ARMUT UND REICHTUM IM LUKASEVANGELIUM

ARMUT UND REICHTUM IM LUKASEVANGELIUM Imre KOCSIS Von den Evangelisten ist es Lukas, der dem Thema Armut und Reichtum die größte Aufmerksamkeit widmet...
Author: Cornelia Keller
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ARMUT UND REICHTUM IM LUKASEVANGELIUM Imre KOCSIS Von den Evangelisten ist es Lukas, der dem Thema Armut und Reichtum die größte Aufmerksamkeit widmet. Das zeigt sich vor allem in der Perikope der Seligpreisungen und Weherufe (6,20–26), in der dem Gegensatz Armen – Reiche besonderer Nachdruck verliehen wird. Darüber hinaus sind auch einige Gleichnisse wichtig, die sich auf den schlechten Gebrauch des Vermögens beziehen (die Parabel vom törichten Reichen: 12,13–21; die Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus: 16,19–31). Ebenso beachtenswert sind die Erzählungen, in denen Jesus aufgrund einer ganz konkreten Situation über Armen und Reichen eine Äußerung macht (der reiche Ratsherr: 18,18–30; Zachäus: 19,1–10; die Gabe einer armen Witwe: 21,1–4). In diesem Aufsatz will ich diese Texte kurz erklären und mich besonders darauf konzentrieren, in welchem Sinn – in der Auffassung von Lukas – die Armut „vorteilhaft” und der Reichtum „nachteilig” ist.1

DIE SELIGPREISUNGEN UND DIE WEHERUFE (6,20—26) Ebenso wie die Bergpredigt bei Matthäus (Mt 5–7) beginnt die Feldrede bei Lukas (6,20–48) mit Seligpreisungen. Aber ihre Zahl ist nicht acht, sondern nur vier. Diesen vier Makarismen sind vier Weherufe gegenübergestellt. Sowohl die Seligpreisungen als auch die Weherufe sind in zweiter Person Plural direkt an die Hörer gerichtet. Die Exegeten sind meistens der Auffassung, dass die vier lukanischen Seligpreisungen schon in der vom Evangelisten benutzten Quelle (Q) in dieser Reihenfolge vorhanden waren.2 Die ersten drei von ihnen bilden eine organische Einheit, weil sie sich auf die Notleidenden beziehen. Die vierte Seligpreisung unterscheidet sich sowohl nach Inhalt als auch nach Länge von den anderen. Sie spiegelt eine andere Situation wider, nämlich die Verfolgungen, die die Jünger erleiden müssen. Mit gutem Grund können wir darauf schließen, dass die vierte Seligpreisung während der

1 Zum Thema „Besitz” bzw. „Armut – Reichtum” sind zahlreiche Monographien erschienen. Vgl. zum Beispiel H.-J. DEGENHARDT, Lukas, Evangelist der Armen. Besitz und Besitzverzicht in den lukanischen Schriften (Stuttgart 1965); J. H. NEYREY, The Social-World of Luke-Acts (Peabody 1991); V. PETRACCA, Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas (Tübingen 2003); H. G. GRADL,

Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leserorientierter und textpragmatischer Perspektive (Würzburg 2005). 2

Diese Einheit wurde von Matthäus mit anderen Seligpreisungen erweitert bzw. zu einer Art Tugendkatalog umgeformt.

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mündlichen Überlieferung unabhängig tradiert und nur ziemlich spät an die anderen drei angeschlossen wurde.3 Die organische Zusammengehörigkeit der ersten drei Seligpreisungen zeigt, dass die Armen im ersten Spruch dieselben sind als die Hungernden und die Weinenden im zweiten und im dritten Makarismus. Das Wort „Arm” bezieht sich also auf Menschen, die der irdischen Güter entbehren, Not leiden und sich in einer ungünstigen Lage befinden. Es ist unbedingt hervorzuheben, dass Jesus in den Seligpreisungen nicht auffordert und keine allgemein gültigen Befehle gibt, sondern proklamiert und verheißt. Der letzte Grund der Seligkeit der Armen ist nicht der Stand der Armut, sondern die Tatsache, dass Gott auf der Seite der Notleidenden steht, ihnen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt und seine heilbringende Herrschaft auf sie ausbreitet. In diesem Punkt ist es nützlich über die Bedeutung des Wortes „arm” bzw. über seine biblische Verwendung etwas zu sagen. Sein griechisches Äquivalent ist ptwco,j, das in der altgriechischen Sprache die völlige Armut bezeichnet. Es bezieht sich auf solc he Personen, die überhaupt keine finanzielle Grundlage besitzen und deshalb aus den Gaben anderer leben. Die Bedeutung des griechischen Ausdrucks ist also „Bettler”.4 In der Septuaginta entspricht ptwco,j meistens dem hebräischen ynI[". Dieser hebräische Terminus bezeichnet grundsätzlich eine Unterordnung und Abhängigkeit. Er bezieht sich nicht nur auf die Besitzlosen, sondern auch auf die Unterdrückten und Entrechteten. Neben dem materiellen und sozialen Bezug hat der Ausdruck in mehreren Stellen des Alten Testaments auch eine religiöse Nuance: der Arme ist sich seiner Notlage bewusst, deswegen setzt er sein ganzes Vertrauen auf Gott und erwartet allein von ihm Hilfe. Im Wortgebrauch des Alten Testaments kann man bezüglich des Wortes wn"[', das mit ynI[" verwandt ist, eine interessante semantische Entwicklung beobachten. Dieses Wort hat immer weniger eine Beziehung zur sozialen Lage und bekommt immer mehr eine religiöse Bedeutung (demütig, fromm; vgl. Ps 25,9; 34,3; 69,33).5 Es stellt sich die Frage, ob in der lukanischen Seligpreisung diese 3 Zur Überlieferungsgeschichte der Seligpreisungen vgl. J. DUPONT, Le beatitudini I (Roma 1976) 299–490; G. STRECKER, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar (Göttingen 21985) 28– 50; J. LAMBRECHT, »Eh bien! Moi je vous dis« Le discours-programme de Jésus (Mt 5–7; Lc 6,20–49) (Lectio divina 125; Paris 1986) 40–55; BOVON, F., Das Evangelium nach Lukas I (EKK III/1; Zürich 1989) 295–297; H. D. BETZ, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Mt 5,5,3–7,23 and Luke 6,20–49) (ed. A. Yarbro Collins), (Minneapolis 1995) 571–589; HIECKE, T. (Hsrg.), The Beatitudes for the Poor, Hungry, and Mourning (Leuven 2001). 4 Zur Bedeutung des Ausdrucks bzw. zu seiner Anwendung in den altgriechischen Schriften und im Neuen Testament vgl. F. HAUCK – E. BAMMEL, art. ptwco,j – ptwcei,a – ptwceu,w, in ThWNT VI (1959) 885–912; H. MERKLEIN, art. ptwco,j – ptwcei,a – ptwceu,w, in EWNT III (1983) 466–472. Im Neuen Testament findet sich auch ein anderes Wort, das „arm” bedeutet: pe,nhj. Dieses Wort bezieht sich auf einen Menschen, der wegen des Mangels an Besitz für seinen Lebensunterhalt stark arbeiten muss. Vgl. F. HAUCK, art. pe,nhj, in ThWNT VI (1959) 37–40. 5 Vgl. J. DUPONT, Beatitudini, 534–539; R. MARTIN-ACHARD, art. hn[ II elend sein, in ThHAT II (1976) 341–350; E. S. GERSTENBERGER, art. hn"[' II, in ThWAT VI (1989), 247–270, besonders 259–269.

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religiöse Bedeutung vorhanden sein könnte. Die Frage ist mit Ja zu beantworten. Wir dürfen nämlich nicht außer Acht lassen, dass vor den Seligpreisungen ein einleitender Satz steht: „Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte” (6,20a). Die Seligpreisungen über die Armen, die Hungernden und die Weinenden sind nicht Aussprüche allgemeiner Art, sondern sind an die Jünger Jesu gerichtet: an solche Personen, die in den vielen Elenden des Lebens in Jesus den Gesandten Gottes erkennen, zu ihm kommen, ihn anhören und von ihm Trost und geistigen Beistand erwarten. Diesen Armen sagt Jesus: „euer ist das Reich Gottes.” Es ist wichtig zu betonen, dass in der zweiten Hälfte der Seligpreisung das Verb im Präsens steht: evsti,n. Die Jünger können in der Person Jesu und in seinem Wirken die Herrschaft Gottes und das Heil konkret erfahren. Natürlich darf man nicht übersehen, dass im zweiten und im dritten Makarismus die Verben der Kausalsätze im Futur stehen. In diesen Sprüchen handelt es sich um eine radikale Veränderung: die in der Gegenwart („jetzt”) Hungernden werden in der Zukunft satt werden, und die in der Gegenwart („jetzt”) Weinenden werden in der Zukunft lachen. Das ist ein Hinweis darauf, dass der letzte Grund der von Jesus verkündeten Seligkeit in der vollendeten Gottesherrschaft und im ewigen Heil besteht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Sattwerden und das Lachen in der zweiten und in der dritten Seligpreisung Symbole des ewigen Heiles sind. Die zukünftige Sättigung weist auf die Teilnahme am eschatologischen Mahl hin. Um dieses Mahl handelt es sich in den prophetischen Texten, die die Endzeit ankündigen (z. B. Jes 25,6; 49,10.13; Ez 34,29) und von diesem Mahl redet auch Jesus in einigen Gleichnissen (vgl. Lk 12,35–40; 14,15–24; 22,30). Das Lachen, das dem Weinen folgen wird, ist kein Ausdruck des Spottes oder der Rache, sondern es ist die natürliche Folge der Erlösung. Wie die selbstverständliche Konsequenz der Befreiung aus dem babylonischen Exil die Freude und das Lachen war (vgl. Ps 126,1–2),6 so wird auch die endgültige Befreiung aus allen irdischen Bedrängnissen Freude und Jubel auslösen (Offb 7,16 f). Den Gegenpol zu den Seligpreisungen bilden die Weherufe, die einer Ausdrucksform der prophetischen Literatur (vgl. Am 5,18; 6,1; Jes 1,4; 5,8–24; 10,5–6; 30,1–2; 33,1; Hab 2,5–20) entsprechen. Die Adressaten der lukanischen Weherufe sind die Reichen, die Satten und die Lachenden, die – wie die Armen, die Hungernden und die Weinenden – zu derselben Gruppe gehören. Auch in diesem Fall wird eine radikale Veränderung des gegenwärtigen Zustandes angekündigt. Freilich wird hier nicht nur der Verlust der irdischen Güter in Aussicht gestellt, sondern auch der Ausschluss vom ewigen Heil. Der Gegensatz zwischen den zum Heil Gelangten und den vom Heil Ausgeschlossenen wird prägnant in den Drohworten von Jes 65,13 formuliert, die ähnliche Gesinnung widerspiegeln wie die lukanischen Weherufe: „Darum – so spricht der Gott, der Herr: Meine Knechte sollen essen, doch ihr leidet Hunger. 6 „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel” (Ps 126,1–2). Die Bibelzitate nehme ich meistens aus der Einheitsübersetzung (Stuttgart, 1980). Einige Stellen aber übersetze ich selbst, um die eigene Art des griechischen Textes besser widerzugeben.

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Meine Knechte sollen trinken, doch ihr leidet Durst. Meine Knechte sollen sich freuen, doch ihr müsst euch schämen.” Es stellt sich die Frage: Warum ist dieses harte Urteil über den Reichen? Wenn wir das Wort „Armen” nicht nur mit wirtschaftlicher und sozialer Lage verbinden, sondern auch mit einer religiösen Haltung, ist es logisch, dass wir auch bezüglich des Wortes „Reichen” Ähnliches tun können. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass im besprochenen Text auf diese religiöse Haltung nicht explizit hingewiesen ist. Deshalb ist es notwendig, auch andere Texte des Lukasevangeliums in Betracht zu ziehen.

GLEICHNISSE VON ARMEN UND REICHEN Das Thema der Armut und des Reichtums steht auch in einigen Gleichnissen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vor allem ist das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus (16,19–31) hervorzuheben, das zu der das ganze 16. Kapitel umfassenden Einheit gehört. In dieser Einheit handelt es sich hauptsächlich um den rechten Gebrauch der materiellen Güter. Es ist auffällig, dass sowohl am Anfang als auch am Ende der Einheit ein Gleichnis steht. Zwischen den zwei Gleichnissen finden sich Sprüche verschiedener Art und verschiedener Tradition. Ein Teil der Sprüche (16,9–13) knüpft sich (als weiterführende Interpretation) an das erste Gleichnis, ein anderer Teil (16,14–15) richtet sich gegen die Habgier der Pharisäer.7 Obwohl es im Gleichnis von 16,1–8 auch um den Gebrauch des Vermögens handelt, bespreche ich es nicht getrennt, weil der Schwerpunkt nicht auf die Armut oder auf den Reichtum, sondern auf die in einer Notlage erwiesene Klugheit liegt. In Bezug auf das Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus (16,19–31) konzentriere ich auch nur auf die Elemente, die das Thema dieses Aufsatzes direkt betreffen. Über die eschatologischen Aussagen reflektiere ich nicht ausführlich.8 Am Anfang der Parabel charakterisiert Jesus den reichen Mann, dessen Reichtum die eleganten Kleidungen und die täglichen Mahlzeiten manifestieren. Die Purpur wurde gewöhnlich für königliche Kleider verwendet (vgl. 1 Makk 8,14) und das Untergewand von Byssus galt als Luxus. Die täglich gehaltenen Festmähler weisen auf völlige Sorglosigkeit hin. Gegenüber dieser prunkvollen Lebensführung des Reichen 7

VV. 16–17 und V. 18 weichen vom Hauptthema ab, denn sie haben keinen Bezug auf den Gebrauch der irdischen Güter. In ihnen handelt es sich um das Gesetz bzw. um die Scheidung. 8 Eine vollständige Erklärung findet sich in den Kommentaren bzw. in den Monographien über die Gleichnisse. Vgl. zum Beispiel J. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu II (Tübingen 1910; Nachdruck: Darmstadt 1963) 617–641; J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu (Göttingen 91977) 133–136; G. EICHHOLZ, Gleichnisse der Evangelien (Neukirchen-Vluyn 31979) 221–228; B. HEININGER, Meta-

phorik. Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergutgleichnissen bei Lukas (NTA 24; Münster 1991) 177–191. Das Gleichnis wird behandelt auch von V. PETRACCA, Gott oder das Geld, 183–200.

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steht die andere Person, die jeder irdischen Freude entbehrt. Er ist besitzlos und ganz arm; sein Körper ist mit Geschwüren bedeckt. Er befindet sich am Ort der Bettler, d. h. am Eingang des Hauses. Zu den verschiedenen physischen Schmerzen kommt noch auch der Hunger hinzu. Er wäre schon mit den Brotstücken zufrieden gewesen, die vom Tisch des Reichen herabgefallen sind, aber sie wurden ihm nie angeboten. Interessanterweise wird während der Vorstellung der Personen kein offenes Urteil gefällt. Die Bewertung wird durch die Erzählung von dem auf den Tod folgenden Schicksal ausgesprochen. Der Reiche kommt in die Unterwelt (a[|dhj), die mit dem Ort der Qual identisch ist. Lazarus dagegen wird von den Engeln in den Schoß Abrahams getragen (16,22). Man sieht hier konkret die Erfüllung dessen, was in den Seligpreisungen als Verheißung ausgesprochen wurde: der arme, hungernde und weinende Mensch gerät in den Zustand des Sattwerdens und der Freude, während der Reiche, der auf der Erde immer satt war und lachte, am Ort der Qual hungert und weint.9 Andererseits können wir schon in der Einleitung des Gleichnisses einige Elemente entdecken, die eine Art Bewertung über die vorgestellten Personen enthalten. Die Tatsache, dass der Bettler am Eingang des Hauses des Reichen stets hungert, ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der Reiche ihm keine Beachtung schenkt. Der reiche Prasser kümmert sich nur um sich selbst und um die seinesgleichen. Er hat überhaupt keine soziale und menschliche Sensibilität. Er denkt nie daran, dem kranken Bettler am Tor irgendeine Hilfe zu leisten. Ein weiteres interessantes Element ist der Name des Armen, weil dieser Name ein Einzelfall in den Gleichnissen Jesu ist. In anderen Parabeln nennt Jesus nie jemanden mit Namen. Diese Tatsache hat einige Exegeten dazu angeregt, im Namen Lazarus einen tieferen Sinn zu suchen. Das aramäische Äquivalent des Namens ist Eleazar, der soviel bedeutet wie „Gott hilft”. Diese Etymologie lässt darauf schließen, dass Jesus mit dem Namen auf die Gesinnung des Armen hinweist. Der Name bringt so zum Ausdruck, dass dieser unglückliche Bettler, den der Reiche völlig ignoriert, allein bei Gott Trost und Beistand sucht und findet.10 Aus dieser Deutung des Namens folgt, dass nicht allein die Armut – der Mangel an irdischen Gütern – der einzige Grund des Heiles ist, das Lazarus nach dem Tod geschenkt wird. Bei der Erlangung des Heils spielte auch die in den Entbehrungen und Leiden fortwährend bestehende Zuversicht auf Gott eine entscheidende Rolle. 9 Zur Geschichte gibt es zahlreiche Parallelen in der Literatur des Altertums. Das bedeutet keine volle Übereinstimmung und schließt die Möglichkeit der jesuanischen Herkunft des Gleichnisses nicht aus. Jesus konnte ohne weiteres bekannte Motive in seine Lehre aufnehmen. Zu den Parallelen vgl. J. JEREMIAS, Gleichnisse, 182; F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas III (EKK III/3; Düsseldorf/Zürich 2001) 115–116; W. ECKEY, Das Lukasevangelium (Neukirchen-Vluyn 2004) 720. Trotz des oben Geschriebenen muss ich anerkennen, dass die Authentizität des Gleichnisses unter den Exegeten umstritten ist. Neben der schon angeführten Literatur vgl. noch R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (Göttingen 1921) 127. 10 So interpretieren W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Lukas (ThHK NT 3; Berlin 1961, 10 1984) 327; G. SCHNEIDER, Das Evangelium nach Lukas II (ÖTK 3/2; Würzburg 1977) 41; I. H. MARSHALL, The Gospel of Luke (NIGTC; Exeter 1978) 635. Im Namen sehen eher eine Verheißung J. ERNST, Das Evangelium nach Lukas (RNT; Leipzig 1983) 321; J. A. FITZMYER, The Gospel accordig to Luke II (AB 28A; New York 1985) 1131; F. BOVON, Lukas III, 120.

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So wird es deutlich, dass das Schicksal nach dem Tod nicht einfach die radikale Umwandlung des sozialen Standes ist, sondern es ist die logische Folge der Erfüllung der Verpflichtung gegenüber Gott, die der Mensch während seines irdischen Lebens zu erweisen hat. Die Tatsache, dass der Reiche seine Verpflichtung nicht erfüllt hatte, stellt sich am Ende des Gleichnisses heraus, als der Reiche inmitten der Qualen erkennt, dass seine Brüder, die genauso leben wie er früher lebte, nicht auf Moses und die Propheten hören, d. h. die Botschaft Gottes missachten. Offenbar nahm der Reiche während seiner irdischen Existenz die gleiche Haltung gegenüber Gott ein. Bezüglich unseres Themas ist auch das Gleichnis vom törichten Reichen (Lk 12,13– 21) wichtig. Hier wird zwar ausdrücklich nur der Reichtum reflektiert, aber die Vergeblichkeit des Vertrauens auf den Besitz wird gerade in diesem Text am deutlichsten hervorgehoben. Das Gleichnis gehört zu einer größeren literarischen Einheit, die das ganze Kapitel 12 umfasst. In dieser Einheit finden sich Reden, die am gleichen Ort ausgesprochen werden und parainetischer Art sind. Das Gleichnis wird in seiner gegenwärtigen Stelle mit einem Dialog verknüpft, den Jesus mit einem nicht näher vorgestellten Mann führt. Dieser hat in einer Erbschaftsfrage um Jesu Hilfe gebeten (12,13–14). In den Fachbüchern sind der Dialog und das Gleichnis oft als eine literarische Einheit (als einziger Abschnitt) vorgestellt. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass das Gleichnis ursprünglich vom Dialog unabhängig war. Die zwei Stücke dürfte Lukas durch den Einschub des Inhalts von V. 15 eng verbinden.11 Neben Spracheigentümlichkeiten12 kann die ursprüngliche Selbständigkeit des Gleichnisses auch mit Hinweis auf das Thomasevangelium unterstützt werden. In dieser apokryphen Schrift sind nämlich das Gleichnis (EvThom 63) und der Dialog (EvThom 72) voneinander unabhängig tradiert. Im vorhandenen Kontext wird Jesus gerade von der Bitte des Gesprächspartners zur Erzählung des Gleichnisses angeregt. Dieser wollte nämlich erreichen, dass Jesus seinen Bruder dazu auffordert, das Erbe zu teilen. Anders als die zeitgenössischen Schriftgelehrten will Jesus aber in solchen Streitfragen weder Richter noch Erbteiler sein. Hinter der Bitte entdeckt er Habgier und mit dem Gleichnis will er gerade auf die Gefahr der Habgier aufmerksam machen. Die Verbindung zwischen dem Dialog und dem Gleichnis wird durch V. 15 hergestellt, in dem Jesus so mahnt: „Gebt acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.” Die Hauptgestalt des Gleichnisses ist ein Grundbesitzer, der vor einer besonders günstigen Ernte steht. Den reichen Ertrag kann er nicht mehr in den vorhandenen Scheunen lagern. In dieser Situation sucht er eine Lösung, durch die er die Früchte für sich behalten kann. Er will die Scheunen abreißen und neue bauen, um die 11 Vgl. A. JÜLICHER, Gleichnisreden, 614–615; J. JEREMIAS, Gleichnisse, 165; F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II (EKK III/2; Zürich/Düsseldorf 1996) 273–274; W. ECKEY, Lukasevangelium, 578. Auch hinsichtlich dieses Gleichnisses wird die jesuanische Herkunft von manchen Auslegern bestritten. Vgl. G. SCHNEIDER, Lukas, 281; B. HEININGER, Metaphorik, 117–118. 12 Vgl. J. JEREMIAS, Die Sprache des Lukasevangeliums (Göttingen 1980) 215.

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Getreide und andere Güter unterbringen zu können. Er meint, dass in dieser Weise alles erledigt wird: Sein Unterhalt wird durch die gefüllten Scheunen gesichert und er kann ohne Sorgen das Leben genießen. Es ist auffällig, dass im Denkhorizont des Reichen weder Gott noch die Mitmenschen irgendeine Rolle spielen. Er spricht mit sich selbst; er allein möchte für sich das ruhige und freudevolle Leben garantieren. Die Pointe des Gleichnisses besteht darin, dass Gott, der nicht in Betracht gezogen wurde, den Monolog des Reichen bricht und seine Pläne vereitelt. Schon die Anrede (a;frwn „Du Narr”) zeigt, wie falsch die vorher veranschaulichte Lebensauffassung war. Gott allein ist der Herr des Lebens. Töricht ist der Mensch, der meint, ohne Gott das irdische Leben sichern zu können (vgl. Ps 14,1). Ebenso töricht ist der Mensch, der vergisst, sterbliches Wesen zu sein. Im Gleichnis teilt Gott dem Reichen mit, dass schon in der nächsten Nacht der vergessene Tod eintreten wird. Der selbstsichere Reiche muss zur Kenntnis nehmen, dass er bald vor dem Gericht Gottes stehen wird. Die Frage – „Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?” (12,20b) – bezieht sich nicht auf das Erbrecht, sondern hebt die Sinnlosigkeit der Auffassung des Grundbesitzers noch stärker hervor. Die irdischen Güter, auf die er sein Leben gründen wollte, werden ihm nach dem Tod völlig unbrauchbar. Das Gleichnis kann also als Entfaltung des Grundprinzips angesehen werden, das in Lk 9,25 formuliert ist: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?” Es ist bemerkenswert, dass dem Gleichnis eine kurze parainetische Deutung folgt, die von den meisten Auslegern zur lukanischen Redaktion zugeschrieben wird.13 Dieser Satz zeigt also auf besondere Weise, wie Lukas den Besitz und den Reichtum beurteilt: „So geht es jedem, der für sich selbst Schätze sammelt und nicht vor Gott reich wird” (12,21). Man muss also vor allem danach trachten, vor Gott (oder auf Gott hin: eivj qeo,n14) reich zu werden.15 Über die konkrete Form dieses Reichwerdens wird im Gleichnis nichts gesagt. An anderen Stellen des Lukasevangeliums findet sich aber ausreichende Information. Schon im Kapitel 12, nicht weit von dem eben besprochenen Gleichnis findet sich eine vielsagende Aufforderung: „Verkauft eure Habe, und gebt den Erlös den Armen! Macht euch Geldbeutel, die nicht zerreißen. Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz” (Lk 12,33–34). Ebenso wichtig ist die Mahnung in 16,9: „Macht euch Freunde mit dem Mammon der Ungerechtigkeit, damit sie euch, wenn er aufhört, in die ewigen Hütten aufnehmen.” Dieses Mahnwort befindet sich nach dem Gleichnis vom klugen Verwalter (16,1–8), auf das ich jetzt (wegen des oben genannten Grundes) nicht eingehen will. 13 Vgl. J. ERNST, Lukas, 271; J. A. FITZMYER, Luke, 971; F. BOVON, Lukas II, 288; W. ECKEY, Lukasevangelium, 578. 14 „Die Präposition eivj bezeichnet hier die Beziehung.” M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT

5; Tübingen 2008) 550. 15 „Das Verb ploutw/ bedeutet «reich sein», aber auch «sich bereichern». Dieser zweite, dynamische Sinn ist es, der hier richtig ist.” F. BOVON, Lukas II, 288.

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Der zitierte Satz regt offensichtlich zur großzügigen Spende irdischer Güter an.16 Der Begriff „Mammon der Ungerechtigkeit” bezieht sich darauf, dass das Vermögen oft mit Ungerechtigkeit verbunden ist. Die Anschaffung und die Benutzung des Besitzes erfolgt nicht selten egoistisch auf Kosten von anderen. Der Nachfolger Jesu muss dagegen die irdischen Güter nicht für eigensüchtige Zwecke, sondern für die Unterstützung der Bedürftigen anwenden. In dieser Weise macht er sich Freunde. Sie sind entweder die unterstützten Armen, die am Tag des Gerichts für die Wohltäter bei Gott Fürsprache einlegen17 oder Gott selbst mit seinen Engeln.18 Die zweite Interpretation halte ich für wahrscheinlicher, weil Gott allein das Recht und die Macht hat, „in die ewigen Hütten” (d. h. in das Reich des Heiles) jemanden aufzunehmen. Die freundliche Aufnahme braucht man, wenn der Mammon „aufhört”, d. h. wenn der Tod eintritt und man endgültig mit dem Vermögen brechen muss. Dieses Mahnwort ist darum beachtenswert, weil es sich nicht auf eine einzige Handlung (auf den einmaligen Verkauf des vollen Besitzes) bezieht, sondern auf eine Haltung, die das ganze Leben prägt.

ANDERE ÄUßERUNGEN ÜBER ARMEN UND REICHEN Von Armen und Reichen, bzw. von Armut und Reichtum wird nicht nur in Gleichnissen und ihren Interpretationen gesprochen, sondern auch in solchen Kontexten, in denen Jesus in einem ganz konkreten Fall eine Äußerung macht. Zuerst führe ich die Erzählung über die Gabe der armen Witwe (21,1–4) an, weil diese Erzählung wieder eine offene Gegenüberstellung enthält. Die Perikope hat eine Parallele im Markusevangelium (11,41–44). Lukas hat ja gerade den Text von Markus als Quelle benutzt. Als Lukas diese kleine Geschichte in sein Buch aufnahm, machte er offenbar, dass sie und die darin erhaltenen Worte Jesu eine wichtige Botschaft auch für die Leser vermitteln, die er unmittelbar vor Augen hielt. Im Tempel von Jerusalem beobachtet Jesus, wie die Reichen ihre Gaben in den Opferkasten hineinwerfen.19 Unter den Spendern erblickt er auch eine arme Witwe, die nur zwei Lepta (zwei kleine Münzen) schenkt. Auf diese minderwertige Gabe bezieht sich das Urteil Jesu: „Wahrhaftig, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss geopfert; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat ihren ganzen 16

Sehr wahrscheinlich war der Spruch ursprünglich unabhängig vom Gleichnis. Vgl. J. JERE-

MIAS,

Gleichnisse, 43; F. BOVON, Lukas III, 73. 17 So meinen z. B. J. ERNST, J., Lukas, 315; F. BOVON, Lukas III, 80. 18 Diese Ansicht vertreten z. B. G. SCHNEIDER, Lukas, 335; W. ECKEY, Lukasevangelium, 703; M. WOLTER, Lukasevangelium , 550.

19 Der Opferkasten war am Eingang des Vorhofes der Frauen aufgestellt. Bevor man die Gabe in den Opferkasten einwarf, musste das Geld dem diensttuenden Priester zur Kontrolle überreicht und der Zweck der Angabe mitgeteilt werden. Vgl. H. L. STRACK – P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II (München 1924) 38–41.

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Lebensunterhalt hergegeben” (21,3–4). Die Gegenüberstellung ist eindeutig: die Reichen haben etwas gespendet, die Witwe hingegen hat alles gegeben. Ihr Opfer ist ein Zeichen der Selbstlosigkeit und des Vertrauens auf Gott, und deshalb überragt qualitativ die Gaben der Reichen. Am Ende des zitierten Satzes steht das Substantiv bi,oj, das doppeldeutig ist: „Leben” bzw. „Lebensunterhalt”.20 Die doppelte Bedeutung hat einen tiefen Sinn an dieser Stelle: dadurch, dass die arme Witwe ihren ganzen Lebensunterhalt Gott gab, legte sie ihr ganzes Leben in die Hand Gottes. Sie hat auf alles verzichtet, um vor Gott reich zu werden (vgl. 12,21). Aufgrund dieses Textes wird es offensichtlich, dass die Lage der Armut nur dann wertvoll genannt werden kann, wenn sie von der Sehnsucht nach dem Reichwerden vor Gott begleitet ist, d. h. wenn die Armen grundsätzlich danach trachten, ihr Leben von Gott erfüllen zu lassen. Jetzt können wir auf Texte konzentrieren, in den die Reichen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Vor allem kann man hier die Erzählung vom führenden Reichen (Lk 18,18–30) erwähnen, die alle drei synoptischen Evangelien enthalten. Der lukanische Abschnitt (wie auch die synoptischen Parallelen) besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil (VV. 18–23) findet man einen Dialog zwischen Jesus und einem führenden Reichen, dessen Identität nicht näher beschrieben wird. Der Dialog endet mit einer erfolglosen Berufung: der Gesprächspartner Jesu kann sich von seinem Vermögen nicht losreißen, noch die Nachfolge des Meisters mit vollem Lebensund Schicksalsgemeinschaft antreten. Der zweite Teil (VV. 24–30) enthält verschiedene Sprüche, die sich auf die Heilsmöglichkeit der reichen Menschen bzw. auf den Lohn des Verzichts beziehen. Den Inhalt des Abschnittes hat Lukas auch diesmal vom Markusevangelium (10,17–31) übernommen. Am Text hat er keine wesentliche Änderung vollzogen. Es ist aber sehr bemerkenswert, dass in der lukanischen Version der Reiche nach der erfolglosen Berufung nicht weggeht (vgl. Mk 10,22) und deshalb auch er die Äußerung Jesu über die Reichen hört. Uns interessiert besonders diese Aussage, die nach 18,24 direkt an den führenden Reichen gerichtet ist: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt” (18,24–25). Der Spruch über das Kamel und das Nadelöhr enthält ein seltsames Bild. Jesus stellt das größte Tier von Palästina der kleinsten Öffnung gegenüber und deutet so an, dass es einem Reichen nicht nur schwer, sondern praktisch unmöglich ist, in das Reich Gottes einzugehen. Das Bild ist gerade in seiner Radikalität ausdrucksvoll und aufrüttelnd. Deswegen ist jedes Bemühen unangemessen, das auf die Rationalisierung des Bildes oder auf die Abschwächung der Schärfe der Aussage gerichtet ist. Statt „Kamel” (ka,mhloj) ist in einigen griechischen Handschriften (S f 13) „Schiffstau” (ka,miloj) zu lesen. So stehen „Kamel” und „Schiffstau” einander gegenüber. Auch in diesem Fall drückt das Bild etwas Unmögliches aus, aber die Gegenüberstellung scheint logischer zu sein als in Bezug auf das Kamel und das Nadelöhr. Nach einigen Auslegern sei „Nadelöhr” der Name eines engen Tores von Jerusalem, durch das ein 20

Vgl. W. BAUER, Wörterbuch zum Neuen Testament (Berlin–New York 1971) 281.

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Kamel nur lastenfrei durchziehen konnte. Aber ein Tor namens „Nadelöhr” kommt weder in der Bibel noch in den außerbiblischen Schriften des Judentums vor. Die Exegeten lehnen heutzutage diese abschwächenden Erklärungen einstimmig ab.21 Die entsprechende Überraschung der Anwesenden kommt in der Form einer Frage zum Ausdruck: „Wer kann dann noch gerettet werden?” (18,26). Hinter der Frage steht der Gedanke, dass in bestimmtem Maß jeder Mensch an die irdischen Güter gebunden ist. In seiner Antwort weist Jesus auf die Macht Gottes hin: „Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich” (18,27). Gott kann auch für die Reichen die Bedingung des Heils entstehen lassen. Die Aussage, die im Vergleich zu dem vorigen Ausspruch mildernd wirkt, will keinesfalls zu Indifferenz anregen. Sie macht einfach bewusst, dass die Loslösung vom Vermögen letzten Endes Wirkung der Macht Gottes ist. Die Tatsache, dass die Macht Gottes wirklich imstande ist, einen Reichen zur Umkehr zu bewegen, wird in der Geschichte von Zachäus (Lk 19,1–10) beispielhaft bestätigt. Diese Geschichte findet sich nur bei Lukas. Auf das großzügige Angebot Jesu, in das Haus von Zachäus als Gast einzukehren, antwortet der Hauptzöllner folgendermaßen: „Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück” (Lk 19,8). Was Zachäus hier ausspricht, ist ganz ungewöhnlich. „Die Hingabe des halben Vermögens geht über die von jüdischen Gesetzeslehrern geforderte Leistung (20 % als erste Leistung, dann jährlich 20 % der Einkünfte) weit hinaus. Gleiches gilt auch für die Rückerstattung von unrechtmäßig angeeignetem Gut in vierfacher Höhe (das Gesetz schreibt einfache Erstattung plus 1/5 des Wertes vor [Lev 5, 20–24]).”22 Es darf nicht unbeachtet bleiben, dass am Anfang des Abschnittes das Bemühen von Zachäus, Jesus zu sehen, hervorgehoben wird. Um sein Ziel zu erreichen, schreckt er sich nicht einmal vor einer wagemutigen Tat zurück: er steigt auf einen Maulbeerfeigenbaum. Was ihn dazu bewegen haben könnte, sagt der Evangelist nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Hauptzöllner seine Vergangenheit für bedrückend empfindet – aber das ist nur eine Vermutung. Zweifellos zeigt er sich aber gegenüber Jesus sehr offen. Man darf sogar auch so formulieren: Zachäus ist offen derjenigen Person gegenüber, in der die befreiende Macht Gottes konkret zu erfahren ist. Diese Offenheit macht ihn dazu fähig, auf das Angebot Jesu sofort positiv zu antworten: nicht nur dadurch, dass er Jesus in sein Haus aufnimmt, sondern auch dadurch, dass er von seinem Vermögen frei wird. Von besonderer Bedeutung ist der Spruch Jesu in V. 9: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.” Aufgrund 21 Vgl. J. A. FITZMYER, Luke, 1204 f. Auch in der rabbinischen Literatur finden sich solche hyperbolischen Ausdrücke, in denen aber das Nadelöhr einem Elefant gegenübersteht. Nach Rabbi Samuel Nahmani spiegeln die Träume die Gedanken des Herzens. So sah man nie einen Menschen, der davon träumte, dass ein Elefant durch ein Nadelöhr geht. Vgl. F. BOVON, Lukas III, 236 (Anmerkung 39). Zu anderen Beispielen vgl. H. L. STRACK–P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I (München 1922) 828. 22 J. ERNST, Lukas, 348.

ARMUT UND REICHTUM IM LUKASEVANGELIUM

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der Parallele in V. 5 – „Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein” – steht es außer Zweifel, dass das Heil grundsätzlich mit der Gegenwart Jesu identisch ist. Der Satz von V. 9 ist eine Antwort sowohl auf die Empörung der Volksmenge als auch auf das Versprechen von Zachäus. So wird es ganz eindeutig: die Umkehr von Zachäus ist nichts anderes, als volle Hinwendung zu dem Heil, das in Jesus Christus konkret gegenwärtig und erfahrbar wird. Darüber hinaus ist die Umkehr des Hauptzöllners ein anderes Beispiel dafür, was „vor Gott reich zu werden” konkret bedeutet (vgl. 12,21).