Die Zeit Feuilleton : Er sieht sich an, er sieht mich an. Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany

Die Zeit − Feuilleton : Er sieht sich an, er sieht mich an Die Zeit, Hamburg, Germany Die Zeit, Hamburg, Germany DIE ZEIT Er sieht sich an, er sieht...
Author: Friederike Abel
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DIE ZEIT Er sieht sich an, er sieht mich an Vor 400 Jahren, am 15. Juli 1606, wurde Rembrandt geboren. Der Autor Cees Nooteboom wandert zurück in seine Zeit. Im obersten Stock des Leidener Museums De Lakenhal hängt eine Karte der Stadt und ihrer Umgebung. Sie ist 1573 entstanden, rund dreißig Jahre vor Rembrandts Geburt und ein Jahr vor Leidens Befreiung von der spanischen Belagerung. Außerhalb der Mauern liegen die Verteidigungsanlagen; Rhein und andere Wasserstraßen fließen in die Stadt und aus ihr heraus, wodurch die kleine, runde Form einem treibenden Tier mit weit ausgreifenden Fangarmen gleicht. Im Land da draußen die schnurgeraden Linien, die zu einem Polder gehören und fast wie Pfeile auf dieses runde Tier gerichtet sind. Leer war es rings um die Stadt, das muss dem Leben in ihr etwas sehr Intimes gegeben haben. Hier wurde 1606 Rembrandt geboren, in einem kleinen, in sich geschlossenen Kosmos, zwar durch Universität und Industrie mit dem Rest der Welt verbunden, aber doch eine von Mauern umgürtete Stadt, nicht so rund wie auf dieser Karte von 1573, sondern eher wie ein unregelmäßig gezackter Stern. Innerhalb weniger Stunden konnte man seinen Umriss abschreiten. So wie ich es jetzt, vierhundert Jahre später, getan habe. Die Stadt hat im Laufe der Zeit ihre Mauern gesprengt und die Polder angefressen, doch mit der Kraft der Vorstellung kann man versuchen, sich der damaligen Zeit anzunähern. Hilfreich ist dabei, dass es immer noch Mühlen gibt, dass die Straßen, wie damals, Papengracht und Rapenburg, Morssteeg, Pieterskerkchoorsteeg und Gerecht heißen, dass sogar der Weddesteeg, in dem Rembrandts Geburtshaus stand, noch existiert, und hilfreich ist auch, dass das Wasser des Hafens und des Galgewater so ruhig daliegen wie auf alten Zeichnungen. Ich befinde mich in einem anderen und doch demselben Leiden, in dem der Knabe, der ein so großer Maler werden sollte, aufwuchs, und ich versuche mir vorzustellen, wie das war. Ohne die Nostalgie und Gefühlsduselei verlorener Paradiese. Dazu freilich muss am Bild und am Ton erst etwas ausgeblendet werden. Wer durch das Weimar Goethes geht, sollte sich auch vor Augen halten, dass die Straßen aus Schlamm bestanden, in dem die Schweine wühlten, und das ist hier wahrscheinlich kaum anders. Was hörte Rembrandt, was sah er, als er aus dem Fenster schaute? Welche Geräusche hörte Rembrandt? Wie klingt Leiden im Jahr 1606? Um das herauszufinden, muss man es erst sehr still werden lassen. Fast alles muss ausgefiltert werden. Die Autos, die Mopeds, sogar der Zug in der Ferne. Versuch das mal. Fernsehen aus einem offenen Fenster, ein Fußballspiel aus einem Kofferradio, das Gedudel eines Handys, die Sirene eines Rettungswagens. Was hört man dann? Den Wind, den Regen, Möwengeschrei, die eigenen Schritte, einen Ruf übers Wasser hinweg, Geplätscher von Rudern, Pferdehufe auf Klinkersteinen oder festgestampfter Erde, den Stadtausrufer, menschliche Stimmen, die möglicherweise anders klangen, weil sie nicht mit so vielen anderen Geräuschen wetteifern mussten. Wer je in einer Mühle war, weiß, wie es darin tost und dröhnt, wenn sich draußen die Flügel wild im Kreis drehen. Auch das wird zu seiner frühen Geräuschkulisse gehört haben, das und die Stimmen seiner Eltern im kleinen Haus. Mit zehn geht er jeden Tag in die Gasse hinter der großen Kirche, in der die Lateinschule liegt. Er hört die eigenen Schritte, leichte, denn er ist noch ein Kind. In der Lakenhal stehen neben dieser Karte Schuhe, die in jener Zeit getragen wurden. Dieses Geräusch hört er also, und auch Lateinisch mit niederländischem Akzent, denn in der Schule wird ausschließlich Latein gesprochen, selbst im Rechenunterricht.

DIE ZEIT

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Die Zeit − Feuilleton : Er sieht sich an, er sieht mich an Ich bin seinen Weg nachgegangen, es war nicht schwer, manchen Städten ist es gelungen, viel von sich zu bewahren. Manchmal ist die Kontinuität von Dingen überraschender als ihr Verschwinden. Die Namen haben sich nicht geändert, der Weg ist der gleiche, nur hätte sich der Schüler von damals gewundert, wenn er heute während der Griechischstunde aus dem Fenster geschaut hätte. Und was sehe ich, wenn ich, mit dem Rücken zum Gravesteen, auf dem die öffentlichen Hinrichtungen stattfanden, in ebendieses Fenster schaue? Einen Schüler in Gestalt einer unbeholfenen Puppe an einem Pult. Er hat einen Wust dicker, lockiger Haare unter dem Barett, dieser Schüler; derjenige, der die Puppe gemacht hat, muss sich die frühen Selbstporträts Rembrandts gut angesehen und die Bildnisse von hinten vorgestellt haben. Durften die Schüler aus dem Fenster schauen, wenn so nah jemand enthauptet oder aufs Rad geflochten wurde? In der bereits erwähnten Lakenhal habe ich das noch erhaltene Rad gesehen, ein grausames Objekt, das aussieht wie ein kubistischer Mann aus schwerem schwarzem Holz, die Arme ausgestreckt, die Beine gespreizt, eine kleine Mulde für den Hinterkopf. Hörten sie die grauenhaften Schreie, die beim Zerschmettern der Arm− und Beinknochen ertönt sein müssen? Ich lese die Texte an den Fenstern der Schule. Sie sind für die Einfältigen im Geiste, aber heute bin auch ich ein solcher. Ich habe mehrere Stunden lang in die Tiefe der schwindelnden Vielfalt von Rembrandts Radierungen geschaut, dunkle und helle, biblische, religiöse und mythologische Darstellungen, die ihren Ursprung zum Teil in den Jahren haben, in denen er diese Schule besucht hat, als zehnjähriges Kind, als vierzehnjähriger Knabe, dessen Imagination mit Geschichten aus der Antike sowie dem biblischen Israel gespeist worden ist, das er bereits aus der nahe gelegenen Kirche kennt. Jetzt möchte ich, dass dieses ganze komplizierte, leidenschaftliche Leben auf die Einfachheit jener ersten Jahre reduziert wird, wie es, akkurat nummeriert, auf den Fenstern steht. 3: Der Vater war Müller. Rembrandt durfte trotzdem Maler werden. 4: Er begann als Farbmischer in einer richtigen Malerwerkstatt. 5: Danach lernt er, selbst zu malen. 6: Sein bester Freund Jan Lievens ist ebenfalls Maler. 7: Vornehme Leute kaufen seine Bilder. Hier ist der Künstler abgebildet, auf Knien vor einem Großmächtigen. Und wieder möchte die Fantasie etwas hören. Die Gespräche zwischen den beiden Freunden. Es sind Gespräche, die ich hätte verstehen können, weil sie in meiner Sprache geführt wurden. Die beiden wurden von Pieter Lastman ausgebildet. Achtzehn und neunzehn waren sie da. Handelte ihr Gespräch davon? Auf ihren Bildern und auf denen ihres Meisters kann man sehen, wie ein und dasselbe Thema von Schüler und Meister teils gleich, teils unterschiedlich ausgeführt wird. Redeten sie darüber? Dass sie, nachdem sie von ihm gelernt hatten, es anders machen wollten? Hielten sie ihn mit der Bravour der Jugend für altmodisch? Oder überwog die Bewunderung für ihren Meister, konnten sie sich noch lange nicht von seinen Themen, seiner Methode lösen? Was sagten sie zueinander über Dürer, über das gewaltige Können eines Lucas van Leyden und über die erstaunlichen Bilder, die von weither, aus Italien, kamen und mit einigen Elementen auch in ihre Arbeiten Eingang fanden? Die Revolution Caravaggios, die ihren unmittelbaren Niederschlag im Werk Honthorsts und in der Utrechter Schule fand, einer Insel theatralischen Katholizismus in einer kargen kalvinistischen Welt? Es ist eine Liebe, die Freundschaft heißt, sie zeichnen und malen nach denselben Modellen, dann wieder das eigene Gesicht und häufig das des anderen, als machten sie Selbstbildnisse eines anderen und näher kann man einem anderen kaum kommen. 1628 hat der Zweiundzwanzigjährige in Leiden den ersten Schüler, Gerrit Dou, der zu diesem Zeitpunkt fünfzehn ist und ein äußerst akkurater, von Angst vor Beschmutzung besessener Feinmaler werden wird, beeinflusst von seinem bewunderten Meister, aber doch in vielerlei Hinsicht ganz anders. Und im selben Jahr findet auch die Begegnung mit Constantijn Huygens statt, der den Ateliers von Lievens und Rembrandt einen Besuch abstattet. Huygens, Diplomat, Astronom, Komponist und Verfasser des schönsten Gedichts, das in unserer Sprache je über Schnee geschrieben wurde. Weißer Ruß, gehackte Federn, so beschrieb er ihn, und genauso treffsicher DIE ZEIT

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Die Zeit − Feuilleton : Er sieht sich an, er sieht mich an erkannte er die Verheißung von Größe in den Arbeiten der beiden jungen Leidener. Im selben Jahr 1628 malt Rembrandt eines seiner schönsten Selbstporträts, das heute im Amsterdamer Rijksmuseum hängt. Atemberaubend jung ist er da noch, fülliges Gesicht, die Augen halb im Schatten, weil die Zeit für die so viel enthüllenderen Selbstporträts noch nicht gekommen ist. Das Licht fällt auf seine rechte Wange, die noch keine Falten und Furchen zeigt und auch keine Enttäuschung, das Haar wild und voll, die ungebärdigen Locken mit dem spitzen Holzende des Pinsels in den Haarwust geringelt, die Haltung abwartend, als ahnte er bereits, was von nun an geschehen wird. Vier Jahre später verlässt er Leiden einer Frau und einer Karriere zuliebe, die in ihren Höhen und Tiefen, in Glanz und Trauer, Reichtum und Unglück, Ekstase und Besinnung beispiellos ist. Dreißig Jahre später malt er sich noch einmal. Das Bild hängt in der Frick Collection in New York. Es ist Jahre her, dass ich dort war und meine Gedanken notiert habe. Von den späten Selbstporträts ist es eines der berührendsten, das er je gemalt hat. Es stammt aus dem Jahr 1658, Rembrandt ist in den Fünfzigern. Ich weiß genauso gut wie jeder, der dies liest, was ein Selbstporträt ist. Allerdings war mir, so blödsinnig sich das auch anhört, die volle Tragweite dessen, was das bedeutet, nie richtig bewusst geworden. Ein Maler malt sich selbst, aber wie macht er das? Die Vorstellung hat etwas Unheimliches. Die ganze Zeit muss er sich ansehen, bis auf der Leinwand vor ihm ein aus Farbe bestehender Doppelgänger entstanden ist, der er nicht nur ist, sondern dem er zugleich noch etwas hinzufügt, nämlich das, was er von sich denkt. Der Mann, der sich und mich nun ansieht, ist ein älterer Mann, der sich als König aus dem Morgenland verkleidet hat. Alles an diesem Bild ist warm, dunkle Braun− und Goldtöne, doch Augen und Mund widersprechen dieser Wärme. Es sind die Augen und der Mund eines alten Mannes, der die Welt gesehen hat und weiß, was nicht mehr zu erwarten ist. Der Tod ist bereits mehrmals durch sein Leben gezogen, Geld hat sich als flüchtige Materie erwiesen, der Mund, der viel gelacht hat, tut das jetzt nicht, die Augen, die sich außer an der sinnlichen Welt auch an viel selbst geschaffenem Glanz erfreut haben müssen, sehen sich jetzt mit einer schonungslosen Hellsichtigkeit an, die den Bodensatz des Alters in sich trägt. Im Katalog der Frick Collection ist das Selbstporträt, wie die meisten Bilder, in Schwarzweiß abgebildet, doch im Anhang ist ein Detail dieses Gemäldes in Farbe herausgegriffen, die Linke, die das Zepter umfasst. Es ist fast gespenstisch zu sehen, mit welchem Raffinement der Glanz dieses Zepters und des goldenen Knaufs suggeriert wird. Noch beeindruckender ist jedoch die Suggestion der Machtlosigkeit, die von der Hand ausgeht. Der sitzende Mann hält den Stab kaum noch fest, seine Hand liegt locker um ihn, die Finger sind nicht zum Griff gekrümmt, als habe der goldene Monarch die Welt nicht mehr im Griff, und seine Augen wissen, warum. Doch dazu mussten diese Augen erst gemalt werden. Vielleicht gehe ich in meiner autodidaktischen Unschuld zu weit, und der wahre Kenner wird mir erklären, dass alles eine Frage der Technik ist, doch mich schwindelt einfach bei dem Gedanken, wer hier wen ansieht. Wie kann man so viel über sich selbst wissen, so tief in sich hineinsehen und sich dann so rigoros aufteilen, in einen Maler und in einen Gemalten? Wie kann jemand seinen eigenen Doppelgänger erschaffen, die dafür nötigen tagelangen Sitzungen ertragen? Ein ganzes Dasein ist in die Farbe eingesogen und in ihr getrocknet Und wie eigenartig, dass alles rings um dieses Gemälde verschwunden ist: der Tageslärm außerhalb des Ateliers, der Geruch der Farbe auf seiner Palette, die Stimmen der Hausgenossen, die Speisen, die er an jenem Tag zu sich genommen hat. Sein ganzes Dasein ist in diese Farbe gesogen und in ihr getrocknet, erhalten als der autonome Abdruck eines Mannes, der sich selbst bis ins Mark kannte und sich den Blicken anderer, Fremder auslieferte, die erst Jahrhunderte später geboren werden sollten. Hexerei. Ob er noch oft an Leiden gedacht hat? An jene ersten Jahre, die Mühle seines Vaters, die Schule in der kleinen Gasse, die Freundschaft mit Lievens, die heitere Reihe von Selbstporträts, in denen er sich mit wechselndem Ausdruck und unterschiedlichen Kopfbedeckungen darstellte?

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Die Zeit − Feuilleton : Er sieht sich an, er sieht mich an Wir wissen es nicht. Das Denkmal von Stephan Balkenhol, in diesem Jahr enthüllt, wurde vor jenem Platz aufgestellt, wo früher einmal Rembrandts Geburtshaus stand, und ist eine Erinnerung an den jungen Künstler, der Rembrandt einst in Leiden war. Es ist in der Sprache unserer, einer anderen Zeit erschaffen und beschreibt, falls man das so sagen kann, den Beginn eines unvorstellbaren Abenteuers, das Menschen aus anderen, späteren Zeiten und früher undenkbaren Welten in diese Stadt rufen sollte, um kurz, und sei es noch so flüchtig, in der Nähe des Lebens eines der größten Künstler zu sein, den die Welt je gesehen hat. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen Cees Nooteboom, geboren 1933 in Den Haag, arbeitete zunächst als Journalist, wurde mit der Erzählung »Philip und die anderen« (1955) rasch bekannt und errang Weltruhm mit seinen Romanen »Rituale« (1980), »Die folgende Geschichte« (1991), »Allerseelen« (1999) sowie mit viel bewunderten Reisebüchern. Nooteboom lebt in Amsterdam und auf Menorca. Jüngst erschienen ist »Paradies verloren« (bei Suhrkamp). DIE ZEIT, 13.07.2006 29/2006

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