Manuskript DOKUMENTATION UND FEATURE
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LAND UND LEUTE
Sonntag, 9. April 2017 (2. Teil) 13.05 - 13.30 Uhr / Bayern 2
REIHE LAND UND LEUTE Der Kraudn Sepp z’Goaßa (2) Eine Isarwinkler Musiklegende Von Barbara Doll Erzählerin: Marlen Reichert An-/Absage: Peter Weiß
Ton und Technik: Cordula Wanschura Regie und Redaktion: Heidi Wolf
Originaltöne: Benedikt Trischberger, Sepp Kloiber, Stofferl Well, Carl Ludwig Reichert, Afra Kriss, Thomas Rest, Maxi Pongratz, Toni Klee
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–2– MUSIK: Kraudn Sepp – Fünf Minuten später (Die Marie schreibt einen Liebesbrief)
OT 1 Stofferl Well Am Menschen wia am Kraudn Sepp, glab i, der hat se wirklich ned den Kopf gmacht, ob des jetzt, was er macht, echte Volksmusik ist. Oiso, der war vui z’schlau und vui z’frei vom Kopf her, dass er sich da selber gängelt hätt. Der hat des gmacht, was er gern gmacht hat.
MUSIK hoch (In einem Tölzer Schuhsalon)
OT 2 Stofferl Well Der hod a so a lustige rechte Hand ghabt. Oiso, diese rechte Hand hat mi ois Kind scho so fasziniert, i hob oiwei auf die Hand gschaut – weil bei da Zither: Du spuist mim kloana Finger an Kontrabass, und jetzt hod dieser Kraudn Sepp – dieser kloane Finger hod a so a Biegung ghabt, dem is a irgendwann amoi obbrocha, und der is aber genau im richtigen Winkel so schräg wegga gstandn, des letzte Fingerglied vom kloana Finger. I war ois Kind fasziniert. Und manchmoi hod a a wirklich an Kontrabass damit gspuit. MUSIK: Robert Johnson – Come on in my kitchen
Darüber Ansage: Der Kraudn Sepp z’Goaßa Eine Isarwinkler Musiklegende Ein Zweiteiler zum 40. Todestag Von Barbara Doll Heute: Teil 2
ERZÄHLERIN Der Tod seiner Frau Anna im Jahr 1964 wirft den Kraudn Sepp völlig aus der Bahn. Sie war es, die den Alltag auf dem kleinen Kraudn-Hof organisiert hatte. Sie war über 40 Jahre lang der Kopf des Gaißacher Sänger- und Zitherquartetts gewesen. Sie hatte ihn musikalisch weitergebracht. Nach ihrem Tod übergibt er das Anwesen an seine Nichte
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und zieht sich von der Arbeit zurück. Er lebt in einer kleinen Kammer auf dem Hof. Über ein Jahr rührt er seine Zither nicht mehr an und geht nicht mehr unter die Leute.
ERZÄHLERIN Als er nach einer Operation im Krankenhaus liegt, bringt ihm ein Freund seine Zither vorbei – und von da an geht es bergauf. Der Kraudn Sepp geht von Zimmer zu Zimmer und spielt den Patienten vor. Er hat seine Form der Kommunikation wiedergefunden: die Musik. Sein zweites Leben beginnt. MUSIK: Kraudn Sepp – Glockenspiel
ERZÄHLERIN Wieder vom Krankenhaus daheim, spielt er bald im Gaißacher Lindnstüberl. Seine Lieder und seine Art des Vortrags kommen gut an. Die Leute wollen noch eins und noch eins hören – und geben ihm die Bestätigung, die ihm seit dem Tod seiner Frau gefehlt hat. Sepp Kloiber, der Großneffe vom Kraudn Sepp:
OT 3 Sepp Kloiber I konn ma guad vorstelln – er hod ja zerscht oiwei mit seiner Frau Musi gmacht und na is die nimmer do. I denk, dass des scho a guads Ventil is, dass’d hoi na alloa a Musi macha konnst, ge. Und i glab, alloa geht’s hoid am beschdn, wennst no singst. MUSIK: Kraudn Sepp – Ja, meine liaben Leitl
ERZÄHLERIN Innerhalb kürzester Zeit macht der Kraudn Sepp eine Wandlung durch, die seine Umgebung nicht wenig verblüfft. Früher war er so gut wie nie im Wirtshaus. Jetzt sitzt er jeden Tag dort, spielt Zither und singt wilde Lieder und Gstanzl. Er sehnt sich nach Gesellschaft und Applaus. Aus dem einst so braven Bauern wird so etwas wie ein fahrender Sänger.
MUSIK hoch
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ERZÄHLERIN Bald hat der Kraudn Sepp seine festen Stationen in Bad Tölz und Umgebung: die Quellen-Wirtschaft, den Zantl und den Wienerwald, das Lindnstüberl, den Zachschuster. In seinen Haupt-Wirtschaften hat er jeweils eine Zither deponiert. Anfangs fährt er von Gaißach aus noch mit dem Radl ins drei Kilometer entfernte Bad Tölz. Dann lernt er den Würmseer Hans kennen, einen Tölzer Gitarristen. Sepp Kloiber und Benedikt Trischberger, Großneffe und Neffe vom Kraudn Sepp, erinnern sich.
OT 4 Sepp Kloiber/Benedikt Trischberger (Kloiber) Wos i woaß, wo ma hoid Buam warn, dass der jedn Dog um oans kemma is… (Trischberger) Pünktlich, ge? (Kloiber) …jedn Dog um oans und hodn obghoid. Mim Auto. MUSIK: Kraudn Sepp – Handwerker-Lied
ERZÄHLERIN Sepp Kloiber, dessen Mutter das Kraudn-Anwesen geerbt hatte, lebt damals mit dem Kraudn Sepp unter einem Dach, schildert dessen tägliches Morgenritual:
OT 5 Sepp Kloiber Da Kraudn Sepp is in da Friah oiwei um neine aufgstanna – wenn ma hoid koa Schui ghabt ham, na hamma des ja erlebt – nacha von seiner Kammer in d’Kuche, und na hod a hoid so sei Muichsubbn gessn. Des war a Muich mit Haut, am Herd, de hod a dann in a Deller eine, und na hod a a Bris Soiz, und a Brot eibrecked, und a bissl an Butter. Des war’s. Des war sei ganz Frühstück. Und na hod a oiwei sein eigena Leffe ghabt, des war so a blecherner Leffe – und des woaß i no, weil i oiwei denkt hab: Naja, is scho jetza ganz eigen, den hod a obgschleckt und wieder an Schublan eine. Oiso ned obspuin lossn, sondern hod einfach glei wieda an Schublan eine. Weil des war ja seiner. So ganz appetitlich war’s jetz ned. Aber mei, wia’s hoid einfach vorher so war, so war’s hoid do a no.
ERZÄHLERIN Jeden Mittag holt ihn der Würmseer Hans ab und kutschiert ihn ohne Voranmeldung zu den Wirtschaften. Der Kraudn Sepp setzt sich einfach hinein und spielt. Die neue Lebensgestaltung des Kraudn-Bauern – der schon knapp 70 ist, als er auf die sogennante
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OT 6 Benedikt Trischberger Mei Vadda hod einfach des ned eigseng, dass ma für an jedn, der wo do dositzt, do seine Liada vortragt oder des, wos ma konn, singt. Wenn, nacha scho, wenn ma glodn is oder wenn’s oan eiladn oder so, nacha samma do, so ungefähr. Aber ned, wenn einfach bloß do eine hocka so – des hod eher so nach Bettelmusikant ausgschaut. Früher hat’s ja so Bettelmusikanten gebm, de wo ums Geid gsunga und gspuit ham, des hod ja da Sepp ned gmoant. MUSIK: Kraudn Sepp – Freundal, kennst Du das Haus
ERZÄHLERIN Wenn der Kraudn Sepp im Wirtshaus aufspielt, geht es ihm nie um Geld, und er ist auch kein Wirtshausbruder. Er setzt den genügsamen Lebensstil fort, den er schon als Bauer auf dem Kraudn-Hof gelebt hatte. Regelmäßig spielt er in der Quellen-Wirtschaft in Sauersberg, einem Ortsteil von Wackersberg bei Bad Tölz. Die „Quelln“ war 25 Jahre lang der Treffpunkt der Isarwinkler Musikszene. Der Klee Toni, der ehemalige Wirt, erinnert sich noch gut an seinen damaligen Stammgast.
OT 7 Toni Klee Er hod, muass sagn, nia was drunga richtig. Der wenn kemma is, na hod a oiwei: „ein Kleines“ – des war a kloans Bier, und do hod a nachad hizuzelt nachanand. Unkomplizierter Mensch. Er had mit am jedn umgeh kemma – i wissad ned, dass er moi mit irgendwem gstrittn hätt oder wos. Oder dass a moi an Rausch ghabt hätt oder wos, nix. Des war einfach a guada Mo. Koane Hemmungen. Der Bundespräsident war a paar moi da, da Weizsäcker, der had ja in Wackerschberg drobn gwohnt – is a hoid amoi kemma, wia da Kraudn Sepp a do war. Ja, die ham do dischkriert mitanand, wia wenn’s scho lang gnua beinand warn.
–6– MUSIK: Kraudn Sepp – Freundal, kennst Du das Haus (Eine alte Kupplerin)
ERZÄHLERIN Unter den jungen Volksmusikanten im Isarwinkel wird der Kraudn Sepp zum Geheimtipp. Sein scheinbar unendliches Repertoire an Liedern und Gstanzln fasziniert sie, und er musiziert mit jedem, der Lust hat. Auch Stofferl Well, der Jüngste aus der großen MusikerFamilie, hat ihn als Bub bei einem gemeinsamen Auftritt erlebt.
OT 8 Stofferl Well Es war so lustig, er hod a Pfannakuchasuppn gessn, davor, und mir san so eam gegenüber ghockt, Bärbi, mei Schwester, i und der Karli, und der Kraudn Sepp leffed und leffed und schlabbert so bissl über sei Bartal dann de Suppn wieder eini in Deller, und irgendwann hod er na gsagt: „A, do, Madl, iss zam!“, zur Bärbi. As Spülwasser von seim Bart praktisch… Virginia hod a a graucht, des hod a no a bsonders Gschmäckle gem, glab i. „Na, i hob scho gessn, i hob jetz gar koan Hunger“, hod’s gsogt. Und dann hod er gspuit und mir warn wirklich hin und weg, weil es war richtig lustig.
OT 9 Kraudn Sepp (Witz vom Pfarrer und Bauer) Do is a Bauer und a Pfarrer spazieren ganga, und da war’s recht hoaß den seim Tag. Na san’s auf an See hikemma. Na hat der Pfarrer gsagt: Siehst, Bauer, wenn jetz i a Badhosn dabei hätt, na dad i badn, des war ja grod a scheene Abkühlung. Ja, hat der Bauer gsagt, Herr Pfarrer, des kemma leicht macha. Geh a bissl weida vor, had er gsagt, do sieht uns koa Mensch. Na ham’s se auszogn und san ins Wasser nei. Na san’s ned lang im Wasser drin gwen, dawei is a Bus kemma, san lauter Weiber ausgstiegn. Jetz samma sauber beinand, sagt da Pfarrer, was mach ma jetza? Mia wissen ja ned, wia lang dass de do bleim. Na san’s ausse vom Wasser und hättn eana Gwand ghoit. Na hat der Pfarrer do zuag‘hebt – na hat der Bauer gsagt: Herr Pfarrer, des bedeit‘ nix, hat er gsagt, do herunt‘ brauchst ned zuahebm – do herobm muasst zuahebm, dass‘ Di ned kennan!
OT 10 Stofferl Well Der war ein schlauer Fuchs. Der hod so gschaugt – an Kopf so oiwei leicht auf d’Seitn, und hod so, so mit seine Eigal, ja manchmoi wia a Hena, so abwägend „back i des Kerndl jetz oder ned“, und wenn’s gschmeckt hat, na hat er a so gluckst wia a Hena.
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ERZÄHLERIN Der Kraudn Sepp ist ein stiller Entertainer. Und er ist auch ein Charmeur. Es gibt viele Fotos, auf denen hat er gleich mehrere hübsche Madln im Arm – und diesen Madln schenkt er dann ein Bild von sich, quasi als Fanartikel: Es zeigt einen schneidigen Kraudn Sepp im Alter von 21 Jahren, mit strammen Wadln und Gamsbart auf dem Hut. MUSIK: Kraudn Sepp – Murnauer Markt
ERZÄHLERIN Stofferl Well und seine Brüder – die spätere Biermösl Blosn – haben sich beim Kraudn Sepp nicht nur die Unterhaltungskunst abgeschaut – sondern in erster Linie den unbefangenen Umgang mit dem Volksmusik-Repertoire.
OT 11 Stofferl Well De damalige Volksmusikszene is scho sehr in sich soiba befangen gwesen und is um den Kiem Pauli sei Sammlung kreist oder um an Fanderl Wastl sei leibhaftigs Liadabiachal – des war a guade Sammlung, des san ja wirklich guade Sammlungen, bloß der Kiem Pauli hod hoid einfach an Schmutz ned gsammelt, an Blues – und des is obganga, für mi, in der Volksmusik. Und erst durch des Hean jetzt, muss i sogn, vom Kraudn Sepp zum Beispui – der Roider Jackl is a ähnliche Nummer gwesen – ham mir gmerkt, hoppla, ma konn ja mit der Musik a inhaltlich was ausdrücken, wos uns ois junge Menschen damois, Spätpubertierende, wos uns hoid so aufgfoin is oder wos uns gstört hat, am Dorf. Und da ham mir dann ogfangt eben, die Volksmusik in die Jetzt-Zeit zum stoin. Und a so a Brückenbauer war für uns der Kraudn Sepp, dadurch, dass er’s auf Text gsunga hat, bestimmte Sachan san ja archaische Themen, wia zum Beispui Liebe, Erotik oder Wuidan. Des san Sachan, die gibt’s immer, wenn’s Menschen gibt. MUSIK: Kraudn Sepp – Pfannaflicka
ERZÄHLERIN Die Lieder, die der Kraudn Sepp singt, sind alles andere als brave Stubnmusi. In der volkspädagogischen Liedgutsäuberung des Kiem Pauli hätte solch deftige Erotik keinen Platz gehabt. Der Kraudn Sepp polarisiert die Traditionalisten.
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OT 12 Afra Kriss Die Leute aus der traditionellen Volksmusikszene, da gab’s welche, die fasziniert waren von der Person des Kraudn Sepp, vor allem, weil er eben so in Einklang war und übereingestimmt hat mit der Denk- und Lebensweise mit den Inhalten seiner Musik. Ein anderer Teil der Vertreter der traditionellen Volksmusik haben sich eher mit der Musik vom Gaißacher Sänger- und Zitherquartett identifiziert und haben seine Lieder, die er dann später gesungen hat, mit Skepsis betrachtet. Und dann gab‘s auch noch diejenigen, die g’sagt haben: Mei, in so einem hohen Alter und mit so einer brüchigen Stimme sollt ma eigentlich gar nimmer auftreten.
ERZÄHLERIN Der Kraudn Sepp wählt seine Lieder danach aus, ob sie ihm gefallen – und ob sie Unterhaltungswert haben. Dass er selbst Melodien geschrieben und Texte verfasst hat, sei eine Legende, sagt die Volkskundlerin Afra Kriss, die 1988 ihre Magisterarbeit dem Kraudn Sepp gewidmet hat. Alle Lieder stammten aus – teils sehr alten – gedruckten Quellen oder waren mündlich überliefert. Auch das umstrittene „Jachenauer Lied“ wird lange Zeit dem Kraudn Sepp zugeschrieben. Es stammt aber von einem gewissen Ludwig Lülling. Das Lied hatte einen aktuellen Bezug – in der damaligen Volksmusikszene ein Sakrileg: 1969 schießen zwei Jäger in der Jachenau auf ein Auto, töten dabei ein Baby und verletzen dessen Eltern. Sie hatten die Familie für Wilderer gehalten. MUSIK: Kraudn Sepp – Jachenauer Lied
ERZÄHLERIN Der Kraudn Sepp ist kein Rebell, der mit Protestsongs provozieren will. Aber: Er ergreift aus ganzer Seele Partei für die einfachen Leute. Er ist eins mit seinen Liedern. An die 150 Stück hat er in seinem Repertoire. Er singt über das Leben, das er kennt: das der Handwerker, der Bauern, der Soldaten – und natürlich: der Wilderer. Voller Inbrunst singt er das Trauerlied für den jungen Andrä Trischberger. Der erschossene Wilderer war der Onkel seiner Frau. MUSIK: Kraudn Sepp – Andrä Trischberger
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ERZÄHLERIN Bei den Isarwinkler Burschen gehört das Wildern zum Selbstverständnis. Aus Leidenschaft, aber auch aus Not. Die weiten Bergwälder bis hinter zur österreichischen Grenze sind ein Wilderer-Dorado. Es ist auch ein Initiationsritual: Ein Bursch sollte erst gewildert haben, bevor er zum Fensterln geht. Die Wilderer werden von der Bevölkerung als Helden verehrt, weil sie es mit der Obrigkeit, mit den „Jagersknechten“ aufnehmen.
Mit seinen ehrlich empfundenen Liedern begeistert der Kraudn Sepp nicht nur das Isarwinkler Publikum. 1967 holt ihn der Bayerische Rundfunk ins Aufnahmestudio. Und wenn das Fernsehen in den Isarwinkel kommt, um über das halsbrecherische Hornschlittenrennen in Gaißach zu berichten – das sogenannte „Schnablerrennen“ der wilden „Goaßerer“ – zeigt man auch den Kraudn Sepp als kauziges Relikt aus längst vergangener Zeit. Gerne lässt man ihn zu Feierlichkeiten beim Bürgermeister, beim Landrat oder beim damaligen Ministerpräsidenten Alfons Goppel aufspielen. Als „Botschafter des Isarwinkels“ tritt er im Bonner Regierungsviertel auf. Lampenfieber kennt der Kraudn Sepp nicht – und er hat auch keine Bedenken, als uriges Original ausgestellt zu werden. Er will, dass ihm die Leute zuhören, er will Gesellschaft. Es wirkt wie eine Selbsttherapie gegen die Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau.
OT 13 Thomas Rest So is’s, absolut. Denn er hat g’merkt, dass er bei den Leuten gut ankam, und er war einfach ein Original, der über vieles Bescheid gewusst hat und der ein Riesenrepertoire g’habt hat.
ERZÄHLERIN Bei dem Tölzer Heilpraktiker Thomas Rest spielt der Kraudn Sepp zehn Jahre lang bis kurz vor seinem Tod jeden Mittwoch im Wartezimmer.
OT 14 Thomas Rest Ja, des hat ihm ja Freude bereitet, des hat sich automatisch ergeben. Er is gern kemma, manche ham dann a Brotzeit mit’bracht und er hat sich wohlgefühlt bei den Leuten im Wartezimmer, die Zeit vertrieben. Wir ham ja oft vielstündige Wartezeiten ghabt und für mich war’s a gut, dass die Zeit vergangen ist. Es war dann schon eine therapeutisch gute Vorstimmung. Und er hat dann gspielt so bis Nachmittag, und dann hamma ihm Spritzen
– 10 – gmacht und dann is er in d’Wirtschaft ganga. Und des war sein Leben, des war seine Erfüllung sozusagen. ERZÄHLERIN 1976 und 1977 erscheinen zwei Langspielplatten vom Kraudn Sepp – in Eigenregie produziert und vertrieben von dem Diplom-Ingenieur und Kraudn-Sepp-Fan Gerhard Winklhofer. Die zweite Platte sollte der Kraudn Sepp nicht mehr erleben: Er stirbt am 1. April 1977 im Alter von 80 Jahren im Krankenhaus in Bad Tölz. MUSIK: Waakirchner Sänger – Jetzt muass i aus mein‘ Haus
ERZÄHLERIN Hätte man dem Kraudn Sepp gesagt, zu welcher Kultfigur er nach seinem Tod aufsteigen würde – er hätte wahrscheinlich nur schelmisch gezwinkert. Als Volksmusik-Rebell wird er interpretiert, als letztes Original glorifiziert. In Weilheim wird das sogenannte Kraudn-SeppGedächtnissingen veranstaltet, das außer dem Namen nichts ihm und seinem Erbe zu tun hatte. Bald wird der Kraudn Sepp in Kreisen verehrt, die mit Volksmusik auf den ersten Blick nichts am Hut haben – zum Beispiel von der bayerischen Blues-Band „Sparifankal“, die in den 1970er Jahren Politik, Musik und Pädagogik zu einem Kosmos verbindet. Der Kraudn Sepp war ein Vorbild für Sparifankal-Gründer Carl Ludwig Reichert.
OT 15 Carl Ludwig Reichert Schomoi durch die scheinbar mangelhafte Technik – die zum Teil der Aufnahme geschuldet is und zum Teil seim Alter, weil jeder, der oid wird, merkt, de Finger laffa nimmer ganz so guad oder so, des hat natürlich diesen wunderbaren Charme und a natürlich diese aufmüpfige Gesangsweise ghabt, dieses Anti-Belcanto in jeder Hinsicht. Der is einfach eigen. MUSIK: Sparifankal – Aufm Land
ERZÄHLERIN Für Carl Ludwig Reichert ist die Musik des Kraudn Sepp eng verbunden mit der Haltung der amerikanischen Country- und Blues-Sänger.
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OT 16 Carl Ludwig Reichert Des is die musikalische Vorgehensweise, dass ma innerhalb einer definierten Form sich aber jedwede Freiheiten nehma konn. Und des find i, was für mich echte Volksmusik unterscheidet von kunstmusikalischen Formen, des is, dass es der unausgebildeten Stimme möglich is, diese Musik zu singen – auf welche Art auch immer es ihr richtig erscheint.
MUSIK hoch
ERZÄHLERIN Die Doppel-CD „Sonntag“ aus dem Trikont Verlag sorgt 2005 für ein kleines KraudnSepp-Revival. Für die Gruppen der neuen Volksmusik-Szene wie La Brass Banda oder Kofelgschroa sind aktuelle Bezüge und schräge Songs inzwischen selbstverständlich. Doch vom Kraudn Sepp geht auch 40 Jahre nach seinem Tod noch immer ein großer Reiz aus. Maxi Pongratz von der Oberammergauer Band „Kofelgschroa“:
OT 17 Maxi Pongratz Weil er hoid an ehrlicher‘n G’sang hat – der Kraudn Sepp hat immer sowas Rührendes ghabt irgendwie. Und hat uns a ermutigt, i hab am Anfang a ned so des Selbstbewusstsein ghabt für mein Stimm, aber da war der Kraudn Sepp scho guad, dass‘ so oan gibt, dass ma eigentlich a ned unbedingt singa muass, um ausdrucksstarke Musik zum machen. MUSIK: Kraudn Sepp – Die Zeit, die ma jetzt ham
ERZÄHLERIN Dass uns der Kraudn Sepp heute noch immer so fasziniert, liegt wohl daran, dass er als Sänger so authentisch war wie als Mensch. Stofferl Well fasst es so zusammen:
OT 18 Stofferl Well Des is des eigene Defizit, wo ma hat. Jetz entsteht a so a Sehnsucht vielleicht nach dem Heimelig-Gmiatlichen-Lustigen-Originellen. Ma suacht ja Identifikationspunkte. Und vielleicht füllt ma des eben auf, dieses Vakuum, wo ma soiba ned hat an Heimatverbundenheit, weil ma, wos woaß i, jeden Tag am Computer hockt soundsolang
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und gar koa Zeit mehr dafür hod und des praktisch dann nur no ois Urlaub konsumiert, die Gegend, in der ma eigentlich lebt und wachst. Jetz entsteht do vielleicht so a Faszination dafür. MUSIK: Robert Johnson – Come on in my kitchen
ABSAGE: Der Kraudn Sepp z‘Goaßa Eine Isarwinkler Musiklegende Sie hörten den zweiten Teil einer Sendung von Barbara Doll. Erzählerin war Marlen Reichert. Ton und Technik: Cordula Wanschura Regie und Redaktion: Heidi Wolf Eine Produktion der Redaktion "Hörbild und Feature / Land und Leute" des Bayerischen Rundfunks 2017.
MUSIK HOCH BIS ENDE
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