Technische Universit¨at M¨ unchen Zentrum Mathematik Prof. Dr. J. Hartl

SS 2015 Blatt 4

Angewandte Geometrie

1. Ein Kind l¨auft einen geradlinigen Weg entlang und zieht an einer Schnur ein (seitlich des Weges befindliches) Spielzeug hinter sich her. Man bestimme die Bahnkurve des Spielzeugs (Traktrix, Schleppkurve oder Hundekurve). L¨ osung: Tafelskizze: x1 x2 -Koordinatensystem, Hund auf x2 -Achse im Abstand a vom Ursprung O, Kind im Ursprung. Die Hundekurve n¨aherungsweise konstruiert, wenige Konstruktionsschritte ausgef¨ uhrt. Erreicht wird ein Punkt X(s) mit Koordinaten (x1 (s), x2 (s)). Die Tangente an die Hundekurve im Punkt X(s) schneidet die x1 -Achse unter einem Winkel α in einem Punkt, der von X(s) den Abstand a hat. L¨ange a konstant. x1 (s) ≥ 0, x2 (s) > 0. x1 (s) + ax01 (s) = f (s), (1) x2 (s) + ax02 (s) = 0. (2) 02 x02 1 + x2 = 1 (3)

Das KS ist so gew¨ahlt, dass gilt: x01 > 0, x02 < 0. (2) ⇒ x02 = −

x2 (3) 02 x22 ⇒ x1 + 2 = 1 ⇒ a a

r x01 = ⇒ f (s) = x1 (s) +

p

1−

x22 a2

(4)

a2 − x22

(Das h¨atte man aber auch mit dem Pythagoras sehen k¨onnen!)

(2) ⇒

x02 1 s = − ⇒ ln x2 = − + ln a ⇒ x2 a a

s

x2 = a · e − a (4)



Z sq 2σ 1 − e− a dσ x1 = 0

Fertig! Aber k¨onnen wir noch mehr herausfinden? x2 = a · sin α (α Winkel von ~x 0 gegen eine feste Gerade ⇒ α0 = κ) s ⇒ sin α = e− a s ⇒ cos α · α0 = e− a · (− a1 ) ⇒ s

− 1 · e− a κ=α = pa 2s 1 − e− a 0

Bem.: Das Integral

Z sq 2σ x1 = 1 − e− a dσ 0

findet man im Bronstein nicht (zumindest nicht in der Auflage, in der ich nachgeschlagen habe). Aber nach Bronstein gilt f¨ ur die Traktrix: x1 = a ln



p q a2 − x22 ∓ a2 − x22 x2

F¨ ur x2 = a erh¨alt man f¨ ur das obere wie f¨ ur das untere Vorzeichen x1 = 0. Da x2 > 0 ist, gilt: F¨ ur x2 → 0 erh¨alt man f¨ ur das obere Vorzeichen x1 → ∞, f¨ ur das untere Vorzeichen x1 → −∞. (Der Z¨ahler des Bruches unter dem ln geht beim oberen Vorzeichen gegen 2a > 0; beim unteren Vorzeichen liefert die Regel von L’Hˆopital f¨ ur den Bruch den Grenzwert 0.) F¨ ur unsere Kurve ist also das obere Vorzeichen zu nehmen. Damit haben wir gefunden: p Z sq q a + a2 − x22 2σ − a 1−e dσ = a ln − a2 − x22 x2 0 p s q a + a2 − (a · e− a )2 s = a ln − a2 − (a · e− a )2 − as a·e p q 2s 1 + 1 − e− a 2s = a · [ln − 1 − e− a ] − as e q q s 2s 2s = a · [ln(e a + e a − 1) − 1 − e− a ], ein kleines Nebenergebnis.

2. Sei c die Kurve in E 2 mit der Parameterdarstellung  ~x(t) :=

x(t) y(t)



 :=

2ρ cos(t) − ρ cos(2t) 2ρ sin(t) − ρ sin(2t)

 (t ∈ [0, 2π])

Die Kurve c heißt eine Kardioide. a) Man gebe die Bogenl¨ange s von c als Funktion des Kurvenparameters t an und bestimme die Gesamtl¨ange L der Kurve c. L¨ osung:  ~x(t) = 2ρ

cos t sin t



 −ρ

cos 2t sin 2t



Die Kardioide ist offenbar eine spezielle Radlinie. Skizze!    − sin t − sin 2t · 2 −ρ = cos t cos 2t · 2     − sin t sin t cos t + sin t cos t = 2ρ · ( + )= cos t − cos t cos t + sin t sin t       − sin t − sin t cos t = 2ρ · ( − cos t · + sin t · )= cos t cos t sin t     cos t − sin t = 2ρ · sin t · + 2ρ(1 − cos t) · . sin t cos t ~x˙ (t) = 2ρ



~x˙ 2 = 4ρ2 · (sin2 t + (1 − cos t)2 ) = 4ρ2 · 2 · (1 − cos t) = t t = 8ρ2 · (1 − (1 − 2 sin2 ( ))) = 16ρ2 sin2 ( ) 2 2 Z tq Z t τ 2 ˙ s(t) = ~x(τ ) dτ = 4ρ sin( )dτ = 2 0 0 τ t t = −8ρ[cos ]t0 = −8ρ(cos − 1) = 8ρ(1 − cos ) 2 2 2 Also:

t s(t) = 8ρ(1 − cos ) 2 L = s(2π) = 8ρ(1 − cos π) = 16ρ

Bem.: Die Kurve c l¨asst sich explizit auf ihre Bogenl¨ange s beziehen: s s = 8ρ(1 − cos 2t ) ⇒ 8ρ = 1 − cos 2t ⇒ cos 2t = 8ρ−s ⇒ 8ρ t = 2 arccos

8ρ − s 8ρ

b) Man errechne die Kr¨ umung κ von c in Abh¨angigkeit von der Bogenl¨ange s und von dem Parameter t und ermittle die Gesamtkr¨ ummung K der Kardioide. Wie groß ist die Kr¨ ummung der Kurve c in ihrem Scheitelpunkt? L¨ osung: Da die Ableitung nach der Bogenl¨ange s nicht einfach zu berechnen ist, ermitteln wir zuerst: κ(t) =

det(~x˙ , ~x¨) |~x˙ |3

   cos t − sin t + 2ρ · sin t · + sin t cos t     − sin t − cos t 2ρ sin t · + 2ρ(1 − cos t) · = cos t − sin t     cos t − sin t = 2ρ · (2 cos t − 1) · + 4ρ sin t · sin t cos t ~x¨ = 2ρ · cos t ·



   cos t − sin t + 2ρ(1 − cos t) · , sin t cos t     cos t − sin t 2ρ · (2 cos t − 1) · + 4ρ sin t · = sin t cos t

det(~x˙ , ~x¨) = det(2ρ · sin t ·



8ρ2 sin2 t + 4ρ2 (1 − cos t)(1 − 2 cos t) = 8ρ2 sin2 t + 4ρ2 − 12ρ2 cos t + 8ρ2 cos2 t = 12ρ2 (1 − cos t) Damit ist κ(t) =

12ρ2 (1 − cos t) 3(1 − cos t) det(~x˙ , ~x¨) = = 3 t 64ρ3 sin 2 16ρ sin3 2t |~x˙ |3

Um κ(s) angeben zu k¨onnen, ermitteln wir zun¨achst cos t und sin 2t als Funktionen von s. Bekanntlich ist cos arccos x = x ∀x. Zum √ Beispiel anhand einer einfachen Figur erkennt man: sin arccos x = 1 − x2 , zumindest wenn — wie hier — das Argument der Sinusfunktion ∈ [0, π].

cos t = cos(2 · arccos (

8ρ − s 8ρ − s 8ρ − s ) = cos2 arccos − sin2 arccos = 8ρ 8ρ 8ρ

8ρ − s 2 8ρ − s 2 8ρ − s 2 ) − (1 − ( ) )=2·( ) −1 8ρ 8ρ 8ρ

t 8ρ − s sin = sin arccos = 2 8ρ damit ist κ(s) =

r 8ρ − s 2 1−( ) 8ρ

)2 ) 3 · 2(1 − ( 8ρ−s 3 8ρ q q 3 = 8ρ 1 − ( 8ρ−s )2 )2 16ρ 1 − ( 8ρ−s 8ρ 8ρ

Die Gesamtkr¨ ummung K der Kardioide berechnet man der Einfachheit RL halber nicht als 0 κ(s)ds. Man u ¨berlegt sich – zum Beispiel anhand einer einfachen Skizze – dass sich der Tangentenvektor der Kurve bei einem Umlauf um 3π linksherum dreht. Damit ist K = 3π. Die Kr¨ ummung der Kardioide in ihrem Scheitel ist der Kehrwert des Kr¨ ummungsradius und dient zum Beispiel dazu, die Kurve realistischer skizzieren zu k¨onnen. Es ist κ(π) =

3 3·2 = . 16ρ 8ρ

Hier muss dazugesagt werden, dass π ein Wert von t und nicht von s ist. Man kann auch – in kaum missverst¨andlicher Weise – schreiben: κ(s = 8ρ) =

3 . 8ρ

c) Welchen Fl¨acheninhalt F besitzt das von c eingeschlossene Gebiet? Lo ¨sung:

1 F = 2

Z



det(~x, ~x˙ ) dt

0

Um die Determinante einfacher zu k¨onnen, stellen wir auch ~x    berechnen  cos t − sin t dar in der Basis , . sin t cos t     cos t cos 2t ~x(t) = 2ρ −ρ = sin t sin 2t     cos t cos t − sin t sin t cos t 2ρ −ρ = sin t sin t cos t + sin t cos t     cos t − sin t ρ(2 − cos t) − ρ sin t sin t cos t Damit ist    cos t − sin t − ρ sin t , ~x˙ ) = sin t cos t     cos t − sin t = det(ρ(2 − cos t) − ρ sin t , sin t cos t

det(~x, ~x˙ ) = det(ρ(2 − cos t)



 2ρ · sin t ·

cos t sin t



 + 2ρ(1 − cos t) ·

− sin t cos t

 )=

= ρ(2 − cos t)2ρ(1 − cos t) + ρ sin t2ρ sin t = = 2ρ2 (2 − 3 cos t + cos2 t + sin2 t) = 6ρ2 (1 − cos t). Damit ist 1 F = · 2 da

R 2π 0



Z

det(~x, ~x˙ ) dt =

0

Z



3ρ2 (1 − cos t) dt = 6πρ2 ,

0

cos t dt = 0.

3. F¨ ur eine regul¨are C 2 -Kurve c in E 3 mit der Parametrisierung ~x(t), (t ∈ I :=]a, b[) mit ∅ = 6 I ⊂ R, gelte ~x˙ (t) × ~x¨(t) = ~o f¨ ur alle t ∈ I. Zeigen Sie: c ist in einer Geraden enthalten. L¨ osung: Aus 1. Semester Bachelor: ~v × w ~ = ~o ⇔ {~v , w} ~ l.a. (= linear abh¨angig) c regul¨ar ⇒ ~x˙ (t) 6= ~o. Aus ~x˙ (t) × ~x¨(t) = ~o folgt also: ~x¨(t) = λ(t) · ~x˙ (t) mit einer auf I stetigen Funktion λ. Die Substitution p~ := ~x˙ f¨ uhrt daher auf die lineare Differentialgleichung erster Ordnung p~˙ = λ · p~. Das sind drei skalare Differentialgleichungen mit jeweils bekannter L¨osung. Die drei L¨osungen kann man zusammenfassen in dem Ausdruck: p~(t) = e

Rt t0

λ(τ ) dτ

p~0 =: f (t) · p~0 .

Dabei ist t0 ∈ I beliebig gew¨ahlt, und in p~0 stehen drei beliebige Integrationskonstanten, die aber nicht alle drei zugleich verschwinden. Aus ~x˙ (t) = f (t) · p~0 erh¨alt man ~x(t) := F (t) · p~0 + ~x0 . Dabei ist F eine beliebige Stammfunktion von f , und in ~x0 stehen drei beliebige Integrationskonstanten. Folglich liegt c auf der Geraden mit der Parameterdarstellung ~x := v · p~0 + ~x0 , v ∈ R. 4. F¨ ur a) n = 2, c regul¨ar, b) n = 2, c nicht notwendig regul¨ar,

c) n ≥ 3, c regul¨ar beweise oder widerlege man die folgende Behauptung: Sind A, B zwei verschiedene Punkte der C 1 -Kurve c in E n , so besitzt c einen zwischen A und B gelegenen Punkt mit zur Sehne AB paralleler Tangente. L¨ osung:

a) Aus dem 1. Semester Bachelor kennt man den Mittelwertsatz der Differentialrechnung: Seien a, b ∈ R, a < b, f : [a, b] → R differenzierbar auf ]a, b[ und stetig auf [a, b]. Dann gilt: Es gibt ein ξ ∈]a, b[ mit f 0 (ξ) =

f (b) − f (a) . b−a

Ist also c der Graph einer Funktion, so gilt die Behauptung nach dem MWS der Differentialrechnung. Bew. der Behauptung: Ist c nicht notwendig Graph einer Funktion, so besitzt c eine Parameterdarstellung ~x(t), t ∈ I ⊃ [a, b] mit X(a) = A, X(b) = B. Die Gerade AB besitzt eine Gleichung der Gestalt ~n ·~x −d = 0 mit ~n 6= ~o. Die Funktion f (t) := ~n · ~x(t) − d besitzt die Eigenschaften (i) f ist stetig differenzierbar auf [a, b]. (ii) f (a) = 0 = f (b). Nach dem MWS der Diffentialrechnung gibt es also ein t0 ∈]a, b[ mit 0=

0−0 f (b) − f (a) = = f˙(t0 ) = ~n · ~x˙ (t0 ). b−a b−a

Da c regul¨ar ist, ist ~x˙ (t0 ) 6= ~o, also die Tangente von c an der Stelle t0 parallel zu AB. b) Gegenbeispiel: Ist  c : ~x(t) :=

t3 t2





3t2 2t

,

t ∈ R,

so ist kein Tangentenvektor ~x˙ (t) :=



parallel zur x1 -Achse, außer an der Stelle t = 0, f¨ ur die keine Tangente definiert ist. Die zwei Punkte X(−t) und X(t) besitzen jedoch f¨ ur t 6= 0 die horizontale Tangente x2 = 2t.

c) Gegenbeispiel: Die Schraublinie 

 cos t c : ~x(t) =  sin t  , t

t ∈ R,

besitzt Tangentenvektoren 

 − sin t ~x˙ (t) =  cos t  , 1 die alle nicht parallel sind zur x3 -Achse. Die beiden Punkt X(t) und X(t + 2π) besitzen jedoch eine Verbindungsgerade, die parallel ist zur x3 -Achse.

Das erste Kamel einer Karawane h¨alt alle auf; das letzte bekommt die Pr¨ ugel. ¨ Aus Athiopien