Diskursanalyse und mentale Prozesse

Studia Romanica et Linguistica 43 Diskursanalyse und mentale Prozesse Sprachliche Strategien zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität bei H...
Author: Adam Weiss
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Studia Romanica et Linguistica 43

Diskursanalyse und mentale Prozesse

Sprachliche Strategien zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität bei Hugo Chávez und Evo Morales

Bearbeitet von Romana Castro Zambrano

1. Auflage 2015. Buch. 434 S. Hardcover ISBN 978 3 631 66030 0 Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 650 g

Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Angewandte Sprachwissenschaft > Textlinguistik, Diskursanalyse, Stilistik, Fachsprachen

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I. Einleitung A dialectical relationship is a two-­way relationship: the discursive event is shaped by situation, institutions and social structures, but it also shapes them. To put the same point in a different way, discourse is socially constitutive as well as socially

shaped: it constitutes situations, objects of knowledge, and the social identities of and relationships between people and groups of people. (Fairclough / Wodak 1997: 258) ¡Dios mío! Líbranos de una guerra, pero tenemos que prepararnos para defender la Patria. Si aquí tenemos que morir defendiendo a Venezuela, aquí moriremos, defendiendo la soberanía de nuestra patria. (Chávez, 04.02.2006) Digo con mucha razón, porque América antes llamada Abalaya […], pues tiene su población y quiénes hemos vivido, quiénes hemos nacido en Latinoamérica somos dueños absolutos en esta noble tierra, y tenemos la obligación de defender nuestra identidad, tenemos la obligación de defender nuestros recursos naturales. (Morales, 10.03.2006) Knowledge is here defined as the organized mental structure consisting of shared factual beliefs of a group or culture, which are or may be ‚verified‘ by the (historically variable) truth criteria of that group or culture. Note that what may be ‚knowledge‘ for one group (period or culture) may be deemed mere ‚beliefs‘ or ‚opinions‘ by other groups. (van Dijk 2002a: 208)

Diskurse sind sozial determiniert und Diskurse konstituieren die Welt, so wie wir sie wahrnehmen. Sie konstituieren Wissen, das von bestimmten Gruppen in einem bestimmten Zeitraum als Wahrheit akzeptiert wird. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Diskursfragmente von Hugo Chávez und Evo Morales betrachtet werden. Dass der Bundespräsident des heutigen Deutschlands Aussagen wie “tenemos la obligación de defender nuestra identidad” oder gar “aquí moriremos, defen­ diendo la soberanía de nuestra patria” tätigt, ist sicherlich nur schwer vorstellbar. Welche realitätskonstitutiven Konsequenzen können aber solche Aussagen in Gruppen haben, in denen sie getätigt werden können? Anhand der Diskursfragmente des ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und des bolivianischen Präsidenten Evo Morales zeigt sich, dass Nation und Identität eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen scheinen. Mit Hugo Chávez in Venezuela (1999-­2013) und Evo Morales in Bolivien (seit 2006) wurden in Lateinamerika zwei Präsidenten ins Amt gewählt, deren politisches Handeln eindeutig sozialistische Tendenzen aufweist. Den beiden Präsidenten wird jedoch nicht nur aufgrund ihres ideologischen Hintergrundes internationale Beachtung geschenkt, auch die Biografien von Chávez und Morales weisen – zumindest für Venezuela und Bolivien – atypische Charakteristika für Präsidenten auf: Beide stammen aus den sogenannten „unteren Bevölkerungsschichten“, wuchsen



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in ländlichen Regionen auf und betätigten sich vor ihrer partei-­politischen Karriere als politische Aktivisten. Seit Beginn der Amtszeit strebten die Regierungen unter Chávez und Morales tiefgreifende Umstrukturierungen an, als deren Eckpunkte neben der Inklusion der zuvor marginalisierten Bevölkerungsteile und der Verstaatlichung von Industriezweigen auch die Abkehr von den USA zugunsten einer intensivierten lateinamerikanischen Zusammenarbeit gelten. Als das wohl entscheidendste Projekt kann jedoch in beiden Ländern die Umsetzung einer neuen Verfassung aufgefasst werden. Die vorliegende Arbeit beruht auf der Annahme, dass der soziale Wandel von einem Wandel des kollektiven Selbstbildes, der nationalen Identität, begleitet werden muss, da nur auf diese Weise eine Legitimierung der politischen Maßnahmen zur Umstrukturierung und eine Akzeptanz der Neuordnung gesichert werden können. Demzufolge liegt es im Interesse der Politiker_innen, eine solche nationale Identität zu konstruieren, wobei Diskurse aufgrund ihres konstitutiven Charakters ein geeignetes Medium darstellen. Das forschungsleitende Interesse wird daher von der Frage bestimmt, inwiefern und auf welche Art und Weise in den Diskursen von Hugo Chávez und Evo Morales nationale Identität konstruiert und konstituiert wird. Die beiden Diskurse sollen hierbei kontrastiv betrachtet werden, da angesichts des dialektischen Verhältnisses von Gesellschaft und Diskurs davon auszugehen ist, dass sich die diskursiven Strategien zur Konstruktion nationaler Identität diesbezüglich unterscheiden werden. Bevor diese Frage jedoch angegangen werden kann, muss zunächst geklärt werden, welche mit der Diskurstheorie zu vereinbarende Methode sich für die Analyse der Konstruktion von nationalen Identitäten im Wandel eignet. Demgemäß geht die empirische Analyse mit einem methodologischen Teil einher, der auf einen umfangreichen theoretischen Überblick folgt. Die Arbeit lässt sich daher in zwei große Teile aufgliedern, wobei der erste Teil primär theoretisch ausgerichtet ist, während in dem zweiten Teil vorwiegend die Ergebnisse der praktischen Analyse präsentiert werden. Nach der Einleitung wird in dem zweiten Kapitel zunächst auf unterschiedliche Aspekte zu Diskursbegriff und Diskurstheorie eingegangen. Im Zentrum des Interesses steht hierbei kein umfassender Überblick. Vielmehr soll auf diejenigen Punkte eingegangen werden, die im weiteren Verlauf der Arbeit relevant sind. In dem ersten Abschnitt werden unterschiedliche Diskursbegriffe vorgestellt, die in diesem Zusammenhang den jeweiligen Theorien zugeordnet werden. Fokussiert werden hierbei die sprachwissenschaftlichen Ansätze und Begriffsvarianten. In dem Unterkapitel, in dem Varianten der linguistischen Diskursanalyse vorgestellt werden, werden nur diejenigen Ansätze behandelt, in denen ein gesellschaftsrelevanter Bezug geknüpft wird, wobei in die wissensund die machtanalytische Diskursanalyse unterteilt wird. Im Zentrum steht hierbei die machtanalytische Variante, die unter dem Begriff der Kritischen Diskursanalyse (KDA) bekannt ist und die dieser Arbeit als primäres theoretisches Rahmenkonzept dienen soll. Daher werden außerdem die Aspekte der Relation 14

zwischen Diskurs, Macht und Gesellschaft sowie die Diskursanalyse im Kontext der (Sprach-­)Kritik thematisiert, um im Anschluss in Form eines Resümees die Bedeutung der Diskursanalyse für diese Arbeit darzustellen. Als besonderes Moment hat sich in diesem Zusammenhang die identitätskonstitutive Funktion im Kontext der diskursiven Konstruktion von Wissen erwiesen. Eine über die Funktion als theoriegebendes Rahmenkonzept hinausgehende Rolle, welche die Diskursanalyse in dieser Arbeit spielt, wird in einem späteren Kapitel (Teil I, Kapitel V.) erläutert. In dem dritten Kapitel wird die nationale Identität thematisiert. Ziel dieses Kapitels ist nicht nur die Definition des Begriffs, sondern auch die Darstellung von Theorien, die in Relation zu der Funktion der Konstruktion nationaler Identität stehen. Zunächst werden einflussreiche Theorien zu individueller und sozialer Identität erläutert. Im Anschluss soll eine Theorie zur sozialen Identität und Gruppenmitgliedschaft dargelegt werden, die den Zusammenhang zwischen Gruppenmitgliedschaft und den Vorteilen dieser für die Identität fokussiert. Im Rahmen der Erläuterungen zur kollektiven Identität wird neben einer Begriffsbestimmung eine Klassifizierung der unterschiedlichen Kriterien vorgenommen, die zur Abgrenzung kollektiver Identitäten herangezogen werden. Im Folgenden wird weiterhin auf die Bedeutung dieser Grenzziehung Bezug genommen sowie auf die Funktion des kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses. Da es sich bei der nationalen Identität um eine spezifische Form kollektiver Identität handelt, wird außerdem die Nation thematisiert, die somit als spezifisches Identifikationsobjekt gilt. Dabei werden einige Theorien zur Nation wiedergegeben, die den Trend nachzeichnen, der sich innerhalb der Nationalismusforschung hinsichtlich des Nationsverständnisses zeigt. Ebenso wird mit den Nationalismustheorien verfahren, die eng an die Entwicklung der Nationstheorien geknüpft sind. Hervorgehoben wird im Anschluss die Bedeutung von Kontinuität und Historizität für die nationale Gemeinschaft. In Form einer Synthese werden abschließend die Ergebnisse sowie die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung für den Begriff der nationalen Identität zusammengetragen. Dieser Begriff und seine unterschiedlichen Facetten werden aufgegriffen, wenn die Analysekategorien erläutert werden. Das vierte Kapitel des ersten Teils befasst sich mit den beiden Ländern Venezuela und Bolivien. Neben allgemeinen landeskundlichen Informationen werden jeweils die historischen Eckpunkte der Geschichte bis zum Eintritt von Morales bzw. Chávez fokussiert. Zu der Zeit nach deren Amtsantritt findet ebenfalls ein Überblick über die Geschichte statt, der jedoch detaillierter gestaltet ist. Zudem werden die beiden Präsidenten in ihrer Zeit vor ihrem Amtsantritt porträtiert, wobei hier die politischen Aktivitäten präsentiert werden. Schließlich werden die Grundzüge der Politik der beiden Präsidenten erläutert. Abgesehen von allgemeinen Hinweisen zu der Geschichte und Gesellschaft der beiden Staaten sowie zu den beiden Präsidenten werden in diesen Kapiteln, die dem allgemeinen Verständnis des praktischen Teils dienen, Details aus diesem Überblick auch im Zuge der Korpuszusammenstellung von Bedeutung sein.

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In dem fünften Kapitel werden die getroffenen Vorüberlegungen hinsichtlich der nationalen Identität, des Verhältnisses von Diskurs, Macht und Gesellschaft sowie des Hintergrundwissens zu Bolivien und Venezuela zusammengeführt und eine Schlussfolgerung für das weitere Vorgehen formuliert. Hierbei wird auch die Korpuszusammenstellung begründet, für die aufgrund einer besseren Vergleichsmöglichkeit Reden und Ansprachen der beiden Präsidenten aus den Jahren 2006 und 2007 gewählt wurden. In Bezug auf die Analysekategorien werden hierbei diejenigen Aspekte als Untersuchungspunkte festgehalten, die sich auf die zuvor in der Definition für die nationale Identität festgehaltenen Kriterien beziehen: Definition, Integration und Distinktion; nationale Werte; Kontinuität und Historizität. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Kapitel thematisiert wird, ist das inadäquate Analyseinstrumentarium der KDA, da der theoretische Aspekt der Konstituierung von Wissen kaum Berücksichtigung findet, weshalb für eine Nutzung der Kognitiven Linguistik im Rahmen Kritischer Diskursanalysen plädiert wird. Der zweite Teil der Arbeit beginnt im ersten Kapitel mit der Analysekategorie der „Definition, Integration und Distinktion“, die sich primär damit beschäftigt, welche Personen(-­Gruppen) in den Nationsbegriff integriert und welche exkludiert werden. Außerdem interessiert hier, wie die jeweiligen Eigen-­und Fremdgruppen charakterisiert werden. Bevor jedoch die Analyseergebnisse der beiden Korpora vorgestellt werden, erfolgt an jener Stelle zuerst eine Diskussion des zu verwendenden, auf die Kategorie zugeschnittenen Analyseinstrumentariums. In diesem Zusammenhang wird auf Referenz, Prädikation und Nomination im politischen Sprachgebrauch eingegangen, um sodann die Chancen zu erörtern, welche die Nutzung der Frame-­Theorie im diesem Rahmen in Diskursanalysen bieten. Die Ergebnisse werden für jedes Land einzeln, thematisch präsentiert und im Anschluss kontrastiert. Das zweite Kapitel fokussiert die nationalen Werte, die die beiden Präsidenten der Bevölkerung vermitteln. In diesem Zusammenhang sind auch ideologische Gesichtspunkte von Bedeutung. Als geeignet für die Analyse solcher Aspekte scheint oft eine Metaphernanalyse, mittels derer tief verankerte Wissensstrukturen untersucht werden können. In diesem Kapitel soll jedoch die bislang weniger verbreitete Theorie zur konzeptuellen Integration erläutert werden, welche die Analysemöglichkeiten auf prozessual den Metaphern ähnliche Konzepte erweitert. Zudem soll die besondere Kompatibilität dieser Theorie mit der Kritischen Diskursanalyse begründet werden. Daraufhin werden auch hier in thematisch gegliederten Abschnitten die Analyseergebnisse einzeln dargestellt und dann vergleichend gegenübergestellt. Das letzte Analysekapitel beschäftigt sich mit der diskursiven Konstruktion von Kontinuität und Historizität. Untersucht werden hierbei interdiskursive Verweise auf historische Begebenheiten oder Persönlichkeiten, mittels derer eine Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgebaut wird. Aus theoretisch-­ methodologischer Perspektive sind hierbei nicht nur Theorien zur Intertextualität bzw. Interdiskursivität von Interesse, sondern auch die bereits angesprochene Theorie der konzeptuellen Integration, als deren Sonderform die interdiskursive 16

Integration gelten kann. Abschließend werden auch hier die Resultate kontrastiv betrachtet. In dem letzten Kapitel werden abschließend die Ergebnisse der einzelnen Kategorien zusammengetragen und mit den Identitäts-­und Nationstheorien aus dem ersten Teil in Verbindung gesetzt. In einem letzten Schritt erfolgt schließlich eine kontrastive Betrachtung der Identitätskonstruktion bei Chávez und Morales.



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