationalen Ehen, wo jeder Elternteil seine Muttersprache mit dem Kind spricht. Sobald das System der Muttersprache einmal gefestigt ist, werden weitere Sprachen immer im Kontrast zum muttersprachlichen System erlernt, was einigen Mehraufwand erfordert. Dies trifft für alle Sprachen zu, die ab einem Lebensalter von 2-3 Jahren erlernt werden. Diese erste Altersgrenze sagt jedoch nur etwas über die Art und Weise des Aneignungsprozesses aus und erlaubt noch keinerlei Voraussagen über die spätere Sprachkompetenz in der danach erworbenen Sprache. Eine weitere Grenze ist die Pubertät. Ursprünglich galt die Pubertät als die Grenze, nach der eine Sprache nicht mehr akzentfrei erlernt werden könne. Man dehnte dann diese Einschränkung auch auf weiter Bereiche der Sprachkompetenz aus. Heute steht eigentlich nur noch die akzentfreie Aussprache zur Diskussion, und selbst hier gibt es ausreichend Beispiele dafür, dass Menschen auch noch deutlich nach Ende der Pubertät eine Sprache akzentfrei erlernt haben. Viel wichtiger scheinen externe Faktoren zu sein, wie das Sprachumfeld, der soziale Status der zu erlernenden Sprache und auch der soziale Status der Lernenden. Individueller Bilinguismus kann sowohl in offiziell einsprachigen Gesellschaften (zum Beispiel Deutschland) als auch in mehrsprachigen Gesellschaften vorkommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang Luxemburg, dessen (indigene) Bevölkerung nahezu zu 100% trilingual ist, das heißt jeder Luxemburger kann sich in den drei Landessprachen auf hohem Niveau ausdrücken. Im offiziell mehrsprachigen Belgien hingegen sind vor allem in der wallonischen Gemeinschaft weite Teile der Bevölkerung einsprachig.

2.1.3 Entwicklung der Zweisprachigkeitsforschung Im Zuge des aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts wurde in zunehmendem Maße Einsprachigkeit als Regelfall propagiert und politisch gefördert. Dennoch kann man bis heute in fast allen Grenzregionen zwischen zwei beliebigen europäischen Staaten schnell sehen, dass die Gleichung „ein Staat = ein Volk = eine Sprache“ lediglich eine ideologische Konstruktion ist. Der Umgang mit Zweisprachigkeit hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Inzwischen ist es eigentlich Konsens, dass individuelle Mehrsprachigkeit weltweit eher der Regelfall ist und nicht die Ausnahme, wie man bei eurozentristischer Sichtweise meinen möchte. Tatsächlich gehören selbst in der EU ca. 8% der Bevölkerung einer sprachlichen Minderheit an und 5

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL sprechen neben ihrer Minderheitensprache noch mindestens eine weitere offizielle Landessprache. So bezeichnete nicht zuletzt der Europarat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Einsprachigkeit als Ausnahme von der mehrsprachigen Regel. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts galt individuelle Zweisprachigkeit in der Forschung als Manko und Behinderung beim Erwerb der offiziellen Landessprache, ja wurde sogar als Grund für eine unterentwickelte Intelligenz herangeführt. Diese Fehleinschätzung resultierte aus der fehlenden Berücksichtigung der sozialen Faktoren beim Vergleich mit einsprachigen Probanden. Daraus resultierte eine Stigmatisierung der natürlichen Zweisprachigkeit. Dies hatte besonders schwere

Folgen

für

Angehörige

sprachlicher

Minoritäten.

Neben

dieser

offiziellen

Einsprachigkeitspolitik führte auch der niedrigere soziale Status der Minderheitensprachen zu oft verkümmerten Kompetenzen in der „Mutter-“Sprache. Dies betraf neben endogenen Minderheitensprachen wie dem Friesischen oder dem Niederdeutschen/Niedersächsischen (beides übrigens für Deutschland und die Niederlande zutreffend) auch Sprachen, die durch Migrationsprozesse nach Deutschland gekommen waren. Viele Menschen, die eigentlich mit einer anderen Sprache als der offiziellen Landessprache in Erstkontakt gekommen waren, sind Beispiele für subtraktiven Bilinguismus, wobei das Erlernen der Zweitsprache bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Erstsprache zu dessen Verkümmerung führt. Im schlimmsten Fall wird aber auch in der Zweitsprache keine annähernd muttersprachliche Kompetenz erreicht, was man als „doppelte Halbsprachlichkeit“ bezeichnet. Neueste Forschungen zeigen, dass Mehrsprachigkeit im Gegenteil sogar zu einem bewussteren Umgang mit Sprache und somit zu kognitiven Gewinnen führt. Während in vielen Ländern Mehrsprachigkeit von offizieller Seite gefördert wird, gibt es auch Länder, die immer noch den alten Vorurteilen nachhängen und Einsprachigkeit (und zwar die Einsprachigkeit der offiziellen Landessprache) anstreben. Zur ersten Gruppe gehören beispielsweise Kanada, welches durch französische Immersionsprogramme auch den Status des Französischen zu erhöhen versucht, oder Luxemburg, dessen Schulsystem nach und nach in allen drei Landessprachen unterrichtet, während die USA den frühzeitige ausschließlichen Gebrauch der englischen Sprache fördert und ermuntern2

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Extrem in diesem Zusammenhang der „Fall Marta Laureano“, die wegen Kindesmisshandlung verurteilt wurde, weil sie mit ihrer Tochter Spanisch sprach, um sie zweisprachig aufwachsen zu lassen.

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL

2.2 Bilingualer Unterricht Sowohl der eingebürgerte Begriff „bilingualer Unterricht/tweetalig onderwijs“ als auch der in Deutschland offiziell gebrauchte „fremdsprachlicher Sachfachunterricht“ sind undeutlich oder können zur Verwirrung führen. In der internationalen Terminologie hat sich der englische Begriff „Content and Language Integrated Learning (CLIL)“ etabliert. Er bringt am besten zum Ausdruck, womit wir es zu tun haben oder zumindest im Idealfall zu tun haben sollten: nämlich nicht mit Fremdsprachenunterricht, der sich anderer Fachthemen als Vehikel bedient, noch Sachunterricht, der einfach in der Fremdsprache abgehalten wird, sondern einem integrierten Unterricht, in dem gleichzeitig Inhalt und Sprache vermittelt werden, wenngleich letzteres auch überwiegend implizit. Bilingualer Unterricht wird immer populärer in Europa. In Deutschland begann das Zeitalter des bilingualen Unterrichts 1969 mit einem deutsch-französischen Zweig in Singen am Hohentwiel. 1998 waren es bundesweit schon über 250 Schulen mit einem bilingualen Angebot, Ende 2006 über 700 Schulen.3 Auch hier ist die überwiegende Zweitsprache Englisch, aber es gibt darüber hinaus auch Angebote in Verbindung mit Französisch, Spanisch, Polnisch, Italienisch, Griechisch, Türkisch, Tschechisch, Niederländisch, Russisch, Portugiesisch, Chinesisch.4 In den Niederlanden ließ die Einführung von tweetalig onderwijs länger auf sich warten. Erst in der ersten Hälfte der 90er Jahre begannen Schulen, bilingualen Unterricht in der Kombination Niederländisch/Englisch anzubieten. Ihre Zahl nahm etwa seit der Jahrtausendwende stark zu: Während es 2002 erst 32 Schulen mit tto gab, wren es 2006 schon 95. 5 Bis heute gibt es jedoch erst eine Schule mit der Kombination Niederländisch/Deutsch: das Valuascollege in Venlo.6

2.2.1 Ziele Auch wenn die Diskussion um bilingualen Unterricht nicht unerheblich von den kanadischen Immersionsprogrammen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt ist, sind die nordamerikanischen Modelle nicht 1:1 auf die europäische Situation übertragbar. In den USA haben Immersionsprogramme das Ziel, Nichtmuttersprachlern möglichst schnell die englische Sprache beizubringen. In Québec dienen sie dazu, die regional dominante Landessprache Vgl. http://www.fmks-online.de/tools/bilischulen.php (17. Mai 2007) Nicht mitgerechnet sind hier die Schulen die in den Minderheitensprachen Dänisch, Sorbisch und Friesisch unterrichten. 5 Vgl. http://nl.wikipedia.org/wiki/Tweetalig_onderwijs (17. Mai 2007) 6 Vgl. http://www.netwerktto.europeesplatform.nl (17. Mai 2007) 3 4

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL Französisch zu vermitteln. Die Rahmenbedingungen in Europa sind zumeist komplett andere: anders als in Nordamerika findet nicht der gesamte Unterricht in der Zielsprache statt, sondern lediglich ein (meist geringer) Teil und vor allem fehlt das zielsprachige Umfeld, was in Nordamerika ja das Erlernen der Sprache noch begünstigt. Ein weiteres Ziel der nordamerikanischen Programme spielt aber auch im europäischen Kontext eine bedeutende Rolle: die positive Identifikation mit der Zielkultur. Auf diese Weise sollen die Schüler/innen zu Botschaftern eines geeinten plurikulturellen Europas werden, die neben ihrer eigenen Kultur auch über Kompetenzen in anderen europäischen Kulturen und Sprachen verfügen. Dies war auch das erklärte Ziel des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages von 1963, der den Grundstein zu den deutsch-französischen bilingualen Zweigen legte. Bilingualer Unterricht mit Englisch als Zielsprache hat diesen bikulturelleuropäischen Ansatz in weitaus geringerem Maße, sondern ist überwiegend international ausgerichtet. Ein Vergleich der lediglich englisch ausgerichteten bilingualen Zweige in den Niederlanden (mit Ausnahme des Valuascolleges in Venlo) mit dem breit gefächerten Angebot in Deutschland lässt hier auch unterschiedliche Schwerpunkte in der Zielsetzung (Internationaler Kontext vs. europäische Integration) vermuten.

2.2.2 Grundlagen Untersuchungen zeigen, dass bilingualer Unterricht sowohl auf sprachlicher als auch inhaltlicher Ebene einen deutlichen Mehrwert erzielt: „Auf rezeptiver Ebene führt die Arbeit mit authentischen fremdsprachigen Materialien zu einer deutlich gesteigerten Kompetenz im verständniserschließenden Umgang mit inhaltlich und sprachlich komplexen Texten. Im sprachproduktiver Bereich lernen die Schülerinnen und Schüler sich sachlich korrekt, begrifflich genau und differenziert auszudrücken.“7 Hier zeigt sich, dass bilingualer Unterricht die immer wieder für den Fremdsprachenunterricht geforderten Elemente des übermäßigen Inputs an Sprachmaterial (hier in Form von Texten), aber auch der Relevanz (es besteht ein echtes Bedürfnis, die Inhalte zu verstehen bzw. sich verständlich in der Fremdsprache auszudrücken) von Natur aus enthält, die im Fremdsprachenunterricht oft mühsam konstruiert werden müssen und dann dennoch oft weniger motiviert daherkommen. Da der bilinguale Unterricht inhaltlich an die jeweils vorgeschriebenen Richtlinien und Lehrpläne gebunden ist (dies gilt für Deutschland genauso wie für die Niederlande), bedarf es einiger 7

OTTEN/WILDHAGE (2003:18)

8

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL Kreativität, um das Potenzial auszunutzen und nicht lediglich „Sachunterricht in Fremdsprache“ zu machen. Es bietet sich daher an, Schwerpunkte so zu setzen, dass Themen möglichst kontrastiv und interkulturell bearbeitet werden. Hier bieten vor allem die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer einiges Potenzial für kontrastives Lernen. Nur wie organisiert man bilingualen Unterricht, dass er wirklich Sprache und Inhalt ins gewünschte Gleichgewicht bringt? Folgende Punkte sind dabei zentral (nach OTTEN/WILDHAGE (2003)): 1. Ausgangspunkt muss immer die Fachdidaktik des Sachfachs sein, fremdsprachendidaktische Konzepte müssen jedoch unterstützend herangezogen werden. 2. Die Chancen, die sich durch die Verwendung von zwei Sprachen und hinzukommende interkulturelle Perspektive ergeben, müssen erschlossen und genutzt werden. 3. Der bilinguale Unterricht muss sich am aktuellen Stand der Forschung zum institutionellen Spracherwerb orientieren. 4. Im bilingualen Unterricht muss – noch mehr als im Normalunterricht – die sprachliche Komponente in komplexen Lernsituationen systematisch und gezielt gestützt werden. 5. Dem

bilingualen

Unterricht

muss

ein

Konzept

funktionaler

Mehrsprachigkeit

zugrundeliegen. 6. Die bilingualen Fächer und die Fremdsprachen müssen koordiniert werden und miteiander kooperieren. Weiterhin wird in der Literatur gemeinhin gefordert, die Auswahl der bilingualen Fächer nicht dem Zufall zu überlassen, bzw. sie pragmatisch am Bestand der vorhandenen Lehrkräfte zu treffen. Die Wahl der bilingual unterrichteten Fächer sollten Ergebnis eines didaktischen Gesamtkonzepts sein. Ferner ist es erstrebenswert, dass bilingualer Unterricht durch besonders qualifizierte Lehrkräfte erteilt wird, die neben der Ausbildung im Sachfach auch über fremdsprachendidaktische Fertigkeiten verfügen. Inzwischen werden an verschiedenen deutschen Universitäten bereits spezielle Weiterbildungen für Didaktik des bilingualen Unterrichts angeboten. Auch in den Niederlanden richtet sich momentan der Fokus stärker auf die Didaktik des bilingualen Unterrichts. Anfang der 90er Jahre, als tto hier eingeführt wurde, lag der Schwerpunkt auf der sprachlichen Ausbildung der Lehrkräfte und der Erstellung geeigneter Unterrichtsmaterialien. Untersuchungen der Europees Platform haben gezeigt, dass es in der Didaktik des tto zur Zeit den größten Nachholbedarf gibt.8 8

DE

GRAAFF/KOOPMAN (2006:7)

9

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL 2.2.3 Probleme Auch wenn der bilinguale Unterricht als didaktischer Tausendsassa erscheint, gilt es doch in der Umsetzung einige gefährliche Klippen zu umschiffen, um das Projekt auf einen guten Weg zu bringen. Die wichtigsten zwei Probleme sind das Lehrmaterial („de methode“) und die Leistungsbewertung.9 Es existieren bislang kaum kommerzielle speziell für den bilingualen Unterricht erstellte Materialien. Theoretisch ergeben sich was die Materialien betrifft vier Optionen: 1. Man verwendet genuin fremdsprachige Lehrbücher. Dies bringt das Problem mit sich, dass britische oder amerikanische Curricula natürlich nicht deckungsgleich mit deutschen oder niederländischen Curricula sind. 2. Man übersetzt deutsche bzw. niederländische, also den erforderlichen Anforderungen ans Curriculum genügende, Lehrwerke ins Englische. Eine Analyse von THÜRMANN/OTTEN (1992) hat jedoch gezeigt, dass eine solche direkte Übersetzung nicht den veränderten Erfordernissen im bilingualen Unterricht genügen würde. So stellte sich das Vokabular als zu differenziert, die Varianz der angebotenen Texte jedoch als zu uniform dar. 3. In den 90er Jahren erschienen einige speziell für den bilingualen Unterricht konzipierte Lehrwerke für Fächer wie Geschichte oder Erdkunde. Wegen der noch zu geringen Nachfrage ist den Verlagen das Risiko jedoch zu hoch gewesen und nach rückgängiger finanzieller Unterstützung durch die Ministerien war das unternehmerische Risiko zu hoch, um sich weiter auf diesem Markt zu engagieren. 4. Als letzte Möglichkeit bleibt den Schulen, individuell und in mühevoller Kleinarbeit eigenes Material aus verschiedenen Quellen zu kompilieren. Diese Option hat den Nachteil, dass jede Schule im Zweifelsfall ihr eigenes Material zusammenstellt, was im Grunde eine Ressourcenverschwendung ist. Bei der Leistungsbewertung ergibt sich das Problem, dass im bilingualen Sachfachunterricht nicht die Leistungen in der Fremdsprache, sondern im Fach gemessen und bewertet werden sollen – dies aber eben nicht immer deutlich zu trennen ist. Liegt eine undeutliche oder nicht ganz korrekte Formulierung in mangelnden Sprachkenntnissen oder in mangelnder Durchdringung des Stoffes begründet? Im Zweifelsfall muss die Prüfung dann in der Muttersprache abgenommen werden, um 9

Vgl. RYMARCZYK (2003:76f)

10

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL ganz sicher zu sein. Oder Schülern wird die Freiheit geboten, die Sprache selber zu wählen. Hier bleibt allerdings die Frage, ob Schüler, die dann konsequent die Muttersprache wählen, im bilingualen Unterricht nicht schlichtweg am falschen Ort sind.

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL

3. Bilingualer Unterricht Deutsch praktisch: Das Valuascollege Venlo 3.1 Das Valuascollege und seine Stellung in Venlo Durch einen Besuch am 20.3.2007 haben wir Bekanntschaft gemacht mit einer Schule, auf die wir schon lange zuvor aufmerksam geworden waren: dem Valuascollege. Untergebracht in einem funkelnagelneuen Gebäude am Rand des Stadtzentrums, bildet es eine Scholengemeenschap voor

VMBO, HAVO, Atheneum, Gymnasium. Zu seinem Profil gehört neben dem bilingualen Fachunterricht Niederländisch/Deutsch auch eine propädeutische Ausbildung für Tanzakademien und Konservatorien. Heimat des Valuascollege ist die Stadt Venlo. Sie gehört zum Norden der Provinz Limburg und liegt mit ihren 90.000 Einwohnern an der Grenze zu Deutschland. Größere Städte im Umkreis von Venlo finden sich vor allem auf deutscher Seite, im Bundesland Nordrhein-Westfalen: Mönchengladbach, Krefeld oder Viersen sind nicht einmal 25 Kilometer entfernt, und knapp 30 Kilometer Luftlinie sind es bis zum Beginn des Ruhrgebiets. Diese Nähe macht verständlich, warum Venlo für den Eisenbahnverkehr zwischen Deutschland und den Niederlanden der bedeutendste Brückenkopf ist. Die Wirtschaft Venlos ist geprägt von zwei Tätigkeitsunternehmen. Zum einen sind die rund 400 Unternehmen in Transport und Logistik zu nennen, die Venlo zum wichtigsten niederländischen Knotenpunkt für Warenverkehr zwischen den Häfen Rotterdam und Antwerpen und dem Rest Europas gemacht haben. Flagschiff der Transportbranche ist die Koninklijke Frans Maes Groep. Zum anderen spielt die Industrie eine bedeutende Rolle. Auch sie zählt ungefähr 400 Unternehmen, vor allem in der Feinmechanik, der Elektrotechnik, sowie der Verarbeitung von Metall und Glas.

3.2 Entstehung des bilingualen Zweigs Das Valuascollege ist die einzige Sekundarschule in den Niederlanden, an der zweisprachiger Fachunterricht in der Kombination Niederländisch/Deutsch erteilt wird (Niederländisch/Englisch gab es dagegen 2006 an nicht weniger als 95 Schulen).10 Diese Besonderheit erklärt sich zum Teil aus der geografischen und wirtschaftlichen Lage der Stadt Venlo. Die Kontakte zu Deutschland sind vielfältig: Fürs Tanken und größere Einkäufe begibt man sich selbstverständlich auf die andere Seite der Grenze, wo es billiger ist, aber es kommt auch schon einmal vor, dass man als Limburger 10

Vgl. (18. Mai 2007)

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL in medizinischen Notfällen kurzerhand ins Krankenhaus von Krefeld transportiert wird. Die wirtschaftlichen Verbindungen aber leiden unter einem Mangel an qualifizierten Deutsch sprechenden Mitarbeitern. Holland Casino etwa weiß davon ein Lied zu singen, erzählte uns Louis Seelen, der Leiter des bilingualen Zweigs. Die Firma Viking, Hersteller von Schlittschuhen, hat diesen Engpass dadurch behoben, dass sie Personal im Nachbarland anwarb. Mittlerweile arbeiten 500 Deutsche für das Unternehmen. Ende der 80er Jahre fragte die Handelskammer Limburg-Noord beim Valuascollege an, ob es ihm nicht möglich sei, wieder mehr Absolventen hervorzubringen, die fließend Deutsch sprechen. Denn was sich seinerzeit als Problem erwies, war in der Vergangenheit gar keins. Selbstverständlich sprach man die Sprache des Nachbarn, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: Zum einen war die Zahl der Deutschstunden vor der Einführung des studiehuis höher, zum anderen schaute man in den 50er und 60er Jahren in Limburg hauptsächlich deutsches Fernsehen. Man wohnte nahe der Grenze und konnte deutsche Sender empfangen; viele Menschen gaben ihnen den Vorzug vor dem niederländischen Fernsehen, das noch in den Kinderschuhen steckte. Die Bitte der Wirtschaft stieß am Valuascollege nicht auf taube Ohren. Allerdings mussten die interessierten Lehrer vor der Gründung des bilingualen Zweigs im Jahr 2000 – neben dem Unterrichtsalltag – langwierige Pionierarbeit leisten. Während man für bilingualen Unterricht Niederländisch/Englisch auf Curricula, Unterrichtsmaterial und Erfahrungen hätte zurückgreifen können, musste für Niederländisch/Deutsch bei null begonnen werden. Was Lehrwerke anging, so merkten die Fachlehrer schnell, das es wenig Sinn haben würde, auf deutsche Schulbücher zurückzugreifen. Nicht nur weichen die Lehrpläne in Deutschland und den Niederlanden zu stark von einander ab, auch hinkt Deutschland bis heute im Fach Mathematik Jahre hinter den in im Nachbarland angewandten Methoden hinterher. Die Konsequenz lautete: Wir müssen unser Unterrichtsmaterial selbst herstellen. Auch das ein mühsamer, zeitraubender Prozess, doch heute kann das Valuascollege seinen Besuchern einen ganzen Schrank mit hausgemachten Materialien in den Fächern des bilingualen Zweigs zeigen. Eine andere Frage war die der Qualifikation der Lehrkräfte. Die Kollegen, die das Projekt trugen, entschlossen sich zu folgendem Standard: Alle mussten vor dem Startschuss die Zentrale Mittelstufenprüfung des Goethe-Instituts in der Tasche haben. Die Oberstufenprüfung würde im

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL Verlauf des Projekts verpflichtend hinzukommen für diejenigen Lehrer, die in havo, vwo und vwoplus unterrichteten.11 Zur Pionierarbeit gehörte auch der 1992 aufgenommene Austausch mit deutschen Schülern. Mittlerweile unterhält das Valuascollege Kontakt zu immerhin acht verschiedenen Schulen in deutschen Städten, die alle in einem Umkreis von weniger als 60 km gelegen sind: Dormagen, Nettetal, Essen, Mülheim, Straelen, Grefrath, Kleve und Krefeld. Die deutschen und die niederländischen Schüler stellten gemeinsam die verschiedensten Projekte auf die Beine: die Redaktion eine niederländisch-deutschen Kochbuchs, eine Fahrt nach Berlin, einen Sporttag für Behinderte oder eine Ausstellung zum Leben von Anne Frank, ein Projekt zum Thema Wasser, eine Theateraufführung und vieles mehr. An einigen der acht Schulen in Deutschland wird übrigens Niederländisch unterrichtet, doch war das nicht Bedingung für den Kontakt. Die Verkehrssprache auf den Treffen war und ist ganz überwiegend Deutsch.12 Unterstützung erhielt das Valuascollege nach der Initialzündung durch die örtliche Kamer van

Koophandel noch durch eine beachtliche Zahl anderer Institutionen. So finanziert die Europees Platform voor het Nederlandse Onderwijs seit 1997 eine Sprachassistentin mit Deutsch als Muttersprache. Weitere finanzielle, materielle und ideelle Hilfe kam und kommt durch die folgenden Einrichtungen: das Goethe-Institut in Amsterdam, die Gemeinde Venlo, den Regierungsbezirk

Nord-Limburg,

die

„EuRegio“

Rhein-Maas-Nord,

das

niederländische

Erziehungsministerium, die Stichting Leerplanontwikkeling aus Enschede, die Maastrichter

Talenacademie sowie das Expertisecentrum Duits der Universität Utrecht.

3.3. Aufbau und Konzept des zweisprachigen Unterrichts Am Valuascollege beginnt der Deutschunterricht für alle Schülerinnen und Schüler in der brugklas. Wenn sie sich für tweetalig onderwijs (tto) von Klasse 2 (vmbo: Klasse 3) an entscheiden, werden sie somit nicht ins kalte Wasser einer ihnen gänzlich unbekannten Sprache geworfen. Zur Vorbereitung wird der Deutschunterrichts in den vwo-plus-brugklassen sowie in den havo- und vwo-brugklassen während der letzten Monate des Schuljahrs um eine Stunde verstärkt, die sogenannten kennismakingslessen. Danach fällt die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Zu diesen Diplomen s. die Tabelle auf S. 17 Bei Besuchen der deutschen Schüler erhalten diese aber immerhin eine (sehr hübsch gemachte) Einführung ins Niederländische! 11 12

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL zweisprachigen Unterrichts. Im Übrigen stehen für diejenigen, die sich nicht für den Unterricht in deutscher Sprache anmelden wollen, zwei andere Möglichkeiten bereit: Am Valuascollege steht den Schüler vertiefter Englischunterricht (Anglia genannt) ebenso offen wie Extra-Französischstunden. Voraussetzung hierfür ist nicht ein überdurchschnittliches CITO-Resultat, wie es die bilingualen Zweige mit der Fremdsprache Englisch in den Niederlanden meist fordern. Für eine Teilnahme am tto genügt es vielmehr, in den bis dahin gelernten Fremdsprachen Englisch und Deutsch im Durchschnitt genügende (voldoende) Leistungen vorzuweisen. Koordinator Seelen konnte sich in unserem Gespräch einen Seitenhieb auf „elitäre“ Konzepte des bilingualen Unterrichts nicht verkneifen. Seine Schule lasse sich dagegen von der Überzeugung leiten, dass für alle Schüler der Gebrauch einer Fremdsprache als Verkehrssprache wichtig sei, nicht nur für die besonders Talentierten im Allgemeinen und die Sprachbegabten im Besonderen. Nicht zufällig biete das Valuascollege tweetalig onderwijs auch im vmbo an. Haben sich die Venloer brugklassers nach den Schnupperwochen gegen Ende der brugklas dann für den bilingualen Zweig entschieden, so erwartet die vwo- und vwo-plus-Schüler deutschniederländischer Fachunterricht in den Sekundarschuljahren 2 bis 5; bei den havisten ist dies in den Jahren 2 bis 4 der Fall. Für

die vmbo-Schüler mit der auf kader-Niveau angesiedelten

Spezialisierung Transport/Logistik ist tto im 3. sowie in der ersten Hälfte des 4. Schuljahrs verpflichtend. Hier werden die Fächer Allgemeine Naturwissenschaften, Gemeinschaftskunde, CKV und Sport zweisprachig unterrichtet, auch die Profilarbeit wird auf Deutsch angefertigt. Dieses noch junge Projekt findet in den weiteren Darlegungen keine Beachtung mehr. Auch für vmboTouristik ist ein bilingualer Zweig ab der 3. Klasse geplant. In der Unterstufe (onderbouw) betrifft der zweisprachige Unterricht nicht weniger als acht Fächer: Geschichte, Erdkunde, Hauswirtschaft, Technik, Mathematik, Physik, Sport und Chemie. Wie auch bei den Schülern, die sich gegen tto entschieden haben, stehen bei den „Bilingualen“ zwei Stunden Deutschunterricht pro Woche auf dem Stundenplan. Hinzu kommen bei ihnen noch zwei Extrastunden Deutsch pro Woche. So kommen tto-Schüler auf 34 Wochenstunden Unterricht, ihre Kameraden mit klassischem einsprachigen Unterricht auf 32 Stunden. Der Mehraufwand für die Schüler hält sich offensichtlich in vernünftigen Grenzen. (Der für die Eltern im Übrigen auch: In der Unterstufe fallen 140 Euro pro Jahr und Kind an für zusätzliches Material, Ausflüge u.a.; in der Oberstufe sinkt dieser Betrag auf 85 Euro.)

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL Die Oberstufe (bovenbouw) beschränkt sich dagegen auf drei bilingual angebotene Fächer: Allgemeine Naturwissenschaften (anw), Kunst und Kultur (culturele en kunstzinnige vorming) sowie Sozialkunde. Auch gibt es nur noch eine statt zwei Extrastunden Deutsch pro Woche. In den Abschlussklassen (vwo/vwo-plus 6 und havo 5) kehrt man wieder zum klassischen einsprachigen Fachunterricht auf Niederländisch zurück. Der Grund für diese Entscheidung liegt nach Louis Seelen im niederländischen Schulsystem: Die Examen werden zentral abgehalten, sind für alle Schüler gleich, und in ihnen hat Bilingualität keinen Platz. Die Schüler im tto sollen sich wie ihre einsprachig ausgebildeten Altersgenossen auf die niederländische Terminologie der Fächer vorbereiten können. Diese Regelung ist eine von mehreren, mit denen Befürchtungen bei Schülern und Eltern zuvorgekommen werden soll.13 Kein bilingual unterrichteter Schüler, so die Philosophie des Valuascollege, darf in Mathematik, Erdkunde und den anderen Fächern eine ungenügende Note deswegen erhalten, weil er etwa den in deutscher Sprache dargebotenen Ausführungen des Lehrers nicht folgen konnte. Niemand soll deshalb schlechtergestellt werden, wenn er sich weniger differenziert auf Deutsch ausdrücken kann als seine Klassenkameraden. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Schule das tto wie folgt eingerichtet:



„Tweetalig onderwijs“ ist am Valuascollege ganz wörtlich zu verstehen: Es wird sowohl Deutsch als auch Niederländisch gesprochen. Im Werbematerial der Schule heißt es sogar: Höchstens 50% des Unterrichts findet in der Fremdsprache statt.



Zu Beginn werden die Klassenarbeiten noch ausschließlich auf Niederländisch geschrieben, erst allmählich geht der Lehrer zur Formulierung der Aufgaben auf Deutsch über und müssen die Schüler schließlich auch auf Deutsch antworten. Doch sprachliche Fehler haben keinen Einfluss auf die Note, bewertet wird allein die Beherrschung des Lehrstoffs.



Ausdrücklich weist das Valuascollege darauf hin: Falls das Verständnis des Schülers einmal an der deutschen Sprache scheitert, so erklärt der Lehrer den Stoff einfach ein zweites Mal – auf Niederländisch.

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Mit diesen Befürchtungen mag es zusammenhängen, dass der bilinguale Zweig im Internetauftritt des Valuascolleges (www.valuascollege.nl) keine prominente Rolle spielt. Verständlich, wenn man an den Aufschrei denkt, den die Einführung des Französischen als verpflichtender erster Fremdsprache in baden-württembergischen Grenzorten bei vielen Eltern dieses Bundeslandes hervorgerufen hat.

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL ●

Am Ende eines jeden Schuljahrs ist der Ausstieg aus dem bilingualen Zweig möglich. Kehrt ein Schüler am Ende der Unterstufe, also des 3. Sekundarschuljahrs, zum klassischen einsprachigen Unterricht zurück, so erhält er über seine zweijährige Teilnahme am tto eine schriftliche Bescheinigung.

Ein besonderes Plus, das der bilinguale Zweig seinen Absolventen bietet, ist der Erwerb von

Sprachdiplomen des Goethe-Instituts. Das Valuascollege weist zu Recht auf die Vorzüge dieser Zertifikate in der weiteren Ausbildung und im Berufsleben hin. Ein genereller Vorteil ist die große Bekanntheit und breite Akzeptanz bei Arbeitgebern außerhalb der Niederlande (nicht nur in deutschsprachigen Ländern). Die Teilnahme an den schulintern abgenommenen Prüfungen, die zu den Sprachdiplomen führen, ist freiwillig; die Kosten gehen zwar zulasten der Eltern, sind aber geringer als am Goethe-Institut direkt. Es gilt am Valuascollege das folgende Schema:

Diplom14

Klasse

Fit in Deutsch 1 oder vmbo Fit in Deutsch 2 oder 4 Zertifikat Deutschhavo 2 (ZD):

Zentrale vwo 3/ Mittelstufenprüfung havo 4 (ZMP) Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP)16

vwo 5

Niveau Europäischer Bemerkung Referenzrahmen15 3A1 (FiD 1) Noch in Planung. A2 (FiD 2) B1 Havo-Schüler steigen eher aus dem tto aus; sie erhalten deshalb schon nach Abschluss des ersten bilingualen Jahrs die Möglichkeit, ein international anerkanntes Diplom zu erwerben C1 Befreit an einer Reihe von Studienkollegs und an einigen deutschen Hochschulen von der sprachlichen Aufnahmeprüfung DSH oder TestDaF. Befreit an deutschen Hochschulen von der sprachlichen Aufnahmeprüfung DSH oder TestDaF.

3.4. Vorläufige Evaluation des Projekts tto Duits Da noch nicht genügend Schulabgänger ihre weiterführenden Ausbildungen abgeschlossen haben, liegen bislang keine Statistiken darüber vor, inwiefern die Teilnahme am tto-Deutsch eine sinnvolle Qualifikation für den weiteren beruflichen Werdegang ist. Schulintern hat sich jedoch 14

Eine Beschreibung der vom Goethe-Institut verliehenen Sprachdiplome findet sich unter www.goethe.de. Der sogenannte „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ kennt die Niveaus A1 (Grundkenntnisse), A2, B1, B2, C1, C2 sowie C2+ (Beherrschung der deutschen Sprache auf nahezu muttersprachlichem Niveau). 16 Um das hohe Niveau dieses Sprachzeugnisses anzuzeigen: Über der erfolgreich bestandenen ZOP gibt es nur noch das Große Deutsche Sprachdiplom (GDS), das der höchsten Stufe C2+ des Europäischen Referenzrahmens entspricht. (Das Niveau des Kleinen Deutschen Sprachdiploms/KDS ist identisch mit demjenigen der ZOP.) 15

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL herausgestellt, dass die Abiturnote im Fach Deutsch bei den tto-Schülern im Durchschnitt 2 Notenpunkte über dem der nicht teilnehmenden Schüler liegt. Diese bessere Deutschnote wird aber nicht – wie man vielleicht befürchten könnte – durch schlechtere Leistungen im Fach Niederländisch erkauft. Hier liegen die Ergebnisse auf mindestens gleichem, tendenziell sogar höherem Niveau. Es zeigt sich also, dass tto nicht nur die Kenntnisse des Deutschen verbessert, sondern auch die Fähigkeit, sich in der Muttersprache gut auszudrücken. Diese Einschätzung wird auch für tto-Englisch und tto-Friesisch vom niederländischen Kultusministerium geteilt: „Onderzoek heeft aangetoond dat leerlingen alleen maar positieve effecten ondervinden van deze vorm van onderwijs: het Engels en Fries van tto-leerlingen is beter dan van leerlingen die aan het gewone onderwijs deelnemen. Ook heeft tto geen nadelige gevolgen voor de niet-talenvakken en het Nederlands.“17

3.5 Eindrücke einer deutsch-niederländischen Mathematikstunde Eine beeindruckende Demonstration des bilingualen Unterrichts am Valuascollege erhielten wir durch den Besuch einer Mathematikstunde in einer havo2-Klasse bei dem Lehrer H. Maas. Bei ihm handelte es sich um einen routinierten Lehrer, der die sehr disziplinierte Klasse fest im Griff hatte. Seinem Deutsch war nur ein, zwei Mal während der 50 Minuten anzumerken, dass es nicht aus dem Mund eines Muttersprachlers kam. Seine Stunde gab uns ein Beispiel dafür, wie Lehrer den Grundsatz handhaben, nach dem im Unterricht zur Hälfte Niederländisch und zur Hälfte Deutsch gesprochen wird. In der Praxis gibt es nämlich mehrere Varianten. So wechseln einige Lehrer von Stunde zu Stunde die Sprache, in Abhängigkeit von Faktoren wie Schwierigkeitsgrad des behandelten Stoffs, der zur Verfügung stehenden Zeit oder der kommunikativen Absicht. Andere wechseln innerhalb ein und derselben Stunde von der einen in die andere Sprache. Bei H. Maas war das Letzte der Fall. Er begann damit, das Programm der Stunde (der Satz des Pythagoras) sowie unsere Anwesenheit im Klassenraum kurz zu erläutern: auf Deutsch. Seine sich anschließenden Darlegungen zum Satz des Pythagoras sowie einige Hinweise zur nächsten Klassenarbeit fanden dagegen auf Niederländisch statt. Einen Arbeitsauftrag erhielten die Schüler dann wieder auf Deutsch. Interessant war vor Allem die Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer, die sich an eine Stillarbeitsphase anschloss. Verkehrssprache war nun nach der impliziten Vorgabe des Lehrers (er nahm den Faden 17

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F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL wieder in der Zielsprache auf) das Deutsche. Die Klasse beherrschte den Stoff gut, nicht jeder Schüler war jedoch in der Lage, seine Antwort auf Deutsch zu geben oder zumindest, sich so auszudrücken, wie er wollte. Wenn jemand ins Stocken geriet, forderte H. Maas sie oder ihn (auf Niederländisch) dazu auf, einfach auf Niederländisch zu antworten. Im Verlauf der Stunde geschah das ungefähr ein halbes Dutzend Mal. Die Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler verlief auf diese Weise störungsfrei. Dass der Lehrer auf Deutsch sprach, akzpetierten die Schüler ganz selbstverständlich; auch hatten sie ersichtlich keine Probleme, den mündlichen Ausführungen ihres Lehrers zu folgen. Selbstverständlich schien es aber auch für die Schüler zu sein, auf Deutsch zu antworten. Wir hatten den Eindruck, dass sie sich zuweilen gar nicht dessen bewusst waren, eine Fremdsprache zu benutzen. Wir staunten über ihre Sicherheit im Gebrauch mathematischen Vokabulars. Natürlich hat uns diese Mathematikstunde nur einen kleinen Ausschnitt dessen geboten, was in bilingualem Unterricht möglich ist. Leider haben wir bei H. Maas keine Kommunikation der Schüler untereinander auf Deutsch gesehen; das Unterrichtsgeschehen ging ausschließlich zwischen dem Lehrer und jeweils einem Schüler hin und her.

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4. Bilingualer Deutschunterricht in den Niederlanden – Auswertung, Aussichten und mögliche Alternativen Louis Seelen erwähnte uns gegenüber die Pläne verschiedener Schulen in den Niederlanden, nach dem Vorbild des Valuascolleges einen bilingualen Zweig Niederländisch/Deutsch zu gründen, oder zumindest versterkt Duits anzubieten. Er nannte uns das Sophianum in Gulpen, zwei Schulen in Nimwegen, eine in Amersfoort und eine in Alphen aan den Rijn. Das vorletzte, vor allem das letzte Beispiel sind in sofern bemerkenswert, als beide Städte in gehörigem Abstand zur deutschen Grenze gelegen sind. Interessant wäre es, hier einmal den Beweggründen

der Initiatoren

nachzugehen. Was die Erfolgschancen dieser Projekte angeht, so bewerten wir sie als verhalten positiv. Einerseits wäre an die Einführung der vernieuwde tweede fase vom kommenden Schuljahr an zu denken. Vom unantastbaren Fach Englisch einmal abgesehen, birgt diese „Reform der Reform“ für den Deutsch-, aber auch anderen fremdsprachlichen Unterricht vor allem Chancen an Schulen, die sich in Fremdsprachen profilieren möchten. Während in einigen Schulen Deutsch komplett wegfallen könnte, werden anderorts Schulen das Fach aufwerten. Tweetalig onderwijs ist da sicherlich eine attraktive Möglichkeit. Allerdings muss man sich schon fragen, warum es bis heute nur eine einzige Schule dieser Spezialisierung in den Niederlanden gibt. Wir vermuten mangelnden Mut bei den Verantwortlichen in den Schulleitungen und vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Eltern, die vermeintlich allein tto in Verbindung mit Englisch nachfragen. Dies korrespondiert jedoch nicht mit dem immer lauter werdenden Ruf aus der Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften mit guten Deutschkenntnissen. Dieser Ruf gab schon in Venlo den Anstoß zur Einrichtung des Projekts tto Duits und dieser Ruf ist sicherlich auch nicht von unerheblichem Einfluss bei einer für die nächsten Jahre geplanten Einführung von tto Duits im Sektor vmbo-gtl der Niederlassungen Dinxperlo und Winterswijk des in Aalten gefestigten Christelijk College Schaersvoorde. Hier kommen wie in Venlo auch die extreme räumliche Nähe zu Deutschland und daraus resultierende starke Orientierung der lokalen Wirtschaft nach Deutschland und auf deutsche Kunden ins Spiel. Eine Hoffnung der Schulleitung von Schaersvoorde ist auch durch den tto auch bei deutschen Schülern aus dem deutsch-niederländischen Doppeldorf Dinxperlo-Suderwick Interesse für die auf niederländischer Seite gelegene Schule zu wecken. In Winterswijk ist die Nachfrage nach Arbeitskräften mit guten Deutschkenntnissen sehr groß. Die Winterswijker 20

F. Kahnert und H.V. Willkowei: Betekenisvol leren – Bilingualer Unterricht Deutsch in NL öffentliche Schule De Driemark beginnt deswegen auch schon ab der 1. Klasse des vortgezet

onderwijs mit Deutsch. Hier wäre tto an der direkt konkurrierenden Filiale von Schaersvoorde eine gute Möglichkeit, sich in diesem Bereich attraktiv aufzustellen. Nun ist bilingualer Unterricht aber nicht überall erwünscht, geschweige denn geplant. Was sind die Alternativen? Nicht wenige Schulen bieten verstärkten Fremdsprachenunterricht an: versterkt

Engels, versterkt Frans und versterkt Duits. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich lediglich eine höhere Stundenzahl in den genannten Fächern. Das Ziel ist es, einen leichteren Zugang zu Ausbildungen im Ausland zu erhalten. Angesichts der kontinuierlich zurückgehenden Qualität der im traditionellen Fremdsprachenunterricht erworbenen Kenntnisse ist jedoch fraglich, ob eine reine Ausweitung dieser offensichtlich nicht effizienten Methode wirklich zu verbesserten Ergebnissen führen wird. Erfolgversprechender scheint uns die konsequente Befolgung des Prinzips Zielsprache = Unterrichtssprache (doeltaal is voertaal) zu sein. Unsere Eindrücke in Venlo scheinen die Behauptung zu bestätigen, man müsse Dinge von Bedeutung in der Zielsprache tun, um sich die Zielsprache anzueignen. Sprache ist in erster Linie Handeln, könnte man auch formulieren. Grammatische Korrektheit und das Lernen von Regeln sollten dahinter zurückstehen und tun dies auch tatsächlich, wenn man interessante oder angenehme Handlungen in und mit der Sprache ausführt. Schon wenn der Lehrer an der Tafel den Stoff für die nächste Klassenarbeit auf Deutsch erläutert und die Schüler mit Fragen auf Deutsch reagieren, haben beide Seiten etwas Wichtiges mit Sprache gemacht. Eine Übung im Arbeitsbuch, die darin besteht, eine E-Mail an einen imaginären Adressaten zu schreiben, ist abstrakt und wird erfahrungsgemäß als langweilig empfunden. Wer dagegen einem wirklich existierenden deutschsprachigen Korrespondenten eine Mail schreibt, begibt sich in das Miteinander, das unsere Welt konstituiert.

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5. Literatur de Graaf, R. und G.J. Koopman: Didactische richtlijnen bij tweetalig onderwijs. Utrecht 2006. (Einsehbar unter )

Niederberger, Andrea: Zweisprachigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: Deutsch lernen, Heft 3, 2000, S. 213-239.

Otten, Edgar und Manfred Wildhage: Content and Language Integrated Learning. Eckpunkte einer „kleinen“ Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts. In: Otten, Edgar und Manfred Wildhage (Hgg.): Praxis des bilingualen Unterrichts. Berlin: Cornelsen Scriptor, 2003, S. 12-45.

Rymarczyk, Jutta: Kunst auf Englisch? Ein Plädoyer für die Erweiterung des bilingualen Sachfachkanons. München: Langenscheidt-Longman, 2003.

Thürmann, Eike/Otten, Edgar: Überlegungen zur Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien für den bilingualen Fachunterricht", in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, Jg. 3.1992, 39-55 .

Eurydice Nederland. Ministerie van Onderwijs, Cultuur en Wetenschap (Hg.): Het onderwijssysteem in Nederland 2006. Den Haag: Ministerie van OCW, 2006. (Einsehbar unter )

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