Die Welt geht ja nicht davon unter, wenn ich ihn nicht haue

„Die Welt geht ja nicht davon unter, wenn ich ihn nicht haue.“ Männliche Gewaltresilienz im Kontext jugendlicher Lebenszusammenhänge Mart Busche, Univ...
Author: Sarah Bauer
5 downloads 0 Views 43KB Size
„Die Welt geht ja nicht davon unter, wenn ich ihn nicht haue.“ Männliche Gewaltresilienz im Kontext jugendlicher Lebenszusammenhänge Mart Busche, Universität Kassel

1. Einleitung In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich Selbstaussagen von Jugendlichen, in denen sie beschreiben, wie sie in der gewaltintensiven Zeit der Adoleszenz mit Gewalt umgehen. Mich interessiert nicht die viel bearbeitete Frage, warum Jugendliche Gewalt ausüben, sondern warum sie es nicht tun. Unter dem Stichwort „jugendliche Gewaltresilienz“ sehe mir an, warum Jugendliche, die selber Gewalt oder andere Belastungen erleben mussten, nicht gewalttätig gegenüber anderen Jugendlichen sind. Auf welche Ressourcen greifen Jugendliche zurück und welche Faktoren spielen eine Rolle, damit sie einen in ihren Augen kompetenten Umgang mit Gewalt finden und so wie Miro, einer der interviewten Jugendlichen, zu dem Schluss kommen: „Die Welt geht ja nicht unter, wenn ich [den anderen] nicht haue.“? Der folgende Beitrag stellt eine Teilfrage meines Dissertationsprojektes dar, nämlich den

Zusammenhang

zwischen

Gewaltresilienz

und

Männlichkeit

näher

zu

bestimmen.

2. Beschreibung der Daten und Kontext der Erhebung EU-Projekt STAMINA: Im Europäischen Daphne-Projekt „STAMINA – Formation of non-violent behaviour in school and leisure time among youths from violent families” (2009-2011) wurden unter anderem in der BRD 30 leitfadengestützte Interviews mit Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren zum Thema Gewaltresilienz geführt und im Rahmen des Projekts rudimentär ausgewertet. Die Jugendlichen wurden zu biografischen Begebenheiten und ihren Umgehensweisen mit gewalthaltigen Erlebnissen in Familie, Peergroup, Schule und Freizeit befragt. Ich nehme derzeit eine Re-Analyse der Daten vor, da die Interviews aus Perspektive der Jugendlichen Aufschluss

über

gewalthaltigen

das

Erleben,

Situationen

Wahrnehmen,

geben

und

die

Deuten Frage,

und

warum

Bearbeiten

von

es

zum

nicht

Gewaltgebrauch kommt, aus qualitativer Perspektive noch kaum behandelt worden ist



vor

allen

Dingen

nicht

unter

Einbeziehung

eines

intersektionalen

Analyseverfahrens. Ich erhoffe mir durch eine Auswertung mit der dokumentarischen Methode einen Beitrag zu dieser Frage leisten zu können. 1

Für den vorliegenden Beitrag habe ich Interviews mit Jugendlichen, die sich als männlich bezeichnen, zur Grundlage genommen und an eine heuristische Vorgehensweise angelehnt anhand bestimmter Fragen (siehe unten) analysiert. Eine „Fall-Analyse“ stelle ich im Folgenden exemplarisch vor. Dieser Beitrag ist vor allem auf die Diskussion theoretischer und methodologischer Fragen gerichtet.

3. Theoretische Verortung: Doing violence resilience Das Konzept der Resilienz wird in der Regel für die Untersuchung der grundsätzlichen Lebensbelastungen einer Person und ihren positiven, stärkenden Umgehensweisen mit diesen Belastungen genutzt. Aus psychopathologischer und psychologischer Sicht folgt die Resilienzperspektive traditionell einer Orientierung an körperlicher und geistiger Gesundheit (vgl. Rutter 2001) und wird z. B. genutzt um ein besseres Verständnis von gesundheitserhaltenden und -fördernden Bedingungen bei Kindern zu erlangen, die speziellen Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind (Wustmann 2005: 192). Das Konzept der „Gewaltresilienz“ muss seine Tauglichkeit im soziologischen

und

pädagogischen

Diskurs

um

Gewalt(freiheit)

und

Gewaltprävention erst noch beweisen: Ob sich Erkenntnisgewinne jenseits von Ressourcen oder Defizitansätzen ergeben oder es sich inhaltlich gar um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt, muss überprüft werden (vgl. von Freyberg 2009: 11ff.).

Durch

eine

individuumszentrierte

Perspektive

werden

beispielsweise

Argumentationen gestützt, die eine Auffassung von individualisiertem Versagen oder Erfolg und der (mangelnden) Verantwortung des einzelnen Individuums legitimieren und Perspektiven auf soziale Gerechtigkeit und widrige Bedingungen, unter denen besonders marginalisierte und benachteiligte Personen leben müssen, nicht berücksichtigen (Bottrell 2009: 334). Es stellt sich deshalb die Frage nach einem intersektionalen soziologischen Konzept von Gewaltresilienz, welches sowohl strukturelle gesellschaftliche wie auch subjektorientierte Perspektiven vereint und gesellschaftliche Positioniertheiten der Individuen in ihrer Komplexität einzubeziehen weiß (vgl. Chong 2008). Solch ein theoretisches Konzept könnte sowohl für die weitere Erforschung von (Gewalt)Resilienz als auch für eine kritische Befruchtung der Fachdebatten zu jugendlichen Ressourcen und Lebenswelten sinnvoll sein, denn durch die versierte Gestaltung der Umwelt erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Resilienz (vgl .Leadbeater et al. 2005).

2

„Gewaltresilienz ist das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses mit der eigenen Umwelt, bei dem es um Ressourcen geht, die die entsprechende Person in die Lage versetzen, sich vorwiegend gewaltfrei zu verhalten und sich selbst trotz gewalttätiger Umstände als kompetent handelnd zu verstehen.“ (Busche/Scambor 2011), so in etwa könnte eine erste Definition eines Konzeptes von Gewaltresilienz aussehen, welche noch auf seine Tragfähigkeit und seine Grenzen überprüft werden muss. Bei dieser Definition wird deutlich, dass ich von Gewaltresilienz als einem Tun ausgehe. Die Möglichkeiten eines „doing violence resilience“ werden dabei nicht zuletzt von Geschlecht und anderen Zugehörigkeitskategorien beeinflusst, die ermöglichend oder verhindernd wirken können. In diesem Beitrag werde ich hauptsächlich auf „doing violence resilience“ und „doing masculinity“ eingehen und als Parallelstruktur betrachten. Ich entwickle anschließend Thesen dazu, wie dieses „doing resilience“ im Zusammenspiel mit „doing masculinity“ funktioniert. Dabei gehe ich von folgendem aus: 

Gewalt hat Bedeutung für die sie anwendenden Jugendlichen sowie für die Jugendlichen,

denen

sie

widerfährt,

sie

tritt

oft

auf,

wenn

andere

Kommunikationsformen versagen. Ihre Bedeutung muss im jeweiligen Kontext rekonstruiert werden, um ihren subjektiven Sinn zu verstehen. Es mag helfen, den persönlichen „Preis der Gewalt“ mit dem „Lohn der Gewalt“ in Beziehung zu setzen. Es mag sein, dass Gewaltresilienz nicht gleichbedeutend mit sozial erwünschtem Verhalten ist (vgl. Ungar 2011) oder dass Schädigungen in Kauf genommen werden, wenn dadurch subjektiv Schlimmeres verhindert wird. 

Gewalt ist eine soziale Struktur, die zumindest latent immer vorhanden ist. Niemand ist immun (Garbarino 1999: 2), deshalb muss sich jede Person zur eigenen

Verletzungsoffenheit

ins

Verhältnis

setzen.

Von

daher

ist

Gewaltverhalten wie auch Gewaltresilienz keine personale Eigenschaft, sondern ein soziales Vermögen, dessen Einsatz von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängt, situativ wie prozesshaft sein kann. Gewaltresilienz kann aber nur angesichts gewalthaltiger Umstände („Gewaltbelastung“) ausgeprägt werden. Dazu zähle ich neben Familiengewalt beispielsweise auch Mobbing und strukturelle Gewalt. 

Gewalt stellt eine Möglichkeit dar, Männlichkeit zu inszenieren

bzw. „zu tun“

(Meuser 2002; Messerschmidt 2004). In den ernsten Spielen des Wettbewerbs, die oft gewalthaltig sind,

wird der männliche Habitus trainiert und vollendet 3

(Bourdieu 1997a: 203). Es ist fraglich, ob dann ein „not doing violence“ gleichzusetzen ist mit einem „not doing masculinity“. Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage, ob die Jugendlichen auf Männlichkeitskonstruktionen und – beweise verzichten können oder ob sie alternative Handlungsvarianten finden (müssen), um Männlichkeit zu tun.

Um den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewaltresilienz näher zu bestimmen, stelle ich folgende Fragen an die Interviews:

Wie wird gewaltfreies Verhalten bzw. ein kompetenter Umgang mit Gewalt konstruiert? -

Welche Verletzungen, Belastungen, Risiken werden wie thematisiert? Welche Gefühle treten zutage?

-

Auf welche Ressourcen wird wie Bezug genommen (Personen, Orte, Tätigkeiten, etc.)?

-

(Wie) Findet eine Positionierung hinsichtlich Täter-Opfer-Konstellationen statt?

-

Welche Bezüge werden in der Beschreibung von Gewaltfreiheit oder gewaltresilienten Prozessen thematisiert?

Wie wird in den Aussagen Männlichkeit konstruiert? -

Auf welche männlichkeitsbezogenen Attribute wird wie Bezug genommen (Körper, Orte, Tätigkeiten, etc.)? Wie werden Geschlechterunterschiede konstruiert?

-

Erscheinen (widersprüchliche) Konfigurationen aus männlichkeitsbezogenen und anderen zugehörigkeitsrelevanten Anforderungen und Zuschreibungen?

Wie hängen Gewaltresilienz und Männlichkeit zusammen?

4. Fallanalyse Ronny Ich stelle hier exemplarisch den Fall „Ronny“ vor, in dem ich einerseits die Interviewaussagen anhand der obigen Fragen sortiert habe und paraphrasierend bzw. der Anschaulichkeit und Transparenz halber auch zitierend wiedergebe.1 Ich habe diesen Jugendlichen ausgewählt, weil er sich auf unterschiedliche Weise zu verschiedenen gewalttätigen Umständen in Beziehung setzen muss und seine

1

In der Dissertation wird es aber darum gehen, fallunabhängig bestimmte Typiken bzw. „Modi der Gewaltbewältigung“ herauszuarbeiten.

4

Gewaltablehnung zwar deutlich zu Tage tritt, aber durchaus als ambivalent zu betrachten ist. Damit steht er exemplarisch für viele Jungen seines Alters.

Ronny ist 15 Jahre alt, weiß, deutsch und lebt in einer westdeutschen mittelgroßen Stadt, zusammen mit seinen Eltern und einer jüngeren Schwester. Beide Eltern sind berufstätig, die Mutter übernimmt den größten Teil der Hausarbeit. Aufgrund schlechter Noten wechselt Ronny nach der achten Klasse vom Gymnasium auf die Realschule. Er hat trotz einiger Streits ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, während das zu seinem Vater als ziemlich schlecht von ihm beschrieben wird. Ronny hat eine heterosexuelle Fernbeziehung, die ein wichtiger Teil seines Lebens ist.

4.1 Gewaltfreies Verhalten und Umgang mit Gewalt Belastungen und Gefühle Beim Anfertigen einer Netzwerkkarte ist auffällig, dass Ronny seinen Vater nicht in den Bereich „Familie“ einträgt. Auf Nachfrage thematisiert er, dass sie keine „vernünftigen Gespräche“ [117] mehr führen können und sich „eigentlich gegenseitig egal sind“ [118]. Auf eine biografische Erzählaufforderung folgt vor allem eine Schilderung

der

Beziehung

zu

seinen

Eltern,

wobei

er

mangelnde

Familienorientierung und wenig Interesse bei seinem Vater beklagt („Der war eher immer abwesend. Der hat sich nie so viel gekümmert.“ [220]). Ronny beschreibt seinen Vater als sehr jähzornig, sehr aggressiv, oft schlecht gelaunt, uninteressiert an allem außer Computerspielen (Online-Rollenspiele mit Team-Speak). In Ronnys Äußerungen lassen sich Enttäuschungen und auch Kränkungsgefühle vermuten. Er geriert sich als unempfindlich gegen das abweisende Verhalten des Vaters, es wird aber durch Relativierungen deutlich, dass ihm dies sehr wohl zu schaffen macht. So antwortet er beispielsweise auf die Frage, ob seine Eltern genügend Zeit für ihn haben: „Ja, mein Vater eben nicht. Aber das ist mir auch egal. Eigentlich.“ Ein weiteres Gefühl – Verlustangst – kommt hinzu, wenn Ronny beschreibt, dass sein Vater eine Affäre mit einer Person aus dem Computer-Chat hatte. Es besteht bei Ronny Unsicherheit über den Fortbestand der Ehe seiner Eltern. Ronny beschreibt eine Situation, wo deutlich wird, dass sein Vater nicht nur nicht zu ihm hält, sondern ihn kritisiert und behauptet, Ronny habe überhaupt keine Ahnung vom Leben [756-757]. Danach eskaliert der Streit in ein Anschreien. Diese Situation steht exemplarisch für andere Situationen, in denen Ronny eine Beschämung erfährt, 5

die er bewältigen muss: „ich fühle mich natürlich ziemlich scheiße. Aber ich fühle mich in dem Moment auch ziemlich gereizt und will mich natürlich rechtfertigen und verteidigen.“ [766-767]. Auf dem Gymnasium wurde Ronny sehr viel geärgert, er begründet das damit, dass er versucht habe zurück zu ärgern und dabei aggressiv geworden sei [1021-1024]. Hier kommt es auch zu einer Situation, wo er selber körperliche Gewalt gegen einen Mitschüler anwendet. Er beschreibt dies zwar als „nix Ernstes“ [1060], bemerkt aber, das er wusste, dass sein Handeln ein Fehler war und es bereut. Die Begründung dafür ist, dass es ihm anschließend nicht besser ging und vernünftiges Reden die bessere Wahl gewesen wäre. Er schätzt die Situation gleichzeitig aber auch so ein, dass Reden mit der anderen Partei kaum möglich gewesen wäre. Stattdessen wird deutlich, dass er sich darüber ärgert, dass er sich hat provozieren lassen [1078] und nicht entsprechend cool reagiert hat. Er konnte also weder in der aktuellen Situation noch danach einen „Lohn der Gewalt“ einstreichen.

Ressourcen Er beschreibt die Beziehung zu seiner Freundin als harmonisch und erfüllend, er kann sich vorstellen, mit Henrike den Rest seines Lebens zu verbringen – auch wenn das für die kurze Beziehungszeit komisch klänge. Ihr Vater wird als explizit unterstützend bei der Umsetzung der Berufswahl benannt – Ronny möchte denselben Beruf erlernen und dafür eine Fachschule finden. „Der mag mich sehr, und er hat mir auch schon angeboten, weil er hat den gleichen Beruf, den ich haben will. […] ja, und er wird mich da unterstützen, hat er schon gesagt.“ [588-596] Da gute Fachschulen in der Nähe des Wohnorts von Henrike sind, liegt es nahe, in das freie Stockwerk, wo auch Henrike schon wohnt, mit einzuziehen. Es gibt also für Ronny eine klare Zukunftsperspektive. Seine Mutter wird ebenfalls als Unterstützung thematisiert, an einigen Stellen auch in Abgrenzung vom Vater: „[…] wenn ich eben Streit mit meinem Vater habe, hält sie eigentlich auch oft zu mir, weil sie nun mal weiß, wie er ist.“ [648-649]. Dieses Wissen lässt die Mutter zu Ronnys Verbündeter werden. In Kombination mit anderen Textstellen ist hier auch von einer gewissen geteilten „Leiderprobtheit“ auszugehen. Wenn es Ronny schlecht geht, sieht er sich im Fernsehen eine Comedyshow an, die ihn zum Lachen bringt oder er spricht mit seiner Freundin darüber. Auf die Frage, was er bei Hilflosigkeit unternimmt, die von anderen interviewten Jungen mit 6

Unverständnis oder dem Kommentar, noch nie hilflos gewesen zu sein („Hab ich so noch nie gehabt“, Barney [606]) beantwortet wird, bezieht er sich auf seine Freunde, die Hilflosigkeit vermeiden helfen: „Und, ja, Hilflosigkeit, versuche ich natürlich, öfter nicht hilflos zu sein. Sondern ich hab eigentlich immer gute Freunde, die mir helfen.“ [985-986] Ronny wird gefragt, was ihm hilft, nicht ganz so aggressiv zu sein wie sein Vater: Er benennt joggen als Technik, die ihm hilft, nach den Streits mit seinem Vater „den Kopf

freizukriegen“.

Rationalität

und

Willensstärke

bilden

hier

einen

orientierungsgebenden Rahmen, aber auch ein Zukunftsszenario, das es zu verhindern gilt: „ja, was mir hilft, eben nicht so zu werden wie er, ist ganz einfach, dass ich nicht so werden will wie er. Das will ich einfach nicht. Ich will später, wenn ich vielleicht auch Kinder haben sollte, das nicht von meinem Kind so zu hören kriegen.“[1255-1258]. Auf die Frage, ob es Dinge gibt, die Ronny gerne machen würde, aber nicht machen darf, sagt er:“ Ich würde gerne mal in einen Boxverein eintreten, boxen. Aber meine Mutter hat da ganz klar was dagegen, weil sie denkt, ich werde dann zum richtigen Schläger. Ja.“ [407-408]. Am Ende des Interviews erwähnt er ein Training für besonders gewalttätige Schüler, „die mit ihrer Gewalt nicht umgehen können“, das einerseits aus Reden und andererseits aus Boxen besteht, um die Wut loszuwerden. Anhand eines unvollendeten Satzes lässt sich vermuten, dass dies auch für ihn selbst attraktiv erscheint: „…das fand ich sehr gut, und das hätte ich… also, würde ich, wenn ich zum Beispiel Schulleiter oder so wäre, würde ich das auch einrichten“ [1239-1241; Hervorh. M.B.]. Diese Äußerung kann dafür sprechen, dass Ronny sich Unterstützung von außen wünscht, um einen anderen Umgang mit seiner Aggression zu finden, die ihm selbst unheimlich, zumindest aber unangenehm ist

Positionierung Täter-Opfer Ronny sieht sich vor allen Dingen als Opfer von Provokationen, da es ihm nicht gelingt, nicht darauf einzugehen bzw. seine Aggressionen unter Kontrolle zu halten. Er geht davon aus, dass er wegen des erlebten Mobbings auf dem Gymnasium ein bisschen Selbstvertrauen eingebüßt hat. Im Interview sind keine Impulse festzustellen, seine Täterschaft bzw. seinen Gewaltgebrauch zu verschleiern. Er präferiert zwar grundsätzlich „vernünftig Reden“ in Konflikten, analysiert die jeweiligen Situationen aber auch so, dass Reden mitunter keine realistische Option 7

gewesen wäre. Ronnys erachtet Gewalt zur Verteidigung als die einzig legitime Form der Gewalt. Er macht ein Dilemma deutlich zwischen der Unmöglichkeit, solchen Situationen zu entgehen und der Sinnlosigkeit, die damit verbunden ist: „Wenn ich mich schlage, dann bereue ich das eigentlich schon, weil es bringt einem eigentlich nichts“ [1143-1144]. Ihm ist die eigene Täterschaft zuwider und es gibt keine „Gewaltgewinne“, die er einstreichen kann, z.B. in Form eines guten Gefühls: „Ich fühle mich dann dabei nicht toll, sondern hätte am liebsten anders gehandelt, weil ich einfach auch keinem einfach eigentlich so wehtun will.“ [1146-1147]. Es ist zu überlegen, ob ein Begriff der „Wehrhaftigkeit“ sinnvoll ist, um zu beschreiben, wenn Gewalt zum eigenen Schutz gebraucht wird.

Thematisierung von Gewaltfreiheit/gewaltresilienten Prozessen Ronny beschreibt anhand einer Situation, dass es momentan den Versuch gibt, wenn sein Vater und er sich streiten, dieses auf einer „normalen Ebene“ zu halten, das heißt nicht rumzuschreien und auch nicht zu rangeln. Anlass des Streits waren Vorwürfe an den Vater, dass er nicht mehr zuhört und keine vernünftigen Antworten geben könne, woraufhin der Vater sich angegriffen gefühlt habe. Sie haben zwar auch geschrieen, aber danach sei ein vernünftiges Reden möglich gewesen [11521158]. Hier wird deutlich, dass Ronny die Beziehung zu seinem Vater keineswegs aufgegeben hat, sondern sich mitten in der Auseinandersetzung um eine angemessene Vater-Sohn-Beziehung befindet.

4.2 Männlichkeit Männlichkeitsbezogene Attribute Ronny thematisiert an einigen Stellen Geschlechterunterschiede, z.B. findet er das Schlagen von Frauen für Männer illegitim [795] oder er beschreibt im Rückgriff auf Wissen aus der Schule körperliche Verhaltensweisen wie Sitzen oder Gehen, bei denen sich Männer und Frauen unterscheiden [883-884]. Während die Disko sehr wohl in Raum ist, in dem Jungen tanzen, kommt Balletttanzen für ihn nicht in Frage als etwas, das Jungen nicht tun. Er verwehrt sich aber beispielsweise dagegen zu sagen, dass Jungen per se stärker sind als Mädchen. Nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Gewalt befragt, gibt er dann auch an, dass Männer wie Frauen zuschlagen, mit dem Unterschied, dass Männer sich eher überlegen fühlen, weniger

8

darüber reden, sondern gleich handeln [940-947]. Frauen, „die gerne mal drauflos hauen“, benennt er als „Zicken“.

Männlichkeitsbezogene Anforderungen und Zuschreibungen Als offenbar wird, dass sein Vater in einem Chat eine Affäre hatte, werden einige an Männlichkeit geknüpfte Orientierungen sichtbar. Er selber scheint als einziger in der Lage zu sein, eine realistische Einschätzung der Situation abzugeben (“…meine Mutter wollte das irgendwie nicht wahrhaben.“ [716]). Es sagt, dass er sich „natürlich“ mit seinem Vater gestritten habe [717], seine Einmischung stellt er als zwangsläufig dar. Seine Schwester, die mit dem Vater besser klar kommt, taucht in der Erzählung nicht auf. Der Gedanke daran, dass sein Vater mit einer anderen Frau eine intime Beziehung unterhält, erscheint ihm auch über das Ende der Affäre hinaus unangenehm zu sein. Dies scheint weder seiner Erwartung an seinen Vater noch seiner Erwartung an einen Ehemann zu entsprechen, hier kommt also potenziell eine männlichkeitsbezogene Wertung zum Ausdruck. Diese Wertung orientiert sich an traditionellen Familienvorstellungen (monogam, verlässlich, ehrlich). Die Mutter schlägt dann Ronny den Auszug vor, was Ronny begrüßt, doch dafür kommt aufgrund seiner Minderjährigkeit nur ein Heim infrage: „Aber ich hätte entweder ins Heim gehen sollen, oder… ja. Woanders ging’s ja nicht. Weil ich bin ja noch keine 18, und da habe ich mir gedacht, na, ich kann meine Mutter da auch nicht alleine lassen. Weil sie ist mir schon wichtig.“ [720-724]. Die Erzählung ist so aufgebaut, dass zuerst klar wird, dass Ronny aus rechtlichen Gründen nur in ein Heim gehen kann, das „gehen soll“ verweist darauf, dass es eventuell erwünscht ist (von seinem Vater?). Dann wird die Legitimation für sein dableiben nachgeschoben: die

Verbundenheit

mit

der

Mutter

und

ihre

Bedeutung

für

Ronny.

Ein

Männlichkeitsbezug kann angenommen werden, wenn der Beistand des Sohnes als Beschützermännlichkeit gelesen wird. Eventuell kann hier auch Konkurrenz eine Rolle spielen, dem Vater nicht das heimische Feld alleine überlassen zu wollen. Zugleich kann der Unwille, in ein Heim zu gehen (z.B. aus klassenbezogenen Gründen oder aus Angst vor dem Unbekannten), hier als mit der Fürsorge für die Mutter überdeckt gesehen werden.

9

4.3 Zusammenhänge von Männlichkeit und Gewaltresilienz In einer Situation kommt es zur körperlichen Auseinandersetzung zwischen Ronny und seinem Vater: „Es ging da irgendwie darum, ich hatte auch ein bisschen Streit mit meiner Mutter. Und dann… mein Vater mischt sich immer gerne ein und meint dann irgendwie, den Großen markieren zu müssen. Und ich wollte die Treppe hochgehen, und dann stand er am Ende der Treppe und hat gesagt: Nein, du kommst hier jetzt nicht vorbei. Und hat dann eben so demonstriert, dass ich nur so ein Kleiner wäre […]. Und dann haben wir uns da eben gerangelt, und dann… ja, gegen Schränke und so geschubst. Aber schlagen nie. Schlagen nicht.“ [775-783] Mit dem „Aber schlagen nie.“ wird eine konsensuale Grenze thematisiert, die den Rahmen dieses „Streits“ zu bilden scheint, mit der ernsthafte Verletzungen ausgeschlossen werden sollen. Es ist also zu fragen, ob sich hier ein reziprokes, „ernstes Spiel“ zwischen Vater und Sohn abspielt, bei dem der Streit mit der Mutter den Hintergrund bildet und Männlichkeit verhandelt wird. Der Bezug auf „groß“ und „klein“ lässt darauf schließen, dass hier von Ronny auch das Erwachsenwerden verhandelt wird, also die Intersektion von Alter und Geschlecht eine Rolle spielt: Ronny kämpft um die Anerkennung als Sohn, der erwachsen wird. Dabei muss auch die väterliche Autorität als umkämpft verstanden werden, ihre Stunden sind möglicherweise gezählt. Trotz des Spielcharakters dieses Beispiels darf nicht vergessen werden, dass Ronny sich durch fehlendes Interesse und Wertschätzung seines

Vaters

permanenten

Beschämungs-

und

Enttäuschungsmöglichkeiten

ausgesetzt fühlt. Er ist zu fragen, ob er sich in der oben angegebenen Situation „friedfertiger“ hätte verhalten können – oder ob nicht das gewählte Verhalten, in dem er auf die Provokation seines Vaters eingeht, anstatt z.B. davon zu laufen, für ihn zuträglicher ist, weil er einerseits so mit seinem Vater in Kontakt bleibt und auch sein Gesicht als „Sparringpartner in der Männlichkeitsarena“ zu wahren weiß. Das würde bedeuten, dass er nicht nur gewaltkompetent, sondern auch männlichkeitskompetent handelt.

10

Literatur: Bourdieu, Pierre (1997a): Die männliche Herrschaft, in: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hrsg.) (1997): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M.: 153-217. Busche, Mart/Scambor, Elli (2011): Qualitativer Teil, in: Stamina Research Group (Hg.): Stamina Abschlussbericht (unveröff. Bericht, englische Version unter www.stamina-project.eu/files/STAMINA_Research_Report_final.pdf) Bottrell, Dorothy (2009): Understanding 'Marginal' Perspectives: Towards a Social Theory of Resilience. Qualitative Social Work 8 (3), 321 – 339. Chong, Vincent (2008): Negotiating With Agency: Towards an Intersectional Understanding of Violence and Resilience in Young Southeast Asian Men, ISSC WORKING PAPER SERIES 2007-2008.29, UC Berkeley – UC San Francisco Garbarino, James (1999): Lost boys. New York. Leadbeater, Bonnie/Dodgen, Dan/Solarz, Andrea (2005): The resilience revolution: A paradigmatic shift for research and polics, in: Peters et al. (Hg.): Resileince in children, families and communities: Linking context to practice and policy, New York, 47-63. Meuser, Michael (2002): “Doing Masculinity”. Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns,

in:

Dackweiler,

Regina-Maria/Schäfer,

Reinhild

(Hg.):

Gewalt-Verhältnisse”, Frankfurt a.M./New York, 53-78. Messerschmidt, James W. (2004): Flesh and Blood: Adolescent Gender Diversity and Violence. Lanham. Ungar, Michael (2011): Kontextuelle und kulturelle Aspekte von Resilienz – Jugendhilfe mit menschlichem Antlitz. In: Zander, Margherita (Hg.): Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden, 133-156.

11