Die Zelle: Baustein allen Lebens

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Author: Inken Reuter
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Handlungsfeld 3 Modul 1

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Die Zelle: Baustein allen Lebens Was ist Leben? Werden wir aufgefordert, eine Definition für „Leben“ abzugeben, spüren wir sofort, wie schwierig dieses Unterfangen ist. Die Frage „Was ist Leben?“ ist eine der schwierigsten Fragen, die sich Menschen immer schon gestellt haben. Für uns ist sie darüber hinaus eine existentielle Sinnfrage, die gerade deshalb nicht nur von den Naturwissenschaften (nicht nur von der Biologie, obwohl es ihr Name – Lehre vom Leben – förmlich suggeriert) allein beantwortet werden kann. Bereits im Modul „Die Zelle“, aber auch in allen weiteren Modulen der Biologie werden wir oft an einen Punkt gelangen, an dem naturwissenschaftliches (biologisches) Wissen Fragen aufwirft für ein individuelles Orientierungswissen, also für Fragen nach menschlichem Selbstverständnis und nach einem ganzheitlichen Weltverstehen. Biologisches Grundlagen- und Spezialwissen für den handlungsorientierten Dialog aufzubereiten und fruchtbar zu machen, wird daher ein wesentliches Ziel dieses Moduls sein.

Eizelle/Spermium L und Bakterien-Zelle: M Beide Zelltypen spielen im Modul eine wichtige Rolle.

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Kennzeichen des Lebendigen: die Zelle In der belebten Natur gibt es eine ungeheure Vielfalt von Lebewesen, die sich in Form und Größe beträchtlich unterscheiden. Als „Vom Floh zum Elefanten, vom Bakterium zum Mammutbaum“ ist uns solche extreme Vielfalt umgangssprachlich geläufig. Sie alle sind in ihrer Gestalt und Funktion an ihren Lebensraum angepasst! Es gibt schätzungsweise 1,5 Millionen Tierarten und 400 000 Pflanzenarten, ganz zu schweigen von der Welt der Mikroorganismen. Trotz dieser ungeheuren Formenfülle lassen sich im mikroskopischen Aufbau und hinsichtlich der Funktionsprinzipien universale Grundmuster erkennen: Sie sind alle aus den gleichen Grundbausteinen aufgebaut oder im Extremfall aus nur einem Grundbaustein – der Zelle.

synthetisieren können. Sie sind nur dann lebendig, wenn sie sich einzeln oder paarweise fortpflanzen oder vermehren können (nach Jahn/Lange, Die Zelle, S. 6). Beide Definitionen sind Struktur- und Funktionsaussagen, die es ermöglichen, Lebewesen von Artefakten zu unterscheiden (beispielsweise Kunstprodukte wie eine Spielzeugmaus von einem Lebewesen wie einer Hausmaus). Sie machen aber keine Wesensaussagen darüber, was Leben ist, warum es überhaupt und wozu es Leben gibt (wobei die Frage „wozu“ in der Biologie legitimerweise gestellt werden muss; vgl. Modul „Evolution“). Der Begriff „Leben“ ist ein abstrakter Begriff mit philosophischer Dimension. Hier haben wir bereits ein erstes, aber fundamentales Beispiel für Faktenwissen gegenüber Orientierungswissen, wie wir es oben angesprochen haben.

„Omnis cellula e cellula“: Meilensteine der Zellbiologie

Korkzellen nach Hooke

Diese Zellen bzw. alle als Lebewesen anerkannten Organismen zeigen als Kennzeichen des Lebens Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Vererbung, Reizbarkeit und selbständige Bewegung. Die Zellenlehre (Cytologie) hat zum Ziel, Struktur und Funktion von Zellen zu erforschen. Die moderne Zellbiologie bezieht Methoden der Biochemie, Molekulargenetik, Immunbiologie sowie Physiologie mit ein. Sie könnte die Kennzeichen für Lebewesen wie folgt beschreiben: Naturkörper sind Lebewesen, wenn sie Nucleinsäuren, Proteine und Lipide besitzen und solche komplizierten Moleküle aus einfacheren Vorstufen selbst

Seit der Entdeckung der Zelle durch Robert Hooke (1635–1703) vor annähernd 350 Jahren ist es das Ziel der Zellbiologie, bei der großen Zahl verschieden gestalteter Zellen, welche die höheren Tiere und Pflanzen aufbauen, das allen Gemeinsame zu erkennen. Das Sichtbarmachen der Zellstrukturen war hierfür wesentlich. Im Rückblick auf die Geschichte der Zellbiologie erkennt man – beispielhaft auch für andere Teilgebiete biologischer (naturwissenschaftlicher) Forschungsgeschichte –, dass neue Erkenntnisse immer dann gewonnen werden konnten, wenn neue technische Geräte oder Analyseverfahren entwickelt wurden. Die Entwicklung der heutigen Zelltheorie ist wesentlich an die Geschichte der Mikroskop-Entwicklung gekoppelt. Dennoch steht der technische Fortschritt in seiner Zeit nicht isoliert da, sondern erwächst auf dem Boden ideengeschichtlicher und gesellschaftlicher Vorgegebenheiten, insbesondere aber ist er gebunden an herausragende Forscher und Pioniere eines neuen Aufbruchs. Dies kann uns der lange und mühsame Weg zeigen, den die Biologie zurücklegen musste, bis sie von der Entdeckung der Zelle durch Robert Hooke 1667 zur Zelltheorie des Botanikers Matthias Jakob Schleiden (1804–1881) und des Zoologen und Mediziners Theodor Schwann (1810–1882) gelangte. Alle Lebewesen bestehen danach aus kleinen, meist nur mit dem Mikroskop erkennSeite 2 von 10

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Neue Fakten, vor allem aufgrund technischer Errungenschaften, sowie der denkerische Mut weniger ausgezeichneter Menschen führten wieder einmal zu einem Paradigmawechsel, wie wir solche im Laufe der Geschichte zum Glück häufiger erleben konnten.

Die Zelle in der Evolution des Lebens

Das von Robert Hooke verwendete Mikroskop (um 1670)

baren Einheiten, den Zellen. Die bis dahin gültige Ansicht, der ganze Organismus sei die primäre biologische Einheit, musste über Bord geworfen werden. Die Zelle ist der kleinste Elementarorganismus und alle Vielzeller beginnen ihre Lebensgeschichte mit einem einzelligen Stadium. Daran anknüpfend stellte im Jahre 1885 Rudolf Virchow (1821–1902) den bis heute unwiderrufenen gültigen Satz auf: omnis cellula e cellula ( jede Zelle stammt von einer vorher existierenden Zelle ab).

Wenn wir die Kennzeichen des Lebendigen an den oben genannten Kriterien festmachen, dann ist die Zelle die erste und kleinste selbständige Lebenseinheit; noch weniger als eine Zelle ist nicht genug – das beweisen die Viren. So versteht sich Lebensevolution gleichzeitig auch als Zellevolution. Wegen der enormen Zeiträume, in denen sich die Evolution des Lebens vollzog und vollzieht, hat dieses Thema auch kosmische Dimensionen. Dank der Isotopen-Uhren lässt sich das Alter der Erde zu etwas mehr als 4,5 Jahrmilliarden angeben (vgl. Modul KOSMOLOGIE). In einem 24-Stunden-Gleichnis wären erste Lebewesen, sog. Protocyten (s.u.), schon knapp nach drei Uhr früh aufgetreten, größere Lebewesen in Form von Vielzellern zeigten sich aber erst im letzten Fünftel der gesamten Evolutionsdauer. Heute wissen wir, dass die vergleichsweise rasche Evolution dieser Vielzeller nur möglich war mit Zellen,

Welchen Aussagewert die Ergebnisse der Zellbiologie für unser Weltverständnis und erst recht für unser eigenes Selbstverständnis haben, mag derjenige ermessen, der sie bis in die letzte Konsequenz durchbuchstabiert, und das heißt: bei aller Vielfalt der Lebewesen haben sie (wir) dennoch alle einen gemeinsamen Ursprung und sind alle untereinander verwandt – spontane Urzeugung gibt es nach „cellula e cellula“ nicht mehr! Die Zelltheorie hält eines der stärksten Argumente für die Evolutionstheorie bereit und gibt Denkanstöße für die nicht ermüdende Diskussion um den „scheinbaren“ Konflikt zwischen Schöpfung und Evolution.

Titelblatt von W. HARVEY 1651. Bereits im 17. Jahrhundert wurde die These, alles Leben kommt aus dem Ei, formuliert, die den gemeinsamen Ursprung aller Lebewesen voraussetzt: Zeus hält das Ei in der Hand, aus dem die Geschöpfe entspringen.

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die ihrerseits schon sehr viel komplexer gebaut waren als die Zellen der ersten Lebewesen (der Protocyten). Zeitlich gesehen betrug also die Evolution der Zelle (Eucyte) 80 % der gesamten bisherigen Lebensevolution (vgl. zu diesem Kapitel den gleichnamigen Beitrag von Peter Sitte in „Biologie in unserer Zeit”, Nr. 2, 1991, 85 – 92).

Einblicke in die Zellevolution Methodisch gibt es drei hauptsächliche Zugriffsmöglichkeiten: Erstens die Suche nach Mikrofossilien in präkambrischen Sedimenten – sie ist besonders schwierig, denn diese Naturdokumente sind nicht nur sehr klein, sondern meistens auch stark verändert. Die zweite Möglichkeit bietet uns die molekulare Biologie mit dem Vergleich der Sequenzen von Nucleinsäuren und Proteinen heute lebender Organismen mit – soweit vorhanden – fos silen Funden. Diese Möglichkeit, auf die wir hier nicht näher eingehen können, ist erst seit wenigen Jahren technisch möglich. Aber schon jetzt hat sie zu einer Revolution des biologischen Weltbildes geführt. Die dritte Möglichkeit, Einblicke in die Evolution der Zelle zu gewinnen, erlauben uns Vergleiche des Feinbaues von Zellen rezenter Lebewesen. Gerade dieser Weg hat sich als besonders ergiebig für unsere Fragestellung erwiesen, indem er folgerichtig zur sog. Endosymbiontentheorie (s.u.) führte.

Protocyten, Eucyten und die Kompartimentierung Die Zelle ist zwar – wie wir gesehen haben – der Elementarorganismus, es gibt aber grundsätzlich zwei verschiedene Sorten von Zellen, wenn man die gesamte, heute lebende Organismenwelt überblickt: die Eucyte und die kleinere und wesentlich einfacher gebaute Protocyte. Gebräuchlich sind auch die Bezeichnungen als Prokaryoten und Eukaryoten; Prokaryotenzellen besitzen keinen membranumschlossenen Zellkern (griech. pro für „vor“; karyon für Kern und eu für „echt, gut“). Protocyten sind typisch für alle Bakterien i. w. Sinne, Eucyten für alle übrigen Lebewesen unter Einschluss des Menschen. Bei rezenten Lebewesen findet man keine Zwischenformen oder Übergänge. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen beiden ist die vielfältige Kompartimentierung der Eucyte. In der Cytologie versteht man unter einem Kompartiment säuberlich voneinander geschiedene Reaktionsräume; die Trennung erfolgt durch Biomembrane, deren Bedeutung und komplexen Aufbau wir in den letzten Jahren erkannt haben. Praktisch wird die Zelle durch eine sie umgebende Membran erst zur Zelle, indem sie durch diese Grenzlinie in der „Ursuppe“ zwischen sich und der Umgebung Innen- und Außenwelt geschaffen hat. Bei den meisten Bakterien ist die Zellmembran die einzige Membran der Zelle. Auch Eucyten haben natürlich eine die gesamte Zelle umspannende Zellmembran, zusätzlich aber viele interne Membrane und entsprechend viele verschiedene

Stichwort: Die Entstehung des Lebens – ohne Gott? Sehr vielen Menschen bereitet es Unbehagen, dass die Wissenschaft die Entstehung des Lebens auf physikalisch-chemischer Ebene als einen zwar hochkomplizierten, aber wahrscheinlich zwangsläufigen Prozess der Selbstorganisation der Materie betrachtet. Sie diskutiert die Lebensentstehung also ohne direkte Einflussnahme eines Gottes. Doch damit wird die Existenz eines Gottes mit keiner Silbe angetastet oder gar geleugnet, wie oft behauptet wird. Im Gegenteil: Je mehr die modernen Wissenschaften den Dingen auf den Grund gehen, je mehr sie die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu begreifen beginnen, desto mehr offenbart sich die in der Natur liegende ungeheure Intelligenz – und desto mehr machen sie die Existenz eines Schöpfers wahrscheinlich und lassen damit das Leben und die in ihm liegenden Fähigkeiten als etwas wohl niemals erklärbares Wunderbares erscheinen. (aus: Faszinierende Forschung, Verlag Das Beste, Stuttgart 2006, 36)

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Kompartimente, in denen z.B. Aufbau und Abbau oder Energiegewinn und Energieverbrauch gleichzeitig und am gleichen Ort ablaufen können. Der Biologe Peter Rehling, Preisträger der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Uni Freiburg im Jahr 2004, verglich die Zelle mit einer Stadt, deren Verwaltung im Zellkern liegt. Selbst Klärund Kraftwerke, Recyclinghöfe sowie Export- und Importsysteme sind strukturierte Abteilungen im Zellgeschehen – dank der Kompartimentierung durch Membrane. Durch Membraneinstülpungen können Partikel von außen umhüllt und ins Zellinnere aufgenommen werden (Endocytose); den umgekehrten Vorgang benutzt die Zelle zum Abtransport von Stoffen nach außen (Exocytose). Diese Beobachtung war Ausgangspunkt für Zytologen, die sog. Endosymbiontentheorie als Erklärung für einen wesentlichen Evolutionsschritt in der Zellentwicklung zu formulieren.

Endosymbionten-Theorie und das „Baukasten-Prinzip“

kernhaltigen Säugerzellen stammen nicht nur von uralten Bakterien ab, sondern sind buchstäblich ein Gemenge aus mehreren verschiedenen Bakterienstämmen. Mindestens zwei verschiedene Arten von Lebewesen, jede mit ihrer eigenen DNA-Ausstattung, verschmolzen zu der komplexeren Zelle. Zunächst als Ketzerei verdammt, fand diese bestechende Vorstellung in der modernen Biologie unterdessen weithin Anerkennung. Margulis ist mittlerweile überzeugt, dass die symbiontische Entstehung neuer Lebensformen viel häufiger vorkam, als es sich die in der darwinistischen Denkweise verhafteten Evolutionsbiologen träumen lassen. Deren Denkweise legt auf die Konkurrenz im Evolutionsprozess weit mehr Gewicht als auf die Kooperation – oder greift auch in diesem Fall das Konzept der Soziobiologie auf, nach dem der wahre Egoist kooperiert. Margulis’ Beitrag zur evolutionstheoretischen Diskussion lässt uns jedenfalls erkennen, welche beachtlichen Folgen sich aus der Vergangenheit der Mikroorganismen ableiten lassen (vgl. Margulis, Leben, S. 9 f.; Kap. 5, S. 90 – 117).

Nach P. Sitte (Die Zelle in der Evolution des Lebens, S. 87) gilt als Symbiose „eine intime und mehr oder weniger dauerhafte Vereinigung artfremder Organismen. Zum Beispiel sind die Flechten eigentlich Doppelwesen, zusammengebaut aus Pilzen und Algen. Die beiden Partner – die Symbionten – bilden gemeinsam ein neues Lebewesen, sozusagen einen Superorganismus; sie sind fein aufeinander abgestimmt und ergänzen sich in ihrem Stoffwechsel so gut, dass sie schließlich ganz aufeinander angewiesen und nicht mehr voneinander trennbar sind. Ihre weitere, gemeinsame Evolution ist eine Co-Evolution.“ Nach der Endosymbiontentheorie ist die Eucyte eine nach dem Baukastenprinzip (s.u.) aus ganz verschiedenen Protocyten zusammengesetzte Superzelle nach nebenstehendem vereinfachten Schema. Lynn Margulis hat in ihrem Buch Leben dem Phänomen Endosymbiose bei der Zellevolution einen weiteren Aspekt abgewonnen, der im Hinblick auf Ursprung und eventuell auch Zukunft der Lebewesen diskutiert werden sollte. Danach tauschen auch heute noch Bakterien ständig genetisches Material mit anderen Arten aus – noch Jahrmilliarden nach der entwicklungsgeschichtlichen Trennung. Außerdem erfahren wir, dass mehr als einmal Organismen zu komplexeren Folgearten verschmolzen sind. Unsere eigenen

Schematische Darstellung der Endosymbiontentheorie

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Komplexifikation als ein Evolutionsprinzip Die Endosymbiontentheorie der Zellevolution kennzeichnet ein allgemeines Prinzip der Evolution schlechthin: das Prinzip der Komplexifikation. Unter Komplexität versteht Teilhard de Chardin (1881–1955) „nicht eine bloße Anhäufung, d. h. irgendeine Ansammlung ungeordneter Teile, wie etwa eine Menge Sand, auch nicht eine Wiederholung von Einheiten wie bei der Kristallisation, sondern vielmehr jene höhere Form der Gruppierung, die ich Kombination nennen möchte, die eine bestimmte feste Anzahl von Einzelteilen zu einem in sich geschlossenen Ganzen vereinigt: wie etwa Atom, Molekül, Zelle, Vielzeller usw“. (Pierre Teilhard de Chardin, Entstehung des Menschen).

strukturen zu einem noch vorteilhafteren Superorganismus kooperativ vereinigt haben, oder übertragen formuliert: Gutes (Erfolgreiches) ist unabhängig voneinander mehrfach entstanden, hat sich dann aber nach dem Baukastenprinzip zur bestmöglichen Kooperationsgemeinschaft zusammengefunden und überlebt damit. Mit jeder Stufe in der Hierarchie biologischer Ordnung treten neue Eigenschaften auf, die auf den einfacheren Organisationsebenen noch nicht vorhanden waren, die aber auch aus den Bausteinen heraus nicht erklärt werden können (s.u.) – also neu auftauchende Qualitäten. Man nennt dies auch emergente Eigenschaften (vom lateinischen emergere für „auftauchen, emporsteigen“). Nach Campbell resultieren diese Eigenschaften aus Wechselwirkungen zwischen den Komponenten („Synergismus“) und sie lassen sich sowohl auf unbelebte Stoffe als auch auf Leben anwenden. (Beispiel: Weder der Kopf noch der Stiel eines Hammers sind für sich genommen besonders geeignet, einen Nagel in die Wand zu schlagen.) Wenn Campbell abschließend resümiert, dass emergente Eigenschaften des Lebens nicht durch übernatürliche Kräfte entstehen, mag er als Naturwissenschaftler mit strenger methodischer Reduktion recht haben. Seine Begründung jedoch, dass diese Qualitäten eben durch diese spezielle Hierarchie von Ordnungsebenen hervorgebracht werden, ist lediglich die Beschreibung eines Phänomens. Das Geheimnis bleibt, dass so etwas überhaupt möglich ist (vgl. Campbell, S.3f.).

Folgerung für unser Weltverstehen und Menschenbild Aus dem Baukastenprinzip des Evolutionsgeschehens ergeben sich schon die ersten

Im Fall der Eucyte entstehen komplexe Formen nicht durch kontinuierliche Vergrößerung und Verkomplizierung einfacher Strukturen, sondern sprunghaft durch Kombination schon entwickelter einfacher Strukturen zu komplexen Gebilden nach dem Baukastenprinzip. Das bedeutet für ein Evolutionsverständnis, dass sich verschiedene, vorteilhaft entwickelte Sub-

Anfragen an unser Weltverstehen: Monogenismus oder Polygenismus? Ist Vielfältigkeit zur Optimierung auf Kooperation angewiesen? Ist das Grundprinzip aller Evolution Egoismus –„selber essen macht fett!“? Wie geht diese Art der Evolution weiter? Was hat es mit der Komplexitätszunahme im Laufe der Evolution auf sich? Erscheint hier nicht ein Prinzip, das in der klassischen Philosophie schon immer formuliert wurde: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile? Woher kommt das „Mehr“? Nehmen wir als Beispiel die komplexeste Form, die wir in der belebten Natur kennen, Seite 6 von 10

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und stellen damit dieses Evolutionsphänomen auf eine existentielle Probe: Die Grundeinheit unseres Gehirns und damit auch die strukturelle Voraussetzung für alles, was unser Gehirn „kann“ bis hin zum Selbstbewusstsein, Ichbewusstsein, Psyche und Seele, ist die Nervenzelle und ihr Funktionieren mit Ruhe- und Aktionspotential, mit Synapsenübertragungen, Transmitter und elektrochemischen Regulationen. All diese Abläufe verstehen wir inzwischen, aber verstehen wir auch das „Gehirn“, unseren Geist, unser Bewusstsein dem Wesen nach? Die Naturwissenschaft kann zu allem nur sagen: die strukturelle (und physiologische) Voraussetzung für das, was wir „abstrakt“ Geist, Wille, Psyche oder Seele nennen, ist eine von uns (bisher) nicht verstandene Vernetzung von Nervenzellen, die nach einem von uns nur wahrnehmbaren Prinzip, nämlich der Komplexifikation, dieses alles ermöglicht ... oder aber hervorbringt (Monismus contra Dualismus) . Fragen über Fragen: Fakten, die uns die Naturwissenschaft präsentiert, auf dem Prüfstand unseres Weltverstehens und unseres eigenen Selbstverständnisses.

Besondere Zellen: Keim- und Stammzellen Keimzellen Keimzellen, fachwissenschaftlich Gameten genannt (griech.: gametes für „Gatte“), sind haploide Fortpflanzungszellen (besitzen nur einen Chromosomensatz), die bei der sexuellen Fortpflanzung mit ihrem Verschmelzungsprodukt, der Zygote, den Keim für einen neuen Organismus legen, in dem der Genbestand beider Eltern vereinigt ist. Bei einem Vielzeller sind es seine einzigen Zellen, die potentiell überleben. Die Körperzellen der überwiegenden Zahl der Organismen sind diploid (besitzen zwei Chromosomensätze), weil sie aus Zellteilungen der Zygote hervorgegangen sind.

Da sich bei einer Verschmelzung zweier Zellen der Chromosomensatz immer verdoppelt, muss der diploide Chromosomensatz vor der nächsten Befruchtung auf einen haploiden zurückgeführt werden. Dies geschieht im Prozess der Meiose an speziellen Zellen in den Keimdrüsen, z. B. beim Menschen in den Hoden für die Spermien und in den Eierstöcken für die Eizelle. Bei dieser Reduktion der Chromosomensätze werden nach dem Zufallsprinzip väterliche und mütterliche Genanteile auf die einzelnen Keimzellen verteilt. Durch die unterschiedliche Kombination väterlicher und mütterlicher Chromosomen entsteht eine morphologische und physiologische Mannigfaltigkeit, die auch bei wechselnden Umweltbedingungen die Überlebensfähigkeit einer Art auf die Dauer sichert. So ist die sexuelle Fortpflanzung mit Befruchtung und Meiose zu einem bedeutenden Triebwerk für die Evolution geworden. (Im Kurs werden Ihnen mit reichlichem Film- und Bildmaterial zellulärer Ablauf und genetische Bedeutung von Mitose und Meiose vorgestellt)

Folgerung für unser Selbstverständnis? Was können uns die Besonderheiten der Keimzellen für unser Welt- und Selbstverständnis sagen? Zunächst einmal, dass Sexualität als Motor für die Evolution eine so große Rolle spielt, dass die Natur ihre Lebewesen einschließlich des Menschen mit einer Triebkraft ausgestattet hat, um ja nicht auf Sexualität zu verzichten. Betrachten wir die Meiose des Menschen: für die Keimzellen werden aus 46 Chromosomen 23 herausselektiert, wobei der väterliche und mütterliche Erbanteil durchmischt wird und damit jede Keimzelle Variationsmöglichkeiten erhält, dass auch rein rechnerisch keine der anderen genetisch gleicht; bei der Zygotenbildung potenziert sich der Variationsfaktor, sodass der daraus sich entwickelnde neue Mensch ein ausgesprochenes Unikat auf dieser Welt ist: Jeder von uns ist einmalig!

Wenn eine Uhr einmal pro Sekunde tickt, dann benötigt sie: um 1000 mal zu ticken etwa

> 16,5 Minuten;

um 1 000 000 mal zu ticken etwa

> 11,5 Tage;

um 1 000 000 000 (Milliarde)

> ... etwa 31 Jahre;

um 2 000 000 000 000 (Billionen) .

> .. 62 000 Jahre,

so viele, nämlich 2 Billionen Körperzellen, bilden sich in 282 Tagen (= neun Monate) aus der Zygote (befruchtete Eizelle)! Seite 7 von 10

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Wir haben oben bereits davon gesprochen, dass die Keimzellen die einzigen Zellen der Eltern sind, die in ihren Nachkommen überleben. Vielfältig wurde in der Kulturgeschichte dieser Gedanke des Weiterlebens in seinen Kindern hervorgehoben. Aus der Bibel (im AT) ist uns das Gebot der Levirats-Ehe bekannt, die auch der kinderlosen Witwe die Hoffnung gab, in ihren Kindern den Messias zu erleben (vgl. Modul 1002 Jesus Christus). Im Phänomen der Keimzelle haben wir das biologische Pendant für solche Gedanken. Aber nicht nur der Blick in die Zukunft ist bedeutsam, sondern auch der Blick zurück in unsere Vergangenheit: Alle Menschen (auch alle Lebewesen), die heute leben, müssen eine ununterbrochene Genealogie haben – der „rote“ Faden darf nie abreißen –, die bis hin zu den Anfängen der Menschheit reicht bzw. salopp gesagt, bis auf Adam und Eva. Dabei sollten wir bedenken, dass Evolution noch nicht zu Ende ist und dass wir vielleicht noch lange nicht die Krone der Schöpfung sind; das sollte uns aber nicht „zerknirschen“, weil es allenfalls unseren Stolz betreffen kann. Unsere Würde kann es nicht tangieren, denn „wir sind nur ein Glied in der Kette der Generationen. Doch jedes Glied dieser Kette trägt die volle Verantwortung für den Reichtum der Zukunft“ (C. Bresch).

Schließlich lohnt sich noch ein Blick in die Entdekkungsgeschichte der Keimzelle, da sie eindrücklich die Abhängigkeit der Meinungsbildung über die Embryonalentwicklung des Menschen dokumentiert. Die frühen Mikroskopiker mikroskopierten so ziemlich alles, dessen sie habhaft wurden: vom Brennnesselhaar bis zum Zahnbelag, vom Floh bis zum männlichen Sperma. Immerhin war dadurch

schon sehr früh die männliche Keimzelle entdeckt. Die Entdeckung des weiblichen Eis ließ dagegen bis ins 19. Jhdt. auf sich warten. Der deutsche Zoologe und Begründer der modernen Embryologie Karl Ernst von Baer (1792–1876) entdeckte 1827 das Ei der Säugetiere im Follikel eines Kaninchens;

Einige frühe Mikroskopiker glaubten, im Kopfstück des menschlichen Spermiums bereits ein kleines Menschlein zu erkennen. Nach N. Hartsoeker 1703

die menschliche Eizelle wurde erst 1935 entdeckt – und das, obwohl sie eine der größten Zellen des Menschen ist und an Größe die berühmte Haaresbreite übertrifft. Das sollte Folgen haben in der Einschätzung der Rolle der Frau bei Zeugung und Schwangerschaft. Zwar hatten die Mikroskopiker das Spermium entdeckt und gaben ihre Beobachtung auch richtig wieder, aber einige phantasiebegabte Beobachter vermeinten im Spermienkopf ein winziges Männlein, einen Homunculus zu erkennen, das nach der Empfängnis im Mutterleib zur Größe eines Säuglings heranwachsen sollte. Von dieser Ansicht hat sich bis heute noch der falsche Gebrauch des Namens „Samen“ oder „Samenzelle“ für Spermium gehalten. Ein Same ist korrekterweise ein kleiner Embryo, aber ein Pflanzenembryo in der Samenschale. Auch er benötigt, genau wie das falsch gedachte „Samen-Spermium“, nur einen guten Boden zum Gedeihen und Heranwachsen; beim „Samen“ des Mannes war dies halt die Gebärmutter der Frau ... solange, bis eben die weibliche Eizelle entdeckt wurde. Damit war klar, dass Mann und Frau gleichwertig ihren Beitrag zur Entstehung eines neuen Menschen beitrugen, und dieser neue Mensch ist, wie wir gesehen haben, ein selbständiges Unikat, das auch durch Parolen wie „mein Bauch gehört mir“ nicht vereinnahmt werden kann. (Aufschlussreiches Bildmaterial finden Sie auch im WWW-Portal.) Seite 8 von 10

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Stammzellen Natürlich ist das Neugeborene nicht ein „Zellhaufen“, sondern wohlstrukturiert und geformt. Das hängt damit zusammen, dass sich diese unvorstellbare Vielzahl von Zellen entsprechend ihrer Lage und physiologischen Aufgabe differenziert haben.

Organismus gefunden, die sich noch zu mancherlei andere Funktionen differenzieren lassen. Zellen mit solchen Eigenschaften nennt man Stammzellen. Nach dem Grad der Differenzierungspotenz unterscheiden die Forscher folgende Stammzelltypen:

Differenzierte Zellen

Toti-, Pluri- und Multi-Talente

lassen sich nicht wieder redifferenzieren – aus einer Nervenzelle kann nicht mehr eine Drüsenoder Muskelzelle werden. Und das, obwohl differenzierte Zellen das gesamte Erbgut enthalten, wie es ihre ursprüngliche Ausgangszelle, die Zygote, auch hatte. Forscher wüssten einerseits gerne, welche Mechanismen dazu führen, dass Zellen sich differenzieren, andererseits wäre es umgekehrt für sie von großem Interesse, warum manche Zellen wie beispielsweise Krebszellen sich nicht differenzieren lassen und wild im Gewebe wuchern.

Im sog. Blastocysten-Stadium lassen sich aus der inneren Zellmasse embryonale Stammzellen gewinnen. Diese sind zwar nicht mehr totipotent, ihr Differenzierungspotenzial ist jedoch nach wie vor beträchtlich: Aus ihnen entstehen im Verlauf der weiteren Embryonalentwicklung alle im Organismus benötigten Zelltypen. Die Forscher bezeichnen sie daher als pluripotent. Sie sind zur Zeit die von den Forschern begehrtesten Zellen, sie sind aber auch die ethisch am meisten umstrittenen, weil bei ihrer Gewinnung der Embryo stirbt. Ähnlich verhält es sich mit embryonalen Stammzellen, die beim therapeutischen Klonen gewonnen werden.

Seit einigen Jahren haben Forscher nun Zellen im normalerweise ausdifferenzierten vielzelligen

Bis zum 8-Zellstadium können die aus einer befruchteten Eizelle (Zygote) hervorgegangenen Tochterzellen, jede für sich allein, einen kompletten Organismus aufbauen. Dieses Faktum wird bereits beim Embryosplitting angewandt. Diese Stammzellen sind totipotent. In späteren Stadien geht diese Fähigkeit jedoch verloren.

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Literatur Neil A. Campbell / Jane B. Reece: Biologie, hrsg. von Jürgen Markl, 6. Aufl., Spektrum Heidelberg – Berlin (2003) Das im englischsprachigen Raum erfolgreichste aller großen Biologie-Lehrbücher ( 1606 Seiten starkes Kompendium) ist inzwischen auch bei uns die „Bibel der Biologen“ schlechthin geworden. Didaktisch gut aufgebaut, mit sehr gutem Bildmaterial sowie Modellschemata versteht dieses Buch, auch komplexe und komplizierte Themenbereiche der modernen Biologie dem an Biologie interessierten „Laien“ zu vermitteln. Stammzellen aus dem Gehirn und dem Knochenmark der Maus lassen sich in eine Vielzahl von Zelltypen differenzieren und zur Regeneration defekter Organe und Gewebe einsetzen. Quelle: BIOMAX. Max-Planck-Gesellschaft, Ausgabe 10, 2001

Darüber hinaus finden sich in vielen Geweben des ausgewachsenen Organismus sog. adulte oder somatische Stammzellen. Sie sorgen für den gewebespezifischen Ersatz von ausgefallenen Zellen. So wird beispielsweise die Haut alle 14 Tage „runderneuert“, was nach einem Sonnenbrand durchaus hilfreich ist. Im Blut werden innerhalb von 24 Stunden mehrere Milliarden Zellen durch neue ersetzt. Das Entwicklungspotenzial dieser Stammzellen gilt als eingeschränkt und man bezeichnet sie daher als multipotent. Die Forschung an Stammzellen und ihr möglicher therapeutischer Einsatz werden zur Zeit heftig und kontrovers diskutiert, sodass dieser Thematik ein eigenes Modul (0302 Gentechnik) gewidmet wird.

Man muss es nicht kaufen, es steht in jeder guten Bibliothek. Theo Jahn / Herbert Lange: Die Zelle, Herder studio visuell, Freiburg – Basel – Wien (1979). Dieses schon ältere Werk ist immer noch lesenswert, da es den Leser prägnant in alle wichtigen Parameter zu Zelle, Zellevolution und Zellphysiologie verständlich einführt. Alle Oberstufenlehrbücher (Gymn. und Realschule) von den Verlagen Klett, Schroedel, Diesterweg, CVK und BSV sind zum Thema Zelle emphelenswert. Sie sind in ihrer Aufmachung und Darbietung des cytologischen Grundwissens auf dem heutigen didaktischen Stand, ganz im Geiste der neuen Standards des Bildungsplans.

Internet Wer über Internet sich weiter informieren will, wählt sich am besten mit seinem SpezialgebietStichwort in Google, wikipedia, zum.de, educeth.ethz.ch oder zeit.de ein und klickt sich entsprechend durch.

Schlussbetrachtung Als abschließenden Gedanken mögen die Teilnehmer an diesem Modul – so wünscht es sich der Autor – aus den vielen Infos, Anfragen und Diskussionen mitnehmen, dass in der Biologie letztlich alles irgendwie zusammenhängt. Wer hätte schon vermutet, dass die Analyse des Zellfeinbaus Daten zur stammesgeschichtlichen Entwicklung des Lebens und des Menschen liefern könnte? Das Leben ist eine große Einheit.

Der Autor Wolfgang Bange ist Gymnasiallehrer und Fachleiter für Biologie am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg.

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