Ralf Lorenzen & Jörg Marwedel
Die Zukunft des Fußballs Woher die nächsten Weltmeister kommen – Recherchen im System Jugendfußball Fotos von Andreas Fromm u.a.
K J M Buchverlag
Die Reihe wird herausgegeben von Klaas Jarchow Mehr zu den Büchern des KJM Buchverlags www.kjm-buchverlag.de
Bildnachweis: Andreas Fromm: Seite 1, 2, 13, 14, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26/27, 28, 29, 30, 31, 32, 43, 63, 64, 67, 68, 72, 76, 81, 88, 91, 98, 108, 122, 126, 128, 134/135; Witters/BILD: S. 104; Martin Kunze: S. 35, 37; Sabine Roth: 48, 93; HFV: S. 56; Bongarts/gettyimages: S. 45, 87; Stuart Franklin/gettyimages: S.40; Grimm/gettyimages: S. 87; Alexander Hassenstein/gettyimage: S. 46; Micha Will/gettyimages: S. 114; Infografiker.com: S. 51, 53; Philippka-Sportverlag: S. 57; Werder Bremen: S. 75 Zitatnachweis: Labbadia/Weserkurier: S. 10; Hecking/BILD: S. 9; Wormuth/welt.de: S. 10; Elgert/spiegel-online.de: S. 10 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage, April 2016 Copyright © 2016 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg www.jarchow-media.de ISBN 978-3-945465-16-5 Herstellung, Satz und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin Bildbearbeitung: Reihs Satzstudio, Lohmar Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten
Dieses Buch wird durch BUCHPATEN gefördert. Mehr Informationen dazu auf www.hamburgparadies.de Mehr Diskussion zur Zukunft des Fußballs: blog.hamburgparadies.de Die ausführlichen Interviews: www.hamburgparadies.de
INHALT
Vorsicht Fußball? 7 Stimmen 9 DIE DEN BALL LIEBEN … Der erste Freund – der Ball 12 Die ersten Fans – die Eltern 15 Will ich das? – Notizen eines Vaters 18 Die ersten Trainer-Erinnerungen 20 Die Jungs aus dem Ghetto haben gesprüht – Jugendtrainer Somerset »Sam« Lawrence 22 An der Schwelle vom Träumen zum Denken – Sechs C-Jugendliche und ihre Trainer 24 Die Bundesliga ist kein Ponyhof! – Lewis Holtby über seinen Weg zum Profi 33 Fünf Fußballwege – Max Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau, Nic Kühn 41 IM SYSTEM – VERSCHWENDETE JUGEND ODER EIN HOCH AUF DIESE ZEIT? Der High-Tech-Fahrstuhl des DFB – Das System der Nachwuchsförderung 50 Sich darum kümmern, dass kein Name runterfällt – Stützpunkttrainer Lewe Timm 56 Was ist ein Talent? 60 Der Kopf der DFB-Basis – Stützpunktkoordinator Stephan Kerber 62 Die gläserne Kugel – Wie weit kann man eine Karriere prognostizieren? 70 Kirschen aus Nachbars Garten – Werder-Scout Tobias Süveges 71 Fußballprofis zeugt man im April – Welche Vorteile Spieler haben, die im Januar geboren sind 78 Du kannst alles schaffen, wenn … – Joris und Mathias Hartmann 80 Schulen können von Leistungszentren lernen – Gespräch mit dem Vors. der Kom. Leistungszentren Uwe Harttgen 85 5
Ich weiß, was ich kann – Nic Kühn 90 Sie brauchen eigentlich schon mit fünfzehn eine Sekretärin – Gespräch mit Fabian Boll 99 Goldrausch – Der weltweite Handel mit jungen Talenten 103 Good boys, bad boys – Der Berater Hannes Winzer und seine Branche 107 BLICK IN DIE ZUKUNFT – SPIELT MEHR! Ich gebe meinen Spielern Mitspracherecht – U21-Bundestrainer Horst Hrubesch 115 Gegen Rundumversorgung – Warum Dortmunds Trainer Thomas Tuchel umgedacht hat 120 Raum, Zeit, Gegnerdruck – DFB-Analyst Christofer Clemens über Fußball von morgen 121 Jugendliche geraten in Abhängigkeit zum System – Psychologe Yvo Kühn 129 Die Breite stärken, die Spitze schützen! – Anstöße zur Zukunft der Nachwuchsförderung 136 Lamborghini – Notizen eines Fußballvaters 142 Tipps 144
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Inhalt
Vorsicht Fußball? Einleitung
»Dich werden wir mal ganz woanders sehen.« Diesen Spruch haben auch wir als junge Fußballer hin und wieder von einem Trainer gehört – und wären gern gemeint gewesen. Als Journalisten haben wir dann miterlebt, wie aus dem heimlichen Wunsch, entdeckt oder gar Profi zu werden, in den letzten Jahren eine Bewegung geworden ist, die teilweise Züge von Massenhysterie annimmt. Selbst im Bekanntenkreis kennt jeder mindestens einen Jungen oder ein Mädchen, der oder das als künftiger Star gehandelt wird. Meistens von den Eltern oder anderen nahen Verwandten. Wenn nicht alles täuscht, ist gerade eine »Generation Ball« am Start, die in den kommenden Jahren kräftig Zuwachs erhält. Noch nie spielten mehr Kinder unter zehn Jahren im Verein Fußball als heute. Der weltumspannende Hype um den Fußball hat viele Gründe. Im Zentrum steht wohl die klassische Aufsteiger-Erzählung, die durch Kommerzialisierung und Digitalisierung Vorbilder wie Messi und Ronaldo geschaffen hat. Der DFB hat vor 15 Jahren ein Talentfördersystem auf den Weg gebracht, das verspricht: »(Fast) jedes Talent kann damit sicher sein, von einem regionalen Sichter ›aufgespürt‹ zu werden und anschließend auf Basis eines individuellen Trainings voranzukommen.« Ob dieser Anspruch tatsächlich erfüllt wird, ist eine Frage für wissenschaftliche Untersuchungen. Unbestritten sind drei Tatsachen: Jedes Jahr werden etwa 600.000 Spieler gesichtet; etwa 20.000 werden in DFB-Stützpunkten, Verbandsauswahlmannschaften und Leistungszentren der Vereine individuell gefördert; mit diesem Ergebnis: Bis auf Miroslav Klose und Roman Weidenfeller haben alle Weltmeister von 2014 dieses System durchlaufen. Diese Zahlen verraten nichts darüber, wie die Jugendlichen heute den Weg zum Nationalspieler erleben. Wie geht es ihnen im Gestrüpp der Interessen und Erwartungen? Wer setzt sich durch? Überlebt die Liebe zum Ball, ist sie gar der entscheidende Ausgangspunkt? Wie geht es denen, die zu einem früheren Zeitpunkt aus dem System ausscheiden, freiwillig oder weil sich der Daumen nach unten senkt – also der großen Mehrheit? Einleitung
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Um das herauszufinden, haben wir besonders die Jugendlichen in den sogenannten »Heldenjahren« zwischen 14 und 16 in den Blick genommen. Und uns interessieren die Akteure, die den Weg der Jugendlichen begleiten und entscheiden: die Eltern, Trainer, Scouts und Berater – das ganze Ensemble der Interessen und Blicke, das sich heute um ein junges Talent versammelt. Dafür haben wir uns ein Jahr lang auf Plätzen, in Hallen und Vereinsgaststätten herumgetrieben und mit allen geredet, die in diesem System mitspielen. Wie ticken sie? Spielen sie mit den Träumen von Jugendlichen, oder respektieren und schützen sie deren Persönlichkeiten? Und schließlich interessiert uns natürlich der Fußball selbst. Wie entwickelt er sich in diesem System weiter? Ist er offen für neue Einflüsse, oder frisst er seine Kinder, wie es gerade den Niederländern und Brasilianern passiert? Wie sehen sie aus, die »Tugenden 2.0«, mit denen der DFB den nächsten WM-Titel angehen will? Von wem können wir lernen? Wir haben immer wieder Titel und Ausrichtungen des Buches diskutiert. »Die den Ball lieben« war eine Richtung, »Vorsicht Fußball!« die andere. Es blieben die Pole unserer Gespräche und Betrachtungen. Die Liebe zum Ball und zum Spiel stand gegen das Benutzen in der großen, globalen Geldmaschinerie. Spitzenfußball und soziale Verantwortung bilden unter den heutigen Vermarktungsbedingungen nun mal ein Gegensatzpaar. Wir haben diese Gegensätzlichkeit der beiden Ausrichtungen letztlich nicht auflösen können – wahrscheinlich ist sie auch das, woraus die Attraktivität dieses Spiels in seiner modernen gegenwärtigen Form herrührt. Der Titel wurde dann ein anderer: »Die Zukunft des Fußballs« nennen wir es, weil seine Hauptdarsteller eben diese Zukunft verkörpern und an ihr arbeiten. In den Begegnungen mit ihnen sind wir auch auf Ideen und Gedanken gestoßen, wie der Kinder- und Jugendfußball den Menschen und dem Spiel gerechter werden könnte. Wir möchten uns bei allen Gesprächspartnern bedanken, die uns ihre Zeit, Gedanken und Erfahrungen geschenkt haben. Diese Gespräche waren für uns so anregend und gehaltvoll, dass sich große Teile davon in Interviewform im Buch wiederfinden. Die kompletten Interviews finden Sie – genau wie den Blog zu diesem Buch – unter www.hamburgparadies.de.
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Vorsicht Fußball?
Stimmen
»Kleine Mannschaften sind auf elf Funktionierende angewiesen. Sonst gehen sie unter.« Lewe Timm, Stützpunkttrainer
»Die Jungs müssen für ihr Ziel brennen. Es reicht nicht, nur Bock aufs Buffen zu haben.« Tobias Süveges, Scout bei Werder Bremen
»Sport und Leistungssport ist ein großer Unterschied. Beim Leistungssport geht es nicht nur um Spaß. Es zählt Wille und Energie.« Yvo Kühn, Psychologe
»Du brauchst Spieler in der Mannschaft, die nicht verlieren können. Die richtig herausragenden Spieler sind die, die nicht verlieren können.« Koy Klose, Jugendtrainer von Blau-Weiß 96 Schenefeld
»Wenn einer in der unteren D-Jugend foult, entschuldigt er sich. In der oberen D-Jugend ist das fast vorbei. Und in der älteren C-Jugend treten sie nochmal drauf. Da wird schon mit Haken und Ösen gespielt.« Koy Klose
»Selbstkritik wird bei einigen nicht mehr so groß geschrieben. Wenn einer ein Problem hat, dann kann er jederzeit zu mir kommen. Nur dann kann es auch mal deutliche Worte geben.« Dieter Hecking, Bundesligatrainer VfL Wolfsburg
»Wir machen die Nationalspieler nicht. Ich nicht, der Löw nicht, die Bundesliga auch nicht. Es sind die kleinen Vereine. Je besser die arbeiten, desto besser wird es.« Horst Hrubesch, U21-Bundestrainer
»Nur beim Fußball und beim Bund spielt der Abiturient mit dem zusammen, der die Hauptschule abgebrochen hat. Die alle in ein funktionierendes Ganzes zu pressen, ist schwer.« Fabian Boll, Co-Trainer der U23 des FC St. Pauli Stimmen
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»Aber das größte Problem, das wir haben und das Werder hat, ist, dass es keine Flut von Talenten gibt, dass sich jeder um diese Talente reißt – und dass diese Talente dadurch teilweise gar nicht mehr gesund wachsen. Heißt: Die Klubs müssen einem Talent, von dem sie noch nicht wissen, wie gut es mal wird, schon einen Vertrag geben, der für das Talent nicht gesund ist und für den Verein auch nicht gut.« Bruno Labbadia, Trainer des Hamburger SV
»Per Mertesacker hatte mit den Anforderungen zu kämpfen. In der U19 hat er sich manchmal vorm Spiel übergeben.« Hannes Winzer, Spielerberater
»Es gibt eine Tendenz, dass geschnitzte Spieler aus den Zentren kommen.« Frank Wormuth, DFB-Chefausbilder
»Der Hype um die Jungs ist heute viel zu groß. Du wirst unheimlich schnell in die Umlaufbahn geschossen, bist aber auch doppelt so schnell wieder raus.« Norbert Elgert, Jugendtrainer bei Schalke 04
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Stimmen
I DIE DEN BALL LIEBEN ...
Der erste Freund – der Ball Was die Jungen und Mädchen daran so fasziniert
»Max hat das Herz auf dem Ball getragen«, sagt der Hamburger Stützpunktkoordinator Stephan Kerber über einen Spieler des ersten Jahrgangs, den er gesichtet hat. Das war Max Kruse. Das innige Verhältnis zum Ball zeichnet nicht nur den heutigen Nationalspieler aus. Diese Zweierbeziehung zwischen Mensch und Ball ist gewachsen – lange bevor der Fußball zum Sport wurde, den man trainieren kann. »Magisch« nennen die Psychologen diese Beziehung und sagen, dass sie mit Urinstinkten zu tun habe. Manche studieren als Beleg dafür Höhlenzeichnungen – andere gucken einfach jungen Katzen zu, die mit einem Wollknäuel spielen. »Es geht um Bewegung. Man will das Objekt besetzen«, sagt der Psychologe Yvo Kühn. »Etwas lieben zu können ist das Gegenstück zur Depression. Wenn Messi den Ball hält vor einem Freistoß, auch mit den Händen, sind das Berührungen eines Liebeskörpers. Wie viele Möglichkeiten hat er, den Ball zu berühren! Mehr als fast jeder andere auf der Welt.« Ein anderer Spieler mit unvergänglicher Ballliebe ist Lewis Holtby. Mit jeder Bewegung fordert er ihn, hat er ihn endlich am Fuß, ist er ein anderer. Das war er von früh an. »Du hast einen kleinen Ball und wirst innig mit ihm. Er wird dein Freund. Vor allem, wenn man nicht so viel Geld hat, hat man ihn als Junge sehr gut behandelt. Man passt auf, dass er nicht wegkommt. Ich habe ihn sauber gemacht und sogar mit ins Bett genommen.« Aber man muss ihn so furchtbar treten, den Freund. »Ja, aber der mag es ja. Dann ist er zu Hause«, sagt Holtby. Klingt brutal, ist aber vom psychologischen Standpunkt aus völlig logisch. »Zur Liebe gehört auch der Hass«, sagt Yvo Kühn. »Man macht mit dem Ball alles Mögliche, es ist auch eine aggressive Beziehung zum Objekt. Man möchte es beherrschen und mit ihm machen können, was man will.« So ist wohl auch zu erklären, warum aus einer Beziehung, deren größter Reiz die Unkontrollierbarkeit ist, im Profifußball ein System geworden ist, das die größtmögliche Kontrolle über diese Beziehung herstellen will. 12
Der erste Freund – der Ball
»Es gibt viele, die sind nicht so befreundet mit dem Ball.« Lewis Holtby verrät nicht, ob er damit auch den einen oder anderen meint, der trotzdem Fußballprofi geworden ist. Bei ihm selbst behielt der Ball jedenfalls seine Sonderrolle, als andere schon zweibeinige Freunde hatten. »Die anderen sind alle losgegangen, mir war der Ball wichtiger. Ich habe mir oft nach der Schule, vor dem Training, einen Ball genommen und bin allein auf die Asche gegangen. Ich habe mir viele Situationen vorgestellt damals. Dann kommen immer die eigenen Spielzüge, dann läufst du über den Platz und schreist und schießt. So habe ich allein trainiert. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es sein sollte, wenn da mehrere Leute stehen und nicht nur ich allein.« Das kann man sich als wunderschöne Filmszene vorstellen – der kleine Lewis allein mit dem Ball auf der Asche –, und der Traum wird angeknipst. Ist aber mehr etwas für ein Musical als für dieses Buch … Lieber noch ein Seitenhinweis auf eine ganz andere, die zerstörerische Kraft des Balls. »Wir züchten im Garten inzwischen Pflanzen, die sich als fußballresistent erwiesen haben«, berichtet der Vater eines jungen Talentes: »Joris hat alles dafür getan, sie herauszuselektieren. Wir hoffen, dass die Pflanzen bald marktgängig sind.« Galgenhumor eines Soccerdads.
E-Jugend-Mädchen kämpfen um den Ball Was die Jungen und Mädchen so daran fasziniert
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Die ersten Fans – die Eltern Fünf Euro für jedes Tor
»Und abends kamen die Eltern und lagen über den Zäunen und haben zugeguckt«, erzählt der Jugendtrainer Somerset »Sam« Lawrence über seine Sozialisation als Straßenfußballer in Kapstadt. Die Jungs und Mädchen, die er heute in Hamburg trainiert, sind dagegen fast alle zu Gartenfußballern domestiziert. Knapp zwei Drittel der deutschen Haushalte besitzen einen Garten, zu vielen gehört das Fußballtor aus dem Baumarkt so selbstverständlich wie Pergola und Rosenstock. Fast jeder Ballkontakt findet unter den Augen der Eltern statt. Das ändert sich auch nicht, wenn der Filius vom »FC Gartenzaun« zu einem Klub im Ort wechselt. Dort zeigt sich dann, wie dünn die zivilisatorische Schicht teilweise noch ist. »Wir haben oft erlebt, wie Eltern am Spielfeldrand völlig unreflektiert und destruktiv agieren«, erinnert sich Mathias Hartmann, dessen Sohn Joris in einem niedersächsischen Stützpunkt gespielt hat. »Sie schreien permanent rein und machen abwertende Bemerkungen über Gegner und Schiedsrichter.« Dabei bleibt es manchmal nicht. So sorgte Anfang 2016 eine Prügelei bei einem Hallenturnier für E-Jugendliche in Hamburg für Schlagzeilen. »Anlass war nach Angaben der Polizei eine Schiedsrichterentscheidung wegen unsportlichen Verhaltens nach einem Foul«, berichtete der NDR. »Ein Spieler musste vom Platz. Trotzdem ließen die Kontrahenten nicht voneinander ab. Dann mischten sich die Eltern der Spieler, Trainer und Zuschauer ein. Laut Augenzeugen standen etwa 20 Menschen auf dem Platz und prügelten sich.« Die Polizei rückte mit sechs Streifenwagen an. Das Phänomen der Pöbel-Eltern hat auch Lewis Holtby mitbekommen: »Das war ein Wahnsinn, schon in der F-Jugend. Da ging es plötzlich gar nicht mehr um Kinderfußball. Das ist unbegreiflich, was Eltern für Wut oder Hass entwickeln und sich gegenseitig anschreien.« Erfahrungen wie diese haben dazu geführt, dass mittlerweile in weiten Teilen Deutschlands und der Niederlande bis zum Alter von zehn Jahren nach den Regeln der Fair-Play-Liga gespielt wird. Die sehen unter anderem einen Mindestabstand für Zuschauer zum Spielfeldrand vor. »Oft sind die Eltern überemotionalisiert und die Trainer stark erfolgsorientiert«, sagt Fünf Euro für jedes Tor
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Ralf Klohr, der Initiator der Reform. »Es denkt kaum jemand darüber nach, wie es den Kindern dabei geht.« Vor überzogenen Erwartungen und zweifelhaften Motivationshilfen schützt dagegen auch kein Sicherheitsabstand. »Ein Vater hat seinem Sohn für jedes geschossene Tor fünf Euro versprochen«, berichtet der Jugendtrainer Koy Klose. Unter der Lederhaut der Pillen und Kirschen steckten mal Schweinsblasen. Torfabrik und Brazuca werden heute aus Hightech-Fasern zusammengeklebt – aber die Blase ist nicht verschwunden. In der stecken nun alle, die mit Fußball in irgendeiner Weise zu tun haben – vor allem die Eltern. Im Milliardengeschäft Fußball werden immer mehr Kinder und Jugendliche zu Trägern der Hoffnung ihrer Eltern auf eine bessere Existenz, nicht nur in den Armutsregionen der Gesellschaft. Auch in der Mittelschicht ist der Blick oft vernebelt. »Einige Eltern sind ganz entspannt und freuen sich einfach, dass der Junge dabei sein kann«, sagt Werder Bremens Jugend-Scout Tobias Süveges. »Andere gehen davon aus, schon einen Fuß in der Tür des Profifußballs zu haben. Das wird teilweise durch Berichte in den Medien der Heimatorte angefeuert. Natürlich dürfen die Eltern stolz sein, müssen aber mit der Konsequenz leben, dass man auch aus dem Fenster fallen kann, wenn man sich zu weit hinauslehnt.« Eltern können aber auch einen positiven Einfluss auf die fußballerische Entwicklung ihrer Sprösslinge haben. »Du brauchst zu Hause keinen, der dir die ganze Zeit erzählt, wie super und fantastisch du bist, obwohl du Schuld an einer Niederlage hast«, sagt Lewis Holtby. »Du brauchst richtige objektive Meinungen, du brauchst viel Liebe, viel Zeit von deinen Eltern, das ist das Wichtigste. Es gibt viele, die schnell in ein Nachwuchsleistungszentrum abgeschoben werden, fünf, sechs Stunden von zu Hause entfernt. Manche sind völlig eingebrochen, weil sie ihre Familie vermisst haben.« Um die Kicker-Eltern kümmert sich auch der wissenschaftliche Nachwuchs. »Zu viel Lob oder unangebrachtes Lob hilft den Kindern auch nicht weiter. Eltern vergessen häufig, dass ihre Kinder bereit dazu sind, Fehler zu erkennen und mit Kritik umzugehen«, schreibt Linda Sellami in einer Bachelorarbeit der Uni Hamburg zum Verhalten von Eltern bei Fußballspielen. Die Rolle der Eltern werde selten richtig eingeschätzt, sagt Hamburgs Stützpunktkoordinator Stephan Kerber. »Oft wird im Auto das Training nachbesprochen, und das Elternteil teilt seine Sicht der Dinge mit. Es kann aber auch vorkommen, dass Eltern dem Kind als Gesprächspartner zur Verfügung stehen wollen und das gar nicht mehr zueinanderpasst. Dann müsste man so intervenieren, dass sie sich mehr heraushalten. 16
Die ersten Fans – die Eltern
Aber es wird immer so sein, dass die Meinung und das Lob der Eltern eine große Bedeutung haben, das ist auch bei Topspielern noch so.« Wer Eltern hat, die über ein gutes Netzwerk in die Fußballszene verfügen oder in der Lage sind, so eines zu knüpfen, ist auf jeden Fall im Vorteil. »Vergessen Sie nicht die Rolle der Eltern«, hat uns der Vater eines Jungen erzählt, der im Leistungszentrum eines Bundesligisten spielt. »Die sehen etwas, hören etwas, machen sich schlau und nehmen Kontakte auf.« Je weiter ein Spieler vom Wohnort entfernt spielt, desto wichtiger wird auch die praktische Unterstützung der Eltern. Ein Journalist hat ausgerechnet, die Eltern des Profis Nicolai Müller hätten ihn zu Jugendzeiten 230.000 Kilometer gefahren. Besonders glücklich können sich natürlich Spieler schätzen, die von ihren Eltern neben Lob, Kontakten und Fahrdiensten auch noch Handwerkszeug mitbekommen. »Das Einzeltraining mit seinem Vater war ein wichtiger Faktor«, berichtet Stephan Kerber über Toni Kroos. »Torschusstraining aus tausend Lagen, immer wieder.« Wie für andere junge Menschen bleiben die Eltern heute auch für Fußballprofis länger tägliche Bezugspersonen, als das in früheren Generationen der Fall war. »Es hat sich ja so entwickelt, dass Eltern immer mehr beratende und begleitende Funktion haben«, sagt Uwe Harttgen, der das Nachwuchsleistungszentrum von Werder Bremen geleitet hat. »Sie haben auch bei den älteren Spielern einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen und Vorstellungen.« Der FC Ludwigsvorstadt in München hat diese Regeln für die Eltern aufgestellt: 1. Es sind Kinder. 2. Es ist ein Spiel. 3. Die Trainer sind Freiwillige. 4. Die Schiedsrichter sind Menschen. 5. Wir sind nicht bei der WM.
Fünf Euro für jedes Tor
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Will ich das? Notizen eines Vaters
Wie? Noch keine lauten Musikwünsche? Sind wohl noch zu kaputt von der Schule, die Jungs. Sogar Eduardo döst. Hoffentlich hat er etwas zum Mittag gehabt; ich weiß gar nicht, ob seine Eltern auch in Deutschland sind. Hätte ich vor zehn Jahren auch nicht gedacht, viermal die Woche den Chauffeur für meinen Sohn zu machen. Damals war es noch Spiel, Gekicke, Gerenne, kleine Tore, kleine Felder, viele kleine Spieler, haushohe Niederlagen. Aber auch da schon: Vereinsleben, Elternabende, Streit, die Opas und Väter, die ihre Enkel und Söhne mit sooo viel Talent gespickt sehen. Langsam wurde das Spiel sortierter, langsam zeigt mein Sohn den Unterschied. Ihm ist es nicht egal, ob sie das Spiel in den Griff bekommen oder nicht, er gibt Vollgas, rennt überall herum, vorne, hinten, überall. Ob das auf Dauer gut ist? Nein, so sicher nicht. Die Trainer lassen ihn früh im älteren Jahrgang spielen. Trainerfluktuation im Heimatverein, er steht sie durch, auch den, der nur kommandiert statt erklärt. Aber irgendwann reicht das Umfeld nicht mehr. Wenn wir bleiben, wird ein Talent verschenkt. Aber wohin? Erster Versuch beim HSV. »Den linken Fuß müsste man noch trainieren, aber er kann kommen«, sagt ein Trainer nach dem Probetraining. Zu viel Fahrerei, ich sage ab. Stattdessen der Klub weiter im Osten. Auch Fahrerei, aber eine Trainerin, die ein Glücksfall ist. Kümmert sich. Spricht mit dem Buben. Hat Kontakt. Alles ist organisiert. Terminpläne, Trainingslager, Turniere, Auslandstouren. Die Stimmung in der Truppe ist gut. Aufstieg in die Landesliga. Aufgewacht, Eduardo, wo warst du eigentlich letzte Woche? Wer kümmert sich eigentlich darum, dass du deine Termine klarkriegst? Wer? Hab ich nicht verstanden … Dein Lehrer? Die schwatzen dahinten anderes. Neulich habe ich ihnen eine geschlagene halbe Stunde zugehört und nicht ein Wort verstanden, Begriffe flogen hin und her, ich: nix verstehen. Es ging um eine neue Version von Minecraft. Mein Sohn kommt in den Stützpunkt, wird für die Auswahl gesichtet. Erste Runde: keine Einladung. Etwas später dann doch. Sie sehen, dass sich das Spiel mit ihm verändert, eine andere Struktur bekommt. Der Pauli-Spieler auf der 10 wird auf die 6 geschoben. Die nächste Sortierung steht an: Wann ist der richtige Zeitpunkt, doch ins Leistungszentrum des Profivereins zu wechseln? Mit dem aktuellen Verein wird der Aufstieg in die Verbandsliga verpasst. Jetzt reicht es auch hier nicht mehr. Trotz Spaß. Neue Probetrainings. Beim Nachbarssohn geben sich 18
Will ich das?
derweil die Bundesligisten die Klinke in die Hand. Tom landet im Internat. Erste Meldungen von ihm: Das hochgelobte Essen schmeckt nicht, die Freundin darf nicht mit aufs Zimmer. Bei uns wird’s dann doch der HSV. Erste Erfahrung mit dem Trainer: Na ja. Haben jetzt auch einen Freund, der von Beruf Berater ist. Leise dahinten, wir sind gleich da. Klecker nicht mit der Deit, ist sowieso nicht das richtige Getränk. Alles in der Bahn also. Wieso bin ich nicht so euphorisch wie andere Eltern? Voll fixiert darauf, es zu schaffen. Wollte zwischendurch vielleicht gar nicht, dass er es schafft. Wusste nicht, ob das gut ist. Ob das nicht zu einseitig ist? Habe verdrängt, wenn mir zugeflüstert wurde: Der spielt bald noch ganz woanders. Wer aber mal bei einem Grillabend zwischen den Adilettenträgern einer Profimannschaft stand, fragt sich doch: Ist so ein Leben erstrebenswert? Ich wünsche ihm trotzdem, dass er im Spiel bleibt. Vor allem, dass er innerlich im Spiel bleibt, nach wie vor gern kickt. Sonst macht das keinen Sinn. Er hat das Talent, er entwickelt sich, alles ist auf dem Weg. Aber in die Zukunft schauen kann man nicht. Das Wichtigste: gesund bleiben. So, Jungs, raus. Holt heute die Punkte! Nicht wie letzte Woche.
Notizen eines Vaters
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Die ersten Trainer-Erinnerungen
»Alles, was ich über Fußball weiß, weiß ich von ihm. Er hatte Verstand und war ein guter Typ. Ich habe alles aufgesaugt.« Fabian Boll, früherer Kapitän des FC St. Pauli, über seinen Trainer in der D-Jugend bei der Bramstedter TS »Die haben mehr die Basics gemacht, zum Beispiel Torschusstraining. Taktik gab es da noch nicht. Wir haben gespielt und einfach Spaß gehabt. Die Mannschaft spielte von der F- bis zur B-Jugend zusammen. Und am Ende hatte man alles gewonnen im Umkreis: Stadtmeisterschaften und Kreismeisterschaften.« Lewis Holtby, Hamburger SV, über seine ersten beiden Trainer bei Sparta Gerderath. Es waren sein Vater und ein Kumpel aus der ersten Mannschaft. »Der Mann hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Jugendmannschaften zu betreuen, ist mit ihnen ins Trainingslager oder in den Sommerurlaub gefahren. Vom Fußball hatte er vermutlich weniger Ahnung. Mich brauchte keiner zu trainieren. Wir haben von morgens bis abends gebolzt. Dazu kam zweimal die Woche Training. Es hat nichts anderes gegeben.« Horst Hrubesch, Ex-Nationalspieler und U21-Bundestrainer, über seinen ersten Förderer beim FC Pelkum vor über 50 Jahren »Mein erster Trainer war ein Älterer, der schon oft Teams betreut hatte. Der konnte mit jungen Menschen richtig gut umgehen, das hat Spaß gebracht. Von dem habe ich viel gelernt. Das war eine richtige Freundschaft.« Joris Hartmann, 16, Auswahlspieler des MTV Treubund Lüneburg »In Südafrika hatte ich einen Schulweg von vier bis fünf Kilometern. Den habe ich zu Fuß gemacht. Danach habe ich jeden Nachmittag die Bücher abgelegt und habe mit den Jungs, die schon da waren, mitgekickt. Einen Trainer hatten wir nicht. Wir haben einfach immer gespielt und gespielt – ohne irgendwelche Übungen.« Somerset »Sam« Lawrence, Jugendtrainer bei Komet Blankenese
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Die ersten Trainer-Erinnerungen
Die ersten Trainer-Erinnerungen
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Die Jungs aus dem Ghetto haben gesprüht Somerset »Sam« Lawrence und der Fußball in Südafrika
»Sam« Lawrence trainiert bei Komet Blankenese eine C-Jugend. Er hat eine Trainerlizenz und ist durchaus ehrgeizig. Was ihn unterscheidet von anderen Jugend-Coaches: Er hat Fußball anders gelernt, nämlich in Südafrika. Genauer: in einem Ghetto von Kapstadt zu Zeiten der Apartheid. Fußball war für die Schwarzen ein Ventil. Und wenn die Jungen beim Sport ihre Unterdrückung vergaßen, haben sie sich dem Fußball anders genähert als die Deutschen: »Die Jungs haben gesprüht. Sie haben diesen Geist vertreten, den ich meine. Das Spiel!«, sagt Sam Lawrence. Auch er versprüht diesen Geist. In Deutschland, wo er seit über 30 Jahren lebt, hat er in der Landesliga bei Örnekspor gespielt. Ein Türke hatte ihn auf einem Bolzplatz nahe der Reeperbahn angesprochen. »Eine klasse Truppe, wir haben sogar St. Pauli im Pokal geschlagen.« Später hat er bei der Spielvereinigung Blankenese, bei Komet Blankenese, beim HSV und bei Eintracht Norderstedt gezeigt, dass er den Ball besonders liebt. Sein Talent hätte wohl für eine Karriere im bezahlten Fußball gereicht. Mit 16 Jahren hatte er ein Profi-Angebot, aber Profisein war nicht sein Traum. Trotzdem sagt Sam Lawrence: »Egal auf welchem Niveau, du solltest alles so professionell wie möglich machen.« Aber eben mit jenem Engagement und Sinn, den er in Südafrika erlebt hat. Er selbst erinnert sich an die tagtäglichen Spiele bis zum Dunkelwerden zwischen dem Symphonieweg und der Orchestra-Straße in Kapstadt. »Es war super«, sagt Sam und lächelt. Trotz der Freude am Spiel, die er vermitteln möchte, will er den jungen Spielern auch deren Grenzen aufzeigen. »Das Einfache«, sagt er, »ist oft das Schwerste, weil sich viele überschätzen.« Schnelligkeit könne man sich nur bedingt antrainieren, aber Beweglichkeit, sagt Sam. »Wenn ein schneller Gegner mit dem Ball auf 22
Die Jungs aus dem Ghetto haben gesprüht
einen zukommt, werden die Jugendlichen so trainiert, dass sie den Ball ablaufen sollen.« Er habe eine andere Philosophie. Wenn ein Gegner an dir vorbeigeht und du nicht nachkommst, hast du verloren. Besser sei es, sich ihm direkt in den Weg zu stellen. Auf Sams bewegliche Art. So stellt er sich selbst noch viel jüngeren Gegnern in den Weg. Seine Methode steht in keinem DFB-Lehrbuch. Auch bei eigenen Angriffen hat er eine andere Methode. Oft stehen die Stürmer mit dem Rücken zum Tor und versuchen dann erst, sich zu drehen, hat er beobachtet. Er bevorzugt eine andere Variante: »Warum nicht klatschen lassen und dann drehen? Den Ball abspielen und dann drehen?« Es sind, sagt Sam Lawrence, oft die Kleinigkeiten, die ein Spiel entscheiden. Und noch etwas lehrt er: »Wenn jemand versucht, längere Pässe zu spielen, obwohl er sie nicht spielen kann, soll er es bleiben lassen. Dann sollte er kurze Pässe über wenige Meter bevorzugen.« Und wie geht er mit einem Talent um, das zu einem größeren Verein wechseln möchte? Da ist Sam großzügig: »Wenn ein Jugendlicher fühlt, dass er woanders besser spielen kann, soll er seinen Weg gehen.« Das sei zwar hart für ihn als Trainer, der sein Team umstellen muss. »Aber das sei ihm gegönnt«, sagt der Förderer, dem das Spiel immer wichtiger war als die Karriere. Somerset »Sam« Lawrence und der Fußball in Südafrika
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An der Schwelle vom Träumen zum Denken Gespräch mit einer Spielerin und fünf Spielern (14 Jahre) der Landesliga-C-Jugend von Blau-Weiß 96 Schenefeld und ihren Trainern
Connie Thau (oben) und Thorsten »Koy« Klose (rechts)
Im besten Heldenalter sind fünf Jungs und ein Mädchen der C-Jugend von Blau-Weiß 96 Schenefeld, die sich an einem Juliabend wie müde Krieger nach der Schlacht mit ihren Sporttaschen um den Stammtisch des Klubhauses versammeln. Fünf Spezi, bitte! »Und du, Hakan?«– »Ramadan.« – »Hattest du trotzdem gute Aktionen im Training?« – »Nö.« Großspurig sind sie nicht, diese 14-jährigen Landesligisten, die gerade den Aufstieg in die Verbandsliga verpasst haben. Außer, wenn es um das Team geht. »Wenn die ganze Mannschaft Gas gibt und das Tor machen will, das ist der beste Moment«, sagt Michelle, das einzige Mädchen der Mannschaft. »Wie neulich in Nienstedten, als Jasper einen Fehler gemacht hat«, ergänzt Kapitän Justin, der seit zehn Jahren dabei ist. »Dann haben wir uns in den letzten zehn Minuten zusammengerissen und das Spiel gedreht.« Es purzeln Beispiele dafür, wie wichtig die Mannschaft auch außerhalb des Platzes ist. Wie das von dem Mitspieler, dessen Eltern sich scheiden ließen. »Den konnten wir ein bisschen aufbauen.« 24
An der Schwelle vom Träumen zum Denken
Gespräch mit einer Spielerin und fünf Spielern der Landesliga-C-Jugend
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Trainer mit eigener Philosophie Außer Hörweite, am Nebentisch, sitzen Conni Thau und Thorsten »Koy« Klose, ihre Trainer. Mit ihnen hatten wir uns schon vorher getroffen. »Es geht nicht nur um fußballerisches Talent. Es geht auch um den Menschen, das Pflichtbewusstsein und den Teamplay-Gedanken«, sagt Thau. Die beiden gehören zu den Trainern, die darauf achten, dass bei Ansprachen niemand ins Sonnenlicht guckt. »Dann gucken sie woandershin und hören nicht mehr zu.« Das haben sie neben Trainingsaufbau, Warmmachen und Erster Hilfe in der Trainerausbildung gelernt. Nach vielen Jahren Traningsleitung sind sie in der weiteren Fortbildung eher Autodidakten, die sich passende Übungen aus dem Internet ziehen. Das bringt ihnen mehr, als zu den zweimal im Jahr angebotenen Schulungen der Stützpunkttrainer zu gehen. »Das habe ich dreimal gemacht«, sagt Koy Klose. »Die haben mir jedes Mal etwas anderes erzählt.« So bekommen die beiden auch nichts von der Trainingsphilosophie mit, die der DFB über die Stützpunkte in die Vereine tragen möchte. »Koy ist ein sehr guter Trainer!«, schallt es übertrieben laut vom Nebentisch rüber. Koy Klose hat seine eigene Philosophie. Er lässt seine Spieler den Blick für den Raum üben. Beidfüßig sollen sie werden und schnell spielen, im Training sind oft nur zwei Ballkontakte erlaubt. Vor allem aber sollen sie miteinander spielen. »Du musst der Mannschaft eine Idee einhauchen, dass da elf Leute mitspielen«, ergänzt Klose. »Wir spielen im Training oft auch sechs gegen fünf. Da merken sie, dass die sechs fast immer gewinnen, selbst wenn bei den fünfen die Besseren mitspielen. Die Verlierer müssen dann die Tore wegtragen. Dauert nur eine 26
An der Schwelle vom Träumen zum Denken
Minute, aber das hassen sie wie die Pest. Verlieren ist deshalb das Schrecklichste für sie.« Noch schrecklicher ist es allerdings, einen Mitspieler zu verlieren. Am Nebentisch knapsen die C-Jugendlichen noch daran, dass ihr Freund Julius vor kurzem zum FC St. Pauli gewechselt ist. »Ich finde es sehr gut für ihn, dass er die Möglichkeit gefunden hat, höher zu spielen«, sagt Jasper, der Torwart. »Auch wenn das schade für die Mannschaft ist.« Vorher, beim Abschlussspiel auf dem Trainingsplatz, hatte Jasper seine Mannschaft von hinten raus lautstark dirigiert, seine Abwehr präzise gestellt. Ein Musterbeispiel für einen mitspielenden Torwart. Trotzdem hat der FC St. Pauli ihn bislang verschmäht. »Mir wird jedes Mal gesagt, ich soll wiederkommen, dass ich aber mehr wachsen muss«, sagt er. »Ich bin für einen Torwart eben nicht so groß, im Moment 1,68 Meter.«
Allein unter Jungs »Ich würde ihm das gönnen«, sagt Michelle, und es besteht kein Zweifel, dass sie es so meint. Michelle selbst hat ziemlich klare Vorstellungen von dem, was sie erreichen möchte. Bis 2014 spielte sie noch bei den HSVMädchen. »Da wurde es mir aber zu langsam«, sagt sie. »Hier ist das Tempo höher, und es ist auch aggressiver.« Es ist die offizielle Linie des DFB, die talentierten Mädchen so lange wie möglich bei den Jungs mitspielen zu lassen. »Am Anfang war es ein bisschen gewöhnungsbedürftig, weil es neu war«, sagt Justin. »Aber jetzt denkt man beim Spiel gar nicht mehr daran.« Gespräch mit einer Spielerin und fünf Spielern der Landesliga-C-Jugend
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Trotzdem musste Michelle sich selbst dafür einsetzen, auch im Jungen-Stützpunkt dabei sein zu können. Inzwischen war sie schon in Duisburg beim Sichtungsturnier des DFB für die Mädchenauswahlmannschaften. Den Teamspirit hätte sie da allerdings besser zu Hause gelassen. »Wenn man von den Sichtern aufgeschrieben werden will, muss man egoistisch sein«, sagt sie. »Es nützt nichts, den besten Pass zu spielen, und die anderen verwandeln ihn nicht. Dann fällst du nicht so auf, als wenn du durch zwei durchgehst und beim Dritten den Ball verlierst.« Die Jugendlichen entwickeln viel Fingerspitzengefühl, um in unMichelle terschiedlichen Situationen und Gruppen die richtige Wahl zwischen Mannschaft und Ego zu treffen. »Wenn du die Wahl hast, abzuspielen oder das Tor zu machen, willst du es oft selber machen«, erzählt Justin vom Stützpunkttraining. »Aber in wichtigen Spielen passt man den Ball dann doch lieber rüber, wenn dann die Chance größer ist.« Der spielstarke Mittelfeldspieler hat schon in der Hamburger Auswahl gespielt. Dorthin ist er zuletzt nicht mehr eingeladen worden. »Mein Freund spielt da noch, da kommt jetzt richtig Druck dazu«, sagt er. »Vor kurzem musste er fast jedes Wochenende weg, auch unter der Woche für zwei, drei Tage. Bald kommt noch die Nationalmannschaftssichtung dazu. Aber ich kann mir vorstellen, dass das auch Spaß bringt.« Die Tür ist jedenfalls noch nicht zu. »Bei Justin ruft mich der Auswahltrainer jeden Monat an und sagt, er warte nur darauf, dass er körperlich zulegt«, sagt Conni Thau. Eine Zeitlang hat Justin extra Krafttraining gemacht. »Aber ich habe ja viermal die Woche Fußball, danach fehlt mir dann die Lust.« Im Gegensatz zu Justin und Jasper hat Felix seinen Wachstumsschub schon hinter sich. Das macht die Sache nicht einfacher. »Das ist oft ein Problem, wenn einer erst wenig wächst und dann plötzlich mit seinen langen Beinen nicht klarkommt«, sagen die Trainer. Für Felix war bislang 28
An der Schwelle vom Träumen zum Denken
Felix
Gregor
schon bei der Sichtung zum Stützpunkt Schluss. »Klar will man da reinkommen«, sagt er. »Aber ich hatte nicht so ein großes Problem damit. Ich kann mir vorstellen, das nochmal zu versuchen.«
Worauf es ankommt Wenn man ihren Trainern glaubt, stehen die sechs hier gerade an der Schwelle vom Träumen zum Denken. »Bis zur C-Jugend denken die meisten, sie werden Profi«, sagt Klose. »Vor allem denken die Eltern das«, ergänzt Thau. Als dieses Thema ansteht, kommt das Gespräch richtig in Fahrt. Jasper: »Profi zu werden war bei mir ein Kindheitstraum, wie bei allen. Aber im Laufe des Lebens kommen andere Interessen dazu.« Felix: »Dann denkt man auch mehr darüber nach, ob man es wirklich schaffen kann. Ich habe immer noch ein bisschen den Wunsch, aber wenn man realistisch ist, dann denkt man auch schon über ein, zwei andere Sachen nach.« Justin: »Ich möchte gern in der zweiten Mannschaft eines Profivereins Gespräch mit einer Spielerin und fünf Spielern der Landesliga-C-Jugend
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Hakan
Justin
spielen, mit achtzehn langsam an die Profimannschaft herangeführt werden und dann auch schon etwas Spielzeit bekommen.« Hakan: »Seit ich zwölf bin, weiß ich, dass ich kein Profi werde.« Gregor: »Man kann sich auch verbessern. Ich habe von Profis gehört, die sind erst mit zweiundzwanzig dahingekommen.« Michelle: »Ich möchte weit kommen. Die Wahrscheinlichkeit ist natürlich größer als bei den Jungs. Zuerst möchte ich nochmal in Duisburg von der Nationalmannschaft gesichtet werden und in den erweiterten Kader kommen.« »Welchen Reiz übt der Traum von der Profikarriere für euch aus?« Justin: »Dass man sein Hobby zum Beruf macht, dass man damit Geld verdient, dass man dann berühmt ist und die Leute einem zuschauen.« »Habt ihr Angst davor, dass es irgendwann nicht weitergeht?« Justin: »Klar, die Angst ist schon da, dass man seinen Traum nicht leben kann. Aber wenn man mit einem gewissen Selbstbewusstsein darangeht und an sich glaubt – ohne zu denken, dass man der Beste ist –, dann geht das.« »Worauf kommt es an, um Erfolg zu haben? Glück, Ehrgeiz, Talent, Unterstützung, Beziehungen?« Jasper: »Auf den Ehrgeiz, dass man nie aufgibt.« 30
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Justin: »Dass man wieder aufsteht, wenn man hinfällt.« Felix: »Es kommt natürlich auch auf das Talent an. Du kannst noch so viel Ehrgeiz haben – wenn du kein Talent hast, bringt das nichts.« Michelle: »Ich finde, es kommt auf die Gesamtmischung an. Unterstützung durch die Familie ist natürlich wichtig, die müssen überall hinfahren.« Jasper: »Wenn man von einem Verein wieder rausgeschmissen wird, sollte man es immer weiter versuchen. Einer meiner Freunde hat ein paar Jahre bei Twente Enschede gespielt, wurde mit fünzehn da rausgeschmissen und fiel erstmal in ein Loch. Er hatte die Lust Jasper auf professionellen Fußball verloren und schlug sogar ein Angebot von Schalke 04 aus.« »Was macht er jetzt?« Jasper: »Er spielt in seinem Dorf im Emsland.« »Wie wäre es denn, wenn ein großer Verein käme und euch ins Leistungszentrum holen will und ihr dafür wegziehen müsstet?« Jasper: »Kommt drauf an, wie gerade die familiäre Lage ist, was die sagen.« Justin: »Ich glaube, jetzt noch nicht, aber vielleicht später, wenn ich reifer bin, frühestens in drei Jahren. Ich kenne einen, der hat das früher gemacht.« Das war der 13-jährige Sidnei Djalo, dessen Wechsel vom FC St. Pauli zum VfL Wolfsburg Ende 2014 für Schlagzeilen sorgte. Joachim Philipkowski, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums beim FC St. Pauli, kritisierte damals, dass der Junge in einer wichtigen Entwicklungsphase aus seinem gewohnten familiären und sozialen Umfeld gerissen würde. »Eine eher traurige Geschichte«, meint Jasper und erntet Widerspruch von Felix: »Ich finde es im Gegenteil relativ gut, wenn man aus nicht so guten Verhältnissen kommt, die Chance zu haben, mit dem Hobby Geld zu verdienen und sogar noch der Familie helfen zu können.« Gespräch mit einer Spielerin und fünf Spielern der Landesliga-C-Jugend
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»Glaubt ihr, dass Özil und Messi glückliche Menschen sind?« Hakan (ganz schnell): »Nein.« »Wie meinst du das?« »Die haben auch hart trainiert, deshalb glaube ich nicht, dass es Glück ist.« Nach Hakan kann man sich also auch das Glücklichsein erarbeiten. Er selbst ist aber schon immer so klar, dass sein Glück nicht in einer Profikarriere liegt. Im eigenen Verein fehlt bislang das Vorbild für eine Profikarriere. Viele der Spieler, die Koy Klose trainiert hat, sind in der Oberliga gelandet, einige wenige in der Regionalliga. »Derzeit habe ich noch einen oder zwei, die denken, sie könnten in der dritten Liga landen, also im bezahlten Fußball«, sagt Klose. »Da ist der Zug noch nicht abgefahren. Die Entwicklung eines Jugendspielers ist nicht in der A-Jugend zu Ende. Du musst gucken, bis er einundzwanzig ist.« Ein paar Wochen nach diesem Gespräch erfahren wir, dass Justin inzwischen auch zu einem größeren Verein gewechselt ist. Die anderen sind alle im Verein geblieben. Und sind aktuell Spitzenreiter ihrer Staffel in der Landesliga. Felix führt dazu auch die Torjägerliste an, Jasper ist inzwischen deutlich über 1,70 Meter groß. Michelle ist weiter in der DFBSichtung. Egal wohin es die Jungs und das Mädchen noch verschlägt – der eine oder die andere wird in 20 Jahren vorm Einschlafen versuchen, die Aufstellung dieser Jahre noch einmal zusammenzubekommen.
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An der Schwelle vom Träumen zum Denken
Die Bundesliga ist kein Ponyhof! Lewis Holtby über seinen Weg zum Profi
Mit Lewis Holtby treffen wir uns auf großer Bühne – in einer Loge des Volksparkstadions, mit Blick auf die leeren Ränge und den Rasen. Hier sitzen während eines Bundesligaspiels die Sponsoren. In einer anderen Ecke des Raumes gibt HSV-Kapitän Johan Djourou ein Interview. Der Rheinländer Holtby erzählt gern, auch über seine Zweifel, die ihn als Jugendlichen mal beschlichen. Holtby ist keiner von jenen 50 Prozent der Profis, die am liebsten nie angesprochen werden. Er beschreibt, wie er es geschafft hat, sich als einer der Kleinsten trotz manchen Rückschlags durchzubeißen – auch mithilfe seiner Eltern. In Mönchengladbach konnte er sich in der C-Jugend nicht durchsetzen. Für den DFB wurde er erst als U19-Spieler wirklich interessant. Aber dann bestritt er am 17. November 2010 gegen Schweden mit 20 Jahren das erste von bisher drei A-Länderspielen für Deutschland. Holtby wurde ziemlich viel herumgereicht. Als sei er ein Söldner, der nichts von der Bodenständigkeit hat, die ihn in Wirklichkeit bis heute mit seinen alten Kumpels verbindet: von Aachen zu Schalke, ausgeliehen nach Bochum und Mainz, dann wieder Schalke. Schließlich erfüllte er sich 2013 den Traum des Sohnes eines Engländers – er wechselte in die Premier League zu Tottenham Hotspur. Sein »Dad« hatte ihm als Kind zu Weihnachten immer England-Trikots und keines mit dem deutschen Adler geschenkt. Ausgerechnet in England kam seine Karriere allerdings ins Stocken. Er wurde wieder ausgeliehen – diesmal an den FC Fulham. Dort stieg er mit dem Trainer Felix Magath (der auch mal sein Coach auf Schalke war) in die zweite Liga ab. Nach diesem »Cut«, wie Holtby sagt, hat er sich ausgerechnet den Hamburger SV ausgesucht. Als er 2014 (zunächst wieder auf Leihbasis) den Vertrag unterschrieb, habe er sich gesagt: »Das Projekt ist für mich auch ein Selbstbild. Auch der HSV hatte in den letzten Jahren einen Cut.« Es beschreibt jedenfalls gut, wie es im Fußballgeschäft auf und ab gehen kann. Lewis Holtby über seinen Weg zum Prof i
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Wann wurden Sie zum ersten Mal richtig gefördert?
Mit zehn Jahren, als ich von Sparta Gerderath zu Gladbach gegangen bin. Es gab zwei Anfragen, von Leverkusen und Gladbach. Schon beim ersten Training habe ich gemerkt, dass da andere Sachen trainiert wurden. Passspiel, mit welchem Fuß man anspielen soll und solche Dinge. Da gab es dann auch mal kleine innerliche Niederlagen, weil man Sachen nicht so hingekriegt hat?
In jedem Fall. Es gehört ja auch viel Disziplin dazu. Das war bei Gladbach ein Kulturschock. Gut, dass es so früh anfing. Ab wann haben Sie gedacht, ich werde mal Profi?
In Aachen habe ich das erste Mal geglaubt, professionell spielen zu können. In Gladbach war ich noch zu schmächtig. Und zwei, drei Leute spielten auch auf meiner Position. In der Phase haben Sie sich noch nicht richtig durchgesetzt?
Nee. Da war viel Zweifel da. Manchmal war ich niedergeschlagen und habe überlegt, wieder in die Heimat zu gehen. Aber mit guten Gesprächen, auch mit meinen Eltern und dem Trainer von Gladbach, bin ich davon wieder abgekommen. Als ich nach Aachen gewechselt bin – sie spielten in der gleichen C-Jugend-Liga –, ging es nur noch bergauf. Was war anders in Aachen?
Mit 16 Jahren bin ich schon in die U17 gegangen. Ich hatte die richtigen Trainer – Helle Birk und Markus Höfner – und wurde auch Kapitän. Beide haben mir sehr viel Vertrauen gegeben. Mit siebzehn habe ich mein erstes Zweitliga-Spiel gemacht, das ging rasant. Das Wichtigste war, dass ich mit Jörg Schmadtke jemanden hatte, der wirklich auf mich stand. Es muss eben einer da sein auf höherer Ebene, der dein Talent erkennt. Deshalb bin ich ihm sehr dankbar. In einem DFB-Stützpunkt waren Sie nie?
Bis zur U17 war ich nur in der Niederrhein-Auswahl. In der U18 des DFB wurde ich auch nicht richtig akzeptiert, weil ich zu klein war. Ich habe immer wieder Rückschläge erlebt in der Phase. Wurde zwar eingeladen, aber immer wieder nach Hause geschickt. Wie wichtig waren zu diesem Zeitpunkt die Eltern?
Sehr wichtig. Es gab ehrliche Meinungen, aber meine Eltern haben mich auch wahnsinnig gut unterstützt. Ich wollte nie aufgeben. Ich war einfach überzeugt, dass ich ein guter Fußballer war, und wollte es auch beweisen. Haben Ihre Eltern Sie auch unterstützt bei der Vorstellung, Profi zu werden?
Die waren auch voller Überzeugung, dass ich es schaffen kann. Die haben alles dazu getan: Zeit, Geld, Liebe, Vertrauen. Das haben sie alles reinge34
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worfen. Sie haben uns – mein jüngerer Bruder war auch bei Gladbach – viel Kraft gegeben und uns immer gefahren. Das werden wir nie vergessen.
Michael Owen und David Beckham haben seine Kindheit geprägt Hatten Sie Vorbilder?
Ich habe immer viele Videos angeguckt, Michael Owen und David Beckham haben meine Kindheit geprägt. Owen ist schon mit 18 Jahren bei der WM 1998 in Frankreich groß aufgetreten, das hat mich sehr beeindruckt. Man hat immer viel nachgeäfft, versucht, die gleichen Schuhe zu kaufen oder die gleiche Frisur zu tragen – wie es halt so ist. Wann haben Sie erstmals bemerkt, dass Scouts Sie beobachtet haben?
Ich war vielleicht zehn Jahre alt, und wir hatten ein Turnier, in dem wir gut gespielt hatten. Da habe ich gemerkt, dass danach zwei Leute zu meinen Eltern gekommen sind. Als ich fragte, wer das war, haben sie gesagt, das sind Bekannte, die kennst du nicht. Sie haben mich angeschwindelt. Bis ich irgendwann von der Schule nach Hause kam und sie gesagt haben, dass wir mal nach Leverkusen fahren, weil wir ein Probetraining haben. Entschieden haben Sie sich trotzdem für Gladbach?
Es war näher dran. Leverkusen war zwar von der Ausbildung her das Nonplusultra. Doch das waren immer eineinhalb Stunden Fahrt. Außerdem war ich Gladbach-Fan, der Wechsel zur Borussia war das i-Tüpfelchen. Ab wann haben Sie gemerkt, das ist nicht nur Fußball, sondern Leistungssport?
Schon beim ersten Training in Gladbach. Als alle in der Kabine waren, hat der Trainer allen Trainingsanzüge gegeben, du musstest dich aufwärmen. Das ganze Fußball-ABC und die Technikschule waren angesagt. Da habe ich gemerkt, jetzt bist du nicht mehr auf dem Dorf. Du triffst nicht mehr deine Dorfjungs, mit denen du spielen willst, sondern weißt, es gibt einen Konkurrenzkampf, und jeder will spielen. Wie war das mit der Schule?
Die habe ich nebenbei ganz ordentlich gemacht. Ich war guter Durchschnitt, hatte immer meine Top-Fächer. Englisch, Geschichte und Erdkunde waren gut. Meine Mutter hat immer viel investiert, ich habe auch Nachhilfe bekommen. Schule, Nachhilfe, Training. Trotzdem habe ich mich gefreut, wenn ich in der Schule noch Fußball-AG hatte. Das war schon ein Riesenpensum. 36
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Mehr als ein Profi …
Im Grunde genommen schon. Du hast kaum gegessen und musstest schon wieder in den Bus einsteigen. Abends um halb zehn warst du wieder zu Hause und musstest noch lernen. Das war am Limit. Aber mein Fokus lag auf dem Fußball. Genau wegen dieses Programms steigen wahrscheinlich viele aus.
Ich habe versucht, alles positiv zu sehen. Ich war dankbar, so am Limit spielen zu dürfen. In meinem Umfeld wurde es als etwas Besonderes angesehen, dass ich in einem Profiverein spielte. Wie haben Sie die Schule abgeschlossen?
Mittlere Reife. Dann habe ich ein Jahr lang angefangen, Sozial- und Gesundheitswesen zu lernen oder studieren, dann kam der Scheideweg. Ich habe mich für den Profiweg entschieden. Ich wollte 100 Prozent haben, nicht mehr 50. Als ich sechzehn war, durfte ich manchmal bei den Profis mittrainieren. Aber oft ging das nicht, wegen der Schule. Ich hätte es nicht geschafft, wenn ich die Schule weitergemacht hätte. Wer hat Sie dazu gebracht, mit der Schule aufzuhören?
Das waren Aachens Trainer Jürgen Seeberger und Manager Jörg Schmadtke. Deren Wertschätzung war extrem wichtig. Wir haben das alles mit meinen Eltern und den Lehrern besprochen, dass ich mich voll auf Fußball konzentriere. Meine Eltern standen zu 100 Prozent hinter mir. Sie hatten nie das Gefühl, dass Sie auf etwas verzichten im sonstigen Leben?
Damals nicht, ich hatte ja meine Träume. Die anderen sind alle losgegangen, mir war der Ball wichtiger.
Das erste Profi-Tor war der schönste Moment in seinem Fußballerdasein Wissen Sie noch, was am 5. Dezember 2008 passiert ist?
Da habe ich mein erstes Zweitliga-Tor für Alemannia Aachen gemacht, gegen 1860 München. Ich glaube, das war der schönste Moment in meinem Fußballerdasein. Ich hatte für alle Karten besorgt, die die dann beLewis Holtby über seinen Weg zum Prof i
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zahlt haben. Familie, Freunde, Opa, ich hatte 20 Mann da. Dann hat Thomas Stehle von der rechten Seite geflankt, ich komme durch und halte den Fuß hin. Das war unglaublich. Ich bin zu meiner Familie und den Freunden gesprintet. Die sind über die Bande gesprungen, und wir haben gefeiert. Wir haben 2:0 gewonnen. Wie unterscheiden sich Leute wie Felix Magath, Thomas Tuchel oder Bruno Labbadia von einem Jugendtrainer?
Jugendtrainer haben auch Härte. Der Unterschied ist, dass die meisten Profitrainer mehr Know-how im Fußball haben. Allein das taktische Wissen und die Psychologie. Magath hat ja eine sehr eigene Psychologie. Sie sagten mal, dass er Sie zur Sau gemacht habe.
Das hat er. Die Zeit war nicht einfach für mich, da habe ich sehr viel Kopfschmerzen gehabt. Aber wenn man nachher darüber nachdenkt, hat es mir schon viel mitgegeben. Von der Psyche her stabiler zu sein, das aufzunehmen und richtig einzuordnen, was man gesagt bekommt. Die Art und Weise, wie man da vielleicht zur Sau gemacht wird, hat auch etwas Positives. Es war vielleicht gut für mich, um das Profigeschäft richtig kennenzulernen. Ich glaube, er wollte mir nur zeigen: Die Bundesliga ist kein Ponyhof. Das ist schon eine andere Härte. Du erlebst ja auch Mitspieler, die auf deinen Platz wollen. Du musst halt stark im Kopf sein. Und was war bei Tuchel das Wesentliche?
Bei Tuchel habe ich vor allem taktisch sehr viel gelernt. Er war der erste Trainer, bei dem ich den Fußball richtig einordnen konnte. Das Jahr in Mainz war fantastisch zur Weiterentwicklung. Ich habe taktische Schachmatt-Züge gelernt und war begeistert, wie viel Spaß Fußball auch auf diesem Niveau machen kann. Und Labbadia?
Man merkt, dass er lange gespielt hat, dass er sich in die Spieler hineinversetzen kann. Er hat einen Willen und Ehrgeiz, den ich selten gesehen habe. Der kommt jeden Morgen ganz früh, nachdem er vorher schon für sich gelaufen ist. Das ist Selbstdisziplin. Der lebt alles vor und kann es den Spielern vermitteln. Zurück zur Jugend. Wie ist das für Sie gewesen, als Talent umgarnt zu werden?
Mir war immer klar bewusst, wo ich herkomme. Mir liegt meine Heimat Gerderath sehr am Herzen. Ich weiß, dass wir nicht immer viel hatten, aber es hat gereicht. Mein Vater war Sachbearbeiter bei der Royal Air Force und ist dann Sachbearbeiter in einer japanischen Firma in Duisburg gewesen, meine Mutter ist Friseurin. Das waren ganz normale, einfache Verhältnisse, mit Respekt vor anderen und natürlich mit viel Liebe. 38
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Wie halten Sie es mit den Schulterklopfern?
Wenn die Schulterklopfer kommen, muss man analysieren. Wer sind deine richtigen Freunde, und wer nicht? Ich habe mich nie verleiten lassen von irgendwelchen Menschen. Das ist das Wichtige, dass du dich von der Birne her immer richtig einschätzen kannst. Wissen Sie noch, wo Ihre ersten Mitspieler geblieben sind? Gibt es noch Kontakte?
Zu 50 Prozent von denen habe ich noch sehr engen Kontakt. Das sind meine besten Kumpels. In der D-Jugend denken alle, dass sie Profis werden, und dann geht es irgendwann langsam los, dass einige merken: Es wird wohl doch nichts. Wie haben Sie deren Enttäuschungen erlebt?
Einige haben nur kurz an der vierten Liga geschnuppert und gemerkt, mehr geht nicht. Einige haben komplett aufgehört. Der eine ist jetzt Postbote, kickt jetzt nur noch im Heimatdorf. Viele haben das Talent gehabt, sich aber für einen Beruf entschieden. Einige haben Mist gebaut. Es gibt auch die Söldner, die durch die Kreisliga-Klubs gehen und ein bisschen Kohle holen. Was unterscheidet diejenigen, die durchkommen, von den anderen?
Das Umfeld. Das ist sehr wichtig. Du brauchst zu Hause keinen, der dir die ganze Zeit erzählt, wie super du bist, obwohl du Schuld an einer Niederlage hast. Du brauchst objektive Meinungen, du brauchst viel Liebe, viel Zeit von deinen Eltern, das ist das Wichtigste. Es gibt Leute, die können nicht sehr gut mit Geld umgehen. Als Profi hat man ja plötzlich viel Geld, was andere in dem Alter noch nicht haben. Wie sind Sie damit umgegangen?
Zum ersten Mal habe ich in Aachen eine Punktprämie bekommen für mein erstes Bundesligaspiel gegen St. Pauli. Da hatte ich das erste Mal so einen Umschlag mit 1000 Euro in der Hand. Ich hatte keinen Profivertrag, nichts. Für mich waren damals 50 Euro eine Summe, mit der ich schnell zur Sparkasse gefahren bin oder meiner Mutter gesagt habe: Das muss schnell weg. Oder das erste Mal, als ich selbst ein Auto finanzieren konnte – Wahnsinn. In Aachen bekam ich anfangs 150 Euro.
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Fünf Fußballwege Max Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau und Nic Kühn
Der zielgerichtete Zocker Max Kruse ist längst Nationalspieler. Er wird bewundert, weil er als Antreiber, Vorbereiter und auch als Vollstrecker überzeugen kann. Eine seiner großen Stärken ist die Antizipation, nämlich zu ahnen, wo man hinlaufen muss, wo etwas passiert. Obwohl der gebürtige Reinbeker, der sieben Jahre beim SC Vier- und Marschlande vor den Toren Hamburgs spielte, als Junge in HSV-Bettwäsche schlief, hat er sich seine Vereine sehr bewusst ausgesucht und sie auch sehr gezielt gewechselt. Nämlich immer dann, wenn er unbedingt den nächsten Schritt machen wollte. Zur Ausbildung hat er sich 2006 für Werder Bremen entschieden. Als es dort nicht klappte mit einem Stammplatz im Profiteam, ging er 2009 zum FC St. Pauli, mit dem er sogar in die Erste Bundesliga aufstieg. Als er nach dem Abstieg am Millerntor in der zweiten Liga zu versanden drohte, ging er zum SC Freiburg, bevor ihn ein Jahr später der Spitzenklub Borussia Mönchengladbach holte. Dann hatte Max Kruse quasi die freie Wahl. 2015 wechselte er zum finanzstärkeren VfL Wolfsburg, damals Vizemeister und DFB-Pokalsieger. Uwe Harttgen, zu Kruses Bremer Zeiten Leiter des Werder-Leistungszentrums, sagt: »Max ist ein Typ wie Thomas Müller, der ist psychisch robust, den ficht nichts an. Das haben wir schnell festgestellt. Der nimmt den Ball, geht drauf und löst damit etwas aus. Auch wenn er hängen bleibt – Max geht weiter, das ist ein Zocker. Er will den Zweikampf gewinnen, das Tor schießen, und er macht das spielerisch locker. Stark!« Max Kruse sei mutig, wolle sich behaupten, es mache Spaß, ihm zuzugucken. »Solche mentale Stärke beeindruckt auch andere. Im Nachhinein betrachtet hat er immer den richtigen Weg gewählt«, sagt Harttgen. Wie aber hat seine Karriere begonnen? Für Stephan Kerber, Hamburgs Stützpunktkoordinator, war der zehnjährige Max Kruse – damals noch beim TSV Reinbek – einer der ersten Spieler, die er seinerzeit sichtete. »Wer ihn sah, mit seiner Antriebsfreude und seinem Spielwitz, bekam Energie für die eigene Arbeit«, erinnert sich Kerber. Max habe nicht daMax Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau und Nic Kühn
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über nachgedacht, ob der nächste Lauf umsonst sein könnte. Er habe sich an Geschwindigkeit und Tempo gefreut, am Torjubel und am Mannschaftserfolg. Früh hat sich Max Kruse (Jahrgang 1988) bei drei Leistungszentren beworben. Er wollte in ein Internat, weil er damit eine Profikarriere verband. Doch in Hannover, Wolfsburg und Rostock bekam er Absagen. Vielleicht auch, weil sich in der C-Jugend-Zeit sein Körper ein Stück weit umbaute. Er war zu dieser Zeit nicht mehr ganz so spritzig. In der Hamburger Auswahl konnte er sich nicht gegen Rouwen Hennings (Jahrgang 1987) vom HSV durchsetzen. Deshalb schaffte er zunächst nicht den Sprung in die Nationalmannschaft. Das änderte sich erst durch Frank Engel, den DFB-Trainer der U18, der ein Faible für spielerisch starke Spieler hatte. Als er nach der U23-Zeit bei Werder Bremen zum FC St. Pauli ging, machte er den nächsten Schritt – auch dank des Fitnesstrainers Pedro Gonzales. Zur Entwicklung gehörte auch, dass er seinen Weg erst finden musste. Bei einem Treffen im Sporthotel Trappenkamp war für den 13-Jährigen Max das Buffet damals wichtiger als die sportliche Leistung. »Das«, sagt Kerber, »ist normal für Kinder, wenn es mal kein Sportschulessen, sondern Hotelessen mit Tischservice gibt. So kam er jedenfalls nicht zu seiner Leistung.« Das musste zum Leidwesen seines Vereinstrainers kommuniziert werden. Doch das Direkte habe sich bewährt. »Max benötigte den Hinweis, auf den Körper und die Ernährung zu achten.« Dass Max Kruse trotz seiner Zielstrebigkeit nicht als einfacher Profi gilt, dem hin und wieder die Balance zwischen Spaß und Vernunft fehlte, hat ihn vermutlich sogar die Teilnahme an der WM 2014 gekostet. Zwar hatte ihn Bundestrainer Joachim Löw danach wieder aufgenommen in den Kreis der Nationalmannschaft – weil er beeindruckt war, dass sich Kruse bei jedem Verein durchsetzte. Doch die ganz große Karriere könnte an seinen Vorlieben für schnelle Autos, das Pokern und für Partys scheitern. Beim VfL Wolfsburg wurde er im März 2016 nach zwei Vergehen mit fünfstelligen Geldstrafen belegt, Löw lud ihn wieder aus, nachdem er ihn für die nächsten Länderspiele schon nominiert hatte.
Eine »nebenberufliche« Profi-Karriere Als das Talentfördersystem des DFB aus der Taufe gehoben wurde, war Fabian Boll schon Anfang zwanzig. Doch auch für einen Spieler seiner Zeit ist sein Karriereweg ungewöhnlich. Denn Profi zu werden war nie sein »Lebenselixier«. Sein Ziel war eher, Polizist zu werden, wie viele 42
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in seiner Familie. Hätte sich seine C-Jugend-Mannschaft in seinem schleswig-holsteinischen Heimatklub Bramstedter TS nicht nahezu aufgelöst, wäre er wahrscheinlich »bis an mein Lebensende dort geblieben«, behauptet er. Eher notgedrungen erfolgte also der erste »Karriereschritt« zum Itzehoer SV 09 in die B-Jugend-Verbandsliga. Sein Talent wurde spätestens mit zwölf Jahren entdeckt. Er übersprang immer ein Jahr, wurde in die Kreis- und Landesauswahl berufen. Aber schon früh lautete sein Motto: »Step by step«. Mal sehen, wie weit es geht. Über sein einjähriges A-Jugend-Gastspiel beim HSV redet der echte St. Paulianer nicht so gern. Nur darüber, wie er ohne Fahrservice fast täglich vom Trainingszentrum zurück in den Heimatort kam: »Ich musste mich um 16.47 Uhr in den Zug setzen, kam abends um 22.11 Uhr in Kaltenkirchen wieder an, da wurde ich von meinen Eltern im Auto abgeholt. Noch mal 20 Minuten Autofahrt.« Bei den Senioren wechselte er dann in die vierte Liga, erst zurück nach Itzehoe, später über den TSV Lägerdorf zum Spitzenklub 1. SC Norderstedt. Überall war er gleich Leistungsträger – kein Wunder, dass sich Werder Bremen, der FC St. Pauli und auch wieder der HSV für ihn interessierten. Doch der Traum vieler Gleichaltriger ließ Boll kalt. Schließlich hatte er es nach dem Abitur geschafft, unter 5000 Bewerbern eine Ausbildung bei der Hamburger Kriminalpolizei zu ergattern. Noch heute erzählt er ohne Bedauern, wie er das Angebot aus Bremen ablehnte, weil er dort seine Ausbildung hätte abbrechen müssen. Und auch beim FC St. Pauli sagte er erst zu, als sich das Team in Norderstedt wegen fehlender Sponsoren auflöste. »Wenn dein Lieblingsverein, bei dem du eine Dauerkarte hast, zweimal anfragt, solltest du schon zusagen.« Da war er 23 Jahre alt, der Vertrag galt zunächst nur für die zweite Mannschaft. Als er ein Jahr später in die erste Elf wechselte, die damals nach dem Lizenzentzug in der dritten Liga spielte, wurde er zu einer Art Sonderfall: 20 Stunden Polizist, in der restlichen Woche Fußballprofi. Das blieb bis zum Karriereende 2014 so, auch in der ersten Liga. Als Kapitän, wohlgeMax Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau und Nic Kühn
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merkt. Er hat das nicht als Doppelbelastung, sondern als »absolute Grundentspannung« empfunden: »Manche waren im Mai völlig fertig, wenn sie noch keinen neuen Vertrag hatten.« Seine ersten Verträge hat er alleine ausgehandelt, der allererste bestand aus einer »DIN-A4-Seite mit zwei Zahlen drauf, womöglich noch mit einem Kaffeeflecken.« Erst als es darum ging, ein bisschen mehr Geld zu verdienen, hat er mithilfe eines Mannschaftskollegen jemanden gefunden, der sich in Vertragsdingen gut auskannte. Trotz dieser allzeit entspannten Haltung ist Boll überzeugt, dass er ohne Disziplin, Willen und eine gehörige Portion Selbstantrieb nicht im Profifußball angekommen wäre. Ganz eingenommen hat ihn diese Welt nie. »Das ist meine Erziehung«, sagt er. »In unserer Familie waren alle sehr bodenständig, viele Beamte und Polizeibeamte, die nie große Sprünge machen konnten, aber immer versucht haben, trotzdem mal für fünf Tage nach Dänemark in den Urlaub zu fahren. Wenn du das in der Kindheit mit auf den Weg bekommst, dann wirst du so.« Ob der Nachwuchstrainer des FC St. Pauli, Fabian Boll, ein richtiger Coach im Profifußball wird, ist noch unklar. Einen Masterplan hat er nicht. »Step by step« eben. Gucken, ob es ihm liegt.
Nach Magaths Entlassung fehlte der Mentor Wer im Februar 2016 auf transfermarkt.de die Spieler des westdeutschen Regionalligaklubs SpVgg Velbert angeklickt hat, wird auf den gerade 23 Jahre alt gewordenen Nils Zander gestoßen sein. Sechs Spieler im Aufgebot des Aufsteigers wurden teurer gehandelt als der mit einem Marktwert von 75.000 Euro angegebene defensive Mittelfeldspieler. Schaut man sich die Geschichte des bei Schalke 04 groß gewordenen Nils Zander genauer an, wird klar: Da hatte jemand den großen Traum vom Profifußball, war ganz nah dran – und ist womöglich gescheitert wie so viele andere. 2011 hatte der knapp 18-jährige Nils Zander sich zusammen mit seinem Altersgenossen Julian Draxler ein Zimmer im Schalker Profi-Trainingslager im türkischen Belek geteilt. Trainer war Felix Magath, und dem gefiel es, wie extrem sich Zander engagierte. Als er einmal nach einem Tag mit sechs Stunden Training mit Krämpfen weggetragen wurde, lobte der Proficoach: »Das zeigt mir, dass du am Limit arbeitest, das ist genau das, was ich sehen will.« Zu einem Bundesliga-Einsatz aber kam es nicht mehr. Mentor Magath wurde im März entlassen, Zander musste – anders als Draxler – zurück zur U19. Spiegel Online machte 44
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eine Geschichte über den Ausgebooteten und stellte fest: »Kleinigkeiten haben entschieden, dass Draxler heute Welt- und Zander Oberligameister ist.« Es sind vermutlich nicht nur Kleinigkeiten gewesen. Aber Zander schien zunächst einen guten Weg zu nehmen. Der geborene Essener spielte in der U15-, U16- und U17-Nationalmannschaft des DFB, bei der U16 wurde er sogar Kapitän. Man attestierte ihm einen starken linken Fuß, gutes Passspiel, hohe Spielintelligenz und Charakterstärke. Manchester City holte ihn als 16-Jährigen, aber nach nur einem Jahr kehrte er frustriert zurück zu Schalke. Dort wurde er nach seinem England-Ausflug und zu den Profis 2012 deutscher A-Jugend-Meister. Nach der Magath-Zeit machte er auch bei der U23 kein einziges Spiel. Er habe sich »nicht wertgeschätzt gefühlt«, sagt Nils Zander. Was womöglich gegen ihn sprach: Als Linksverteidiger war er nicht schnell genug für das höchste Niveau, als Innenverteidiger mit 1,83 Meter etwas zu klein. Seine Versuche, es noch einmal woanders zu versuchen, misslangen. Alemannia Aachen durfte ihn wegen Insolvenz nicht holen, der FSV Frankfurt gab ihm nur die Zusage für die U23. Deshalb wechselte Nils Zander 2014 zur SpVgg Velbert und stieg 2015 mit dem Team in die Regionalliga auf. Beim Vereinssponsor absolviert er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann und sagt: »Ich bin wieder im Leben angekommen.« Max Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau und Nic Kühn
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Sein früherer Schalker Jugendtrainer Norbert Elgert sagt generell: »Der Hype um die Jungs ist heute viel zu groß. Du wirst unheimlich schnell in die Umlaufbahn geschossen. Du bist aber auch doppelt so schnell wieder raus.«
Ein Nationalspieler steigt aus Wer heute als Jugendlicher den Traum hat, Profifußballer zu werden, kennt Tobias Rau wahrscheinlich nicht. Dabei hat er in der Bundesliga für den VfL Wolfsburg gespielt, ist mit dem FC Bayern München deutscher Meister geworden und war danach noch vier Jahre bei Arminia Bielefeld tätig. Und vor allem: Er ist 2003 mit 19 Jahren Nationalspieler geworden und hat in dem Jahr sieben Länderspiele bestritten. Heute ist der immer noch sehr jugendlich aussehende Tobias Rau 34 Jahre alt. Er könnte also immer noch in der Bundesliga mitspielen. Aber er ist schon seit 2009 nicht mehr dabei. Er ist sehr früh ausgestiegen aus dem Profifußball, mit nur 27 Jahren. Und das hatte nicht allein damit zu tun, dass er oft verletzt war. Inzwischen ist er Pädagoge, sein Studium hatte er schon zu Bielefelder Profizeiten aufgenommen und es genossen, Student zu sein. Zuletzt war der gebürtige Braunschweiger Lehrer an einer Förderschule in Biologie und Sport, 2016 hat er ein Referendariat an einem Gymnasium begonnen. Im »kicker« hat Tobias Rau noch einmal über seinen Ausstieg gesprochen: »Seit ich die Entscheidung getroffen habe, war klar, dass ich sie nie anzweifeln werde. Ich bin sehr froh mit dem Leben, das ich führe. Die Gründe für den Aus46
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stieg waren eine Mischung aus vielem. Zum einen viele Verletzungen, dann das Geschäft an sich. Am Anfang bin ich naiv und damit auch unbeschwert durch die Maschinerie gelaufen. Später war klar: Die Menschlichkeit fehlt absolut. Damit habe ich mich arrangiert, aber irgendwann hatte der Beruf nichts mehr mit meinem Hobby zu tun, dessentwegen ich eine Karriere als Fußballer angestrebt hatte. Natürlich, Fußballer ist noch immer ein Traumberuf. Ich durfte unglaubliche Erfahrungen sammeln und würde jungen Spielern immer raten, alles dafür zu geben. Aber für mich war der Punkt gekommen, an dem ich nicht mehr so hungrig war. Der Druck und die ständigen Adrenalin-Kicks zehren am Körper. Es war für mich sehr befreiend, das nicht mehr zu spüren.« Nach seiner Profikarriere hat Tobias Rau mit Freunden beim TV Neuenkirchen in der untersten Liga angefangen. Inzwischen sind sie zweimal aufgestiegen. »Fußball«, sagt Tobias Rau, »wird immer ein Teil meines Lebens sein.«
Der Mann von morgen? Der erste kleine Zeitungsartikel über Nicolas-Gerrit Kühn erschien, als er 14 Jahre alt war. Nic hatte der Niedersachsenauswahl mit seinen Toren in Leipzig zum Sieg gegen Sachsen verholfen, und in einer hannoverschen Zeitung stand in einer zehnzeiligen Meldung über ihn zu lesen: Leider sei er noch etwas zu jung, um den Profis von Hannover 96 aktuell zu helfen. Zwei Jahre später gilt Nic Kühn immer noch als große Zukunftshoffnung, sogar des deutschen Fußballs. Das Millenniums-Baby (geboren am 1.1.2000) ist inzwischen 16 Jahre alt und U17-Spieler bei RB Leipzig und U16-Nationalspieler. Nic Kühn hat schon eine kleine Nachwuchskarriere hinter sich. Im Verein begann er mit vier Jahren im sogenannten Kirschendorf Klein Heidorn nahe dem Steinhuder Meer. Schon bald wurde der Stürmer umworben. Er wechselte zum größeren Nachbarverein TuS Wunstorf, dann wollte ihn der hannoversche Vorortklub SC Langenhagen. Doch er blieb zunächst in Wunstorf. Schließlich arrangierte sein Vater, der nach Hamburg gezogen war, ein Probetraining beim FC St. Pauli. Nic durfte einmal die Woche mittrainieren und als Gastspieler Turniere und Freundschaftsspiele für die Hamburger absolvieren. Auch Hannover 96 hatte ihn längst auf dem Radar. Ein Jahr später übte Nic Kühn als 96-Spieler im Nachwuchsleistungszentrum an der Eilenriede für seine Karriere. Max Kruse, Fabian Boll, Nils Zander, Tobias Rau und Nic Kühn
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Da hatten die deutschen Spitzenklubs längst ein Auge auf Nic geworfen, der FC Bayern München ebenso wie Bayer Leverkusen. Doch 2015 entschied sich der 15-Jährige für RB Leipzig. Das moderne, von Ralf Rangnick konzipierte RB-Leistungszentrum schien ihm der richtige Ort, den nächsten Schritt Richtung Profifußball zu tun. Einen Ausrüstervertrag mit Adidas hat er längst in der Tasche. Auch Konkurrent Nike hatte ihm einen Vertrag angeboten, nachdem er in Berlin beim Nike-Cup als bester Spieler ausgezeichnet wurde. Einen Berater hat er auch. Es ist Hannes Winzer, der auch Weltmeister Per Mertesacker berät. Womöglich unterscheidet sich Nic Kühn tatsächlich von den meisten anderen Talenten. Ein Beobachter notierte bei einer Partie: »Ein hoher 50-Meter-Ball wird in Bedrängnis von ihm heruntergenommen und sofort mit einer Körperdrehung und dem anderen Fuß um den Verteidiger gelegt, weg ist er.« Es ist nicht nur seine ungewöhnliche Schnelligkeit, Ballbehandlung und Antizipation. Nic Kühn ist sich offenbar auch treu. Als man bei Hannover 96 seinem favorisierten Trainer Tim Hoffmann die Mannschaft wegnahm, hat er sich strikt geweigert, in den älteren Jahrgang ohne Hoffmann aufzusteigen. Im besten Fall kommt er mit so viel Selbstbewusstsein irgendwann zu seinem Lieblingsklub FC Barcelona. Dorthin, wo auch sein Idol Lionel Messi spielt.
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Fünf Fußballwege
II IM SYSTEM – Verschwendete Jugend oder ein Hoch auf diese Zeit?
Der Hightech-Fahrstuhl des DFB Wie der Verband die Nachwuchsförderung aufgebaut hat
Wer sich heute mit dem Talentfördersystem im deutschen Fußball befasst, stößt auf eine kaum überschaubare Flut an Konzepten, Strategien, Leitlinien und Modellen. Der Nachwuchsbereich ist durchstrukturiert wie eine Weltraummission – nur dass das Ziel nicht der Mars ist, sondern die »Spitzenposition im Weltfußball«. So viele Gedanken macht man sich noch gar nicht so lange. In kaum einem DFB-Konzeptpapier fehlen Hinweise auf die Weltmeisterschaft 1998 und die Europameisterschaft 2000, wo die DFB-Teams jeweils nach 0:3-Niederlagen früh aus dem Turnier flogen. Der Schock war ähnlich groß wie gut 40 Jahre zuvor, als die damalige Sowjetunion mit dem Sputnik den ersten Satelliten ins Weltall schoss und die Rückständigkeit der westlichen Technologie offenbarte. Im gesamten Westen wurde daraufhin der Bildungssektor reformiert und verwissenschaftlicht. Mit Kroatien (WM 1998) und Portugal (EM 2000) gab es für den deutschen Fußball gleich zwei Sputniks, die den Blick auf eine ungenügende Nachwuchsarbeit freilegten. Bei der EM 2000 betrug das Durchschnittsalter der Nationalmannschaft 32 Jahre, nur ein Spieler, Sebastian Deisler, war unter 21 Jahre alt. »Altherrenfußball« gehörte noch zu den milderen Beschreibungen der Spielweise. »Zu diesem Zeitpunkt hatte die Nachwuchsarbeit in Deutschland überhaupt keine Lobby«, schrieb DFB-Direktor Ulf Schott in einer Analyse der DFB-Nachwuchsförderung. Das änderte sich ab der Jahrtausendwende grundsätzlich. Der DFB baute ein flächendeckendes Talentförderprogramm auf, das heute als eines der effektivsten der Welt und Basis für den WM-Titel 2014 gilt. Insgesamt 60 Vereine waren an der Ausbildung der 23 Weltmeister beteiligt: 27 Lizenz- sowie 33 Amateurvereine. Der Altersdurchschnitt betrug 25,8 Jahre. Dabei kombinierte der DFB die Impulse, die er sich im Ausland (Frankreich, Niederlande, Portugal) und bei anderen Sportarten (Hockey) holte, mit deutscher Ingenieurskunst. Das Ausbildungskonzept bringt Ordnung und Planbarkeit in die Fußballerlaufbahn, indem es den 50
Der Hightech-Fahrstuhl des DFB
Ausbildungsprozess vom Anfänger bis zum Nationalspieler mit einer mehrstufigen Struktur versieht. Deren Teile greifen ineinander wie gut geölte Zahnräder.
Keine Kopie bitte! – Basis Kinderfußball
Spitzenspieler
siierr von 7 Stabilisieren Höchstleistungen tl st tleist
Ab 30 Jahre
Spitzenspieler
Perfe ek ektionier erren von 6 Perfektionieren Höch ch hstleistun ngen n Höchstleistungen
21–29 Jahre
auff 5 VVorbereitung Höchstleistungen
17–20 Jahre
4 Stabilisieren
1 5–18 Jahre 15–18
3 Lernen
11– –14 Jahre 11–14
Perspektivspieler
B-/AJunioren D-/C-
Juniore e en Junioren Nicht auf jeder Stufe stimmen allerdings Anspruch und Wirklichkeit überein. Für die Kleinsten bis zu den F F-/EE-Junioren (10 Jahre) formuliert der 7–10 Jah hre Jahre 2 Spielen Ju unioren Junioren DFB das Ziel: »Fußballspielen im VerBambini ein muss stets das Ziel haben, die Jüngs3–6 Jahre und Jünger 1 Bewegen ten ganzheitlich zu fördern, also mit vielseitigen, altersgemäßen und motivierenden Spiel- und Bewegungsaufgaben körperliche, geistige, soziale und emotionale Prozesse zu fördern.« Kurz: Kinderfußball soll keine Kopie des Erwachsenenfußballs sein. Was in der Kita und den ersten Grundschuljahren noch funktionieren mag, ist im Vereinsleben und Punktspielbetrieb oft nur noch frommer Wunsch. Auch dort regieren früh Leistungsprinzip und Auslesemechanismen – etwa wenn Kindermannschaften auseinandergerissen werden, um schon die Kleinsten nach Spielstärke zu sortieren. Die Auswüchse wie Beleidigungen, Spielabbrüche bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sieht der Erlanger Sportwissenschaftler Matthias Lochmann, der am Aufbau der DFB-Stützpunkte beteiligt war, als Folge des Systems: »Diese nicht gewollten Verhaltensweisen von Kindern, Trainern und Eltern werden durch die bestehenden Wettspielformen regelrecht provoziert, das Gewinnenwollen schon in kleinsten Jahrgangsstufen unterläuft massiv die Bemühungen von Tausenden engagierten Menschen. Es ist aus meiner Sicht der stärkste Bremsklotz für die Weiterentwicklung des Fußballs in Deutschland überhaupt.« Die größte Reform des Kinderfußballsystems der letzten Jahrzehnte ging nicht vom DFB oder der Sportwissenschaft aus, sondern von einem frustrierten Vater, der von pöbelnden Eltern und überambitionierten Trainern genug hatte. Wie auf einen Regelkreislauf guckte der Klimatechniker Ralf Klohr auf das Spielfeld und erfand die drei Regeln für die Fair-Play-Liga: Eltern halten Abstand, es gibt keine Schiedsrichter, die Trainer kooperieren. »Es geht um einfache Lösungen«, sagt Klohr. »Das
Wie der Verband die Nachwuchsförderung aufgebaut hat
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Konzept hat sich nie geändert und lässt sich im bestehenden System ohne Aufwand umsetzen.« Der DFB war offen genug, die Fair-Play-Liga als Spielform bis zur E-Jugend zu empfehlen. Mittlerweile wird das Erfolgsmodell Fair-Play-Liga auch in der Schweiz und den Niederlanden praktiziert. Dass der Kinderfußball trotz demografischen Wandels boomt, liegt auch an den zahlreichen Maßnahmen des DFB und seiner Landesverbände. Erzieher/-innen und Lehrer/-innen wurden fortgebildet, Kooperationen mit Schulen im Ganztagsunterricht eingegangen, Mädchenfußball und Integration gefördert sowie zahlreiche Trainer/-innen ausgebildet. Es wird verstärkt die Aufgabe des Kinderfußballs sein, mit kleinen Feldern und vielen Ballkontakten drei Trends aufzufangen: – die motorischen Fähigkeiten von Kindern gehen zurück, – in zehn Jahren wird es 15 Prozent weniger Zehnjährige geben als heute, – ab der D-Jugend steigen viele aus. Einen der Hauptgründe für den Drop-out sieht Matthias Lochmann darin, »dass der Übergang vom Kinder- zum Erwachsenenfußball noch immer nicht kind- und jugendgemäß ausgestaltet ist«.
Im Dauercasting – die Stützpunkte Bis zu 150.000 Kinder pro Jahr halten bis zur D-Jugend durch und geraten so in den direkten Zugriff des DFB-Talentförderprogramms, das ein flächendeckendes Netz aus Sichtungsmaßnahmen über die 11– bis 14jährigen Jungen und Mädchen spannt (siehe Zahlen). Im Netz hängen bleiben zwei bis vier Prozent eines Jahrgangs: 5000 11-Jährige, 4000 12Jährige, 3000 13-Jährige und 2000 14-Jährige. Jeden Montagabend treffen sich also bundesweit 14.000 Jugendliche zu einer zusätzlichen Trainingseinheit, in der die individuellen Stärken gefördert werden sollen. Dazu kommen gemeinsame Trainingsschwerpunkte, die von den 29 Koordinatoren mit der sportlichen Leitung des Programms erarbeitet werden. Zur Leistungsdiagnostik wird halbjährlich ein sportmotorischer Test durchgeführt (siehe Kapitel Die gläserne Kugel, S. 70 ). Die Leistungsdaten aller Talente und Trainer sind in einer Datenbank erfasst. 95 Prozent der 1300 Honorartrainer in den Stützpunkten besitzen eine Fußballlehrer-, A- oder B-Lizenz. Zweimal pro Jahr werden sie durch den Koordinator, den Landesverband und den DFB fortgebildet. Die talentiertesten Mädchen haben ebenfalls die Möglichkeit, am 52
Der Hightech-Fahrstuhl des DFB
Bundesliga
Landes esverband e Landesverband
Eliteschulen
Landesv esverband e Landesverband
Stützpunkttraining teilzuneh- Senioren men. Insgesamt machen MädÜbergang chen und junge Frauen dort Junioren - Senioren allerdings nur einen geringen U18/U19 Anteil aus. Einige Landesverbände haben eigene Mädchen- U16/U17 Stützpunkte eingerichtet. LLeistungsLe eiistunggsZunehmend verstehen sich U14/U15 zzentren ze enttrreen die Stützpunkte als ServicecenU12/U13 3 ter, die den Vereinen ihr KnowTalentförderprogramm Talentförderprogramm how zur Verfügung stellen. Kernpunkt der Zusammenarbeit sind die halbjährlichen Infoabende für Trainer, deren Inhalte ebenfalls zentral vorgegeben sind. Sie sollen die Qualität der Trainingsarbeit in den Vereinen stärken und die übergreifende Spielphilosophie flächendeckend einbauen. Eine besonders wichtige Funktion innerhalb des Gesamtsystems haben die Stützpunkte als Sichtungsbecken für die Leistungszentren der Profiklubs. Die führen zwar auch selbst Sichtungen durch und versuchen, über enge Kooperationen zu Partnerklubs der Region Talente früh an sich zu binden. Durch das Stützpunktsystem haben sie aber auch Jugendliche, die sich später entwickeln, weiter entfernt wohnen oder eine Zeit lang aus anderen Gründen durch ihr Sichtungsraster fallen, bis zum Alter von 14 Jahren konzentriert im Blick.
In der Schmiede – die Leistungszentren Ein wesentliches Ergebnis des Sputnik-Schocks im deutschen Fußball war die verpflichtende Einführung von Nachwuchsleistungszentren in der Ersten und Zweiten Bundesliga. Aktuell führen neben den 36 Lizenzvereinen auch elf Vereine der dritten Liga und sieben Vereine in den Regionalligen ein anerkanntes Leistungszentrum. Dort haben die D- und C-Jugendlichen ungefähr vier- bis sechsmal pro Woche Training, die Bund A-Jugendlichen sechs- bis achtmal. Die U15-Regionalligen sowie die U17- und U19-Bundesliga bieten einen professionellen Spielbetrieb. Zur Unterbringung auswärtiger Spieler sind den meisten Leistungszentren Internate angeschlossen. Die DFL empfiehlt zwar, Jugendliche erst ab 15 Jahren dort aufzunehmen, aber die Jagd nach Toptalenten hat in den letzten Jahren immer wieder zu Fällen geführt, in denen Spieler früher ins Internat gezogen sind. Seit 2008 werden die Leistungszentren von DFB und DFL zertifiziert. Wie der Verband die Nachwuchsförderung aufgebaut hat
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Dabei werden alle infrastrukturellen, personellen, organisatorischen und sportlich-konzeptionellen Details mithilfe eines festgelegten Kriterienkatalogs überprüft und mit einem bis drei Sternen bewertet. Um die hohen sportlichen mit den schulischen Anforderungen in Einklang zu bringen, müssen die Leistungszentren eng mit Partnerschulen kooperieren. Mittlerweile sind 35 Schulen zu Eliteschulen des Sports umgebaut worden. Diese gehen zeitlich, inhaltlich und persönlich auf die Belange der jungen Spitzensportler ein. Rund 1800 Spieler und 200 Spielerinnen werden dort durch Training im Rahmen des vormittäglichen Schulunterrichts zusätzlich gefördert.
Ganz oben – Deutsche Tugenden 2.0 Parallel zu Stützpunkten und Leistungszentren läuft die Talentförderung der Landesverbände. Diese findet hauptsächlich in den Landes-Auswahlmannschaften statt. Diese Teams erfassen dabei die besten Spieler der regionalen Förderzentren und -programme, um sie systematisch auf die jeweiligen Sichtungsturniere des DFB als nächste Förderstufe vorzubereiten. Im Idealfall kooperieren die Verbandstrainer eng mit den Stützpunkt- und Vereinstrainern. Eine weitere Aufgabe der Landesverbände besteht zunehmend darin, einen »zweiten Bildungsweg« für talentierte Spieler zu schaffen, die mit 15 Jahren das Stützpunktsystem verlassen, ohne in einem Leistungszentrum gelandet zu sein. In Niedersachsen etwa werden solche Spieler über Regionalauswahlen weiter individuell gefördert und erhalten so die Chance, sich weiterzuentwickeln und präsentieren zu können. Die höchste Stufe des DFB-Ausbildungsprogramms stellen die U-Nationalmannschaften dar mit regelmäßigen Lehrgängen, Spielen und Turnieren. Hier werden die Trends und Philosophien erarbeitet, die für das ganze Fördersystem maßgeblich sind. »Alle Trainer im deutschen Leistungsfußball benötigen eine einheitliche Spielauffassung als Orientierung für Training und Spiel«, lautet die offizielle Leitlinie. An der Spitze der Kaskade steht DFB-Sportdirektor Hans-Dieter »Hansi« Flick, der für die aktuelle Orientierung den Begriff »Deutsche Tugenden 2.0« kreierte. Traditionelle Werte wie »mannschaftliche Geschlossenheit, starke Physis, Disziplin, Respekt, Zielstrebigkeit und Verlässlichkeit« treffen auf modernen Fußball. »Wir wollen aktiv sein, das Spiel bestimmen, Ballbesitz haben, Tore erzielen«, so Flick. »Daraus ergeben sich Leitsätze. Für die Defensive zum Beispiel: ›Antizipieren statt spekulieren‹. Oder für die Offensive: ›So tief 54
Der Hightech-Fahrstuhl des DFB
wie möglich, so breit wie nötig spielen‹. Am Ende gehe es darum, die Spieler mit Handlungsempfehlungen in die Lage zu versetzen, möglichst viele Situationen auf dem Platz möglichst optimal lösen zu können.« Das Talentfördersystem des DFB soll also sowohl die individuelle Entwicklung der Spieler fördern als auch eine einheitliche Spielauffassung von der Spitze bis zur Basis durchsetzen. Eine knifflige Aufgabe für die fast 2000 Juniorentrainer in Leistungszentren, Verbänden und Stützpunkten, für deren Qualifizierung zahlreiche Projekte angeschoben wurden. Einige haben in den letzten Jahren den Sprung ins Profigeschäft geschafft, wie Thomas Tuchel, André Schubert, Viktor Skripnik oder Julian Nagelsmann. Das Talentfördersystem wird hin und wieder auch als »Fahrstuhl« bezeichnet. Das Hightech-Modell des DFB bringt jedes Jahr rund 500 Talente in die U19-Bundesliga. Der letzte Schritt zum Profi ist der schwerste. Zahlen zur Nachwuchsförderung Gesamtmitglieder DFB: 6,9 Mio. Junioren bis 14 Jahre: ca. 1,7 Mio. Junioren 15–18 Jahre: ca. 0,52 Mio. Mädchen bis 16 Jahre: ca. 0,34 Mio. Lizenzspieler Erste u. Zweite Bundesliga (Männer): 1007 davon in Deutschl. ausgebildet: 665 Altersdurchschnitt: 24,5 Jahre
Altersklassen im Jugendfußball G-Junioren (Bambini/U7) F-Junioren (U9/U8) E-Junioren (U11/U10) D-Junioren (U13/U12) C-Junioren (U15/U14) B-Junioren (U17/U16) A-Junioren (U19/U18)
DFB-Stützpunkte: 366 Talentsichtungen pro Jahr: ca. 600.000 Stützpunktspieler: ca. 14.000 (U12 bis U15), je 2,5–4 % des Jahrganges Stützpunkttrainer: ca. 1300 Honorartrainer Leistungszentren: 54 (36 x Erste u. Zweite Bundesliga, 11 x Dritte Liga, 7 x Regionalliga) Spieler in Leistungszentren: ca. 8000 (U12–U23) Hauptamtliche Trainer im Nachwuchsbereich: 29 Stützpunktkoordinatoren, 52 Verbandstrainer sowie ca. 260 hauptamtliche (plus ca. 380 nebenamtliche) Trainer in den 54 Leistungszentren Eliteschulen des Sports: 35 Wie der Verband die Nachwuchsförderung aufgebaut hat
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Sich darum kümmern, dass kein Name runterfällt Die Arbeit des Stützpunkttrainers Lewe Timm
Auf dem Sportplatz An der Raa in Pinneberg werden Talente gefördert. Zum Beispiel beim Stützpunkttraining unter Lewe Timm. An diesem Junitag hat er zusammen mit Kollegin Nadine Quaisler 48 Nachwuchskicker zwischen zehn und zwölf Jahren eingeladen. Sie sollen mit acht Mannschaften einen Turniersieger ausspielen. Am Ende werden die beiden Coaches entscheiden, welche 15 Spieler und Spielerinnen auch an der nächsten Sichtungsrunde teilnehmen dürfen. Lewe Timm, der ansonsten beim SC Nienstedten im Westen Hamburgs eine D-Jugendmannschaft betreut, hält sich zurück. Keine lauten Kommandos, für die er durchaus bekannt ist, sind zu hören. Stattdessen plaudert er am Spielfeldrand mit Vereinstrainern und Eltern. Und danach hat er noch einen Termin. Zweimal im Jahr hält er einen Info-Abend für Vereinstrainer ab. Lewe Timm ist sozusagen das Sprachrohr des DFB auf der untersten Ebene. Er soll den Übungsleitern vermitteln, was sie den Begabten bei56
Sich darum kümmern, dass kein Name runterfällt
bringen sollen. Knapp 15 Leute, vom jugendlichen Neuling bis zum erfahrenen Coach, lauschen ihm. Er erzählt mit anschaulichen Beispielen davon, was diesmal das vorgegebene DFB-Thema ist. Ein großes Plakat macht es sichtbar: »In der Defensive nicht reagieren, sondern agieren! Aktiv den Ball erobern!« Das ist ganz im Sinne von Bundestrainer Joachim Löw, der gern eine offensive Defensive hätte, die schon ganz hinten das Spiel aufbaut. Eine Spielweise, die schon die Zehnjährigen lernen sollen. Der Moderator Timm betreut im Prinzip die Kinder, die nach dem Ausbildungsjargon im »goldenen Lernalter« sind – also vor der Pubertät. An einem anderen Abend haben wir uns mit ihm getroffen, um über den Job des Talenteförderers zu sprechen. Zunächst einmal bekennt er sich zum freien Spiel: »Die meisten Probleme schaffen wir uns dadurch, dass wir etwas verhindern oder nicht zulassen«, sagt Lewe Timm. Er findet wichtig, dass die Kinder sich ausprobieren. Man müsse ihnen Anreize zum Spielen geben, sagt er. Zu sagen, wir machen jetzt alles wie Bayern München: »Das funktioniert nicht.«
Argumente gegen unzufriedene Vereinstrainer Die D-Jugendlichen müssen noch keine Dehnübungen machen. Die können sofort loslegen, weil sie noch nicht die Muskeln haben, die ihnen bald wachsen. Die gruppentaktischen Inhalte, sagt Timm, beginnen eigentlich erst in der C-Jugend. Da werde dann neben der Technik auch das taktische Zusammenwirken vorangetrieben. Im Stützpunkt sagen die Jungen und Mädchen gern mal: »Los, Trainer, was sollen wir machen?« Sie haben normalerweise Freude, sich mit anderen Guten zu messen. Trotzdem ist es ein kniffliger Punkt, wenn sie neben den wöchentlichen Stützpunktterminen auch noch zur Auswahl und vielleicht auch noch bei der Jugend eines Profiklubs mittrainieren dürfen – so gehen sie ihrer HauptDie Arbeit des Stützpunkt-Trainers Lewe Timm
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mannschaft im eigenen Klub zunehmend verloren. Dass die Vereinstrainer damit unzufrieden sind, weil sie ihren wichtigsten Spieler nicht auf das nächste Spiel vorbereiten können, ist nachvollziehbar. Aber wenn man langfristig denkt, sagt der Stützpunkttrainer, muss man den Mehrnutzen für das Kind sehen. Für die Gruppenbildung ist das allerdings wirklich heikel. Lewe Timm sieht allerdings keine Alternative: »Selbst wenn Stützpunkttrainer und Auswahltrainer so richtige Flitzpiepen sind und nicht gut trainieren, ist die Gruppe immer noch so gut, dass das Trainingsniveau höher sein wird als beim Heimatverein.« In der Auswahl, wo die besten 20 bis 30 Jungs eines Jahrgangs zusammen sind, kommen die Talente aus den Leistungszentren der Profiklubs dazu. Mancher, der vielleicht Mühe hat, auf diesem Niveau mitzukommen, wird sich dann überlegen: »Will ich diesen Aufwand tatsächlich noch betreiben? Bringt mir das noch so viel Spaß, dass ich das betreiben möchte?« Die Kinder, sagt Lewe Timm, seien ja nicht doof. Wenn einer merkt, der Trainer sieht mich als einen von vielen, der nicht zur ersten, sondern nur zur zweiten Reihe gehört, kommen Zweifel. Andererseits fordern die Spieler, die häufig durch individuelle Aktionen Spiele entscheiden, eine ganz besondere Behandlung. Gleichwohl möchte Lewe Timm den jungen Fußballern »eine Haltung fürs Leben mitgeben«. Was für eine Haltung?
Natürlich steckt viel Wahnsinn im Leistungssport, aber es steckt auch Positives drin. Zum Beispiel die grundsätzliche Haltung: »Sei für andere da!« In der Fachsprache heißt das Unterstützer-Verhalten. Ein anderer macht einen Fehler, ich bügel ihn aus, anstatt stehen zu bleiben und ihn anzusehen, wieso er den Ball verloren hat. Das hat viel mit Disziplin zu tun. Ohne Disziplin komme ich im heutigen Fußball nicht weit, dafür ist er zu athletisch geworden. Und wie ist das mit dem Durchsetzen, dem Gebrauch der Ellenbogen?
Ja, das spielt bei einigen eine übergeordnete Rolle. Bei mir ist das so: durchsetzen ja, aber nicht zu jedem Preis. Da habe ich eine Grenze. Da kommen wir wieder zum Faktor Spaß. Egal wie viele Millionen mit dem Fußball umgesetzt werden, welcher Wahnsinn betrieben wird und wie viele Bestechungsskandale bei der Fifa noch aufgedeckt werden: Wenn man mit elf gegen elf auf dem Platz steht, ist es noch immer ein Spiel. Punkt, aus. Das Positive am Fußball ist die Vernetzung von Emotion, Sport und Spaß.
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Sich darum kümmern, dass kein Name runterfällt
Mit »Marco-Reus-Prinzip« Spätentwickler unterstützen Eine sehr zuversichtliche Betrachtungsweise. Lewe Timm möchte wie sein Chef Stephan Kerber auch die kleinen, möglicherweise physisch spät entwickelten Talente besonders unterstützen. Er nennt es das »Marco-ReusPrinzip«. Der Nationalspieler wurde einst bei Borussia Dortmund aussortiert, weil man sagte, es reiche einfach körperlich nicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der als Zehnjähriger nicht gut war und nichts Besonderes hatte. Dann schickst du den weg und holst ihn irgendwann für 17 Millionen Euro nach Hause«, sagt Timm. Die können, schiebt er nach, heilfroh sein, dass ihnen das mit Mario Götze nicht auch noch passiert ist. Wie realistisch ist denn die These , dass heute kein Talent mehr verloren geht, weil man den Scouting-Schirm über das ganze Land gespannt hat?
Das kann nicht realistisch sein, weil wir ja auch an andere Sportarten Talente verlieren. Ich habe einen Jungen bei mir gehabt, der als Torwart prädestiniert war. Plötzlich tauchte der Vater auf und teilte mit, sein Sohn habe sich für Handball entschieden. Andererseits: Spieler wie Miroslav Klose und Christoph Metzelder, die erst im Herrenbereich entdeckt wurden, wird es kaum noch geben. Dafür ist das Netz im Fußball zu engmaschig geworden. Trotzdem tun Sie ja alles, um keinen mehr durchs Sieb fallen zu lassen.
Ja, es gilt das Vier-Augen-Prinzip. Wenn irgendwo ein sehr talentiertes Kind gesichtet wird oder uns das zugetragen wird durch einen Trainer, dann gucken wir uns das Kind näher an. Ansonsten ist es so, dass wir optimal diese Hallenrunden im Winter nutzen können. Da hat man einen schnellen Überblick über eine große Masse an Bewegungstalenten. In diesen Februarphasen ist man eigentlich an beiden Wochenenden durchgängig unterwegs. Das sind dann auch schon mal Achtstundentage oder mehr. Das ist eine ganz wichtige Phase. Und wenn ein Spieler in einem Verein spielt, der ihn nicht meldet und der nicht bei der Hallenrunde dabei ist?
Auch dann ist es – zumindest in Hamburg – fast unmöglich, dass er uns durchflutscht. Fußball ist ein Dorf. Man trifft ständig Leute, Leute, Leute. Wenn jemand ein Talent gesehen hat, kommt das an. Ich kümmere mich darum, dass dieser Name nicht mehr runterfällt. Anders ist es in ländlichen Gegenden. Die haben Schwierigkeiten, alles abzudecken. Da fahren die Kinder nicht selten 100 Kilometer zu ihrem Stützpunkt. Aber: Wir wollen jedem Talent die Chance zur Gratisförderung geben. In manchen Regionen muss man dafür etwas mehr Aufwand betreiben.
Die Arbeit des Stützpunkt-Trainers Lewe Timm
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Was ist ein Talent?
»Ich weiß es auch nicht so genau und bleibe bei meiner Aussage: Am Ende sind es zehn Prozent Talent und 90 Prozent Arbeit. Das ist der entscheidende Faktor. Am Ende wird es die Individualität sein. Wer hat etwas Besonderes, Außergewöhnliches? Fang in den 1950er Jahren bei Fritz Walter an. Da hast du einen gehabt, der konnte lenken. Dann gab es Helmut Rahn, das war ein Verrückter, der Tore schießen konnte, genau so wie bei Rot-Weiß Essen später der Ausnahmespieler Willi Lippens. Dann hast du einen wie mich gehabt, der sich alles erarbeiten musste, und einen wie Dieter Bast, der schnell war und eine Riesentechnik hatte. Das waren alles Leute, die früh Verantwortung tragen mussten. Die mussten eine Lehre machen und wurden gezwungen zu lernen. Die Jungs heute machen das Hobby zum Beruf. Die Frage ist: Wie entwickeln sie sich für das normale Leben? Ich denke, das Umfeld ist am Ende das EntHorst Hrubesch, U21-Bundestrainer scheidende.« »Es gibt viele verschiedene Definitionen von Talent, und auch wir haben beim DFB versucht, einen Talent-Begriff zu definieren. Wenn wir zwei Spieler haben, denen wir die gleiche unbekannte Aufgabe stellen, die der eine Spieler schneller oder korrekter löst, geht es sehr stark um kognitive Verarbeitung. Wer es schnell auffasst und lösen kann, hat erst mal ein Talent. Wer am schnellsten und intelligentesten versucht, eine Lösung zu finden, die vielleicht auch mal kreativ ist, ist weit vorn.« Christofer Clemens, DFB-Analyst »Ballgefühl, viel Energie, Narzissmus, kompletter Bewegungsablauf, nicht vergleichbar mit dem Rest auf dem Feld. Dazu gehört auch die Anatomie, die Lust, sich zu bewegen. Der Ball muss an ihnen kleben. Kann jemand so nah am Ball sein, dass er ihn gar nicht mehr hergeben muss? Die Bewegungsabläufe sind extrem fein, als sei der Spieler aus Kautschuk. Das ist die außergewöhnliche Koordination. Ein Spiel lesen können, ist genauso wichtig. Ein Messi bringt sich plötzlich in eine andere Position, und keiner hat es mitbekommen. Ein Supertalent sieht freie Räume, die 60
Was ist ein Talent?
sich andere gar nicht vorstellen können. Das ist eine Art geometrisches Wissen. Es geht auch um die Beziehungsdynamik des Zusammenspiels. Zu erfassen, was der andere macht oder machen will. Es ist wie ein Schachspiel, in dem sich alle bewegen in den Räumen – ein hochkomYvo Kühn, Psychologe plexes Werk.« »Anfänglich war der Blick stark darauf konzentriert, was die Kinder an der Kugel können. Es gab viel Info-Material des DFB über Finten und Technik – analog zu Holland. Damit hat man aber nicht erfasst, ob ein Kind schnell auf der Strecke war, ob es ein Umschalten in der Offensive hatte oder ob es charakterlich positive Züge in sich getragen hat. Das hat sich dann verändert. Die Komponente Technik wurde durch das Raumgefühl erweitert. Wie geschickt bewegt sich ein Kind in allen Bereichen des Feldes? Wie sind Beständigkeit, Beharrlichkeit und dauerhafte Trainingsintensität ausgeprägt? Wie lässt das Kind das über sich ergehen? Für mich ist im Laufe der Zeit deutlich geworden: Wille schlägt Talent. Oft spricht uns ein bestimmtes Element bei einem Spieler an. Etwa Schnelligkeit, Wille, Verteidigungsverhalten. Aber es braucht weitere Dinge. Der technikorientierte Spieler, der ganz viel Talent mitschleppt, kann es weit bringen, auch wenn der Trainer seine Willenskomponente extrem anschieben muss. Genauso gibt es diese Grobmotoriker, die über emotionale Intelligenz verfügen. Sie haben vielleicht ein gutes Gespür für Spielsituationen, was eine Mannschaft gerade braucht – von einem taktischen Foul bis zu einer herausgeholten Ecke. Das funktioniert oft über den Faktor Willen.« Stephan Kerber, DFB-Stützpunktkoordinator »Bewegungstalent ist ein besonders Kriterium. Ein Stürmer, der besonders viele Tore schießt, weil er ein gutes Gefühl für den Raum und einen guten Spannstoß hat. Ein Raumchecker oder Spielgestalter, der den Ball besonders gut timen kann, oder der kleine Dribbler. Mit am wichtigsten ist der Faktor Leistungsbereitschaft. Wenn es diesen Faktor nicht geben würde, könnten einige Spieler keine Fußballprofis sein. Wille und Leistungsbereitschaft zählen zu den Talenteigenschaften«. Lewe Timm, DFB-Stützpunkttrainer
Was ist ein Talent?
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Der Kopf der DFB-Basis Stützpunktkoordinator Stephan Kerber über die Begleitung von Talenten
Stephan Kerber kann Kommunikation. Interviewer haben schon nach wenigen Worten das Gefühl, von ihm verstanden zu werden. »Genau, genau«, entgegnet er auf eine Fragestellung – den Gesprächspartner fest im Blick. Dann sammelt er sich einen Augenblick und hebt zu einer Antwort an. Sie ist nicht immer frei von Umwegen, mündet aber meist in einer zitierfähigen Formel. »Man ist verantwortlich für das erste Scheitern eines Kindes«, fasst er etwa den Moment zusammen, wenn er einem jungen Spieler sagen muss, dass er am kommenden Montag nicht mehr zum Training am DFB-Stützpunkt kommen darf. Kerber war schon beim Pilotprojekt des DFB-Talentförderprogramms dabei. Inzwischen ist er Koordinator der sechs Stützpunkte in Hamburg und damit das »Brain« der Talentförderung in der Hansestadt. Die Stützpunkte bilden den Vorhof zu den Leistungszentren und Eliteschulen des Sports. Man sei mit dem Grundziel gestartet, dass man eine gewisse Breite sichert, in der nicht jeder Profi oder Nationalspieler werden kann. »Ich bin von dem Bild überzeugt, dass aus Breite Spitze werden kann. Wenn man viel Spitze zusammenpackt, wird daraus nicht automatisch noch mehr Spitze«, sagt Stephan Kerber. Aktuell sind Sie einer von 29 Stützpunktkoordinatoren in Deutschland. Wie eng ist in dieser Funktion denn noch Ihr Verhältnis zu den einzelnen Spielern?
Von 300 Kindern, die wir betreuen, kenne ich etwa 250 mit Vita, Name, Bild. Ich habe da anscheinend eine Ressource. Wenn wir in der Runde zusammensitzen und einer nicht auf den Namen eines Spielers eines bestimmten Jahrgangs kommt, kriegt er den von mir, dazu den aktuellen und die früheren Vereine. Sie haben an anderer Stelle gesagt: ›Wille schlägt Talent‹. Wann ist Wille denn sichtbar?
Der ist schon ganz früh sichtbar, lässt sich aber weiter ausprägen. Ich habe Bilder vor mir, wo Kinder mit der Faust im Magen trainiert haben, verbissen, aggressiv, nicht nachlassend. Dazu gehört es auch, ärgerlich 62
Der Kopf der DFB-Basis
Stützpunktkoordinator Stephan Kerber über die Begleitung von Talenten
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zu sein und einen hohen Anspruch zu haben. Präzision und Perfektionismus sind früh erkennbar, auch Torhunger. Wir versuchen, die charakterlichen Voraussetzungen des Kindes in der E- und D-Jugend mit Provokationsregeln sichtbar werden zu lassen. Was sind Provokationsregeln?
Durch ein bewusstes falsches Entscheiden als Schiedsrichter kann ich sehen, wie das Kind reagiert. Ob es den Faden verliert, ob es ausfallend wird, ob es andere denunzieren muss. Topspieler zeichnen sich zum Beispiel durch einen unaufgeregten Umgang mit Niederlage und Sieg aus. Eine Niederlage vor Eltern und vielen Zuschauern bei einem Hallenturnier verursacht Stress – da ringen meistens auch diejenigen, die cool bleiben wollen, mit den Tränen. Wir versuchen die Spieler so zu begleiten, dass sie lernen, ohne Flennen und Jammern mit einem guten Gefühl auf das Feld zu gehen. Welches Verhalten würden Sie gern sehen?
Sicherlich nicht nur ein braves. Aber eines, bei dem man davon ausgehen kann, dass dieses Kind eine Erziehung, eine gewisse Disziplin erfahren hat. Man kann früh erkennen, ob es eine gewisse Sicherheit im Umgang mit Stress hat, ob es ein kompletter Egoist ist oder Empathie mitbringt, ob es auf andere überhaupt achtet oder sich produzieren muss. Ist ein empathischer Mensch ideal für einen Mannschaftssport?
Um durchzukommen, hat der Egoist einen Vorteil. Er schafft es, in manchen Spielsituationen der Entscheider zu sein, das schaffen die wenigsten Teamplayer. Die Entscheider, die Leute mit der größten individuellen Klasse, müssen nicht unbedingt Teamplayer sein. Das Geschäft ist gerade sehr empfänglich geworden für Egoisten. Aber es gibt auch Förderer, die Kinder nach oben pushen, die auf andere achten und sozial kompetent sind. 64
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Haben Sie dafür ein Beispiel?
Hanno Behrens, der mit Darmstadt in die Bundesliga aufgestiegen ist und aktuell beim 1. FC Nürnberg spielt, wurde einst als Sensationszugang beim HSV gefeiert. In seinem alten Verein hatte er in der B-Jugend Führungsaufgaben übernommen, er rettete oder entschied Spiele und kümmerte sich um eine gute Atmosphäre. Diese Qualität war in der HSV-Mannschaft offenbar nicht gefragt.
Egoistische Spieler benutzen die Mannschaft Wie gehen Sie mit Spielern um, die ihr Talent verstecken?
Man muss einen Spieler auch von der psychologischen Seite aus betrachten, von der Körperhaltung und Körpersprache. Bei der FußballlehrerAusbildung haben mir die Psychologen Werner Mickler und Professor Henning Allmer das Gespür dafür vermittelt, Besonderheiten zu erkennen. Mir fallen oft Spieler auf, die mit einer etwas fluffigen Körperhaltung der Welt zeigen wollen, dass sie eigentlich gar nicht richtig da sind. Damit vermitteln sie dem Trainer das Bild, nicht genug Biss zu haben. Vielleicht macht er das nur, weil ihm noch nicht gespiegelt wurde, wie es aussieht, wenn er so über den Platz läuft. Ich interessiere mich für solche Spieler und versuche herauszufinden, warum sie es so machen. Es gibt genügend Trainer, die sagen: »Der will sich anscheinend nicht integrieren.« Wir versuchen eher, Tools zu bilden, die solche Spieler mitnehmen. Manchmal bricht dann irgendetwas auf, und das Wahre tritt hervor. Welche Tools sind das?
Ich habe zum Beispiel Trainingseinheiten konzipiert, die darauf abzielten, Namen einzubringen. Jeder hörte seinen Namen, und jeder wuchs daran, war eher bereit, etwas einzubringen. Vorher war es eine beinahe anonyme Gruppe, die einmal die Woche miteinander trainiert hat. Es gab Eltern, die ihr Kind abgemeldet haben, weil sie sagten, ihr Kind kriege keinen Zugang zur Gruppe, bekäme keine Bälle und könne deshalb nicht zeigen, was es draufhabe. Wir möchten das gerne umdrehen. Wir möchten dafür sorgen, dass das Kind Lust entwickelt, einen tollen Kontakt herzustellen. Bei vielen Sichtungsmaßnahmen läuft es genau umgekehrt. Wie denn?
Ein Probetraining der Lizenzvereine geht meist so: Du kommst hin, musst präsentieren und liefern. Diesen Druck beherrscht in der Regel kein Spieler. Es gibt ganz akribische Trainer, die stellen nicht mal einen Stützpunktkoordinator Stephan Kerber über die Begleitung von Talenten
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Kontakt her – weder Augenkontakt noch so, dass die Hand die Schulter berührt oder man dem Kind etwas erklärt. Hinter ihm stehen, beide Hände auf die Schultern legen – das sind klassische Beispiele dafür, wie ein Kontakt entstehen kann. Das Kind verbindet damit: Ich kann hier etwas leisten, ich kriege hier Vertrauen und Zuspruch. Auch die Nennung des Ursprungsvereins ist wichtig für die Kinder. »Mike aus Schwarzenbek erzielt das 3:2« – das ist extrem wichtig. Versucht der DFB, bestimmte Spielertypen zu fördern, an denen Knappheit herrscht?
Wir haben eine Art Trainingskatalog erstellt und unter dem damaligen Sportdirektor Matthias Sammer erweitert. Darin werden die EM- und WM-Analysen eingeflochten. Wenn etwa festgestellt wurde, dass das Eins-gegen-Eins-Verhalten im Nachwuchsbereich zu wenig Berücksichtigung findet, wird das schnell von uns aufgegriffen. Wir sind die schnellste Umsetzertruppe, die man sich vorstellen kann. Was Spielpositionen angeht, hat der DFB nach der WM in Brasilien gesagt: Wir brauchen dringend Außenverteidiger. Worin bestehen die Unterschiede zwischen Ihrer Arbeit und der Ausbildung im Profiklub?
Im Stützpunktbereich legen wir die Basis, schieben etwas an oder orientieren die Kinder. Es gibt eine etwas ruhigere Entwicklungsmöglichkeit als im Leistungszentrum, die für manche geeigneter ist. Ohne die hätten wir in der A-Nationalmannschaft irgendwann keine Weltspitze mehr. Lizenzvereine können nur einen gewissen Teil eines Jahrgangs trainieren. Dahinter gibt es einen Bereich, der sich etwas langsamer entwickelt, wie zum Beispiel HSV-Profi Ashton Götz, der noch lange sehr gut bei seinem alten Verein SC Hamm aufgehoben war. Da war er in einer zentralen Rolle, konnte alles machen. Genügend Training hat er auch gehabt, weil er auf der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg gewesen ist.
Die Konkurrenz und das »Prinzen-Stechen« Welchen Einfluss hat die Konkurrenzsituation?
Eine gewisse Zusammenstellung führt zu einem »Prinzen-Stechen«, aus der selten einer König wird. Das Konkurrenzdenken sorgt dafür, dass man sich nicht miteinander freut, dass dem anderen nichts gegönnt wird. So entsteht keine Mannschaft, sondern ein Sammelsurium von Egoisten. Daran zerbrechen genau diejenigen, die um Struktur bemüht sind, die meist einen Tick schlauer sind. Sie zerbrechen auch, weil die Trainer sie nicht schützen. So kam es vor, dass ein Spieler vor dem Tor nicht ange66
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spielt wurde, ohne dass der Trainer das zum Thema gemacht hat. Es nützt nichts, wenn sich die Trainer tagtäglich nur über die drei Besten unterhalten. Mich würde eher interessieren, wie man das Gesamtniveau der Mannschaft steigert. Es gibt viele kleine Dinge, die entscheiden, ob es jemand schafft. Zum Beispiel?
Dazu gehören Kontaktpflegezwänge mit gewissen Mitspielern, damit man im System bleiben kann. Auch so etwas kann manchen Kindern im Wege stehen. Manche finden es auf dem Weg zum Burschen toll, ein wilder Kicker zu werden. Aber sie sind auch die Ersten, die daran zerbrechen, wenn sich die Mannschaft von ihnen abkehrt, weil sie zu forsch eingestiegen sind. Wann halten Sie den Zeitpunkt für den Wechsel in ein Leistungszentrum für richtig?
Ich war für Hamburg der Meinung, dass der Wechsel in ein Leistungszentrum für die Masse B2 (= ältere B-Jugend) ein Tick zu spät sein könnte. Wichtig ist, den richtigen Zeitpunkt individuell zu erkennen. Der ist vielleicht da, wenn ein Kind sich vom Vereinstrainer abnabeln und andere Inhalte erfahren möchte. Oder wenn ein Kind körperlich hervorragende Voraussetzungen mitbringt, aber im technischen Bereich nicht nachziehen kann – dann ist es womöglich im Leistungszentrum mit speziellen Techniktrainings besser aufgehoben. Gehören solche Entscheidungen noch zum Arbeitsfeld eines Stützpunktkoordinators?
Mein Berufsfeld hat sich mit den Jahren verändert: vom Entwickler und Organisator des Talentförderprogramms hin zu einem WerdegangStützpunktkoordinator Stephan Kerber über die Begleitung von Talenten
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Begleiter. Manchmal sieht man als Trainer, dass das Talent eines Kindes versiegen würde, wenn man es nicht aus dem Vereinstraining heraushievt. Weil es sich vielleicht zu stark aufopfern muss, um mit einer Mannschaft Erfolg zu haben. Vorne Stürmer sein, hinten den Ball von der Linie kratzen und zwischendurch die Mitspieler aufmuntern. Wenn man merkt, da ist ein Reizpunkt erreicht, wo das Kind das nicht mehr investieren mag, kann man ihm einen Wechsel nahelegen. Einem anderen Kind hilft es aber möglicherweise, sich in genau diesen unterschiedlichen Rollen noch länger zu erleben. Gibt es ein Beispiel?
Ja, Jonathan Tah. Da rief mich sein Vereinstrainer an, ob ich ihn nicht mal angucken kann. Ich sah beim Training, dass er besonders ist. Beim Stützpunkttraining fragten mich die Trainer dann: »Was schleppst du uns denn hier an? Der stolpert doch noch, der ist noch so jung.« Der Vereinstrainer hatte aber das Besondere verstanden.
Wenn ein Kind scheitert Konkurrenz und Druck gibt es nicht nur im Leistungszentrum, sondern auch im Stützpunkt.
Wir hören oft: Ihr selektiert ja auch früh, ihr seid ja gar nicht besser als die Leistungszentren. Es gehört zu unseren Kompetenzen, einschätzen zu können, wann es mit einem Kind bei uns nicht weitergeht. Es ist eine Entscheidung, die allen Trainern schwerfällt, es fließen Tränen, bei Spielern und teilweise auch bei Trainern. Man ist mitverantwortlich für das erste Scheitern eines Kindes und dessen fehlende Perspektive. Weil man selbst die Emotionalität dieses Sports erlebt hat, lässt einen das nicht kalt. Wie übermitteln Sie die schlechte Botschaft?
Wir haben dazu Fortbildungen für die Stützpunkttrainer gemacht. Damit sie beim Gespräch immer eine vernünftige Atmosphäre herstellen und einschätzen können, ob das Kind das Nein allein ertragen kann oder 68
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eventuell ein Elternteil oder der Vereinstrainer dabei sein sollte. Wenn wir vorher ein Elternteil informiert haben, ist meistens ein Drama entstanden. Das Kind war dann vorher schon komplett durch, und es war kein guter Abschied mehr möglich. Wir haben die besten Erfahrungen damit gemacht, an die Stärke der Kinder zu glauben, etwas ertragen zu können, wenn es gut formuliert und pädagogisch wertvoll rübergebracht wird. Dann kann das Kind auch ein Nein ertragen. Das fällt ihm schwerer, wenn ein Elternteil oder der Vereinstrainer in der Halle sind. Dann rattert beim Kind eine Gedankenkette ab: Was denkt mein Trainer über mich, mein Vater über mich, was meine Geschwister, was meine Vereinskollegen, was ist das für eine Blamage am nächsten Tag in der Schule? Damit setzen wir uns auseinander. Wie bilden sich die Stützpunkttrainer fort?
Jedes Eintreffen auf dem Stützpunkt ist eine Minifortbildung. Wir möchten, dass ein Trainer in der Lage ist, klare Anweisungen zu geben. Zweimal im Jahr haben wir eine Fortbildung, in die ich gerne etwas aus anderen Sportarten hineinnehme. Im Badminton interessiert mich die Antizipationsfähigkeit, beim Frisbee ist das Anbiet-/Freilaufverhalten extrem. Heute ist viel von der Bedeutung des ersten Ballkontaktes die Rede, das passt perfekt zum Handling der Hockeykelle, wo der Ball sofort weg ist, wenn er nicht richtig geführt wird. Am wichtigsten ist, dass ich die Trainer neugierig halte. Wenn sie so kreativ sind, Eigenes zu entwickeln, und nicht nur auf Knopfdruck eine Training-online-Geschichte herunterladen, dann sind sie richtig als Talententwickler im DFB-Talentförderprogramm. Wie bilden Sie die Stützpunktkader?
Ein Kind, das neu dazukommt, trainiert auf jeden Fall viermal mit – damit möchte ich ausschließen, dass es seine Chance verbockt, nur weil es beim ersten Mal vielleicht weiche Knie hat. Im Sommer bilden wir aus allen Neuen einen Stützpunktkader, der bis zu den Oktober-Ferien weiter fixiert wird. Und dann möchten wir, dass dieser Kader ein halbes Jahr zusammenbleibt. Dieses halbe Jahr schwemmt Spieler raus, die entweder keine Beständigkeit haben, sich überfordert zeigen oder mit ihrer Auffassungsgabe hinterherhinken.
Stützpunktkoordinator Stephan Kerber über die Begleitung von Talenten
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Die gläserne Kugel Wie weit kann man eine Karriere prognostizieren?
Viele Profiklubs und Berater sichten schon Elfjährige und beobachten ihren Weg. Dabei mögen viele Trainer und Scouts vor dem 15. Lebensjahr keine Vorhersagen wagen, ob aus einem Talent mehr wird als ein Talent. Zu viele ungewisse Dinge kommen auf die jungen Spieler zu, die sie daran hindern könnten, ihre Veranlagungen weiter auszubauen. Seien es falsche Freunde, innere Unsicherheit, andere Interessen oder das andere Geschlecht. »Ich sehe erste Auffälligkeiten im D-Jugendbereich«, sagt der Stützpunkt-Koordinator Stephan Kerber. Ganz oft sehe er sich später bestätigt, wenn er den Spielern eine bestimmte Spielklasse vorhergesagt hatte. Würden das die Eltern wissen, würde sein Telefon nicht mehr stillstehen, flachst er. »Viele würden gern in diese gläserne Kugel gucken, um zu sehen, ob sich der ganze Aufwand für ihre Kinder wirklich lohnt.« Der DFB beschäftigt sogar einen Professor, um bessere Prognosen abgeben zu können. Der Tübinger Dr. Oliver Höner begleitet wissenschaftlich die Talententwicklung. Er hat eine Testbatterie entwickelt mit immer wiederkehrenden Tests von großer Aussagerelevanz. »Man könnte im Grunde sagen, dass der DFB nach zwei Tests schon die Hälfte der 11und 12-Jährigen Talente rausschmeißen kann«, sagt ein Scout überspitzt. So weit würde Professor Höner nicht gehen. Eines hat er aber wissenschaftlich herausgefunden: Testverfahren ohne Ball liefern zuverlässigere Ergebnisse als Tests mit Ball, obwohl sich auch mit Ball das unterschiedliche Niveau feststellen lässt. Wesentlicher Bestandteil der Testbatterie sind: Schnelligkeitstests ohne Ball (20-Meter-Sprints, Gewandtheitslauf), Techniktests mit Ball (Dribbling, Ballkontrolle, Balljonglieren, Torschuss). Der »Schlüssel zum Erfolg«, räumt Professor Höner ein, enthalte aber noch andere Mosaiksteine: physiologische Parameter, psychologische Persönlichkeitsmerkmale. Elternhaus, Schule und gute Trainer seien ebenfalls entscheidend.
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Die gläserne Kugel
Kirschen aus Nachbars Garten Werder-Scout Tobias Süveges über das Sichten von 13-Jährigen
Ein lauer Sommerabend auf dem Trainingsgelände des Sportvereins Nettelnburg/Allermöhe im äußersten Osten Hamburgs. Drei DFB-Stützpunkte des Jahrgangs 2003 und eine ältere Vereinsmannschaft aus der Nähe spielen in 7+1-Teams ein Kleinfeldturnier aus. Funktionsspieltag nennt der DFB diese Veranstaltung, die viermal im Jahr für alle Stützpunktmannschaften stattfindet. Die Stützpunkttrainer erhalten so regelmäßig einen Überblick über die Wettkampfstärke der Spieler. Aber nicht nur die. Unter den rund 200 Zuschauern, hauptsächlich Männer zwischen 30 und 50 Jahren, sind neben Vätern und Vereinstrainern meist auch ein paar Berater und Vereinsscouts. Wir haben uns nicht darauf verlassen, hier spontan einen Scout aufgrund seines auffälligen Auftretens ausfindig zu machen. Obwohl die Chance dafür groß sein soll. »Mittlerweile geht das so: Der Spieler macht einen Einwurf, und der Scouter flitzt mal schnell hin zur Linie und macht ein Foto«, hatte uns Stützpunktkoordinator Stephan Kerber erzählt. Wir haben uns zur Sicherheit vorher mit jemandem verabredet, der ständig auf den Fußballplätzen Norddeutschlands nach jungen Talenten fahndet. Tobias Süveges koordiniert bei Werder Bremen die Sichtungs- und Talentmaßnahmen in dem Altersbereich U8 bis U14. Ihn enttarnen wir erst, als er zur verabredeten Zeit in der Vereinsgaststätte erscheint. Sie wirken etwas enttäuscht. Stimmt das?
Heute war ich tatsächlich etwas enttäuscht. Es war aus meiner Sicht keiner dabei, der das Potenzial aufblitzen ließ, um einmal den Sprung in unser U12-Talentteam schaffen zu können Und wenn einer dabei gewesen wäre?
Dann hätte ich erst mal versucht herauszufinden, wer der Spieler ist. Wenn man es anders nicht herausbekommt, ruft man den Stützpunkttrainer an. Wir finden es unangemessen, die Jungs selbst anzusprechen; sie sind hier zum Fußballspielen. Wenn wir jemanden zu einer Talentmaßnahme einladen wollen, machen wir das offen und transparent. Wir Werder-Scout Tobias Süveges über das Sichten von 13-Jährigen
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Kirschen aus Nachbars Garten
sprechen auch nie zuerst die Eltern an, das geht immer über den Jugendleiter des entsprechenden Heimatvereins. Hintergrund: Mit Beginn des Aufbaubereiches (U11 bis U14) zieht Werder Bremen parallel zu den eigenen Teams Spieler aus der erweiterten Region zu Talentteams zusammen, die monatlich zu Trainingseinheiten oder Spielen nach Bremen reisen und so über einen längeren Zeitraum in ihrer sportlichen und persönlichen Entwicklung begleitet werden. In der U14 können sie dann Perspektivkaderspieler werden, die eng an den Trainings- und Spielbetrieb der U14-Mannschaft angebunden sind. Sind der HSV und der FC St. Pauli für Sie tabu?
Das Talentteam richtet sich an Spieler, die noch nicht im Leistungszentrum sind. Aber wir schauen natürlich auch, welche Jungs in anderen Leistungszentren spielen. Solche Spieler, die wir nicht persönlich bei unseren Talentmaßnahmen kennenlernen können, müssen wir dann noch intensiver beobachten, um ihre Entwicklungsschritte nachvollziehen zu können. Denn spätestens ab dem C-Junioren-Bereich sind Wechsel zwischen Leistungszentren keine Ausnahme mehr. Stellen Sie sich beim Stützpunkttrainer vor?
Nein, aber wenn wir dann Kontakt zu einem Spieler haben, ist es uns wichtig, dass wir mit dem Stützpunkttrainer im Austausch sind und dessen Meinung hören. Wenn einer uns sagt, dass eine Einladung einem Jungen nicht guttun würde, laden wir ihn in der Regel nicht ein. Wir sehen ja nur Ausschnitte, der Stützpunkttrainer sieht den Spieler wöchentlich und der Heimtrainer noch öfter. Wir bekommen oft positive Rückmeldungen darüber, dass wir diesen Austausch pflegen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir transparent sind und alle gemeinsam an dem Weg eines Jugendlichen mitwirken. Das bedeutet viel Aufwand, viele Telefongespräche, viele E-Mails, aber es lohnt sich für die Jugendlichen. Für die ist es in dem Alter ja auch nicht ganz einfach, es richtig einzuordnen, wenn die Einladung eines Profivereins kommt. Wie sieht der Kontakt zu den Eltern aus?
Nach dem Erstkontakt über den Verein sprechen wir die weiteren Termine und Vorgehensweise direkt mit den Eltern ab – Vereinstrainer, Jugendleiter und Stützpunkttrainer sind dabei aber immer über die jeweiligen Termine und Schritte informiert. Gibt es so etwas wie eine Ausbildungsphilosophie bei Ihnen?
Werder Bremen steht seit vielen Jahren für eine attraktive offensive Spielweise. Wichtig ist aber nicht nur die Situation auf dem Platz, wir sehen die Ausbildung ganzheitlich. Die Persönlichkeitsentwicklung und die Werder-Scout Tobias Süveges über das Sichten von 13-Jährigen
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Schule spielen eine große Rolle. Die Talente sollen sich mit dem Verein identifizieren und ein gewisses Werder-Gefühl entwickeln. Fußballerisch bilden wir bereits im Talentteam die Schwerpunkte ab, die in unserem Nachwuchskonzept wichtig sind. Da geht es viel um Handlungsschnelligkeit, Kombinationsspiel, Passsicherheit und Zweikampfverhalten. Gucken Sie genauso auf einen 10- oder 13-Jährigen wie auf einen 16Jährigen?
Das unterscheidet sich. Mit sechzehn, siebzehn ist man näher dran am leistungsorientierten Fußball, da geht es viel um konkrete Aspekte, die mit Positionsprofilen zu umschreiben sind. Im jüngeren Alter hat man mehr den allgemeinen Blick auf den Spieler, indem man grundsätzlich schaut, wie spielfähig er ist, ob er beispielsweise Bewegungstalent hat. Auch beim Sichten wird alles immer spezieller. Wie erkennen Sie die Mentalität eines Jugendlichen?
Man sieht, wie viel er bei den Maßnahmen investiert. Man merkt schnell, ob er nur ein bisschen Fußball spielen möchte oder ob er in den Trainingseinheiten richtig an sich arbeiten und im Spiel unbedingt gewinnen will.
Wenn ein Spieler abhebt, versuchen wir gegenzusteuern Kann man auf die Persönlichkeitsentwicklung schon im Talentteam Einfluss nehmen?
Wir versuchen bei den ersten Maßnahmen zu kommunizieren, wie die Jungs die Einladung einzuordnen haben: als Belohnung für das, was sie bisher gezeigt haben. Wenn ein Heimtrainer uns kommuniziert hat, dass ein Spieler total abhebt, seit er bei uns ist, versuchen wir gegenzusteuern. Das tägliche Brot für die Jungs ist es, im Heimatverein besser zu werden. Bei uns im Talentteam erhalten sie zwar auch persönliche Erfahrungswerte, lernen die Arbeitsweise und Abläufe in einem Leistungszentrum kennen, aber eine systematische Förderung ist bei einer Einheit im Monat schwer umsetzbar. Dazu schauen wir genau, was in der Schule los ist, fordern teilweise auch die Zeugnisse ab, gerade in den Fällen, wo wir den Verdacht haben, dass sich zu wenig darum gekümmert wird. Was passiert, wenn jemand nicht wieder eingeladen wird?
Das ist für uns der unangenehmste Teil, jemanden anzurufen und zu sagen: »Wir laden dich erst mal nicht mehr ein.« Es ist ja ein großer Traum, der da vielleicht platzt. Entscheidend ist, dass der Junge dann trotzdem die Spielfreude und Leidenschaft weiterlebt. Die Situation des Nicht-weiter-Kommens hat man ja überall, wo leistungsorientiert Sport betrieben wird. 74
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Wie kann man verhindern, dass Jungs in ein Loch fallen, wenn sie nicht wieder eingeladen werden?
Das ist diffizil. Wir bereiten die Jungs von vornherein darauf vor, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, immer wieder eingeladen zu werden. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, dass ein Anruf kommt und wir sagen: Wir laden dich erst mal nicht weiter ein. Da betreiben wir keine Augenwischerei. Ob das von den Eltern richtig verstanden und eingeordnet wird, ist eine andere Geschichte. Wenn wir einem Jungen absagen müssen, bereiten wir das inhaltlich gut vor. Wir vermitteln ihm, dass er aufgrund seiner Stärken zu Recht hier war, zeigen ihm anhand des letzten Feedback-Bogens aber auf, wo er sich nicht verbessert hat. Die Akte ist damit aber nicht zu. In dem Altersbereich können Entwicklungen noch ganz andere Wendungen nehmen. Man kann nie ganz sicher sein, ob man dabei den vorausschauenden Blick hat. Wo hatten Sie den zum Beispiel?
David Philipp aus dem 2000er-Jahrgang vom HEBC in Hamburg war im Talentteam bis zur U13 bei uns, dann im Perspektivteam der U14 und ist jetzt in der U15 im Leistungszentrum/Internat bei uns. Er hat jedes Mal gebrannt, wenn er da war, und macht Wahnsinnsschritte. Er bringt alles mit, Biss und fußballerische Qualität. Werder-Scout Tobias Süveges über das Sichten von 13-Jährigen
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Was sind Ihre persönlichen Erfolgserlebnisse?
Wenn sich ein Spieler, den wir unbedingt haben wollen, für uns entscheidet. Außerdem freue ich mich über die positiven Entwicklungen der Spieler, die über das Talentteam nun bei Werder im Leistungsbereich spielen und bestätigen, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben.
Perspektivkaderspieler dürfen mit aufs Mannschaftsfoto Welches Paket schnüren Sie, damit die Jugendlichen sich für den Perspektivkader bei Werder entscheiden?
Unsere Perspektivkaderspieler werden im U14-Bereich eng an unsere Mannschaft angegliedert, sie kommen mit aufs Mannschaftsfoto, werden ausgestattet, kommen mit ins Trainingslager und nehmen neben regelmäßigen Trainingseinheiten mit einer entsprechenden Gastspielgenehmigung und in Abstimmung mit dem Heimatverein auch an mehreren Spielen und Turnieren teil. So gewöhnen sie sich mit der Zeit weiter an die Anforderungen und Abläufe im Leistungszentrum, können aber weiter in ihren Heimatvereinen und ihrem heimischen Umfeld bleiben, bevor sie zu einem späteren Zeitpunkt den Schritt ins Internat machen. In welchem Alter werden Spieler ins Werder-Internat aufgenommen?
Bei uns ist es in der Regel ab dem U15-Jahrgang möglich, ins Internat zu ziehen, da sind sie teilweise erst vierzehn. Wir hatten mit Manuel Mbom 76
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aber auch schon mal einen 13-Jährigen, der bei uns eingezogen ist. Manuel kannten wir davor aber auch bereits zwei Jahre, da er erst im Talentteam und anschließend Perspektivkaderspieler war, so dass er sehr gut auf diesen Schritt vorbereitet war. Es war für ihn tatsächlich der richtige Zeitpunkt. Sehen Sie die Gefahr der Entwurzelung, wenn Spieler so früh ins Internat kommen?
Es gibt Jugendliche, die sind in dem Alter schon reif, den Schritt zu machen. Aber es gibt im U17-Bereich auch noch Jugendliche, die noch nicht so weit sind. Das ist sehr individuell. Ich glaube, Aaron Hunt ist in der U17 wegen Heimweh häufig nach Hause gefahren. Dann steigt Tobias Süveges wieder in sein Auto und fährt über die A1 nach Bremen. In die »verbotene Stadt«, wie sie von HSV-Fans genannt wird. Aber verboten ist im Kampf um die Talente kaum etwas. Mit Gegenbesuchen der Hamburger Profiklubs muss Werder immer rechnen.
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Fußballprofis zeugt man im April Welche Vorteile Spieler haben, die im Januar geboren sind
Diese Titelzeile haben wir geklaut von ZEIT Online. Es geht um den sogenannten Relativen Alterseffekt (RAE), also um den Vorteil eines Talentes, das am 1. Januar und nicht am 31. Dezember geboren wurde. Denn der DFB und viele andere Länder haben als Stichtag für einen Jahrgang den 1. Januar angesetzt. Wessen Kind also Profi werden soll, der kann das durch gutes Timing unterstützen, indem er es im März oder April zeugt. Die Statistik ist deutlich: In den U-Nationalmannschaften und der Junioren-Bundesliga haben früher im Jahr geborene Talente die deutliche Mehrheit. 2015 spielten in der Bundesliga der B-Junioren 48 Prozent, die im ersten Quartal ihres Jahrgangs auf die Welt gekommen waren, bei den A-Junioren noch 41 Prozent, aber nur zehn Prozent aus dem letzten Quartal. In den fünf DFB-Auswahlteams zwischen U15 und U19 sind acht von zehn Spielern in der ersten Jahreshälfte geboren, in der U15 des Jahres 2015 ist sogar die Hälfte bis zum 8. Februar geboren worden. Mit Januar-Kindern gewinnt man eben mehr Spiele. Früh im Jahr Geborene haben gegenüber anderen bis zu einem Jahr Wachstumsvorsprung. Und wer als Dezember-Kind auch noch ein Spätentwickler ist, kann im Entwicklungsprozess praktisch zwei Jahre in Rückstand geraten. Da ist manche Karriere schon beendet, bevor sie begonnen hat. Auch deshalb, weil schmächtige Jungen oder dürre Mädchen selten so gefördert werden wie die »Großen«. Den Hamburger Stützpunkttrainer Lewe Timm graust es, wenn er in der C-Jugend Spieler sieht, die zwischen 1,40 und 1,80 Meter groß sind und in einem Team trainieren und spielen. »Einige wirken schon wie Männer und kriegen bereits einen Bart, andere haben noch gar keine Muskulatur.« Entsprechend schwierig ist es für die Kleinen, überhaupt an den Ball zu kommen oder gar einen Zweikampf zu gewinnen, ohne blaue Flecken einzustecken. Zumal bei einem Wachstumsschub zwi78
Fußballprof is zeugt man im April
schenzeitlich die Koordination verloren gehen kann. Conni Thau, Trainerin von Blau-Weiß 96 Schenefeld, erinnert sich an einen Spieler, den sie beim HSV »deshalb rausgeschmissen« hätten. »Anstatt abzuwarten, bis diese traurige Phase vorbei ist.« Natürlich gibt es auch Spätentwickler, die es trotzdem schaffen. Weltmeister-Kapitän Philipp Lahm war so ein Fall. Der hat als 15-Jähriger noch viele Zweikämpfe und Laufduelle verloren. Ein Jahr später, nach einem physiologischen Schub, konnte er sich mit seiner technischen Überlegenheit durchsetzen. Auch bei Marco Reus war es ähnlich. Allerdings haben solche Talente manchmal auch einen Vorteil: Sie müssen sich früh auf technische, spielerische Lösungen verlassen, um überhaupt eine Chance zu haben. Sie entwickeln oft sehr früh Fähigkeiten, die manchem Größeren abgehen. Bei denen ist wiederum »manchmal Schluss« mit der Entwicklung, wenn sie ihre körperlichen Vorteile verlieren, wie DFB-Analyst Christofer Clemens feststellt. Dann geht es für sie, die in der Jugend Tor um Tor schossen, oft nicht höher als in die vierte Liga. Als mögliche Alternativen zur Elite-Schulung des DFB haben Reformer unter anderem folgende Ideen: Man könne eine »Dezemberquote« einführen, um spät Geborenen mehr Spielzeit einzuräumen. Auch die Abschaffung des Abstiegs ist ein Thema, weil es dann nicht mehr so wichtig sei, so viele Spiele wie möglich zu gewinnen. In Belgien überlegt man, »rollierende Stichtage« einzuführen. Mit denen hätten die Spieler altersmäßig mal einen Vor- und mal einen Nachteil. Auf jeden Fall fehlt in dieser Phase nicht unbedingt das Talent, wenn der Erfolg ausbleibt. Manchmal fehlt nur die Größe, und es wächst sich zurecht ...
Welchen Vorteil Spieler haben, die im Januar geboren sind
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Du kannst alles schaffen, wenn … Gespräch mit dem 15-jährigen Landesliga-Spieler Joris Hartmann von Treubund Lüneburg und seinem Vater
»Bei diesen Lehrgängen in Barsinghausen gab es auch diese Ausnahmetalente, die schon in Hannover und Wolfsburg spielten. Da hieß es dann: Guck mal, der ist auch 2000er, spielt aber schon im 1999er-Jahrgang. « Adendorf, Niedersachsen, Anfang 2016. Während Deutschlands Ausnahmetalente des Jahrgangs 2000 im spanischen La Manga ein DFB-Trainingslager absolvieren, sitze ich mit Joris Hartmann und seinem Vater Mathias in ihrem Wohnzimmer. Von nebenan schallen die fröhlichen Stimmen eines Familienfestes herüber. La Manga und Adendorf trennen in diesem Augenblick mehr als 2500 Kilometer. Als ich Joris das erste Mal spielen sah, war er gerade noch zwölf und gewann mit seiner Mannschaft vom MTV Treubund Lüneburg die Hallenkreismeisterschaft der U13. Typ trickreicher Spielmacher, damals konnte man mit ihm nur über Fußball reden. Er galt als Talent, das einige Profiklubs auf dem Zettel hatten. Er war schon voll drin im System, spielte in der Kreisauswahl und im Stützpunkt. Dabei hatte er lange Zeit dem Werben der Lüneburger widerstanden und seinem Heimatklub Adendorf die Treue gehalten, bei dem ihn seine Eltern als Sechsjährigen angemeldet hatten. »Das waren meine Freunde, wir hatten Erfolg und einen richtig guten Trainer«, erinnert sich Joris an diese Zeit. So viel Glück hat nicht jeder, wenn er mit dem Kicken beginnt. Mathias Hartmann hat seinen Sohn von früh an zu vielen Spielen begleitet und dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. »Trainer im Jugendbereich lassen ihre Enttäuschungen manchmal unreflektiert an der Mannschaft aus«, sagt er. »Das ist oft grenzüberschreitend, wie der Frust einfach weitergereicht wird, statt ruhig zu analysieren und positive Impulse zu geben und dabei individuell auf die Spieler einzugehen.« Joris fällt der Abschied schwer, doch er wechselt in die Stadt, als ein neuer Trainer die Mannschaft schon sehr bald wieder im Stich lässt. Dreimal in der Woche Vereins-Training, montags Stützpunkt, an den Wo80
Du kannst alles schaffen, wenn …
chenenden Spiele. Manchmal Kreisauswahl. In den Ferien Fußball satt. Das lässt sich noch gut mit der Schule vereinbaren. Aber im Stützpunkt wird die Luft langsam rauer.
Die Sache mit dem Willen »Der Leistungsdruck war noch mal stärker als in der Kreisauswahl«, sagt Joris. »Da kann man schnell wieder rausfliegen. Im Verein gibt es ja viele Unterschiede, beim Stützpunkt sind alle gut, das ist ein anderes Training. Das war eine gute Erfahrung.« Hin und wieder sagt der Trainer, was gut ist, was besser werden muss, einmal im Jahr gibt es einen Test im Parcours, Schnelligkeit, Dribbling, Ball hochhalten. Alles wird gemessen. Joris wird immer wieder eingeladen. Sein Vater sieht auch Schwachpunkte: »Es gab zu wenig Verständnis im Verein, wenn Joris mal für den Stützpunkt gespielt hat. Und erstaunlich wenig Austausch zwischen Verein und Stützpunkt. Das kann man noch ganz schön optimieren.« Noch brennt Joris für diese Welt. Noch ist alles möglich. Der Stützpunkt soll ja Sprungbrett sein – mindestens in die Landesauswahl, vielleicht zu einem größeren Klub. Bei den Testspielen wissen die Jungs genau, ob Sichter vom DFB oder von Hannover 96 am Rand stehen. »Beim Stützpunkt wurde uns gesagt, dass die Scouts darauf gucken, ob man aufgibt oder weiterkämpft, wenn man 0:2 hinten liegt. Die achten auf den Willen.« Da ist es das erste Mal, das Schlüsselwort in Joris’ junger Karriere. Auf den Sichtungslehrgängen für die Landesauswahl in Barsinghausen lernt Joris die ganz großen Kaliber seines Jahrgangs kennen. »Da habe ich gemerkt, dass man nur eine Chance hat, gut zu werden, wenn man im Leistungszentrum ist. Sonst kommt man auch nicht mehr in die Landesauswahl rein. Die aus den Leistungszentren spielen schon viel Gespräch mit dem 15-jährigen Landesliga-Spieler Joris Hartmann
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selbstbewusster.« Und noch etwas anderes begreift er in Barsinghausen. »Da konnte man gut erkennen, wie schwer es ist, Profi zu werden. Dass da nicht nur das Talent zählt, sondern der Wille eine Riesenrolle spielt.« Und genau da liegt, wie Joris selbst einräumt, der Hase im Pfeffer. »Der Stützpunkttrainer hat gesagt: ›Du kannst alles erreichen. Aber dir fehlt manchmal der letzte Wille.‹« Trotzdem erhält Mathias Hartmann eine E-Mail vom FC St. Pauli, dessen Scout Joris in Barsinghausen gesichtet hat. Joris darf vorspielen. Glaubt er da noch an eine Profikarriere? »Profi nicht direkt, aber den Profibereich kennenzulernen und mal im Leistungszentrum mitzu’trainieren, das hat mich gereizt.« Das Probetraining fällt dann allerdings ernüchternd aus. »Es war schwer, mich da zu beweisen. Wenig Spielformen, Passübungen, Torschuss, ganz normales Training, die Trainer haben geguckt, mehr war das nicht.« Sein Vater sagt es direkter: »Die St.-Pauli-Jungs waren auch nicht unbedingt gewillt, die beiden Neuen ins Spiel zu bringen.« Beim HSV lief es vorher ähnlich. Danach melden sich die Klubs noch einmal bei Mathias Hartmann und setzen Joris in die Warteschleife. »Für uns war dann die Frage, wie aktiv wir als Eltern auftreten«, sagt er, während seine Frau Anne sich nebenan um die Verwandtschaft kümmert. »Andere Eltern haben ihren Jungen angeboten, Rundreisen durch die Leistungszentren gemacht, Probetrainings organisiert. Wir haben nicht gesehen, dass Joris weggeht und woanders in einem Leistungszentrum lebt. Wenn er das gewollt hätte, hätten wir das akzeptiert, aber wir haben das nicht forciert.«
Pragmatische Abwägung Auch Joris’ Enttäuschung darüber, dass er nicht wieder nach Hamburg eingeladen wird, hält sich in Grenzen. »Ich war gar nicht entschieden, ob ich das wirklich will«, sagt er. »Ich hätte dann viermal die Woche nach Hamburg fahren und die Hausaufgaben im Zug machen müssen und hätte keine Freizeit mehr gehabt.« Aber genau die wird im Alter von 14 Jahren immer wichtiger für ihn. Zeit mit Freunden verbringen, Spaß haben. Dazu kommt eine pragmatische Abwägung. »Selbst bei den Ausnahmetalenten ist ja nicht klar, dass sie mal Profis werden, da kann so viel passieren, Verletzungen zum Beispiel«, sagt er. »Wenn ich in ein Leistungszentrum gegangen wäre, meine ganze Jugend dem Fußball geopfert 82
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hätte und es dann nicht geschafft hätte, dann wäre die Enttäuschung groß gewesen.« Eine Chance kommt für Joris noch. Er nimmt an Lehrgängen einer privaten Fußballschule teil, das Niveau ist hoch, die Kosten nicht niedrig. Ostern geht es sogar zu einem Turnier nach Dallas. Die Schule hat schon einige Jungs, die von den Vereinsscouts übersehen wurden, in Leistungszentren vermittelt. Auch Joris bekommt das Angebot, sich bei Hannover 96 vorzustellen. Er lehnt ab. Er will nicht seine ganze Zukunft auf die Karte Fußball setzen. »Ich habe damit abgeschlossen, Profi zu werden«, sagt er heute. »Außer es kommt noch ein großer Sprung. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Wenn eine Verletzung kommt, steht man vor dem Nichts. Aber im Verein gebe ich weiter mein Bestes.« Anfang der Saison wurde er gebeten, in den höheren Jahrgang, der in der Regionalliga spielt, zu wechseln. Auch da blieb Joris stur und hielt seinem 2000er-Jahrgang in der Landesliga die Treue. »Da bringt es mir mehr Spaß, und ich kann es besser mit der Schule verbinden.« In die Regionalliga möchte Joris irgendwann trotzdem noch mal – wenn die Zeit reif ist. »Ich bin offen für das, was noch passiert.« Neben dem Verein spielt er regelmäßig in der neu eingerichteten U16Regionalauswahl Nord-Ost des Niedersächsischen Fußballverbandes. Dort erhalten Spieler, die nicht im Leistungszentrum eines Profiklubs aktiv sind, eine weitere Förderung, wenn sie zu alt für den Stützpunkt sind – ein »zweiter Bildungsweg« der Talentförderung. »Es wird immer mehr dafür getan, dass man eine zweite Chance kriegt«, sagt Joris, »dass man nicht draußen ist, wenn man es einmal verpatzt.« Und wie sieht der Vater im Nachhinein seine Rolle? Hat er sich zwischenzeitlich dabei ertappt, eigene Träume in seinen Sohn zu pflanzen? »Ich habe Joris immer gesagt: Wenn du das wirklich willst, musst du Gas geben und dich besser präsentieren, selbstbewusster agieren. Das hat dich genervt, oder?« Er guckt Joris an. »Das hat mich genervt, weil ich das selber am besten wusste.« – »Damit halte ich mich jetzt zurück«, fährt Mathias Hartmann fort, »weil ich sehe, dass er sich anders entschieden hat und wie toll er sich persönlich entwickelt.« Wieder ein Blick rüber. »Ja, er war immer auf meiner Seite«, sagt Joris. »Ich finde es wichtig, als Eltern den Weg zu begleiten«, lautet das Resümee von Mathias Hartmann. »Allein um zu wissen, was den Kindern abverlangt wird und warum es ihnen abverlangt wird. Eingemischt habe ich mich nur, wenn es um den zwischenmenschlichen Umgang ging. Aber in anderen Fragen habe ich mich rausgehalten.« Schwächen der FörGespräch mit dem 15-jährigen Landesliga-Spieler Joris Hartmann
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derung sieht er nicht im System, sondern bei einigen Trainern. »Allein mit Leistungsanforderungen wird man den Spielerpersönlichkeiten nicht gerecht. Ob gut oder schlecht gespielt wird, erkennen die Spieler selbst. Trainer, die im entscheidenden Moment taktisch gewieft umschalten und das Selbstbewusstsein der Mannschaft neu aufbauen, sind selten. Auch solche, die geduldig bleiben, wenn ein Spieler aufgrund einer Verletzung oder eines Wachstumsschubs im Leistungstief hängt. Die Trainer spielen in der Jugend eine Riesenrolle.« Von nebenan zieht jetzt Kaffeeduft rüber, Torten werden vorbeigetragen. Ich habe Joris und seinen Vater jetzt lange genug vom Familienfest ferngehalten.
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Schulen können von Leistungszentren lernen Gespräch mit Uwe Harttgen, Ex-Profi, Vorsitzender der Kommission Leistungszentren bei der Deutschen Fußballliga (DFL)
In anderen Städten wird Café-Kultur meist mit Künstlern verbunden, im Bremer Ostertorviertel immer noch mit Otto Rehhagel. Dort treffen wir uns mit Rehhagel-Entdeckung Uwe Harttgen, der einst im stolzen Alter von 25 Jahren den Sprung in Werders Bundesligateam schaffte. Nebenher studierte er Psychologie und arbeitete nach Beendigung der Profikarriere zunächst als Diplompsychologe in Werders Nachwuchsleistungszentrum, das er dann von 2007 bis 2013 leitete. 2010 promovierte er zum Thema »Psychologische Aspekte der Entwicklung jugendlicher Leistungsfußballer«. Seit 2013 ist er Vorsitzender der Kommission Leistungszentren bei der Deutschen Fußballliga. Vielleicht weil sein eigener Karriereweg als Fußballer so wenig gradlinig war, lautet eine seiner Kernthesen: »Wir denken noch viel zu sehr in Schubladen, wir berücksichtigen die Möglichkeiten von Entwicklung nur marginal.« Ab welchem Alter sollten Jugendliche ins Nachwuchsleistungszentrum aufgenommen werden?
Ins Internat sollten die Spieler erst zur U15 wechseln. Vorher ist ein Wechsel häufig mit Schwierigkeiten verbunden, und die Talentprognose ist bei jüngeren Spielern schwieriger. Aber es gibt Ausnahmen. Es geht immer auch um die individuelle Entwicklung. In den letzten Jahren hat die Zahl jüngerer Spieler in den Internaten zugenommen. Da haben wir auch eine Verantwortung. Wenn ein Spieler erst fünfzehn wird und sehr schüchtern ist, macht es mehr Sinn, ihn anderweitig an den Verein zu binden. Das birgt natürlich immer die Gefahr, dass der Junge in ein anderes Leistungszentrum wechselt. Wichtig ist, bei der Entwicklung des Jungen immer ehrlich zu den Eltern zu sein und sie nicht mit falschen Versprechungen zu binden. Ab wann können Sie genau einschätzen, wohin die Reise geht?
In der U17 gibt es diese Ausnahmetalente, bei denen jeder sagt: Wenn Gespräch mit Uwe Harttgen, Vorsitzender der Kommission Leistungszentren 85
das so weitergeht, dann kann er in zwei Jahren schon bei den Profis spielen. Bei den meisten kann ich das noch nicht sagen. Ein entscheidendes Kriterium ist: Bis wohin geht die Entwicklungsphase? Auch etablierte Nationalspieler lernen immer noch, aber bei einigen ist schon früh Schluss, körperlich, psychisch und technisch, da gibt es so viele Facetten. Welche Rolle spielt im Leistungszentrum die Schule?
Schule ist wichtiger als Fußball, denn Fußball spielen die Jungs sowieso. Wenn Vereine sagen, Schule ist auch wichtig, dann klingt das schon zweitrangig. Ein ganzheitliches Konzept hat grundsätzlich vier Bausteine: Fußball, Schule, persönliche Entwicklung, Sozialverhalten. Dabei werden die kognitiven Fähigkeiten immer wichtiger. In den Leistungszentren ist der Anteil der Gymnasiasten deutlich höher als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Auch für Trainer ist es einfacher, mit Spielern zu arbeiten, die die taktischen Konzepte verstehen. Diejenigen, die das noch nicht können, fallen frühzeitig raus. Wie wissen die Spieler, auf welchem Stand sie sind, wie mit ihnen geplant wird?
Im optimalen Fall werden die Spieler alle drei Monate in Entwicklungsgesprächen neu bewertet. Auch hier ist wichtig: realistische Ansagen, keine falschen Versprechen. Alle Bereiche werden abgefragt: Was war in den letzten drei Monaten? Daraus leiten sich Maßnahmen ab wie: Nachhilfe in Mathe oder mehr Zweikampftraining. Auch der Spieler soll seine Sichtweise erläutern. So können gemeinsam Lernphasen besprochen und angegangen werden. Ein wichtiges Thema in Ihrer Promotion ist die Belastungssteuerung. Wie sind Sie darauf gekommen?
Wir wussten bei manchen Spielern manchmal gar nicht, wo sie waren. Einer spielte U19, U23, bei den Profis, in der Nationalmannschaft, dazu kam die Schule. Die Schule rief an: Wo ist der Schüler, wir schreiben eine Arbeit! Der Trainer rief an: Wo ist der Spieler, wir haben Training! Die Spieler machen ja das, was von ihnen verlangt wird: Schule – Fahrdienst – Training – Hausaufgaben. Und am Wochenende Spiele. Es muss jemanden geben, der die Belastung im Blick hat und sie steuert. Und wenn das nicht passiert?
Wenn ich nicht berücksichtige, dass die Jungs Schlaf und Auszeiten brauchen und nicht immer am Limit trainieren dürfen, schadet das dem Wachstum. Überbelastung führt erst zu mentaler Belastung und dann zu Verletzungen. Die nehmen im Jugendfußball deutlich zu. Warum soll ich Spieler zwischen fünfzehn und achtzehn so hoch belasten? Wie ist dann noch Entwicklung möglich? Ist es nicht einfacher, die Beanspruchung sinnvoller zu gestalten? Quantitativ, nicht qualitativ. Zwischen 86
Schulen können von Leistungszentren lernen
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U17 und U23 sind eine sinnvolle individuelle Belastungssteuerung und ein Anpassungstraining an den Leistungsfußball notwendig.
Talente machen oft mehr als die Profis Sind Sie auf die Bremse getreten?
Wir haben sie dann auch mal früher aus der Schule geholt, wenn die schulische Leistung stimmte. Ich habe das ganzheitlich gesehen und die Gruppe zusammengeholt, Trainer, Psychologen, Reha-Trainer, und Daten zusammengetragen. Ich habe gesagt: Das würde von uns keiner durchhalten, die machen mehr als die Profis. Bei einigen muss man dann wirklich sagen: Den nehme ich erst mal raus. Das ist mit Trainern oft schwierig. Wenn ein Spieler eine Grippe hat, sagt jeder Trainer: Okay, ich hab einen anderen. Wenn ich sage, der braucht eine Pause, ist das Geschrei groß. Wie gehen Spieler damit um, wenn sie realisieren, dass es zu der großen Karriere nicht reicht?
Das ist schmerzhaft, aber sie müssen sich damit auseinandersetzen. Wenn es einer schafft, vierte Liga zu spielen, hat er eigentlich schon viel erreicht. Dann ist er immer noch unter den 3000 Besten in Deutschland. Das ist für mich kein Scheitern. Sie haben alle eine grundsätzlich positive Entwicklung genommen, haben Reisen und viele Erfahrungen gemacht. Der sportliche Traum ist vielleicht beendet, aber das ist in der Schule doch nicht anders. Wenn jemand nach der zehnten Klasse abgeht und keinen Ausbildungsplatz findet, kümmert das keinen. Da sind wir in den Leistungszentren weiter. Das Leistungszentrum als Vorbild für die Schule?
In beiden Bereichen geht es um Vermittlung und Bewertung. Wenn wir in den Schulen mal so weit wären, wie wir in den Leistungszentren sind: auf Entwicklung achten, etwas gestalten, Schüler mitnehmen. In der Schule sind wir ja noch nicht mal in der Lage, Kinder zu betreuen. Die Klassen sind immer noch viel zu groß, und der Schultag dauert acht Stunden, obwohl nach drei, 88
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vier Stunden die Aufnahmebereitschaft erschöpft ist. Wir wissen das alles, aber handeln nicht danach. Lieber reden wir über Beanspruchung und Scheitern in Leistungszentren.
Es sind andere Schwerpunkte in der Trainerausbildung notwendig Wie beurteilen Sie den Ausbildungsstand der Trainer im Nachwuchsleistungsbereich?
Auf diesem Topniveau kann bei fußballspezifischen Dingen jeder Trainer mithalten. Aber wie ich mit Prozessen in der Gruppe umgehe, damit haben die meisten wenig Erfahrung. Trainer, die lange dabei sind, wissen, was Sache ist. Die Spieler verstehen sie, weil sie authentisch sind. Die jungen Trainer haben das noch nicht, die müssen das entwickeln. Die Spieler sehen gleich, wenn einer nicht das lebt, was er sagt. Da sind andere Schwerpunkte in der Trainerausbildung notwendig. Wie sehen Sie die Rolle der Sportpsychologie?
Ich bin enttäuscht, was die Sportpsychologie dem Fußball gibt, und ich bin enttäuscht, was der Fußball der Sportpsychologie für Chancen gibt. Nehmen wir mal die rollen- und gruppenspezifischen Kompetenzen, das Führungsverhalten und die Authentizität des Trainers, Eigenverantwortung und Eigenmotivation. Was bedeuten Konflikte in der Gruppe, wie geht man mit Spielern um, die nicht dabei sind? Das sind alles ganz wichtige Facetten. Sind die Psychologen heute nicht viel mehr als Leistungsoptimierer gefragt?
Oder als Feuerwehr. Ich würde mir wünschen, dass die Sportpsychologen auch mal klarer fassen, was sie eigentlich im Leistungszentrum machen. Die Rolle kann ja ganz unterschiedlich aussehen. Meiner Meinung nach wäre es am sinnvollsten, als Begleiter einer Trainergruppe oder eines Vereins tätig zu sein und dort auf all die angesprochenen Facetten einzuwirken – wie es in der Nationalmannschaft passiert. Auch die Vereine müssen sich Gedanken machen. Welche Verantwortung haben die Psychologen? Welche Entscheidungsebenen sind da? Wie kann ich von einem Psychologen profitieren? Da fehlt das Know-how. Vielleicht ist das geplante DFB-Kompetenzzentrum eine Möglichkeit, das zu forcieren. Am Ende des dreistündigen Gesprächs sind wir längst auf koffeinfreien Kaffee umgestiegen. Gespräch mit Uwe Harttgen, Vorsitzender der Kommission Leistungszentren 89
Ich weiß, was ich kann Gespräch mit Nic Kühn, 16, über seinen Weg zum Profi
Zeit ist für Leistungssportler ein kostbares Gut. Auch für Nic Kühn (siehe Porträt auf S. 47), der seit Sommer 2015 bei der U17 von Red Bull Leipzig im Sturm spielt. Kurz nach seinem Weihnachtsurlaub beginnt schon das Trainingslager der U16-Nationalmannschaft in La Manga. Für dieses erste lange Interview seiner jungen Laufbahn nimmt er sich trotzdem noch viel Zeit: höflich, zurückhaltend, aber schon erstaunlich klar und selbstbewusst. Wie war es, in den Weihnachtsferien zu Hause zu sein?
Es war gut, mal wieder den Kopf vom Fußball frei zu bekommen. Wie sieht denn dein Tagesablauf im Internat aus?
Ich habe siebenmal in der Woche Training und dann noch Spiele am Wochenende. Zweimal in der Woche trainieren wir von acht bis kurz vor zehn. Dann fahre ich bis 14.10 oder 15.40 in die Schule. Um 16 Uhr treffen wir uns zum Nachmittagstraining, das geht ungefähr bis 19 Uhr. Danach gehen wir manchmal noch zur Behandlung durch die Physios oder zweimal in der Woche zur Nachhilfe. Abends sind wir meistens auf den Zimmern und essen noch zusammen. Wofür bleibt denn noch Zeit außer Fußball, Schule und hin und wieder ein Computerspiel?
Donnerstagnachmittag haben wir frei, da gehen wir zusammen essen oder ins Kino. Auch abends noch mal in die Stadt?
Das kann nach dem Training schon mal vorkommen, aber um 21.30 Uhr müssen wir zurück sein. Wie empfindest du diese Belastung für einen 15- bis 16-Jährigen?
Manchmal ist das schon schwer, aber wir haben uns ja alle für den Weg entschieden, wir sind ja nicht gezwungen, das zu machen. Wir wollen alle oben ankommen, dann muss man eben mehr tun als die anderen.
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Ich weiß, was ich kann
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Einer von 48 – das Leben im Internat Gibt es Freundschaften im Internat?
Ja, mein Zimmernachbar, mit dem ich mir ein Bad teile, ist vor einem Jahr von Hannover zu Leipzig gewechselt. Mit dem bin ich schon ein paar Jahre befreundet. Andere, die jetzt neu verpflichtet wurden, kenne ich schon von Lehrgängen und aus der Nationalmannschaft. Wie sieht euer Training aus?
Unterschiedlich. Anfang der Woche ist das eher lockerer, wegen den Spielen am Wochenende mehr Ballarbeit. Mitte der Woche beginnt die Vorbereitung aufs nächste Wochenende. Dann wird es schon intensiver, wir gehen langsam in die Zweikämpfe und in die Spielformen. Und am Freitag im Abschlusstraining gehen wir noch mal in die Standards und haben Spaß, machen das Abschlussspiel und viel Torschuss. Wie sind die Unterschiede zu Hannover 96 und dem FC St. Pauli?
Hier ist es viel intensiver, ich arbeite auch viel mehr taktisch. Und es ist disziplinierter, da achtet das gesamte Umfeld drauf. Es ist unserem Nachwuchsleiter sehr wichtig, wie wir mit anderen Leuten umgehen. Wie sollt ihr mit ihnen umgehen?
Respektvoll, auch außerhalb des Spielfeldes. Hast du wahrscheinlich vorher auch schon gemacht, oder?
Ja, schon, aber da wird noch mal extra drauf geachtet. Im Internat habe ich mit mehr Leuten Kontakt als in Hannover. Da war ich mehr für mich, das geht jetzt nicht mehr. Und wie findest du das? Eher als Bereicherung oder Einengung?
Manchmal denke ich schon, dass ich eine Pause bräuchte von dem Ganzen, aber insgesamt ist das, glaube ich, eine gute Erfahrung. Es gibt ja Kritiker des Nachwuchssystems, die befürchten, dass Jugendliche im Internat eines Leistungszentrums vieles verpassen, was andere in dem Alter erleben. Wie siehst du das?
Vor dem Internat habe ich viel mitbekommen, was noch so läuft. Jetzt habe ich mit 47 anderen Jugendlichen zu tun und kriege ja auch mit, was die denken und erleben. Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Hast du dir die Frage gestellt, ob das Internat der richtige Schritt ist, oder war das völlig klar für dich, das zu machen, wenn du die Chance bekommst?
Es war wirklich nicht einfach, von zu Hause, von meiner Mutter wegzugehen. Aber im Endeffekt fand ich es eine gute Idee. Hast du manchmal noch Heimweh?
Ja. 92
Ich weiß, was ich kann
Wie geht es den anderen?
Viel bekomme ich davon nicht mit, dass andere starkes Heimweh haben, aber immer mal wieder, dass einer alles versucht, nach Hause zu kommen. Gibt es eine übergeordnete taktische Linie im Verein?
RB verfolgt einen Plan, mit frühem Drauflaufen und schnellem Fußball nach vorne. Jede Mannschaft von der U9 bis zur U19 kriegt mit, wie wir spielen sollen, und dem müssen wir folgen.
Nachwuchsstar mit eigenem Kopf Wie ist dir diese Philosophie denn vermittelt worden?
Von unserem jetzigen Trainer Robert Klauß – als wir zum ersten Mal so richtig mit der Mannschaft auf dem Platz waren. Da ging es los mit dem Anlaufen, Ansprinten, Vorchecken, das waren alles neue Begriffe für mich. Konterfußball und Drauflaufen, das kannte ich vorher noch nicht. Was habt ihr vorher für einen Fußball gespielt?
Vorher habe ich mehr mit Spaß gespielt. Das ist eine ganz andere Philosophie als in Hannover. Dort will man mehr, den Ball laufen zu lassen, versuchen, das Spiel aufzuziehen. RB will eben schnellen Fußball spielen, schnell nach vorne reinspielen, viele zweite Bälle, Tore machen. Das kommt mir aber auch entgegen, da eine meiner Stärken meine Schnelligkeit ist. Es ist anders, aber es ist gut, das kennenzulernen. Kommt denn Ralf Rangnick auch mal vorbei und erzählt euch etwas darüber?
Erzählen nicht, aber er versucht so häufig es geht, auch bei Spielen von uns zuzugucken. Er kommt dann auch zu den Halbzeitansprachen mit in die Kabine, hält sich da aber eher im Hintergrund. Gespräch mit Nic Kühn, 16, über seinen Weg zum Prof i
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Deckt sich der Fußball, den ihr spielt, mit deinen Vorstellungen, oder musst du dich manchmal auch dazu zwingen?
Ich spiele schon mehr meinen Fußball, ich lasse mich von der Philosophie nicht so groß beeinflussen. Wie ist denn dein Fußball?
Ich bin keiner, der ständig nur draufläuft, sondern auch mal abwartet, der nicht die ganze Zeit durcharbeitet, sondern in den entscheidenden Momenten gefährlich auftaucht. Ich will halt immer gewinnen. Das wollen doch alle, oder?
Ja, schon, aber manchmal will ich das mehr als andere. Gerade in Jugendmannschaften muss man sich ja oft entscheiden: Spielen wir so, dass wir etwas lernen, oder spielen wir so, dass wir gewinnen, das ist ja nicht immer das Gleiche. Hast du das Gefühl, dass zu wenig auf den Sieg geachtet wird?
Manchmal wird, glaube ich, zu viel auf den Sieg geachtet. In Hannover war Steven Cherundolo mein letzter Trainer, der hat mehr auf das Spielerische geachtet und nicht so sehr auf das Ergebnis. Er hat mir immer gesagt, ich soll diese Eins-gegen-drei- oder Eins-gegen-vier-Situationen suchen und auch annehmen. Bei RB geht es eben mehr um schnellen Fußball, und im letzten Drittel soll ich diese Aktionen machen. Der Fußball in der U17 ist eben auch viel schneller als in der U15. Und wenn du mal mehr so handelst, wie du es dir vorstellst, gibt es dann auch mal einen kleinen Disput auf dem Platz?
Ja, es kann sein, dass der Trainer etwas sagt, aber wenn es klappt, sieht er das halt ein. Verstehen deine Mitspieler deine Spielweise?
Ja, es gibt auch noch andere, die auch andere Ideen haben als dieses Spiel. Darüber unterhalten wir uns auch außerhalb, dass nicht alle gleich denken. Wir versuchen unser Bestes und probieren auch, weiter so zu spielen, wie wir das für richtig halten. Gibt es denn eine Offenheit für eure Ideen?
Klar, die wollen ja auch eigentlich, dass wir unseren Fußball spielen und dadurch dazulernen. Wir können ja nicht alle nach einem System ausgebildet werden.
Vorbilder in Barcelona Welchen Fußball guckst du dir denn am liebsten an?
Das ist auf jeden Fall Barca, das ist auch mittlerweile mein Lieblingsverein. Die spielen Fußball, wie ich mir das vorstelle, wie wir früher auf dem 94
Ich weiß, was ich kann
Bolzplatz. Neymar, Messi, Suárez, die bringen das alle mit. Das bringt Spaß, da zuzugucken. Dein Vater hat mir erzählt, dass ihr schon mehrfach in Barcelona gewesen seid und du da oft auf dem Johan-Cruyff-Campus gespielt hast.
Wir treffen uns dann abends und machen Viererteams, einer geht ins Tor, und dann spielen wir bis zwei, und der Verlierer geht vom Platz. Wir hatten da ein deutsches Team. Da sieht man dann, dass die Spanier nicht so viel Wert auf das Körperliche und die Schnelligkeit legen wie wir in Deutschland, es geht viel um Technik und schönen Fußball, ums Tunneln und Spaß haben. Gegen uns haben sie dann gesehen, wie man auch Fußball spielen kann, indem es auch körperlich zugehen kann. Wenn Menschen so an dich glauben wie deine Familie, empfindest du das eher als Druck oder Ansporn?
Das freut mich schon, aber ich lass mich davon nicht richtig beeinflussen. Ich versuche einfach, mein Spiel durchzubringen. Sind deine Mitspieler auch schon so klar sortiert im Kopf?
Nicht alle, einige machen sich viel zu viel Druck, sind dann unkonzentriert und können ihre Qualität nicht durchbringen. Beim Länderturnier in Duisburg hat sich ein Mitspieler zum Beispiel dauernd gesagt: »Ich werde eh’ nicht wieder eingeladen.« Und so hat er dann auch gespielt. Er hatte Angst, Fehler zu machen, und hat sich nicht getraut, irgendwas zu versuchen. Dann habe ich als Kapitän mit noch einem anderen, der auch mal Kapitän war, ein Gespräch mit ihm geführt, dass er es sich nicht so schwer machen soll. Dein Vater hat mir vor unserem Gespräch eine Szene vom Länderturnier in Duisburg erzählt, in der seiner Meinung nach dein Talent besonders deutlich wird. Ahnst du, welche Szene er meint?
Ja, wie ich zum Torwart renne. Wie erinnerst du dich an die Szene?
Ich habe nur auf den Pass vom Außenverteidiger zum Torwart gewartet und hinter dem Innenverteidiger gelauert. Als er dann zum Pass angesetzt hat, bin ich losgesprintet und habe den Ball vor dem Torwart bekommen. Dadurch, dass ich nach innen gezogen bin und den Verteidiger an mir vorbeirutschen ließ, sah das Tor dann noch etwas schöner aus. (Zeigt die Szene auf dem Smartphone) Siehst du das selbst auch so, dass dich diese Fähigkeit, Situationen vorherzusehen, von anderen unterscheidet?
Ja, ich weiß nicht, ob andere das auch so sehen würden, aber ich denke, das ist schon eine Stärke. Wenn etwas nicht richtig läuft und keiner richtig zum Ball geht, denke ich oft, das hätte man schon vorher sehen können – jedenfalls aus meinem Blickwinkel. Gespräch mit Nic Kühn, 16, über seinen Weg zum Prof i
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Was sind noch deine Stärken?
Schnelligkeit, Torabschluss, Blick fürs Spiel, Leute in Szene zu setzen.
Vertrauen ist wichtig Wo kommt dein Selbstvertrauen her?
Das hat sich über die letzten Jahre entwickelt. Ich weiß halt, was ich kann, was ich schaffen kann, und das versuche ich durchzuziehen. Man muss sich ja Ziele setzen. Mir fällt das leicht. Was war denn dein erster Bolzplatz? Der Garten?
Ich habe schon mit drei Jahren im Verein gespielt. Meine Mutter hat mir erzählt, dass wir vorm Kindergarten standen, und da hat einer einen Prospekt von einer Jugendmannschaft verteilt. Da hat sie mich gefragt, ob ich das probieren will, und dann sind wir da hingefahren. Seitdem hatte dein Fußballerleben ja schon ganz schön viele Stationen.Wenn du mal zurückblickst, wo hast du am meisten gelernt?
Ganz wichtig war mein erster Trainer bei Hannover 96, Tim Hoffmann, der hat das erste Mal das Taktische hereingebracht und mir mehr zugetraut als andere. Mit dem habe ich immer noch Kontakt, der hat mir viel von dem beigebracht, was ich jetzt noch brauche. Wie kam denn der Wechsel nach Leipzig zustande?
Angefangen hat es eigentlich mit den Sponsoren, Adidas und Nike, und dann kamen viele Vereine, die bei meinem Berater und meiner Mutter angerufen haben. Am Ende fiel die Wahl zwischen Bayern München, Leverkusen und Leipzig – die haben wir uns näher angeguckt. In Leipzig ist es ziemlich familiär, und es gibt die Möglichkeit, weit zu kommen. Was die da aufbauen, auch von den Trainingsmöglichkeiten her, geht nicht besser in Deutschland. Was möchtest du in dem anstehenden Trainingslager in La Manga erreichen?
Ich möchte wieder gut auffallen – und mein Spiel mehr durchbringen. Nicht nur als zweite Spitze oder Außenflügel abgestempelt werden. Beim Länderspiel in Österreich hatten wir einen Trainer, der hat mir richtig viel zugetraut, so wie Steven Cherundolo in Hannover, da habe ich gleich im ersten Spiel zwei Tore gemacht. Vertrauen ist wichtig. Auf welcher Position siehst du dich langfristig selbst?
Als Mittelstürmer. Aber nicht als klassischen Neuner, mehr als fallende Spitze, der auch mal über die Flügel kommt, der sich den Ball abholt. Aber beim DFB bin ich durch meine Schnelligkeit momentan mehr auf den Außenflügeln. Das spiele ich dann auch, muss ich. 96
Ich weiß, was ich kann
Aber reden kann man mit den Trainern darüber?
Ja, das wollen sie auch. Wo siehst du dich in vier Jahren?
Auf jeden Fall im Profifußball, das will ich auf jeden Fall schaffen, spätestens in vier Jahren. Am liebsten in einem Champions-League-Verein, wo ich gegen die Besten spielen kann. Glaubst du, dass sich der Fußball bis dahin noch mal verändern wird?
Es wird schon noch mal ein bisschen schneller und taktischer, aber ich gehe da mit. Was fehlt dir noch?
Einiges, ich kann eigentlich alles noch verbessern, es ist noch nichts fertig. Auf jeden Fall rechter Fuß, Kopfballspiel. Welche Risiken siehst du noch auf deinem Weg zum Profi?
Verletzungsgefahr, die ist immer da. Aber da darf man sich auch nicht zu viele Gedanken machen, dann spielt man unkonzentriert und zu vorsichtig. Was würdest du den heutigen Trainern im Umgang mit Talenten raten?
Dass sie auf die Spieler eingehen und versuchen, sie zu verstehen. Man darf ihnen nicht nehmen, eigene Sachen auszuprobieren. Dadurch lernen sie ja, wenn sie sehen, was klappt und was nicht klappt.
Die schönste Szene Welches ist der Spielzug, an den du denkst, wenn du nachts nicht einschlafen kannst?
Da haben wir mit der Niedersachsenauswahl gegen Bremen gespielt. Kurz vor Schluss habe ich den Ball nach einer Ecke im eigenen Sechszehner bekommen und bin durchgegangen bis zum gegnerischen Sechszehner und habe abgeschlossen. Der Torwart hat noch pariert, aber mein Mitspieler hat den Nachschuss dann reingemacht. Wie war das für dich, als die »Bild«-Zeitung dich in einer Schlagzeile als »Superbubi« bezeichnete?
Das kommt gar nicht so an mich heran. Aber du bist doch bestimmt angesprochen worden?
Ja, ganz, ganz viel, ein paar Tage lang. Auch in der Schule, da war ich ja noch nicht gewechselt. Und wie ist dein Wechsel aufgenommen worden?
Manche waren schon traurig, mittlerweile finden es alle gut.
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Sie brauchen eigentlich schon mit fünzehn eine Sekretärin
Sie brauchen eigentlich schon mit fünfzehn eine Sekretärin Gespräch mit Fabian Boll, Ex-Profi, Polizist und Co-Trainer des U23-Teams des FC St. Pauli
Geht das? Vorzeigeprofi sein, ohne voll im System aufzugehen? Fabian Boll hat es vorgemacht, wurde als Spieler Identifikationsfigur einer erfolgreichen Ära des FC St. Pauli, obwohl er nebenher weiter seinen bürgerlichen Beruf ausübte. Und dann auch noch bei der Kriminalpolizei – nicht gerade die Lieblingsinstitution vieler St.-Pauli-Fans. Aber der Zweitjob gab ihm die Unabhängigkeit, auch mal Nein zu sagen, eine gesunde Distanz zum Betrieb zu behalten. Die strahlt er auch im Gespräch im St.-Pauli-Trainingszentrum aus. Auch da schafft er den Spagat: 100 Prozent Engagement für das, was er tut – aber mit einem kritischen Blick auf Entwicklungen in der Talentförderung und im Job des Nachwuchstrainers. Herr Boll, Sie waren als junger Spieler nie in einem Leistungszentrum. Können Sie sich in die Situation der Spieler heute hineinversetzen?
Ich bin ja in der glücklichen Situation gewesen, gerade diesen Switch zwischen der alten und der neuen Fußballschule mitzubekommen. Es begann noch damit, zehn Kilometer durch den Wald zu rennen. Trinken während des Trainings galt als Zeichen der Schwäche. Dafür mussten wir mit zwei Medizinbällen von Sechzehner zu Sechzehner rennen und an der Mittellinie über eine Hürde springen. Die schrauben dir den Kopf ab, wenn du das heute machst. Bei mir war es ein Kick, als ich plötzlich mit einem Athletiktrainer gearbeitet habe. Der sagte mir: 16 Prozent Körperfett darf man als Leistungssportler nicht haben. Da habe ich die Erfahrung gemacht, dass es meinem Körper guttut, wenn ich auch im Athletikbereich an mir arbeite. Zur neuen Fußballschule gehört auch die frühe Leistungsorientierung. Wie beurteilen Sie das?
Ich finde es ungesund. Bis 18 Uhr haben die Jungs heute Schule, werden direkt an der Schule eingetütet und zum Training gefahren. Sie sollen dann auf dem Platz noch anderthalb Stunden Leistung bringen, anschließend noch Hausaufgaben machen. Ganz überspitzt formuliert: Sie schmeißen ihre Jugend weg. Für Hobbys und Freunde haben sie fast gar Gespräch mit Fabian Boll, Co-Trainer des U23-Teams des FC St. Pauli
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keine Zeit mehr. Die brauchen eigentlich schon mit fünfzehn, sechzehn eine Sekretärin, zumindest ein gutes Zeitmanagement. Dieses Pensum hatte ich damals erst mit dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Der Körper ist entsprechend früher »auf«. Mit neunundzwanzig heißt es oft schon: Der bringt’s nicht mehr, der muss in Rente. Was könnte die Alternative sein?
Ich würde gern einen konträren Versuch starten. Bei St. Pauli ist man ja gerne auch mal andersdenkend. Wir könnten sagen: Die 14-Jährigen trainieren, wie früher, nur zweimal die Woche, und für den Rest sagen wir: Habt Spaß, geht auf den Bolzplatz mit euren Kumpels. Können Sie sich vorstellen, dass man so am Ende die gleiche Leistung erzielt? Oder heißt das auch: Abschied vom Hochgeschwindigkeitsfußball?
Da kann man in die Glaskugel gucken – man weiß es nicht. Ich konnte trotzdem bei den hochgezüchteten Profis mithalten. Es sind auch andere Profis hochgekommen, die nicht in den Leistungszentren waren. Andererseits weiß man nicht, wie ich mich sportlich entwickelt hätte, wenn ich in einem Leistungszentrum gewesen wäre. Es kann sein, dass ich durch die vermeintlich bessere Förderung noch mehr im Fußball hätte erreichen können. Es kann aber auch sein, dass ich mich nicht so entwickelt hätte, weil ich eines von vielen Toptalenten gewesen und eher durchs Raster gefallen wäre, weil jemand auf meiner Position nur einen Tick besser gewesen ist. Was gehört aus Ihrer Sicht zur Persönlichkeitsentwicklung?
Darüber unterhalten wir uns hier ganz oft. Da geht es oft um Benimmfibeln, Verhaltenskataloge und Ähnliches. Ich sehe das eher kritisch. Es wird immer gefordert, dass die Jungs auf dem Platz Freigeister sein sollen und sich spontan entscheiden können. Aber wir verfrachten sie in ein Korsett, aus dem sie kaum nach links und rechts ausbrechen können. Das passt nicht zusammen. Die müssen ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Da fallen dann auch einige durchs Raster – aber das ist gesünder für alle Beteiligten, als immer nur mit der Perspektive da ranzugehen, auch die nächsten zwölf Jahre Weltmeister zu werden. Können Sie Ihre Sichtweise bei St. Pauli offen diskutieren?
Ja, ich bin auch gar nicht allein mit meiner Meinung. Bei den NLZ-Strukturen geht ganz viel von dem ursprünglichen Fußball verloren. Was du auf dem Platz mit den Jungs machst, macht unheimlich Spaß, ebenso die Trainingsstunden auszuarbeiten und die Jungs zu coachen. Aber das sind leider nur noch zehn Prozent der Arbeit. Der Rest besteht darin, hier etwas zu dokumentieren, dort Gesprächsprotokolle zu erstellen. Du sitzt eigentlich die meiste Zeit am Laptop, damit wir die Punkte für das Leistungszentrum bekommen. Unser U17-Trainer Timo Schultz war kürzlich 100
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in England und hat bei mehreren Klubs hospitiert. Der Leiter des Nachwuchszentrums von Tottenham sagte, diese ganze Zertifizierung sei »bullshit«. Er lasse sich nur daran messen, wie viele Jungs er hochgebracht habe in den Profibereich.
Ein Talent aus Hintertupfingen in Hamburg ohne Eltern: Happy Birthday Die Spieler, mit denen Sie arbeiten, sind ja schon komplett durch dieses System durchgegangen. Merkt man das im Vergleich zu den Mannschaften, in denen Sie früher gespielt haben?
Ja. Als ich zwanzig war, war ich unheimlich dankbar dafür, dass ich auch mit 30-Jährigen zusammen gespielt habe. Heute kommt der 22-Jährige zum 21-Jährigen, da wird es schwierig mit der Hierarchie. Die jungen Spieler haben heute ein ganz anderes Selbstverständnis. Die machen auch heute schon den Mund auf und geben den Älteren »Feuer« im Training. Nicht dass das jetzt falsch verstanden wird: Wir wollen ja, dass die Jungs ihren Mund aufmachen und sich nicht alles gefallen lassen. Und auch, dass sie schon früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Das beinhaltet aber auch Risiken: Wenn heute ein Talent aus Hintertupfingen nach Hamburg kommt und die große Welt kennenlernt, 15.000 Euro im Monat verdient und die Eltern sind weit weg: Happy Birthday! Heute kommen manchmal schon 13-Jährige ins Internat, wie etwa Sidney Djalo, der von St. Pauli zum VfL Wolfsburg wechselte.
Manchmal sind solche Spieler schon mit ein paar hundert Euro Alleinverdiener in der Familie. Auf denen ruht dann die ganze Hoffnung. Im Prinzip kann es nicht gesund für einen 13- oder 14-Jährigen sein, dass er sein Elternhaus verlässt und in eine andere Stadt zieht. Gerade in dieser Phase der Entwicklung ist das fast schon pervers. Und es gibt viele Interessenvertreter, die da reinspielen. Berater verdienen nun mal am meisten, wenn jemand wechselt. Andererseits muss man sich im Klaren darüber sein, dass monetäre Dinge im Fußball immer wichtiger werden. Früher wurde in der Amateurmannschaft der eigene Nachwuchs herangezogen, heute bildet man auch für den Markt aus. Wirkt sich das auf das Gefüge der U23-Mannschaft aus?
Weniger. Kompliziert ist aber das Zusammenspiel mit den Profis. Egal wie gut du trainierst: Wenn der Linksverteidiger von oben kommt, spielt der. Da hast du gegenüber den Jungs ein schlechtes Gewissen. Deswegen fällt das, was den Trainerjob so spannend macht, nämlich eine Mannschaft zu entwickeln, fast komplett aus. Und jedes Jahr fallen acht bis Gespräch mit Fabian Boll, Co-Trainer des U23-Teams des FC St. Pauli
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zehn Leute weg, und es kommen wieder Leute aus der U19 hoch. Dann musst du wieder von vorne anfangen. Müssen Sie manchmal auch Spieler einsetzen, um sie für den Markt interessant zu machen?
Wir versuchen schon, Spieler für uns selber auszubilden. Die Jungs, die in der U23 spielen, haben alle den Traum, Profi zu werden. Am liebsten natürlich bei St. Pauli, wo sie vor 30.000 Menschen spielen. Aber wenn sie einen Dritt- oder Viertligisten mit Ambitionen bekommen, nehmen sie den auch. Unser Durchlauf von unten nach oben hat sich deutlich verbessert. Viele trainieren oben mit. Das ist nicht so gut für »unsere« Mannschaft, bringt den Jungs aber eine Menge. Gibt es in der U23 noch echte St. Paulianer? Oder ist denen egal, für welchen Klub sie spielen?
Die Jungs befassen sich gar nicht mehr so mit dem Vereinsleben. Das hat natürlich auch damit zu tun, den Fußball als Job zu begreifen. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch den Amateurfußball kennengelernt habe, wo man nach dem Spiel noch mehrere Stunden zusammensaß. Heute gilt für viele: Abpfiff, duschen, nach Hause. Aber ich habe in diesem Jahr angefangen, auch mal ein paar Filme über den Klub zu zeigen. Warum ist der Verein so besonders? Weil er sich klar gegen rechts positioniert. Einige verdrehen die Augen, weil es ihnen egal ist, andere finden das toll. Eine Fußballmannschaft ist ein Querschnitt der Gesellschaft. Wie viele Jungs bringen Sie nächste Saison zu den Profis?
Dieses Jahr haben wir unser Saisonziel erreicht. Einer hat sich oben festtrainiert, obwohl er erst nur mit ins Trainingslager sollte. Nun hat er schon einige Einsätze in der zweiten Liga gehabt. Unser Saisonziel ist immer: Wenn es ein bis zwei schaffen, ist es mehr als genug. Der Verein gibt vielleicht eine halbe Million aus für drei bis vier Spieler, die es wirklich schaffen können. Wolfsburg ist ein extremes Beispiel. Die Jungs reisen schon in der vierten Liga einen Tag vorher an wie die Profis, übernachten im Fünfsternehotel. Der VfL verkauft später aber auch mal einen für ein paar hunderttausend ins Ausland. Dann rentiert sich das schon. Manche Profiklubs melden ihre U23 auch ab, dann gehen die U19-Spieler auf Leihbasis oft zu anderen Vereinen. Und wenn sie einschlagen, werden sie zurückgeholt. Viele Talente landen gar nicht mehr in der U23, weil sie schon früher zu größeren Klubs wechseln.
Da dürfen wir uns nicht beschweren, das ist der Lauf der Dinge. Wir kaufen von kleineren Vereinen, und bei uns kaufen die größeren Vereine. Holstein Kiel ist vielleicht genauso angepisst von St. Pauli wie wir von Wolfsburg oder Leipzig. 102
Sie brauchen eigentlich schon mit fünzehn eine Sekretärin
Goldrausch Der weltweite Handel mit jungen Talenten floriert
Die sechs jungen Männer schaffen es tatsächlich, ihre unbekleideten Oberkörper im Rhythmus der Techno-Beats zu bewegen und den Ball trotzdem eng am Fuß zu halten. Die Musik stoppt abrupt, der Kleinste nimmt den Ball in die Hände und wendet sich dem Publikum zu. »You might not see us, you might not know us, but we are training, all over Europe, all over the world.« »Michael Essien – I want to play as you« heißt die Fußball-Tanz-Performance des »Urban Theater Project« aus Antwerpen, die an diesem Tag auf einer Off-Theater-Bühne in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofes gezeigt wird. Die sechs Tänzer sind selbst einmal mit dem Traum einer Profikarriere aus Afrika nach Europa gelockt worden – und wie viele andere in Vorstadtghettos gestrandet. Während Freunde und Verwandte zu Hause immer noch auf Geld warten, weil sie denken, sie seien auf dem besten Wege, zu neuen Michael Essiens zu werden. Sie sind die Elendsausgabe eines internationalen Talent-Handelssystems, das sich um den Fußball herum entwickelt hat. »Tausende Talentscouts durchkämmen die provisorischen Fußballplätze in Afrika, immer auf der Suche nach dem einen fantastischen Spieler, der dem Scout zu Reichtum verhelfen kann«, schrieben die norwegischen Journalisten Lars Madsen und Jens Johansson schon 2008 in ihrem Buch »Der verschwundene Diamant«. Heute verlassen nach Schätzung der Hilfsorganisation Culture Foot Solidaire (CFS) jährlich bis zu 15.000 junge Afrikaner ihre Heimat, um in Europa, Asien oder den Maghreb-Staaten Fußball zu spielen. Weitere Schwerpunkte der Abwanderung liegen in Südamerika, Asien und Osteuropa.
Schamgrenze sinkt Die Luxusvarianten dieses Systems heißen La Masia, wie die Nachwuchsakademie des FC Barcelona, Manchester City Football Academy oder schlicht Leistungszentren, wie die Talentschmieden der Bundesligisten. Der weltweite Handel mit jungen Talenten f loriert
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Dort landet nur die Crème de la Crème des internationalen Talentmarktes, wird in Internaten bestens betreut, von den besten Trainern ausgebildet und von den besten Lehrern aufs Abitur vorbereitet. Die einzige Verwahrlosung, die droht, ist die Wohlstandsverwahrlosung. Bis auf wenige Ausnahmen verzichten die Bundesligaklubs allerdings darauf, Kinder und Jugendliche aus dem Ausland zu holen, und konzentrieren sich darauf, sich die Talente untereinander abzujagen.
Es herrscht Goldgräberstimmung im Profifußball, Rohstoff und Kapital sind im Übermaß vorhanden, die Veredelungsindustrie wächst und gedeiht. Wie beim Gold Rush ist genug Platz für Geschäftemacher aller Art, von Anlagefonds über Vermittlungsagenturen bis hin zu unzähligen Abenteurern, deren Methoden mitunter denen von Schleppern und Schleusern ähneln. Role Model für eine gelungene Karriere ist nach wie vor Lionel Messi, der als 13-Jähriger aus Argentinien ins La Masia gekommen ist. Aus Angst, der nächste Messi könnte bei der Konkurrenz landen, sinkt die Schamgrenze immer tiefer. Zu den bekanntesten Fällen zählen Jeremy Boga, der 2009 als 12-jähriger von ASPTT Marseille zum FC Chelsea wechselte, und der zehnjährige Japaner Take Kubo, um den der FC Barcelona das Rennen gewonnen hat. Der Preis für die als Toptalente gehandelten Spieler, die schon den ersten Schliff bekommen haben, wächst ins Fantastische. So soll der Norweger Martin Ödegaard bei Real Madrid schon als 16-Jähriger 2,0 Millionen Euro pro Jahr verdient haben. Ganz so hoch geht die Bundesliga noch nicht ran, aber auch hier können U17Spieler beziehungsweise ihre Eltern bei entsprechend zahlungskräftigen Klubs auch fünfstellige Monatsgagen einstreichen. Ein unrühmliches Kapitel hat auch der FC Bayern München einst geschrieben. Der Rekordmeister holte 2007 den 13-jährigen Peruaner Pier Larrauri Corroy nach Deutschland. Der Vater kam mit, die Mutter blieb in der Heimat. Bald war das Heimweh so groß, dass nur die Rückreise blieb. 104
Goldrausch
Die FIFA-Statuten verbieten zwar internationale Wechsel unter 18 Jahren, doch es gibt Ausnahmen. So dürfen innerhalb der EU auch Spieler zwischen 16 und 18 Jahren unter bestimmten Bedingungen wechseln. Auch sind internationale Transfers innerhalb eines Radius von 50 Kilometern auf beiden Seiten der Grenze eines Landes erlaubt. Das Haupteinfallstor bietet aber die Möglichkeit zu wechseln, wenn die Eltern eines Minderjährigen aus Gründen, die nichts mit Fußball zu tun haben, sowieso in ein anderes Land ziehen. Wer will das überprüfen? Wiederholt sind Klubs dennoch wegen Verstößen gegen diese Regelung mit einer Transfersperre belegt worden, wie der FC Barcelona im Jahr 2014. Künftige Sünder können von den Katalanen lernen, wie man die Sperre umgeht: trotzdem kaufen, die Spieler aber erst nach Ablauf der Sperre einsetzen.
Aus Kindern werden Talente, aus Talenten werden Marktwerte Auch aus der Bundesliga sind schon etliche Jugendliche in europäischen Eliteschmieden gelandet – die meisten haben den Sprung nicht geschafft. Wie Sascha Nikolajewicz, der bereits 1989 von der B-Jugend des VfB Stuttgart in die Nachwuchsschule des AC Turin ging. Oder Leander Siemann, der 2011 als 15-Jähriger für eine Ausbildungsentschädigung von angeblich 250.000 Euro von Hertha BSC zu Arsenal London wechselte und heute nach einem Abstecher zum FC Porto vereinslos ist. Dass ein früher Wechsel ins Ausland auch in eine erfolgreiche Profikarriere münden kann, zeigt das Beispiel von Ron-Robert Zieler, der als 16-Jähriger bei Manchester United landete. Thomas Hitzlsperger und Robert Huth waren bei ihren Wechseln in die Premier League auch erst 18 Jahre alt. Längst geht es nicht mehr nur darum, den Nachwuchs für den eigenen Kader auszubilden, sondern »Marktwerte zu schaffen«, wie es in der Branche heißt. In diesem System muss jeder Klub seine Nische finden. »Für die einen ist die primäre Ausbildungsarbeit wichtig, andere müssen nicht mehr unbedingt aus dem eigenen Nachwuchs schöpfen, sondern können schon weiter ausgebildete Spieler verpflichten, die sie auch sportlich für eine Weile weiterbringen, bevor sie wieder verkauft werden«, sagt der Sportökonom Jörg Quitzau. So kommt es zu frühen Legionärskarrieren wie die von Davie Selke (Jahrgang 1995), für den Leipzig nach der TSG Hoffenheim und Werder schon die dritte Station in seinem jungen Berufsfußballer-Leben ist. RB Leipzig zahlte acht Millionen Euro an die Bremer. Er ist damit nicht nur ein Musterprodukt des deutschen TalentDer weltweite Handel mit jungen Talenten f loriert
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fördersystems, sondern auch ein Beispiel dafür, wie früh Fußballer heute zu Anlageobjekten mit strategischer Karriereplanung werden. Je tiefer die Klubs in der Nahrungskette stehen, desto hilfloser sind sie heute dem Jagfieber auf dem Talentmarkt ausgeliefert. Einen Aderlass von gleich elf Spielern beklagte im Sommer 2015 das Nachwuchsleistungszentrum des FC St. Pauli – obwohl es von DFL und DFB gerade erneut das Höchstprädikat von drei Sternen erhielt. Langfristig werden neben Beratungsagenturen auch Beteiligungsgesellschaften eine größere Rolle in dieser Wertschöpfungskette spielen und Transferrechte erwerben. Dem stehen zwar die FIFA-Bestimmungen entgegen, nach denen die Teilhabe von Investoren an Transferrechten (Third Party Ownerships) verboten ist. Es wird aber schon kräftig mit und an Modellen gearbeitet, die auch diese Bestimmung umgehen. Der Versuch einer arabischen Investorengruppe, beim SSV Ulm gleich ein ganzes Nachwuchsleistungszentrum zu finanzieren, scheiterte 2014 nur am Widerstand von Teilen des Vereins.
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Goldrausch
Good Boys, bad Boys Der Berater Hannes Winzer und seine Branche
Abzocker, Menschenhändler, Geldhai – es gibt etliche nicht besonders freundliche Worte, die mit einem Spielerberater in Verbindung gebracht werden. Man sieht meist nur, wenn ein Spielermakler bis zu 10 Prozent des Jahresgehalts eines Profis als Vermittlungsgebühr kassiert, wenn er sich mit einem Klub über einen Vertrag mit seinem Klienten geeinigt hat. Das sind im allerbesten Fall mehr als eine Million Euro. Es gibt in diesem Geschäft, wo viel Geld zu holen ist, genügend Halbseidene. Auch Hannes Winzer, 33, sieht die Branche nicht nur positiv, obwohl er selbst Spielerberater ist und natürlich der Meinung, dass es in diesem zuweilen undurchsichtigen Fußballbusiness Ratgeber braucht. Als Sohn eines Lehrerpaares hat er selbst auf Gymnasiallehrer studiert, nebenher liefen eine DFB-Stützpunkttrainer-Tätigkeit und die A-Lizenzausbildung als Trainer. Mit ihm treffen wir uns in einem Café in Hamburg, wo er unter den vielen Gästen aus dem Kreativ-Bereich nicht auffällt. Auch Hannes Winzer hatte einmal den Traum, Fußballprofi zu werden. Er hat bei Hannover 96 unter Ralf Rangnick trainiert und mitbekommen, »wie das Geschäft funktioniert und der Rasen riecht«, wie er es pathetisch ausdrückt. Sein bester Freund war der heutige Weltmeister Per Mertesacker, bei dem er auch Trauzeuge wurde. Wie der »klassische Spätentwickler« Mertesacker (so Winzer) hat er aber noch weniger daran geglaubt, dass er es packen würde. Dabei war er mit 19 Jahren im Ranking noch vor Mertesacker und wurde auch in die Jugendnationalmannschaft des DFB berufen. Er ist, wie er selbst sagt, mit dem »mentalen Druck« und dem gewaltigen Gerangel um die Hierarchien im Team nicht klargekommen. Sein großes Problem war »das Konstrukt Profifußball«, in dem für anderes kaum noch Platz blieb. Vielleicht ist so jemand, der ein durchaus kritisches Auge auf das Millionengeschäft hat, ein besonders guter Ratgeber – auch wenn er mit seiner akademischen Art eher eine Ausnahme in diesem Gewerbe ist. Seine 2013 gegründete Agentur »Spielerrat« baute er mit zwei Kollegen aus der Marketingabteilung von Adidas auf, wo er nach der Lehrerausbildung Der Berater Hannes Winzer und seine Branche
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als Fußballscout anfing und Talente mit Sponsorenverträgen ausstattete. Mit der Agentur möchte er »eine Art Boutique statt Spielerfabrik sein. Hochprofessionell, aber auch mit entspanntem, vielleicht studentischem Flair. Bewusst konträr zum Image der Branche«, sagt der gebürtige Hannoveraner. Man kümmert sich nicht nur um gestandene Profis wie Mertesacker, Emir Spahic oder Felix Wiedwald, sondern mehr noch um Talente, die den Sprung in den Profifußball anstreben, wie etwa Nic Kühn (siehe Interview und Geschichte hier im Buch).
Was ist ein Profi? Was ist ein Profi, Hannes Winzer?
Das ist eine Definitionssache. Wenn ich jetzt bei einem Klub spiele, wo ich etwa 1000 bis 2000 Euro ausgezahlt bekomme, 500 noch nebenher, eine Wohnung kriege und nebenbei studiere – dann ist das vielleicht auch Profitum. Das ist dann so dritte oder vierte Liga.
Ja, richtig. In diesen Ligen ist der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit enorm. Häufig finden sich dort Spieler wieder, die den Sprung nie ganz geschafft haben, von ihrem Traum aber nicht Abstand nehmen wollen. Keine ungefährliche Sache. Was bedeutet es für einen jungen Spieler, in eine richtige Profimannschaft zu kommen?
Da wird ein bestimmter Lebensstandard vorgeführt. Das ist ein sozialer Druck, der da herrscht. Dieses »Nun bin ich Fußballprofi, dann muss ich mich auch irgendwie so geben«, spielt eine Rolle. Wenn da noch einer mit dem Fahrrad zum Training kommt, wird das von der Presse aufgegriffen, weil so etwas selten vorkommt. Zudem gibt es einen großen Verdrängungswettbewerb. Geld verdient, wer spielt. Den nächsten Vertrag bekommt nur, wer Leistung bringt. Für Leute, die sich zu viele Gedanken machen, ist eine Profimannschaft nicht der richtige Ort. Wie stark ist dieser soziale Druck?
Der Normalfall ist, dass man den gestandenen Profis nacheifert. Dabei hat man, vor allem in den unteren Ligen, gar nicht die Möglichkeiten finanzieller Natur. Es gibt einen Spruch von Arsène Wenger: »Wenn die Fußballer aufhören, dann nimmt man ihnen ihre Leidenschaft, ihre Arbeit und das Geld.« Wer länger auf höherem Niveau gespielt hat, hat hinterher eher das Problem mit der Arbeit und der Leidenschaft, mit dem Geld hoffentlich nicht. Wer auf niedrigerem Niveau spielt, hat vielleicht Der Berater Hannes Winzer und seine Branche
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alle drei Probleme. Es ist ja ein sehr kurzer Zyklus, über den man bei einer Profikarriere spricht. Zurück zum Anfang. Wann beginnt das Profitum?
Viele Jungs, die Fußballprofi werden möchten, haben oft schon eine Einstellung, die der Einstellung eines Profis ähnelt. Aber das ist natürlich sehr unterschiedlich. Vielleicht sagt jemand, ich trainiere lieber weniger, habe Spaß mit den Freunden und werde so des Spiels nicht überdrüssig. Andere sagen: Ich trainiere zwölfmal die Woche, weil ich so viel machen will, wie es geht. Was ist besser? Es strömen mehr Leute in den Fußball, die das wissenschaftlicher sehen. Die sagen nicht mehr: Noch mehr trainieren ist auf jeden Fall besser. Sondern?
Es geht ja darum, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, mit der aus einem talentierten Nachwuchs- ein Profifußballer wird. Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit steigt, sobald das Umfeld so professionell wie möglich ist. Das beinhaltet handelnde Personen wie Trainer, Physiotherapeuten und Sportpsychologen ebenso wie die Infrastruktur. Je besser ein Spieler im sportlichen, pädagogischen und medizinischen Bereich betreut wird, desto größer wird die Chance. Gibt es einen Gegenentwurf?
Ja, die Variante, dass ein talentierter Spieler länger bei seinem Heimatverein bleibt, dort mehr Verantwortung übernimmt und so keine physischen oder psychischen Überlastungserscheinungen kennenlernt. Stattdessen entwickelt er vielleicht mehr Sozialkompetenz, mehr Selbstvertrauen und genießt, dass er sich nicht ständig mit den Ellenbogen durchsetzen muss. Das ist eine sehr individuelle Betrachtung, man muss sich sehr mit jedem Jungen auseinandersetzen. Dazu gehört auch das Schulische, Familiäre und der Freundeskreis. Ist der Berater nicht in der Zwickmühle, weil er ja bei einem Vereinswechsel oder einer Vertragsverlängerung vom Klub bezahlt wird?
Ich denke, wir können sehr nützlich sein. Wie fühle ich mich als Familie, wenn ich bei den Verhandlungen sitze, und der Verein legt dem 15-jährigen Sohn einen Vertrag über einige Jahre mit diversen Klauseln vor und sagt: ›Unterschreib’ mal hier‹. Man braucht jemanden, der Ahnung hat. Was kann man überhaupt verdienen – da läuft ja das Vereinsinteresse gegen das Spielerinteresse. Der Verein möchte ihn sich zu möglichst geringem Aufwand sichern. Eine andere Frage ist: Stellt der Verein überhaupt die Möglichkeiten, dass der Junge sich gut entwickelt? Wie wird er dort physisch-medizinisch und in der Ernährung betreut? Gibt es eine Möglichkeit, dass er gefahren wird – oder muss das die Mutter machen, die mit dem alten Opel immer liegen bleibt? 110
God Boys, bad Boys
Was tut ein Berater? Berater knüpfen zu Talenten meist Kontakt, wenn diese 14 oder 15 Jahre alt sind. »Die Vereine«, sagt Winzer, »scouten noch früher«. Die Klubs hätten »noch weniger moralische Barrieren und Hemmschwellen«. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Beratern ist oft ein Prozess. Viele Eltern sind »zu Recht erst einmal sehr skeptisch und defensiv«, weiß Winzer. Oft entscheiden sie sich erst später zur Zusammenarbeit. Verträge mit Jugendlichen und deren Eltern macht Winzers Agentur nicht. »Das wäre ein Zeichen von Unsicherheit«, sagt er. Er möchte erst durch gute Arbeit überzeugen. Und wenn einer den Durchbruch nicht schafft, habe man eben umsonst gearbeitet. Geld verdient man ohnehin nur, wenn ein Spieler in der ersten oder zweiten Liga ankommt. Die besten Profis finanzieren sozusagen die anderen im Portfolio mit, wobei sie auch intensiver betreut werden. Es gibt eine Menge Bereiche, in denen der Berater nützlich sein kann, wenn er seinen Job gut macht. Das betrifft sportliche, organisatorische, vertragliche und medizinische Themen. Er kann einschreiten, wenn ein Klub medizinisch nicht fürsorglich mit dem Jugendlichen umgeht, der vielleicht wegen der Belastungen Probleme mit Knien oder Hüften hat. »Manchmal«, sagt Winzer, »ist es auch ein gutes Gespräch, in dem der Spieler sich öffnet und Dinge loswird, die weder die Eltern noch der Trainer hören sollen.« Und die Kontakte sind auch nicht zu unterschätzen. »Manche jungen Spieler empfinden es als Statussymbol, schon einen Berater zu haben – so ähnlich wie das neueste Smartphone oder die tollste Playstation – das ist dann«, so Winzer, »vielleicht der falsche Antrieb.«
Die Bösen Auch wenn wir Winzer abnehmen, dass er die Jugendlichen so gut wie möglich dabei unterstützen will, starke Persönlichkeiten zu werden: Den Zwiespalt, quasi für Spieler und Klub tätig zu sein, aber nur vom Klub bezahlt zu werden, kann auch er nicht auflösen. Es ist ein bisschen so, als würde ein Anwalt beide Seiten eines Scheidungs-Ehepaares vertreten. In vielen Fällen könnte bei Komplikationen der Verein der Sieger sein. Überdies gibt es in der Branche eine ganze Reihe sehr bedenklicher Praktiken. Ulf Baranowsky, Geschäftsführer der Spielergewerkschaft vdv, kennt aus der Beratung genügend abschreckende Fälle. »Teilweise stehen die Vermittler schon bei Zwölfjährigen mit wilden Versprechen vor der Tür Der Berater Hannes Winzer und seine Branche
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– manchmal sogar mit Geld- oder Sachgeschenken«, berichtet er. In der Branche wird von Fällen berichtet, wo Berater sich als Hausmeister bei Eliteschulen des Sports beworben haben oder sich bei großen Jugendturnieren um Organisationsaufgaben bemühen. Manche sprechen auch Elfjährige an und sagen: »Ich kann richtig etwas für dich tun, soll ich dein Berater sein?« Bei Auswahlspielen waren zuweilen so viele Scouts zugegen, dass der DFB beschloss, Lehrgänge der U15- oder U16-Nationalmannschaften nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Die Praxis großer Agenturen, ihre zahlreichen Unterscouts schon zur jüngeren D-Jugend zu schicken, nennt Hamburgs Stützpunktkoordinator Stephan Kerber »einen Quantensprung, der nervt«. Da schaffe man, so Kerber, ganz viel Händekontakt, bereite in Abstimmung mit einem partnerschaftlich verbundenen Verein einen Vertrag vor und erkläre der Familie: »Pass auf, ich habe schon mal etwas vorbereitet. Der Verein wäre bereit, ihren Sohn zu den und den Konditionen zu übernehmen.« Plötzlich ist man Teilnehmer einer Endverhandlung, zu der man sich gar nicht entschlossen hatte. Oft sei im Elternhaus so viel Naivität vorhanden, dass man darauf eingehe, vermutet Kerber. Er redet oft mit Eltern über das Berater-Thema und warnt sie vor den oft manipulierenden Argumentationsketten. Mancher frühe Vereinswechsel kann pädagogisch ein Eigentor sein. Möglicherweise hat ein Spieler einen Konflikt mit dem Trainer oder Mitspielern, und der Berater bietet ihm einen neuen Klub an. Wenn der Junge aber vor diesem Konflikt »wegläuft, wird sich an seiner Haltung nichts ändern«, glaubt Kerber. Dann werde er bald den nächsten Konflikt haben. Offiziell sind bei minderjährigen Spielern inzwischen Provisionen untersagt. Aber solche Bestimmungen kann man auch umgehen. Immerhin hat der DFB durchgesetzt, dass die Berater bei ihrer Registrierung ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen. Das ist es aber auch schon.
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III BLICK IN DIE ZUKUNFT – SPIELT MEHR!
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Ich gebe meinen Spielern Mitspracherecht
Ich gebe meinen Spielern Mitspracherecht Gespräch mit U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch
In Boostedt bei Neumünster gibt es ein Café in einem Supermarkt. Dort ist zuweilen auch Horst Hrubesch anzutreffen, der 2015 aus der Nähe von Uelzen hierher gezogen ist – wegen seiner beiden Söhne und den Enkeln, die in dieser Region leben. Auch für dieses Gespräch haben wir den früheren HSV-Star (zwei Meisterschaften, Europacup-Sieger der Landesmeister 1983, Europameister 1980 und Vizeweltmeister 1982) in diesem eher schmucklosen Café getroffen. Hrubesch ist keiner, der sich viel macht aus edlem Interieur. Wichtiger sind ihm die »Lebewesen«, die ihm ans Herz gewachsen sind. Die Dorsche, die er gern angelt, die Edelbluthaflinger, die er mit seiner pferdebegeisterten Frau Angelika züchtet. Und eben die talentierten Nachwuchsfußballer, denen er seit 2000 beim DFB auf die Sprünge zu helfen versucht. Zweimal mit besonders großem Erfolg: 2008 wurde er mit der U19-Nationalmannschaft Europameister, ein Jahr später mit der U21. Dieses Team hat die Weltmeister 2014 Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Benedikt Höwedes, Mats Hummels, Sami Khedira und Mesut Özil hervorgebracht. Horst Hrubesch ist kein sogenannter Konzepttrainer, kein klassischer Mitarbeiter der heutigen FußballIngenieurskunst. Er setzt eher auf »Ehrlichkeit« und »Klarheit«. Hrubesch kommt auch jetzt, so wie früher als Fußballprofi, direkt auf die Punkte, die ihm wichtig sind. Er weiß, dass einige Leute ihn als »Auslaufmodell« abqualifizieren. Aber es wird schnell klar, dass seine Lebenserkenntnisse etwas Weises haben, die auf den Fußball angewandt werden können. Ich habe kürzlich einen Satz gelesen von DFB-Trainer Christian Wück: Wer mit 17 oder 18 Jahren keine Profiluft geschnuppert hat, wird es nicht mehr schaffen.
Die erste schwere Hürde erfahren Spieler heute bereits mit zehn oder zwölf Jahren, wenn sie beispielsweise in einen höherklassigen Verein wechseln wollen. Und wenn sie sich dort nicht durchsetzen konnten, muss man sie wieder auffangen, sonst verlierst du sie. Ich denke, dass es sinnvoll ist, auch als Toptalent noch etwas länger im kleinen Verein zu Gespräch mit U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch
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spielen. Dort spielen sie die erste Geige, laufen vorneweg und entwickeln dabei ihre Persönlichkeit. Die eigene Persönlichkeit ist das Wichtigste überhaupt. Was empfehlen Sie?
Eine allgemeine Empfehlung kann man nicht abgeben. Besonders als Kind und Jugendlicher entwickelt man sich unterschiedlich schnell. Der eine entwickelt seine Persönlichkeit früher, kann und möchte Verantwortung übernehmen, der andere später. In den Jahren zwischen 14 und 18 Jahren passiert im Leben junger Menschen so viel. Und das spielt auch eine große Rolle in der sportlichen Entwicklung. Entscheidend ist, dass die Freude am Fußball nicht verloren geht und dass wir Geduld haben mit den jungen Spielern. Was passiert bei einem frühen Wechsel zu einem Bundesligaklub?
Wenn ich mit 11 oder 14 Jahren zu einem Bundesligisten wechsle, setze ich mich sofort großem Druck aus. Ich muss kämpfen, um zu bestehen. Man misst sich mit 20 anderen. Hinzu kommt die Frage: Ist es das adäquate Training für mich? Was kriege ich für Spielmöglichkeiten? Wie viele Chancen kriege ich? Wenn man den Sprung an die Spitze im ersten halben Jahr nicht schafft, wird es schon schwierig, weil das nächste Talent vor der Tür steht. Wir gehen heute davon aus, dass sich 16-Jährige mit 17-Jährigen messen sollen, 17-Jährige mit 18-Jährigen. Wer in seinem Jahrgang spielt, hinkt oft schon hinterher.
Plädoyer für den »zweiten Weg« Und wo bleiben die, die es zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschafft haben?
Als ich meine DFB-Trainerlaufbahn vor 16 Jahren bei einem A2-Trainingslager in Duisburg begonnen habe, sichtete ich 30 bis 50 Spieler. Ich habe aber immer gesagt, dass wir eigentlich weitere 30 hintendran haben müssten. Das sind oftmals die Kleineren oder die, die im Dezember geboren sind und denen, die im Januar geboren wurden, fast ein ganzes Jahr nachstehen. Diese Faktoren muss man berücksichtigen. Diejenigen, die durch das Raster fallen, haben überhaupt keine Chance mehr?
Keine Chance will ich nicht sagen. Das Entscheidende ist: Sind sie in der Lage, diese Rückschläge wegzustecken, wenn sie den Sprung nicht direkt geschafft haben? Manche geben vielleicht auf. Es gibt unzählige Beispiele von heutigen Bundesligastars, die es beim ersten Anlauf im Profiverein nicht geschafft haben. Unabhängig davon plädiere ich schon seit langem 116
Ich gebe meinen Spielern Mitspracherecht
für einen sogenannten »zweiten Weg«, zum Beispiel über die Auswahlmannschaften der Landesverbände. Ich habe im Jahr 2013 in Süd, Nord, Ost und West bei einem Viererturnier Spieler ausgesucht. Drei oder vier Leute sind danach in die Zweite Bundesliga gegangen. Damit hat sich bewahrheitet, dass da noch welche sind, die es in den Profifußball schaffen. Werden Sie gehört mit Ihrer Forderung nach der zweiten Ebene?
Gehört schon. Aber das zu finanzieren kostet natürlich. Heute werden etwa zehn Millionen Euro pro Jahr in den Nachwuchs gesteckt. Meiner Meinung nach reicht das nicht. In Barcelona sind flächendeckend in der Stadt kleine Spielfelder entstanden, sie heißen nach ihrem Erfinder Cruyff-Campus.
Allein die Spielfelder werden nicht reichen. Du schaffst Voraussetzungen, das ist wichtig, keine Frage. Wir haben in Deutschland nach der WM 2006 ja auch 1000 Minispielfelder gebaut. Das Gleiche haben sie in Dänemark, Norwegen und Island gemacht. Zurück zu Ihrer Arbeit als Trainer. Sie benötigen Führungsspieler, Teamplayer und Individualisten. In welchem Verhältnis brauchen Sie die, damit eine Mannschaft funktioniert?
Der Schlüssel liegt in der Führung auf dem Platz. Ich kann zwar die Anleitung vorgeben, aber auf dem Rasen muss jemand die Verantwortung übernehmen und sie auch umsetzen. Außerdem geht es darum, dass du alle Positionen doppelt und dreifach besetzt hast. Also: Wie fügst du ein Team zusammen? Gewichtest du die qualitativen Stärken, die Einzelne mitbringen, oder investierst du die Zeit eher, dass eine Mannschaft geformt wird? Meiner Meinung nach ist das Gefüge das Wichtigste. Und was ist mit den Egoisten?
Die gibt es natürlich auch im Fußball. Zu ihnen sage ich: »Pass auf, wir können ohne dich spielen, aber du kannst nicht ohne uns spielen!« Wie viele Verrückte verträgst du in einer Mannschaft? Als Trainer weißt du, die können den Unterschied ausmachen. Aber wenn zu viele davon auf der Bank sitzen, hat man ein Problem. Die Frage ist: Was lässt du durchgehen, was nimmst du ihnen weg? Womöglich nimmst du ihnen auch einige Stärken. Solange die am oberen Level spielen, nimmt es fast jede Mannschaft hin.
Was ist jemand bereit, für die Karriere zu tun? Woran erkennt man, ob es einer wirklich schaffen will?
Ich sage oft: Du willst Profi werden, du kriegst schon als 16- oder 18-Jähriger Geld. Aber was bist du bereit, dafür zu tun? Bist du bereit, auch mal Gespräch mit U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch
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für die anderen durchs Feuer zu gehen? Bist du ehrlich? Bist du bereit, alles dafür zu tun? Aber natürlich müssen sie auch wissen: Wenn ich Probleme habe, mit wem kann ich reden? Wenn ich jemanden frage, will ich auch eine Antwort haben, ganz offen. Wenn du nachher als Trainer das i-Tüpfelchen haben willst, dann brauchst du diesen Geist in der Mannschaft. Aber man muss bedenken, diese Spieler stecken alle noch in ihrer Entwicklung. Wie ist das mit der Persönlichkeitsentwicklung? Emre Can hat sich vor der U21-EM nach dem Motto geäußert: Wir gewinnen alles. Klingt ganz schön selbstherrlich.
Da sind wir wieder bei der berühmten Ehrlichkeit. Manchmal ist es jugendlicher Leichtsinn. Er hatte das Gefühl, irgendwie kriegen wir das hin, bis jetzt haben wir es immer hingekriegt. Zwei Jahre nicht verloren! Zur Ehrlichkeit gehört aber auch zu wissen: Wie habe ich gerade gewonnen? Man muss jeden Tag wieder bei null anfangen. Sind Sie autoritär?
Ich gebe meinen Spielern ein Mitspracherecht. Die dürfen die Regeln fast alle selber machen, aber ich messe sie nach diesen Regeln. Ich sage keinem, wann er ins Bett gehen soll oder was er essen muss. Manchmal frage ich »Meinst du, das ist das Richtige?« Und ich höre zu. Warum kommt einer jetzt zu spät? Das regelt die Mannschaft. Ich habe keine Geldstrafen eingeführt. Ich gucke nur hin und brauche sie nur zu erinnern. Sich irgendwo frei zu fühlen, aber trotzdem das Umfeld zu beachten – darum geht es. Auch mal Danke schön sagen zur Kellnerin, oder zum Zeugwart: »Lass stehen, mach ich!« Wie lernen die Jungs, wie sie verschiedene Probleme auf dem Rasen lösen können?
Sie lernen es auf unterschiedliche Weise. Und sie müssen lernen, es selbst zu regeln. Wenn ich in einer Situation stecke, die ich nicht bewältigen kann, kann das Spiel kippen. Dann ist es auch erlaubt, sich den Ball zu schnappen und ihn ins Aus zu befördern. Dann kann man sich neu sortieren. In der Spielgestaltung ist das Training natürlich wichtig. Unser Handicap bei den Nationalmannschaften ist, dass wir oft nur wenige Tage zusammen sind, um Automatismen zu entwickeln. Nur durch Beobachtung und in Telefonaten kannst du fehlende Trainingseinheiten nicht auffangen. Trotzdem ist wichtig, dass die Spieler wissen: »Du hast in mir einen großen Freund.« Ich gehe auch mit meinen Spielern Kaffee trinken. Aber Sie sind vielleicht auch ein bisschen anders als die heutigen Trainer …
Einige meinen ja, dass Leute wie ich Auslaufmodelle sind. Aber ich warne: 118
Ich gebe meinen Spielern Mitspracherecht
Wenn du diese Auslaufmodelle nicht mehr hast, wirst du erst merken, was da los ist. Das ist nicht anders als im normalen Leben. Ich habe nichts gegen Konzepte, ich habe auch nichts gegen Konzepttrainer; wenn einer eine Idee hat und sie umsetzt, finde ich das sehr gut. Aber er darf eins nicht vergessen: Es sind alles Lebewesen. Du musst sie auch leben lassen. Abkippende Sechs und diese neuen Begriffe sind bestimmt ein Graus für Sie, oder?
Wir spielen noch immer einen Steilpass. Der Trainer Felix Magath hat damals bei Julian Draxler gesagt, Schule sei bei seinem Talent nicht so wichtig. Stimmen Sie Ihrem alten Mannschaftskollegen zu?
Nein, denn was passiert, wenn sich morgen einer das Bein bricht und die Karriere vorbei ist, bevor sie begonnen hat? Und auch bei einem Fußballprofi sind Schulausbildung und Schulabschluss sehr, sehr wichtig. Deshalb begleiten jeweils zwei Lehrer jede Maßnahme unserer Juniorennationalmannschaften. Bei einem U21-Lehrgang in Kaiserau haben wir mit der U15 einen Smalltalk veranstaltet. Leon Goretzka hat den 14-Jährigen gesagt: »Jungs, ich bin das erste Mal mit 14 oder 15 Jahren hier gewesen. Aber das Wichtigste ist, dass ihr die Schule abschließt. Ich habe mein Abitur auch gemacht, sogar ein gutes, aber ich habe auch schon erlebt, wie ich ein Jahr verletzt war. Was wäre gewesen, wenn?« Was halten Sie von den Internaten?
Viele Jungs wollen ins Internat. Sie müssen die Schule machen, am Nachmittag ist Training. Sie haben die Reisen, spielen teilweise unter der Woche und dürfen weder auf dem Rasen noch in der Schule schlecht werden. Auf einen Jungen, der den Traum hat, Fußballprofi zu werden, kommt sehr viel zu. Er muss auf vieles verzichten. Das Gleichgewicht im Leben darf man aber nicht verlieren. Ein 16-Jähriger, der nur Fußball und Schule hat, wird ja irre. Ist der Stress zu groß?
Die neue U21 ist etwa anderthalb Jahre jünger als die Vorgänger. Das sind alles 96er- und 95er-Jahrgänge. Die haben alle schon ihre ersten Bundesligaspiele gemacht, teilweise sogar international mit ihren Klubs gespielt. Einige spielen schon im Rhythmus Samstag, Mittwoch, Samstag. Die Kunst ist, denen immer wieder Luft zu geben. Wenn ich mit denen zehn Tage zusammen bin, mache ich nach einem Spiel morgens noch Regeneration, dann gebe ich denen einen halben Tag frei. Lasse sie nachts um zwölf wiederkommen. Die Spieler spüren das Vertrauen, und sie haben es bisher kein einziges Mal missbraucht.
Gespräch mit U21-Nationaltrainer Horst Hrubesch
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Gegen Rundumversorgung Warum Dortmunds Trainer Thomas Tuchel umgedacht hat
Im Oktober 2015 hielt Borussia Dortmunds Trainer Thomas Tuchel einen bemerkenswerten Vortrag vor der »Aspire Academy« von Katar in Berlin. Es ging um die Ausbildung talentierter Fußballer und das für ihn höchste Prinzip: »Leistung bringen und Freude haben«. Dabei plädierte er für den Abschied von der Rundumversorgung. Früher als Jugendtrainer hätte er stets bessere Rasenplätze, eigene Kabinen, Rasenheizung und alle Möglichkeiten der Analyse gefordert. Jetzt würde er sagen: »Ein halber Platz. Ein Fernseher. Ein Videorekorder. Das ist genug.« Und der Rasen müsse auch nicht immer gemäht sein. Sein heutiges Credo: Soll man Schwierigkeiten überwinden, müsse man sich »frei machen von den Rahmenbedingungen«. In der Komfortzone mit ihrer ganzen Ausstattung fehle am Ende eines: Widerstände zu überwinden. Für ihn stelle sich zunehmend die Frage: »Wer kann noch Leistung bringen, obwohl die Kabine nicht klimatisiert ist? Wer kann noch Leistung bringen, obwohl die Wäsche nicht gewaschen wird? Wer kann noch Leistung bringen, obwohl es keinen Fahrservice gibt?« Wichtiger sei doch, »sich durchzubeißen und auf die eigene Stärke zu vertrauen«.
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Gegen Rundumversorgung
Raum, Zeit, Gegnerdruck DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen
Er gehört zu den Menschen im Fußball, die man selten sieht, die aber einen großen Einfluss auf das Spiel haben. Christofer Clemens ist Teil des dreiköpfigen Scouting-Teams von Bundestrainer Joachim Löw. Er ist ständig in den Arenen der ganzen Welt unterwegs, um die neuesten Trends aufzuspüren. Dabei besucht er nicht nur Spitzenklubs und Jugendcamps, sondern guckt sich auch in anderen Sportarten um oder fragt Gemüsehändler nach ihrer Meinung. Teams brauchen solche Querdenker, wenn sie nicht stagnieren sollen. Die das System auch mal infrage stellen. Die nicht nur bis zum nächsten Spiel gucken. Einmal im Monat, verrät er uns, sitzen die Scouts der Nationalmannschaft einfach zusammen, trinken Kaffee und reden über die letzten Spiele. »Diese Erkenntnisse sind häufig die wichtigsten Momente in Bezug auf unsere Fortschritte«, sagt er. Als wir ihn treffen, schwärmt er noch immer von der Copa America 2015, die er vor Ort beobachtet hat, besonders vom chilenischen Fußball mit seiner »unglaublichen Zielstrebigkeit und Dynamik«. Christofer Clemens prophezeit dem Fußball eine noch stärkere Individualisierung der Ausbildung mit noch größeren Spezialistenteams. Worauf achten Sie hauptsächlich, wenn Sie einen jungen Spieler beobachten?
Der heutige Entscheidungsrahmen im Fußball ist sehr gering: Der Entscheidungsmoment ist von drei Sekunden auf eine Sekunde gefallen, der Platz schrumpft quasi von 50 mal 35 Meter wie vor zehn Jahren auf heute 35 mal 25 Meter. Früher ist Franz Beckenbauer sinnbildlich mit dem Mercedes durchs Spielfeld gefahren, jetzt brauchen wir eher einen Smart. Wir sprechen von Raum, Zeit und Gegnerdruck. Jemand, der diese Drucksituationen richtig und kognitiv schnell löst, der ist ein Talent. Alle anderen Inhalte wie Taktik, Schnelligkeit, Technik können unsere Trainer dem Spieler beibringen. Es wird zu viel nach dem Ist-Zustand gesichtet und nicht nach dem Potenzial. DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen
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Raum, Zeit, Gegnerdruck
Wenn Sie an der Spitze des Sichtungssystems diese Einsicht haben, wieso ist das bei den anderen Trainern noch nicht angekommen?
DFB-Sportdirektor Hansi Flick hat ein paar neue Leitlinien aufgestellt, wie wir das Spiel verstehen wollen – daraus leitet sich auch eine klare Ausbildungs- und Trainingsvision ab. Wir haben etwa 40 externe Sichter plus unsere Trainer im DFB, die für uns Spiele beobachten. Gerade die externen Sichter sind früher leider nie geschult worden. Der Trainer weiß, ich suche noch einen Linksfuß, weil wir da ein Problem haben. Eigentlich müsste man aber vor allem Spieler suchen, die kognitiv diese Anforderungen auch unter Raum, Zeit und Gegnerdruck lösen können. Wenn man so sichtet, kann man auch sagen, den trainieren wir mal auch auf der Position eines Außenverteidigers. U16-Nationalspieler Nic Kühn hat beim damaligen U15-Trainer André Schubert plötzlich Außenverteidiger gespielt. Dabei scheint er ein richtiger Stürmer zu sein.
Ich fand das gut, obwohl ich vom Vater dazu kritische Worte gehört habe. Von Schubert habe ich gehört: »Der kann halt Fußball spielen.« Nic gehört sicherlich zu denen, die schon fußballerische Qualitäten mitbringen. Und es ist spannend zu sehen, ob jemand mit so hohen fußballerischen Qualitäten auch auf einer anderen Position klarkommt. Ein Außenverteidiger muss eigentlich permanent im Spiel sein. Das ist mittlerweile eine der anspruchsvollsten Positionen, die auch spieltaktisch in der Offensive nicht zu unterscheiden ist von einer Nummer 10. Können Sie ein Beispiel für diesen Wandel nennen?
Ich nehme mal Jonas Hector vom 1. FC Köln. Der wurde in der Jugend als Zehner ausgebildet, hat den kompletten Weg als offensiver Mittelfeldspieler gemacht und ist danach als Sechser zurückgezogen worden. Jetzt ist er Linksverteidiger. Man braucht eine extrem hohe kognitive Fertigkeit, das Spiel zu verstehen, Räume zu begreifen. Es gibt aber Leute, die haben so ein Torjäger-Gen. Was sollen die hinten?
Klar kann Nic Kühn, wenn er als Neuner ausgebildet wird, mit fünfundzwanzig vielleicht eine Rolle wie Mesut Özil einnehmen. Aber es ist auch wichtig, dass er lernt, unter den schwierigsten defensiven Bedingungen Fußball zu spielen. Er kann das sicherlich lösen, weil er das kognitiv kann.
Der Sieg muss nicht das Wichtigste sein Ist das eine Frage der Prioritätensetzung?
Wenn alle Nachwuchsleistungschefs und Sportdirektoren sagen würden, bis zur Jugend-Bundesliga – also bis U17, U18 oder U19 – sprechen wir zuvorderst nur über die Ausbildung, bei der das Resultat wichtig, aber DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen
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nicht das Wichtigste ist, sind wir einen entscheidenden Schritt weiter. Beim FC Valencia gilt bis zur U17 der Leitsatz »Train to compete«, also trainieren, um das Wettkampfgefühl kennenzulernen. Und später?
Erst ab der U19 gilt der Leitsatz »We train to win«. Also wir trainieren, um zu siegen. Im jüngsten Bereich bis zu den U15 gelten Leitsätze wie »We train to understand the game«, »We train to have fun«. Es steht dort also ganz klar die Ausbildung im Vordergrund und nicht das Siegen. Auch in der Schweiz gibt es inzwischen solche Ansätze. Und beim DFB können wir auch einen anderen Weg aufzeigen. Natürlich soll eine U17 und U19 bei einer EM oder WM den maximalen Erfolg anstreben und auch Titel gewinnen. Aber wenn am Ende drei Spieler den Schritt in die A-Mannschaft machen, ist das Ausbildungsziel auch erreicht. Was spricht gegen diesen Ausbildungsweg?
Die Gretchenfrage heißt: Bilden wir jetzt in erster Linie für den Seniorenbereich aus, oder wollen wir sofort sportlichen Erfolg? Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich mache keinem Trainer einen Vorwurf, wenn er resultatorientiert agiert. Viele Jugendtrainer haben nur Ein-Jahres-Verträge und stehen schon im Juniorennfußball unter extremem Erfolgsdruck. Das ist die Crux. Wann ist klar, wo ein Spieler als Profi eingesetzt wird?
Man muss genau schauen, wo ein Spieler die größte Wirksamkeit für eine Mannschaft haben kann. Felix Passlack von Borussia Dortmund war bei der U17 einer der besten Spieler. Er prägte als offensiver Flügelspieler das Spiel und ist zudem Kapitän des Teams. Er hat aber auch schon im zentralen Mittelfeld gespielt oder im rechten Mittelfeld. Seine Position in der Zukunft könnte aber auch der Außenverteidigerposten sein. Hier ist sicher auch der Dialog zwischen Verein und Verband wichtig, um ein Talent weitestmöglich zu fördern. Der DFB hat mit Thomas Tuchel gesprochen?
Nein. Natürlich gibt es eine Grenze zwischen Verein und Verband. Aber wir teilen unsere Sichtweise schon mit und sehen unsere Rolle auch darin, zuzuhören, wie die Bedürfnisse der Vereine sind. Thomas Tuchel und Jogi Löw haben eine hohe Wertschätzung füreinander, genauso wie Guardiola und Löw. Davon profitiert auch die Nationalmannschaft. Wird das, was Löw, Guardiola und Tuchel vorausdenken, Jahre später umgesetzt?
Ich glaube, da ist extrem viel Kreativität im Thinktank. Pep Guardiola hat das durchaus befeuert und war aus meiner Sicht Gold wert für die Entwicklung im deutschen Fußball. Auch Tuchel ist jemand, der innovativ arbeitet. Das gilt aber auch für viele andere Trainer. 124
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Denkt Löw nur an das nächste Turnier oder auch an die Förderung der Zwölfjährigen?
Seine Kernaufgabe ist die A-Nationalmannschaft. Aber es gibt natürlich durch die Entwicklung des Spiels immer neuen Input. Da haben wir als Analysten eine wichtige Rolle. Wir hören genau zu und versuchen, die Entwicklung zu visualisieren, um zu sagen: Ah, da geht die Reise hin. Wir müssen dies auch für unsere Jugendtrainer anschaulich machen. Warum braucht man vielleicht wieder den Stürmer, der die Bälle mit dem Kopf verwertet? Brauchen wir ihn überhaupt und wenn ja, wie muss seine kognitive Weiterentwicklung sein? Werden die Spieler heute zu früh in die Leistungszentren geholt?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ausbildung im Kinderbereich noch im alten Verein stattfinden sollte. Jugendliche zum Bridpiel aus dem Hamburger Süden in den Norden zu bringen, ist ja Wahnsinn. Wenn aber zehn Kinder, die südlich des Elbtunnels in verschiedenen Vereinen trainieren, zweimal in der Woche dort von einem Trainer der Profivereine trainiert werden und die das Know-how an die Vereine weitergeben, ist das sinnvoll. So ein Konzept sieht vor, dass kein Spieler einer U8 und U9 in einem Leistungszentrum trainiert, sondern vielleicht erst ab der U11 oder noch später. Es gibt auch Talente, die gehen dem Leistungssport relativ spät verloren.
Dieses Drop-out-Phänomen hat leider zugenommen. Es gab Spieler, die beim FC Chelsea für sechs Millionen Euro als 15-Jährige verpflichtet wurden, um im Leistungszentrum zu lernen, und inzwischen keinen Fußball mehr spielen. So etwas habe ich leider auch schon erlebt. Können solche Jungs nicht damit umgehen, dass sie nicht weitergekommen sind?
Vielleicht. Aber ich glaube auch, dass ein Jugendlicher nach dem Leistungszentrum so durchstrukturiert ist und mit 17 Jahren Erfahrungen in der Welt der Profis gesammelt hat wie früher ein 23-Jähriger. Im Grunde genommen fangen die mit fünfzehn, sechzehn an, Profifußball zu leben, mit allem, was dazugehört – Berater, Marketing, Werbung. Die Schweizer machen etwas sehr Spannendes. Sie lassen die besten Jugendauswahlspieler in jungen Jahren in ihrem Verein. Die Prognose ist: Es wird eventuell schwierig, dass die Auswahlmannschaften mit 15, 16 oder 17 Jahren international große Erfolge feiern. Aber die Hoffnung ist, dass die Spieler im Übergangsbereich 20, 21, 22 Jahre eine große Lust auf Weiterentwicklung im Fußball haben und dort erst ihr Potenzial ausschöpfen. Müsste man nicht auch bei uns wieder Druck herausnehmen? Oder geht das nicht beim heutigen Hochgeschwindigkeitsfußball? DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen
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Man kann ja die Inhalte so gestalten, dass man mit einer gewissen Entschleunigung herangeht. Die entscheidende Frage bleibt: Ist so eine Gelassenheit deutsch? Die Nationalmannschaft ist das Spiegelbild der Kultur eines Landes. Wenn das Leben grundsätzlich hektischer wird und die Feedback-Zeiten immer kürzer werden, bleibt das ein Thema – vor allem auch im Sport.
Der Fußball wird noch mehr individualisiert werden Was wird sich im System aus Leistungszentren, Stützpunkten und Auswahlmannschaften in den nächsten Jahren ändern?
Der Fußball wird noch mehr individualisiert werden, und die Trainerstäbe werden weiter professionalisiert. Es gibt nicht nur Offensivtrainer und Defensivtrainer. Ich glaube, es wird in Zukunft auch Kognitionstrainer geben; im Wahrnehmungstraining schlummert noch sehr viel Potenzial. Ein Studienkollege von mir aus Norwegen hat eine Studie über das Wahrnehmungsverhalten der besten Fußballer in Europa gemacht. Darunter waren auch deutsche Spieler. Der eine davon schaute sich in der Minute drei Mal um, der andere 26 Mal. Was soll man daraus schließen?
Dass wir uns nicht wundern, warum der eine den Ball tendenziell eher zurückspielt und der andere, wenn er kann, den Ball nach vorne in den freien Raum mitnimmt. Der eine arbeitet nach Recherche mit einem Visualtrainer, sprich: mit einem Life-Kinetik- und einem Kognitionstrainer, der andere ohne diese Unterstützung. Dieses Spezialistentum wird ein wichtiger Baustein für die nächste Spielergeneration. Irgendwann werden wir Trainerstäbe von zehn bis zwölf Leuten haben. 126
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Horst Hrubesch sagte, das Fördersystem sei gut, habe aber den Nachteil durch die frühe Leistungsorientierung und Elitebildung, dass ein Verlust an Sozialkompetenz zu beklagen sei.
Für den Cheftrainer ist Sozialkompetenz vermutlich das wichtigste Merkmal. Ausreichend Fachwissen besitzen alle, welche die Fußball-Lehrerausbildung durchlaufen haben. Ich glaube manchmal fast, dass viele Trainer sogar zu viel wissen und alles gegenüber den Jugendlichen loswerden wollen. Das kann auch zu Überforderung und Verkrampfung bei Jugendlichen führen. Haben viele Trainer zu wenig Ahnung davon, wie Gruppen funktionieren?
Der ganze Komplex der sozialen Kompetenz ist sehr schwierig abzubilden. Die Trainer sind ja auch im Mikrokosmos Profifußball groß geworden. Künftig wird ein Trainer ein Supervisor und weniger ein Stratege sein. Da muss er eine riesige soziale Kompetenz und Gruppenführungsfähigkeit besitzen und 10 bis 15 Spezialisten steuern. Vielen Teams wurde einige Zeit das 4-3-2-1-System beigebracht, dann wurde wieder mit zwei Stürmern gespielt. Verliert die Systemfrage an Bedeutung?
Total. Mir sträuben sich immer die Haare, wenn ein Spielbeobachter berichtet, die spielen 4-3-3. Und WIE spielen sie denn, frage ich. WAS ist die Spielidee? Ja, 4-3-3, kommt wieder die Antwort. Stürmer in der Mitte und zwei Flügel. 4-3-3 ist nur eine Zahlenkombination. Und die ist spätestens nach dem Anstoß obsolet. Was wäre bei Ihnen das erste Kriterium?
Der erste Gedanke ist, ob eine Mannschaft Ballbesitzfußball oder Chaosfußball spielt. Bayern München steht für das Erste, und für das Zweite gibt es in jeder Liga genug Beispiele. Die Idee beim Ballbesitzfußball à la Guardiola ist, die Kontrolle über das Spiel zu behalten, eben mit Ballbesitz. Ein Indikator ist die Raumbesetzung, ein anderer, wie gepasst wird. Oder will ich, wie beim Chaosfußball, dafür sorgen, dass ich ständig Umschaltsituationen kreiere? Eine vermeintlich schwächere Mannschaft hat dann immer eine 50-prozentige Chance, den Ball zu kriegen. Wo sehen Sie im Moment interessante Entwicklungen?
Bei der letzten Copa America war es taktisch extrem innovativ. Südamerika hat sich in vielen Ländern fußballerisch extrem zurückentwickelt. Aber das Team von Chile war sehr beeindruckend. Da ist dieser unbedingte Drang, jedes persönliche Duell anzunehmen und gewinnen zu wollen. Jeder Spieler sucht das 1:1 in Defensive und Offensive. Zudem hat Chile ein hohes Verständnis für Raum und Überzahl im letzten Drittel. Die haben keine Angst, mit zwei Leuten gegen vier Gegner von hinten aufzubauen. DFB-Analyst Christofer Clemens über den Fußball von morgen
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Jugendliche geraten in Abhängigkeit zum System
Jugendliche geraten in Abhängigkeit zum System Der Psychologe und Gruppentherapeut Yvo Kühn über Fußballgruppen, den DFB und seinen begabten Sohn
Die Vertreter des Fußballsystems – vom Scout und Berater bis zum Trainer und Sportdirektor – werden vermutlich selten mit einem so kritischen Spielervater sprechen wie mit Yvo Kühn. Der geborene Freiburger, der seit 2005 in Hamburg lebt, ist Psychoanalytiker und befasst sich zum Beispiel mit Großgruppen und psychodynamischen Prozessen in Organisationen. Er hat Bankenfusionen begleitet und ist im Vorstand des Verbandes der Vertragspsychotherapeuten. Er ist außerdem Architekt, Unternehmer und Vater von Niclas-Gerrit Kühn. Yvo Kühn ist jemand, der vieles anders sieht als der DFB. Ihr Sohn Nic ist inzwischen im Leistungszentrum bei RB Leipzig. Wie es aussieht, nimmt er sich ein paar kleine Freiheiten heraus, die er sich nach den dortigen Grundsätzen eigentlich nicht herausnehmen darf.
Offensichtlich darf er sie sich nehmen. Vielleicht sind sie in Leipzig latent auch ganz froh, dass sich wenigstens einer mal ein paar Freiheiten gegenüber dem System nimmt. Die meisten Leute im System sehen nicht, dass es sich bei einer Mannschaft, ich nenne sie Gruppe, um einen sozialen Organismus handelt. Das kann man gut beim FC Barcelona erkennen. Dort spielt die ganze Mannschaft wie ein Organismus, der sich zusammenzieht oder ausbreitet. Da gibt es keinen irgendwohin versprengten Spieler. Wird das beim DFB nicht so gesehen?
Da gibt es so eine Art 4-4-2- oder 4-2-3-1-System, variiert, mit zwei Außenflügelspielern, die die Seitenlinie bis zur Grundlinie bearbeiten und dann flanken. Nic wurde beim DFB als Spieler gesehen, der wegen seiner Grundschnelligkeit bis zum Sechzehner durchstößt und dann abschließt. Es gibt nicht die Spielidee, dass er sich mal 1:1 durchsetzt oder auch gegen drei oder gar fünf Mann. Was er gern macht – dass er den Angriff spielend, individuell zu Ende bringt –, das ist nicht vorgesehen. Es wäre Der Psychologe und Gruppentherapeut Yvo Kühn über …
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hilfreich, ihn selbst zu fragen, was seine Spielidee ist. Das aber geschieht nicht. Sie haben mal gesagt, gruppenpsychologisch sei der Fußball vor der Aufklärung stehen geblieben.
Wie viele Trainer wissen, wie die innere Welt eines 15-Jährigen aussieht? Man nennt diese Phase ja das Helden-Zeitalter. Weiß im Fußball jemand, was das bedeutet? Auch das Wort Entwicklungspsychologie habe ich im Fußball noch nicht gehört, Bindungspsychologie noch weniger. Welche Bedeutung hat beispielsweise die Beziehung eines Jungen zu seinem Vater, in welchem Beziehungsgeflecht steht er, was kann ihm helfen? Dafür fehlt das grundlegende Wissen. Uwe Harttgen, Psychologe, Leiter der DFL-Arbeitsgruppe Leistungszentren, sagt, dass in der Trainerausbildung zu wenig Wert auf das Gruppen- und Rollenverhalten gelegt wird. Geht Ihre Kritik noch weiter?
Es geht fundamental darum, zu wissen, wie eine Gruppe als Gruppe funktioniert. Als Einzelner kann ich mir leisten zu sagen: »Du bist mir unsympathisch.« In der Gruppe muss ich mich mit dir auseinandersetzen. In der Gruppe lernst du, dass alle Teile dazugehören. Das führt dazu, dass die Leute erwachsener werden. In Fußballergruppen wird das nicht unterstützt. Darum wundert es mich auch nicht, dass sie selten funktionieren. Das Wichtigste, sagen die meisten Trainer, sei die Mannschaftsdienlichkeit. Wenn auch nur ein Spieler geschnitten würde, sei die ganze Mannschaft schon kaputt.
Ich würde mich mit der Gruppe hinsetzen, erst mal nichts sagen und nur gucken, was passiert. Dann würde ich erleben, wie die Dynamik der Gruppe ist. Du brauchst im Fußball dringend Leute, die von solchen Phänomenen etwas verstehen, die das beobachten, formulieren und auch Interventionen entwickeln können. Die sehe ich bisher im Fußball nicht. Wenn die Gruppe nicht funktioniert, profitiert auch der Einzelne nicht?
Ein Beispiel: Was passiert, wenn man einen verliert? Erreicht die ganze Gruppe ein Ziel, oder kommt nur ein fraktionierter Haufen irgendwo an? Diese Konflikte um das Verlieren oder als Gruppe zusammen etwaszu erreichen sind ein großes Thema. Was ist denn für Sie Mannschaftsdienlichkeit?
Ich habe mit dem Begriff Mannschaft meine Schwierigkeit. Mannschaft ist quasi ein militärischer Begriff. Wir kommen der Sache viel näher, wenn wir die Trainingsgruppe als eine Art Treck betrachten. Aufgebrochen zu einem Ziel. Es gibt Gefahren, Verluste, es ist ein großes Abenteuer. 130
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Das Wort Team verharmlost die Dynamik in einer Gruppe Was ist mit dem Begriff Team?
Der ist zum Vergessen. Team bedeutet die völlige Leugnung von Unterschieden und Hierarchien. Aber es gibt nun mal bessere und schlechtere Spieler. Das Wort Team verharmlost die Dynamik in einer Gruppe. Manche machen sich von einem Anführer abhängig. Als Abwehrmechanismus gibt es Paarbildungen. Andere flüchten. All diese Phänomene gibt es. Es gibt ja Spieler wie Nic, die streben nach Verantwortung und wollen in der Gruppe ein gewichtiges Wort sprechen. Müssen das immer Alphatiere sein, die erst mal einen anderen weghauen wollen?
Mein Sohn freut sich am meisten darüber, wenn er gute Mitspieler hat. Mit denen er so schnell spielen kann, wie es ihm vorschwebt. Und es macht ihm Spaß, wenn er einen uralten Freund verladen kann, zum Beispiel einen guten Torwart. Das befriedigt. Das erlebt er aber nur in Mannschaften, wo die Spieler auf hohem Niveau sind. Es geht also nicht um das gewichtige Wort, es geht um das Erreichen von Zielen. Und dabei um diejenigen, die unbedingt gewinnen wollen, die der Gruppe helfen, sich durchzusetzen. Ist es nicht so, dass die Trainer zunächst einmal wollen, dass die Spieler sich durchsetzen, egal wie? Den Organismus zu gestalten ist meistens nicht das Thema.
Ja, die sehen meist nur den Einzelspieler, der mehr oder weniger in der »Mannschaft« funktioniert. Es wird gern gesagt, Fußballer müssen eine Persönlichkeit entwickeln. Was ist denn eine positive Persönlichkeit im Fußball oder als Mensch?
Für eine sich gut entwickelnde Persönlichkeit ist zum Beispiel wichtig, dass sie nicht von krankhaftem Ehrgeiz geplagt ist, sondern sich in Gruppen hilfreich einbringt. Davon profitiert die Gruppe, die Persönlichkeit aber auch. Wenn man hilfreich sein kann, bildet sich auch Selbstbewusstsein. Es gibt aber auch Gruppenorganismen, wo die Gruppe für den Einzelnen arbeiten muss. Ist also eine Fußballpersönlichkeit und eine Persönlichkeit im Leben das Gleiche?
Ja! Aber du wirst nicht wirksam in der Gruppe, nur weil du am lautesten »hier« geschrien hast. So einen schiebt die Gruppe nur vor. Das ist nicht unbedingt der Stärkste. Das wissen wir ja auch aus der Politik. Bei der Ausbildung im DFB-System muss sich ein Jugendlicher immer wieder in Gruppen durchsetzen, um in die nächste Gruppe zu gelangen. Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Risiko, dass da viele verloren gehen, weil sie sich überfordert fühlen? Der Psychologe und Gruppentherapeut Yvo Kühn über …
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Sich überfordert zu fühlen ist nicht das Thema. Die Gefahr ist, dass die Jugendlichen in eine ungesunde Abhängigkeit von diesem System kommen. Ich war ganz beruhigt, als Nic gesagt hat, ich nehme mir meinen Freiraum. Aber im Grunde bestimmt das System, was du machst. Es ist einfach sehr diktatorisch. Es kann gesünder sein, wenn einer sagt: »Ich mache das nicht.« Ein Verein wie RB Leipzig könnte sich doch vom DFB emanzipieren …
Die Identifikation mit dem System DFB ist hoch, die Abhängigkeit auch. Dieses System ist eine Konzentration von Macht und Besitz, die kann man nur mit der katholischen Kirche vergleichen. Sie hat Macht über ihre Gläubigen. Die Spieler, die Karriere machen wollen, müssen sich dem unterordnen. Es sei denn, sie haben etwas Außergewöhnliches?
Es gibt im Grunde keinen anderen Weg. Man muss sich unterwerfen, im Sinne von »Friss oder stirb«. Es geht nur über die Vereine, und die Vereine sind eine Subkultur der Gesellschaft. Da wird im Kern ergebnisorientiert gedacht und nicht entwicklungsbezogen und perspektivisch. Was man aber nicht vergessen darf: Jemand entwickelt sich nur gut, wenn ein anderer an ihn glaubt. Das gilt ganz normal für Eltern und ihre Kinder, und es gilt umso mehr in Hochleistungsbereichen wie dem Profifußball. Das ist ein Bereich, in den Normalsterbliche nicht kommen. Um das zu erreichen, bedarf es spezifischer Bindungen und Beziehungskonstellationen. Das gilt generell für eine gute Persönlichkeitsentwicklung. Der Glaube der anderen entscheidet mit, wohin dein Weg führt. Wenn ein Trainer oder Lehrer ein Talent zum Teil nicht sieht, wird es für den Spieler schwierig, seine Fähigkeiten in allen Facetten zu zeigen?
Es gab ein riesiges Schulexperiment in Schweden. Vor sechs Jahren haben sie geguckt, welches ist die schlechteste Klasse in ganz Schweden. Dann haben sie geguckt, welches sind die sechs besten Lehrer in Schweden. Dann haben sie beide zusammengebracht. Nach einem halben Jahr war diese schlimme Klasse die beste in Schweden. Das kannst du jedem Pädagogen ans Brett nageln! Und jedem Trainer gleich mit.
Der DFB müsste in Therapie Die Sportpsychologen, ist unser Eindruck, sind in erster Linie Leistungsoptimierer. Die sehen oft nur, was einen Spieler aktuell belasten könnte. Wenn er wieder gut spielt, ist das Thema oft erledigt. Haben Sie die Hoffnung, dass sich das ändert, oder gehört das auch zum System?
Das System ist völlig überfordert, sich Einflüssen von außen zu öffnen. 132
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Dabei würde es dem System guttun, wenn es mit unabhängig denkenden Menschen konfrontiert ist. Im Grunde müsste der DFB in Therapie. In den Richtlinien der Jugendmannschaften steht manchmal das Zähneputzen, doch wie die Seele der Jugendlichen gepflegt wird, findet viel zu wenig Beachtung. Eine unabhängige Qualitätskontrolle der Leistungszentren müsste die psychische Gesundheit der Jungs und Mädchen ebenso bewerten wie alle anderen Faktoren. Der DFB hat zwar gemerkt, dass Individualität wichtig ist. Aber er kriegt es nicht hin, diese Individualität zu fördern, dafür eventuell auch anders spielen zu lassen. Ich habe dem DFB angeboten, dass wir mal einen Workshop machen und mal offen diskutieren. Warten wir mal ab, ob das Angebot angenommen wird. Eine Schlussfrage: Wie erleben Sie die Leistungszentren und Internate der Vereine?
Das Internat das FC Bayern war bisher eine Art Jugendherberge mit Blick auf die Trainingsplätze an der Säbener Straße. Mit einer »Mutti vom Viktualienmarkt« als Betreuerin. Bei Bayer Leverkusen gibt es Einliegerwohnungen bei einigen Trainern. Diese Unterbringung in Pflegefamilien statt in modernen Akademien ist für sie ein Markenzeichen. Internate, die wie Colleges sind – wie beim SC Freiburg, in Hoffenheim oder Leipzig –, entsprechen schon eher den Notwendigkeiten der Jungs. Entscheidend aber sind für mich als Vater die Personen, mit denen in diesem Fall Nic zu tun hat. In Leipzig hat mir Ralf Rangnick in die Hand versprochen, dass er sich persönlich kümmert, dass aus Nic etwas wird, im besten Fall ein Weltklassespieler. Ich bin als Vater darauf angewiesen, weil Nic mir räumlich jetzt zu fern ist und ich kein Fußballfachmann bin. Es geht nur so, jeder Spieler braucht jemanden, der seine Stärken fördert. Und jeder Exzellenzspieler hatte eine exzellente Person an seiner Seite, die an ihn glaubte.
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Die Breite stärken, die Spitze schützen! Anstöße zur Zukunft der Nachwuchsförderung
Die gute Nachricht vorweg: Die Kennzahlen stimmen, das System liefert. Der Anteil der jungen Spieler unter einundzwanzig in der Bundesliga hatte sich schon 2012 gegenüber dem Stand von 2001 verdoppelt. Das Talentfördersystem Marke »Made in Germany« liefert Wertarbeit für die Spitze ab. Doch was passiert mit den jungen Menschen in diesem System? Und wie entwickelt sich der Fußball in ihm weiter? Vor Beginn unserer Reise durch das System hatten wir eine Menge Skepsis im Gepäck. Die betraf hauptsächlich das hoch erhitzte Umfeld, in dem junge Fußballer heute aufwachsen. In der Tat trafen wir neben verantwortungsbewussten Vätern und Müttern auch solche, die beim Anblick des kickenden Kindes jeden Realitätsbezug verlieren. Die ihre eigenen Projektionen dazu benutzen, Druck auf Kinder, Trainer und Schiedsrichter auszuüben. Ein Phänomen, das mittlerweile alle Schichten erreicht hat. Die Teilnahme am Profifußball verspricht eben einen ungeheuren Zugewinn an Wohlstand und Bedeutung. Am coolsten erlebten wir die Spieler und Spielerinnen selbst. Auch wenn wir nur einen kleinen, nicht repräsentativen Ausschnitt der Jahrgänge 2000 und 2001 (und jünger) genauer betrachten konnten, überraschte uns ihre Abgeklärtheit und ihr Realismus – unabhängig davon, ob sie schon einen fetten Vertrag in der Tasche oder ihre Profiträume gerade begraben haben. Nach Jahren des Dauercastings haben sie das System verinnerlicht. Sie entwickeln ein Gespür dafür, wo es mehr auf Egoismus oder mehr auf Teamwork ankommt, können die Bedeutung von Willensstärke und Disziplin einschätzen, wissen, welches Spiel der Trainer erwartet, können sich in dem System mit ihren Stärken und Schwächen verorten und handeln entsprechend. Uns ist dazu der Begriff »Schule der Nation« eingefallen. Wie früher in der Bundeswehr üben sich junge Leute massenhaft in die Tugenden ein, die im Berufsleben von ihnen gefordert sind. Nur viel früher und ganz freiwillig. Also wesentlich effektiver. Da rentiert sich nun wirklich jeder Sponsoring-Cent der Wirtschaft. 136
Die Breite stärken, die Spitze schützen!
Das wird dadurch verstärkt, dass Jugendliche heute generell stark in Systemen denken. Auf dem Platz oder im Privatleben, das sich zum großen Teil in sozialen Netzwerken abspielt – ob sie nun »Fifa 16« oder Facebook heißen (wenn es schlecht läuft, auch mal Pokerface & Co.).
Risiken eines Talentes Auch wenn wir persönlich reife und selbstbewusste Jugendliche getroffen haben, beinhaltet die Talentsozialisation Risiken. Jeder Jugendliche, der in den Interessenkomplex Talentförderung hineingerät, betritt einen Erwartungsraum, in dem sich eigene Hoffnungen mit denen der Umwelt vermischen. Es gehört sehr viel persönliche Stärke und frühe Reife dazu, diesem Sog zu widerstehen. Je höher ein Jugendlicher im System aus Sichtungs-, Selektions- und Fördermaßnahmen steigt, desto mehr wird sein Alltag davon strukturiert. In einem Alter, in dem Jugendliche wichtige soziale und innerpsychische Aushandlungsprozesse durchmachen, werden sie für die Belange einer Profikarriere geformt. Es fehlt der Raum, eigene unzensierte und unkontrollierte Erfahrungen zu machen. »Aus fachlicher Sicht werden die Jugendlichen in einigen Vereinen zu schnell in den Erwachsenenbereich hineingeführt«, sagt der Athletiktrainer Robert Heiduk. »Die Fließbänder laufen immer schneller, da sind physische und psychische Verletzungen vorprogrammiert.« Dem wird zwar in den Leistungszentren durch physiotherapeutische, psychologische und pädagogische Betreuung entgegengewirkt – ganz auffangen können sie diese Risiken jedoch nicht. Dass Profikarrieren immer früher beendet sind, hängt sicher ursächlich mit den frühen hohen Belastungen zusammen. Das Leben als Quasi-Profi im Leistungszentrum ist mit einem bestimmten sozialen Satus und in einigen Fällen auch schon beträchtlichen finanziellen Mitteln ausgestattet. Wenn ein jahrelang gepflegter Lebensentwurf plötzlich platzt, ist es auch mit Abitur in der Tasche nicht einfach, sich auf eine andere Perspektive umzustellen. Oder ist es vielleicht gar kein »Scheitern«, wenn der große Sprung letztlich ausbleibt, wie Leistungszentren-Fachmann Uwe Harttgen sagt? Weil die Spieler viele Erfahrungen gemacht und »eine grundsätzlich positive Entwicklung genommen« haben? Die Trainer, Koordinatoren und Scouts, die wir auf unserer Reise getroffen haben, waren allesamt gut ausgebildet – nicht nur in fußballerischer Hinsicht, sondern auch psychologisch und pädagogisch. Anstöße zur Zukunft der Nachwuchsförderung
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Aber sie sind alle einem Interesse verpflichtet, einem Verband, Verein oder Unternehmen. Ihre Karrieren sind mit denen der Jugendlichen verbunden – sie müssen liefern. Besonders anschaulich hat dieses Interesse der Nachwuchsleiter des HSV, Bernhard Peters, in einem Interview mit der FAZ ausgedrückt. Auf die Frage, warum einige Klubs so viel in junge Spieler investieren, sagte er: »Weil man Jugendspieler bis hin zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung in allen Bereichen so formen kann, wie man sich das für die Identität eines Vereins vorstellt. Zunächst kostet das! Diese Jungs sind belastbarer, formbarer, gieriger. Wenn ich es gut mache, kann ich einem Klub damit Identität geben.«
Und wie geht’s dem Fußball? Wir haben im letzten Jahr nicht nur viele Gespräche geführt, sondern noch mehr Fußball als sonst gesehen: U17-Bundesliga, U16-Länderspiele, U15-Landesliga, U14. Durchweg taktisch, technisch und athletisch gut geschulte Spieler, deren Spiel erstaunlich früh wie das der Erwachsenen aussieht. Schnell, druckvoll, mal mehr über die Flügel, mal mehr durch die Mitte, mal mehr mit Ballbesitz, mal mehr über die zweiten Bälle, aber immer geordnet, immer mit Plan, immer aufs Gewinnen orientiert. Aber oft auch ziemlich statisch, ziemlich frei von Überraschungen. Der Gesamteindruck: Deutschlands Fußball ist auf Einheit getrimmt worden. Trotz der jüngsten Erfolge aller Nationalteams bis hinunter zur U16 stellt sich die Frage, ob genug Freiraum für die Individualisierung bleibt, die Experten wie Analyst Christofer Clemens auf den Fußball zukommen sehen. Oder ob sich die jungen Spieler in zu großer Abhängigkeit vom vorgegebenen DFB-Spielsystem entwickeln. Aus den offenen Fragen heraus möchten wir zum Schluss ein paar Anstöße für die Zukunft geben, die an Gedanken unserer Gesprächspartner anknüpfen. »Aus Breite wird Spitze«, hat Stephan Kerber ein Prinzip formuliert, das sich im Stützpunktsystem bewährt hat. Eine bessere Förderung der persönlichen und fußballerischen Entwicklung muss dieses Prinzip unserer Meinung nach so weiterentwickeln: die Breite stärken, die Spitze schützen!
Bildet die Trainer an der Basis besser aus! Oft wird noch von pädagogisch und spieltaktisch schlecht ausgebildeten Trainern berichtet, von Druckausübung und Kasernenhof-Ton. Es müsste neben den Ausbildungen zum Teamleiter und Juniorcoach wei138
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tere niederschwellige Qualifizierungsangebote unterhalb der C-Lizenz geben. Das DFB-Mobil und die zweimal im Jahr angebotenen Schulungseinheiten an den Stützpunkten sind ein Anfang, aber völlig unzureichend. Wie wäre es, die Stützpunkte zu Kompetenzzentren auszubauen, in denen Trainer und Betreuer permanent Ansprechpartner und Qualifizierungsangebote finden? Die Lust auf den Job machen und seine Wertigkeit erhöhen? Wer weiß denn schon, wie viele ungenutzte Trainertalente an der Basis schlummern? Geld für solch eine Kompetenzoffensive an der Basis ist im System Fußball genug vorhanden, müsste dafür allerdings von der Spitze in die Breite umverteilt werden.
Lasst die Kinder länger spielen! In den vergangenen Jahren ist viel getan worden, um den Kinderfußball altersgerecht zu machen, kleinere Felder und Mannschaften, die Einführung der Fair-Play-Liga. Ansätze, die Fair-Play-Liga für die D-Jugend weiterzuentwickeln, werden bereits erprobt. Aber spätestens ab der E-Jugend kommt von Eltern und Trainern Gift ins Spiel, viele Kinder verlieren die Lust. Aus diesen Gründen startet der schwedische Fußballverband einen Versuch: Ab 2017 wird es bis zum Alter von 13 Jahren keine Tabellen und Turniersieger mehr geben. Gewertet wird dann nur noch das einzelne Spiel. Das könnte auch für uns ein Weg sein – damit die Kinder länger am Ball bleiben.
Lasst die Talente länger in ihrem Verein! Für die altersgerechte Persönlichkeitsentwicklung ist es vielfach besser, länger im vertrauten Umfeld zu bleiben. Auch hier hat ein Umdenken eingesetzt. Von den 454 Spielern, die in der Saison 2014/2015 mindestens einen Bundesligaeinsatz hatten, wechselten mehr als 50 Prozent erst in der Altersklasse U14 oder danach zu einem Lizenzverein. Kleine Vereine bis zur dritten Liga erhalten Bonuszahlungen für Einsätze in den U-Nationalmannschaften und werden von den Stützpunkten und einigen Leistungszentren unterstützt. Dennoch kommt es noch zu oft vor, dass Kinder schon im Grundschulalter von ihren Stammvereinen abgeworben und mehrmals in der Woche durch die halbe Stadt zu Training und Spiel kutschiert werden. In der Schweiz werden auch Auswahlspieler länger im Verein belassen, um eine ruhigere und nachhaltigere Entwicklung zu ermöglichen. Anstöße zur Zukunft der Nachwuchsförderung
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Wartet mit dem Gewinnenmüssen! Auch dafür, wie die Spielfreude in der Ausbildungsphase erhalten bleiben kann, gibt es Beispiele. Beim FC Valencia steht »Train to win« ähnlich wie beim FC Barcelona am Ende der Ausbildungskette, davor heißt es »Train to compete« – trainieren, um sich zu messen. Nichts spricht dagegen, sich in einer Liga mit den besten Gleichaltrigen des Landes zu duellieren, aber vieles, die Ausbildung diesem Maßstab unterzuordnen. Die Frage, wie der nächste Gegner bezwungen wird, ist nicht identisch mit der Frage, welcher Ausbildungsschritt wichtig ist, um sich besser in Drucksituationen zu behaupten. Dafür müssten die Juniorentrainer allerdings vom kurzfristigen Erfolgsdruck befreit und neue Wettbewerbsformen geschaffen werden.
Ermöglicht individuelle Entwicklungen! Der Erfolgsdruck führt auch dazu, dass Jugendliche in der Spitzengruppe, im Verein oder der Auswahl zu früh auf ein System, eine Spielweise oder eine Position festgelegt werden. Nicht jeder ist selbstbewusst genug, sich seinen Freiraum selbst zu nehmen, um die individuellen Potenziale zu entwickeln. Eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Spitzenförderung wird sein, diese Freiräume trotz Wettkampfbetrieb zu ermöglichen.
Macht das System offener! Das Talentfördersystem ist mit seinen starren Alterseinteilungen und systematisierten Sichtungskriterien noch zu sehr auf geradlinige Entwicklungsverläufe ausgerichtet. Spätentwickler oder Talente, die aus anderen Gründen einmal durchs Raster gefallen sind, erhalten kaum noch eine zweite Chance. In Ansätzen wird dieser zweite Bildungsweg durch die Landesverbände angeboten, die auch Talente weiter fördern, die zu alt für den Stützpunkt, aber in keinem Leistungszentrum sind. Dieser Weg muss ausgebaut werden, sonst springen verstärkt private Fußballschulen in die Bresche, die sich nicht jede Familie leisten kann.
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Die Breite stärken, die Spitze schützen!
Fördert die Gruppenkompetenz! Für diejenigen, die den Sprung in die Spitze der Ausbildungspyramide geschafft haben, wird neben den kognitiven Fähigkeiten vor allem das Verständnis von Gruppenprozessen immer wichtiger. Zu Recht wurde der Gewinn des WM-Titels 2014 zu einem großen Teil mit der Mannschaftsleistung erklärt, zu der auch Ersatzspieler und Funktionsteam beigetragen haben. (Während wir das schreiben, wird gerade die deutsche Handballnationalmannschaft Europameister – ein Team der Namenlosen, Debütanten und Nachrücker.) In einer Gruppe – egal, ob sie aus 8Jährigen oder 25-Jährigen besteht – wirkt ein psychologisch komplexes Zusammenspiel – das gute, erfahrene Trainer häufig instinktiv erfassen. Oftmals wird die Gruppe allerdings noch auf die herkömmlichen Vorstellungen einer Truppe verengt, die man einschwören kann. In der Trainerausbildung sollte das Verständnis von Gruppenprozessen künftig stärker verankert werden.
Reduziert die Belastung! Für den Schutz der Jugendlichen an der Spitze des Fördersystems ist es die wichtigste Aufgabe, die Belastung in den Nachwuchsleistungszentren zu reduzieren und besser zu steuern. Keine Talentprognose rechtfertigt es, 15-Jährige einem Alltag auszusetzen, der selbst Erwachsene dem Burnout näher bringen würde. Alle Mitarbeiter im NLZ müssen daran mitarbeiten, die Belastung auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Jugendliche brauchen weisungsbefugte Instanzen im Leistungszentrum, die ausschließlich ihrem Wohlergehen verpflichtet sind und keiner Leistungsoptimierung oder sonstigen Verwertbarkeit! Wir können unsere Liebe zum Ball nicht in eine Welt hineinfantasieren, die nicht den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung folgt. Aber wir möchten mit diesen Anstößen dazu beitragen, etwas Druck aus dem Kessel Jugendfußball zu nehmen. Das täte allen Beteiligten und dem Fußball gut. Am Ende unserer Reise wissen wir, dass viele Akteure im Jugendfußball dieses Anliegen teilen. Dabei haben wir noch die skeptische Frage von Christofer Clemens im Ohr: »Ist so eine Gelassenheit deutsch?« Wahrscheinlich so wenig, wie es noch einen deutschen Fußball gibt. Auch wenn in Europa die Grenzzäune wieder hochgezogen werden, die Internationalisierung des Fußballs ist nicht zurückzudrehen. Wie keine andere Institution bringt er Menschen unterschiedlicher Herkunft und Schichten zusammen. In der Breite und der Spitze. Anstöße zur Zukunft der Nachwuchsförderung
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Lamborghini Notizen eines Fußballvaters
Wie soll ich das verstehen? Er will einen Lamborghini vom ersten Geld. Oder so einen dicken BMW mit dunklen Scheiben.’n weißer Mercer ginge auch. O Lord, won’t you buy me a Mercedes-Benz My friends all drive Porsches. Ein Problem, es sind noch fünf Jahre Bis zum Führerschein. Noch ein Problem, Er muss erst noch einen gut dotierten Vertrag Bei einem Fußballklub bekommen. Die den Ball lieben. Die das Geld lieben. Die die Dicken Autos lieben. Um was geht es da eigentlich? Noch keine Richtige Freundin gehabt, noch keine Miete Bezahlt. Kein ganzes Abendessen gekocht. Die Lehrer noch nicht abgehakt. Alles ist Im Moment. Jetzt glänzen! Jetzt funkeln! Jetzt punkten! Mit einem guten Spruch. Mit Keckheit. Frechheit. Angriff. Geschrei. Glanz. Showbizz. Die Lage schwankt Zwischen kompletter Welteroberung und Vollkommenem Rückzug in die letzte Ecke Des eigenen Bettes. Von dort aus dann wieder Die Welt zu erobern ist auch nicht sooo leicht. Im Moment geht es um 80 Euros für die neuen Roten Vans. Die Unterschrift von mir für den Fight mit den Lasertags. Das Geld für die Pommes Und den Döner. Der Andere hat aber schon Den Vertrag. Red Bull Leipzig. Brausemillionen Winken. Sind vereinbart. Und der will auch 142
Lamborghini
Einen Lamborghini. Was ist dran an diesen Karren? Sein Vater fährt den fetten G-Benz mit den schwarzen Scheiben. So ein Auto ist auch sicherer, Papa! Aha, darum geht es. Sicherheit. Der eine geht Also schon mal vor. Der andere kommt nach? Das ist eher unwahrscheinlich. Also was Jetzt? Der Ball und das Auto. Der Ball Und das Geld. Der Ball und die Mitspieler. Der Ball und die Lehrer. Der Ball und die Eltern. Der Ball und ich. Die kommen neu In eine Welt. Voller Autos, voller Geld. Das da ist oder fehlt. Flyer verteilen für acht fünfzig Mindestlohn. Der andere kriegt jetzt 15T€ im Monat. Hallo? Es sind Kinder. In der Brausewelt. Aber So ist es. Sie sind unterwegs, haben FührerSchein oder nicht, fahren Lamborghini oder Nicht. Werden geschnappt oder nicht. Eine Elternfrage: Was ist, wenn sie nicht durchKommen? Es nicht gelingt? Der Lambo Nicht kommt? Wie geht es weiter in der BrauseWelt? Wohin des Weges? Malermeister werden Die nicht mehr. Irgend so ein Business? Sie kennen sich aus mit Fußball. Mit denen, die den Ball lieben. Wenn sie Heil bleiben, wissen sie dann, was sie tun Können in dieser Millisekunde, wenn Der Ball kommt. Wenn eine Hand gereicht wird, Wenn jemand Hilfe braucht. Wenn einer Aus der Brausewelt angreift.
Notizen eines Fußballvaters
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Tipps Wer sich über die Struktur, Ziele und Inhalte der Nachwuchsförderung • und Trainerausbildung im deutschen Fußball weiter informieren möchte, wird auf www.dfb.de, der Website des Deutschen Fußball-Bundes, mit ausführlichem Material bedient. Auf die entsprechenden Inhalte führen vor allem die Unterpunkte »Projekte und Programme« und »Der DFB«. Hier kommt man auch zum Bereich »Publikationen«, unter dem zahlreiche Broschüren und Flyer zum Thema heruntergeladen werden können. Im Bereich »Talentförderung« gibt es u.a. eine interaktive Karte mit allen Stützpunkten, Leistungszentren und Eliteschulen in Deutschland sowie die Broschüre »Talente fordern und fördern« mit einer Gesamtdarstellung der Nachwuchskonzeption. Der Unterpunkt »Landes- und Regionalverbände« enthält eine Adressliste aller Verbände, über die regionale Informationen zu Fördermaßnahmen und Trainerqualifikationen zu bekommen sind. Die Website www.fairplayliga.de informiert speziell über den Kinder• fußball. Hier werden Regeln und Geschichte dieser neuen Spielform sowie neue Entwicklungen im Kinderfußball dargestellt. Die taktische Seite des Fußballs – aber längst nicht nur – wird mit zahlreichen Spielanalysen und Portraits bei www.spielverlagerung.de beleuchtet. Hier findet sich auch ein Taktiklexikon für alle, die gerade nicht zur Hand haben, was ein Nadelspieler ist. Einen tieferen Einstieg in die Trainingsmethodik von Kindern und Jugendlichen mit zahlreichen Beispielen und Praxistipps bieten : Kinder- und Jugendfußball – Ausbilden mit Konzept 1 und 2 (DFB-Fachbuchreihe). Weitere Fallbeispiele von Profikarrieren im Talentfördersystem und eine detailliertere Darstellung der Konzeption von Leistungszentren bietet das Buch »Im Glanz des vierten Sterns« von Stephan Schmidt und Tim Stegmann. Auch Uwe Harttgen, der in diesem Buch interviewte Vorsitzende der Kommission Leistungszentren der Deutschen Fußballliga (DFL), hat seine Doktorarbeit als Psychologe unter dem Titel »…und dann werde ich doch Profi« herausgebracht. Neue Diskussionen und Informationen im Themenbereich findet man ab jetzt in unserem Blog zur Zukunft des Fußballs. Zu finden unter blog.hamburgparadies.de. Dieses Blog ist unser Diskussionsangebot an alle, die auch unter den gegebenen Vermarktungsbedingungen des Fußballs noch Frei- und Spielraum für die Liebe zum Ball erhalten möchten. Auf hamburgparadies.de sind auch die kompletten Interviews dieses Buches zu finden, sowie Ankündigungen zu Veranstaltungen mit den Autoren und Interviewpartnern.
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