Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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Forschungsstelle Osteuropa Bremen Arbeitspapiere und Materialien

Nr. 86 – November 2007

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

Herausgegeben von Heiko Pleines

Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Klagenfurter Straße 3, D-28359 Bremen Tel. +49 421 218-3687, Fax +49 421 218-3269 http://www.forschungsstelle-osteuropa.de

Arbeitspapiere und Materialien – Forschungsstelle Osteuropa, Bremen Nr. 86: Heiko Pleines (Hg.): Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007 November 2007 ISSN: 1616-7384 Das vorliegende Arbeitspapier basiert auf Beiträgen zu den Ukraine-Analysen. Die Ukraine-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde mit Unterstützung der Otto Wolff-Stiftung herausgegeben.

Technische Redaktion: Matthias Neumann Umschlag nach einem Kunstwerk von Nicholas Bodde

Die Meinungen, die in den von der Forschungsstelle Osteuropa herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder.

Abdruck und sonstige publizistische Nutzung – auch auszugsweise – nur mit vorheriger Zustimmung der Forschungsstelle sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet.

© 2007 by Forschungsstelle Osteuropa, Bremen Forschungsstelle Osteuropa Publikationsreferat Klagenfurter Str. 3 D-28359 Bremen Tel.: +49 421 218-3687 Fax: +49 421 218-3269 e-mail: [email protected] internet: http://www.forschungsstelle-osteuropa.de

Inhaltsverzeichnis

Die politische Krise im Frühjahr 2007 Heiko Pleines

Der politische Machtkampf in der Ukraine (März 2007) ................................................. 7 Heiko Pleines

Der Konflikt um die Parlamentsauflösung (April 2007) ................................................. 12 Ingmar Bredies

»Staatszerfall« in der Ukraine? Ursachen und Konsequenzen der gegenwärtigen Krise ................................................................................................. 12 Iris Kempe

Noch kein Licht am Ende des Tunnels. Ist die Transformation in der Ukraine gescheitert? ......................................................................................................................14 Rainer Lindner

Krise der Außenpolitik und Vermittlungsbedarf für die EU .......................................... 15 Gerhard Mangott

Oranges Pharisäertum......................................................................................................17 Alexander Rahr

Zurück zur Präsidialrepublik?..........................................................................................18 Dieter Segert

Rechtsnihilismus und Entfremdung der politischen Klasse von der Gesellschaft als Quelle politischer Turbulenzen ....................................................................................... 19 Gerhard Simon

Kampf um die Macht oder die Demokratie in der Ukraine? ...........................................21 Meinungsumfragen zu Wahlen und politischer Stimmung ............................................ 22 Nico Lange

Krisenbewältigung auf ukrainisch: Einigung ohne Kompromiss? (Mai 2007) .............. 26 Heiko Pleines

Die Einigung auf Neuwahlen im September (Juni 2007) ............................................... 30 Heiko Pleines

Das ukrainische Verfassungsgericht ............................................................................... 32

Der Wahlkampf im Sommer 2007 Die politische Stimmung zum Beginn des Wahlkampfs ................................................ 39 Yuliya Yurchuk

Der Wahlkampf läuft auf vollen Touren ..........................................................................41 Die Wahlprogramme der drei großen Parteien ............................................................... 44 Halyna Kokhan, Kiew

Wahlprognosen................................................................................................................ 50 Das Wahlergebnis im politischen Kontext Das Wahlergebnis ........................................................................................................... 54 Heiko Pleines

Ein Sieg für die Demokratie – hoffentlich mal wieder (Oktober 2007) .......................... 57 Stefanie Harter

Verdienen ukrainische Eliten ein solches Wahlvolk?...................................................... 59 Rainer Lindner

Zentrale Trends der politischen Entwicklung ................................................................. 60 Dieter Segert

Stabiles Parteiensystem, stabile Demokratie? .................................................................61 Gerhard Simon

Die Demokratie siegt – die Unsicherheit über die Zukunft bleibt ................................. 62 Andreas Umland

Im Zickzack gen Europa: Zur Rolle der jüngsten Wahlen in der Nationalstaatsbildung und Demokratisierung der Ukraine ................................................................................ 64

Aktuelle Publikationen der Forschungsstelle Osteuropa ................................................ 68 Kostenlose E-Mail-Dienste der Forschungsstelle Osteuropa .......................................... 70

Die politische Krise im Frühjahr 2007

Der politische Machtkampf in der Ukraine (März 2007) Heiko Pleines, Forschungsstelle Osteuropa, Bremen

Einleitung Mit Hilfe der Orangen Revolution setzte sich Viktor Juschtschenko, unterstützt von Julia Timoschenko und Alexander Moros, in der Präsidentschaftswahl Ende 2004 gegen Viktor Janukowitsch durch. Als Preis hierfür akzeptierte er eine Verfassungsreform, die eine erhebliche Verlagerung politischer Kompetenzen vom Präsidenten zum Parlament, d.h. konkret zu einer Regierungskoalition, vornahm. Im Frühjahr 2006 gewann die Partei der Regionen von Viktor Janukowitsch die Parlamentswahlen, erreichte jedoch keine absolute Mehrheit. Da die drei Kräfte des orangen Lagers sich nicht auf die Bildung einer Regierungskoalition einigen konnten, gelang Janukowitsch im Spätsommer ein Comeback. Unter Einbeziehung der Sozialisten von Moros und der Kommunisten bildete er eine funktionsfähige Regierung. Seitdem befinden sich Präsident und Regierungskoalition in einem zunehmend eskalierenden Machtkampf.

Akteure Viktor Janukowitsch nutzt die durch die Verfassungsreform gewonnenen Kompetenzen aggressiv, um den Präsidenten aus der Politikgestaltung auszuschließen. Dabei versucht er, die dem Präsidenten formal noch verbliebenen Kompetenzen zu unterlaufen oder formal abzuschwächen. Janukowitsch kann dabei auf die Unterstützung seiner Koalitionspartner und damit auch der Parlamentsmehrheit setzen. Sowohl die Kommunisten als auch die Sozialisten, die sich bei ihren Wählern durch ihren rasanten Kurswechsel im Laufe der Koalitionsverhandlungen diskreditiert haben, würden bei Neuwahlen wohl nicht mehr ins Parlament einziehen. Ihre politische Existenz ist dementsprechend eng mit dem Erfolg der Regierungskoalition verknüpft. Die Partei der Regionen hingegen würde Umfragen zufolge bei Neuwahlen noch besser abschneiden als im März 2006 und unter Umständen sogar eine absolute Mehrheit gewinnen. Viktor Juschtschenko, dessen Partei Unsere Ukraine, der große Verlierer der Parlamentswahl war und sich seitdem in einer Krise befindet, hat nach dem Scheitern der orangen Regierungskoalition zuerst versucht, mit Janukowitsch zu kooperieren. Gemeinsam wurde eine Erklärung der nationalen Einheit unterschrieben und Unsere Ukraine entsandte zusätzlich zu den zwei von Juschtschenko direkt ernannten Ministern fünf weitere Minister in die Regierung und nahm Koalitionsverhandlungen auf. Die Regierungskoalition war jedoch auf Unsere Ukraine in keiner Weise angewiesen und hatte deshalb auch keinen Grund, die abweichende Politik der von Unsere Ukraine gestellten Minister mitzutragen. Gleichzeitig hat Unsere Ukraine noch weiter die Gunst der Wähler verloren, so dass Neuwahlen für die Partei in einem Debakel enden könnten. Juschtschenko hat deshalb im Parlament keinen direkten Einfluss mehr und kann nur seine Kompetenzen als Präsident einsetzen, um sich gegen Janukowitsch in der Politikgestaltung zu behaupten. Julia Timoschenko hat durch den Seitenwechsel der Sozialisten und die Krise von Unsere Ukraine die Chance erhalten, sich als einzige Oppositionskraft zu profilieren. Neuwahlen würden die Partei der Regionen und der Block Timoschenko unter sich ausmachen. Timoschenko muss sich also einerseits als »einzige echte Opposition« klar gegen die Regierungskoalition positionieren. Andererseits darf sie Juschtschenko auch nicht zu direkt unterstützen, um innerhalb des Oppositionslagers nicht erneut einen Konkurrenten zu erhalten. Gleichzeitig scheint Timoschenko beschlossen zu haben, den aktuellen Machtkampf abzuwarten, um anschließend als lachende Dritte die nächsten (oder auch übernächsten) Wahlen zu gewinnen. Mit der Perspektive, in absehbarer Zeit selber Ministerpräsidentin zu werden, gibt es im übrigen für Timoschenko auch keinen inhaltlichen Grund, Präsident Juschtschenko bei der Stärkung seiner Position zu helfen. Die zentrale Herausforderung für Timoschenko besteht dementsprechend darin, bis zu den nächsten Wahlen ihre Partei zusammen- und ihre Popularität hochzuhalten. Um ihre Partei, die de iure ein Wahlblock aus vielen unterschiedlichen Parteien ist, zusammenzuhalten, muss sie führenden Parteimitgliedern Posten anbieten können und parteiintern Druck ausüben können. Dementsprechend versucht sie, die Zahl der an die Par-

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lamentsopposition vergebenen Posten zu vergrößern und setzt sich für Regelungen ein, die Abgeordnete stärker an ihre Fraktion binden. Um diese Änderungen zu erreichen, muss sie mit der Regierungskoalition verhandeln. Um ihre Popularität hochzuhalten, muss sie gleichzeitig in der Öffentlichkeit präsent sein, um nicht durch den Konflikt zwischen Regierungskoalition und Präsident marginalisiert zu werden.

Der Austritt von Unsere Ukraine aus der Regierung Der erste große Konflikt zwischen Regierungskoalition und Präsident eskalierte bereits gut einen Monat nach der konsensualen Regierungsbildung. Bei seinem offiziellen Besuch im NATO Hauptquartier in Brüssel erklärte Ministerpräsident Janukowitsch am 14. September 2006, dass die Ambitionen seines Landes, noch 2006 dem NATO Aktionsplan beizutreten, verfrüht seien. Der Aktionsplan gilt allgemein als Vorstufe der Mitgliedschaft. Die Erklärung von Janukowitsch löste in der Ukraine eine heftige politische Debatte aus. Außenminister Boris Tarasjuk erklärte öffentlich, dass Janukowitsch nicht die Kompetenz besäße, außenpolitische Aussagen für die Ukraine zu formulieren. Er wurde dabei von Verteidigungsminister Anatoli Hryzenko unterstützt. Der Konflikt zeigte klar, dass Ministerpräsident Janukowitsch nicht gewillt war, inhaltliche Zugeständnisse an die Regierungspartner von Unsere Ukraine zu machen. Mit mehrfachen Ankündigungen und vielfachen Aufrufen zu neuen Verhandlungen rangen sich die fünf von Unsere Ukraine direkt in die Regierung entsandten Minister deshalb schließlich im Oktober zum Rücktritt durch. Innenminister Juri Luzenko zog sein Rücktrittsgesuch jedoch auf Bitten von Präsident Juschtschenko wieder zurück. Die Generalstaatsanwaltschaft begann daraufhin Ermittlungen gegen Luzenko wegen belangloser Dienstvergehen, die später vor Gericht zu einer symbolischen Geldstrafe führten, die aber als Korruptionsvorwürfe an die Massenmedien gegeben wurden. Das Parlament setzte hierzu medienwirksam einen Untersuchungsausschuss ein und stimmte am 1.12.2006 für die Entlassung Luzenkos. Damit werden in der Regierung nur noch Außen- und Verteidigungsminister nicht von der Regierungskoalition gestellt.

Konfliktfeld Außenpolitik Da Außen- und Verteidigungsminister vom Präsidenten ernannt werden, können sie eine unabhängige Linie verfolgen. Trotzdem gelang es der Regierungskoalition, sie zunehmend unter Druck zu setzen. Mit der Mehrheit der Regierungskoalition forderte das Parlament die beiden Minister auf, zum 15.11. einen Tätigkeitsbericht zu präsentieren. Bei der Präsentation der Berichte konnte sich das Parlament jedoch nicht auf eine Stellungnahme einigen. Am 29.11. eskalierte der Konflikt zwischen Janukowitsch und Tarasjuk dann erneut, als der Ministerpräsident in einer im Fernsehen übertragenen Regierungssitzung ein offizielles Schreiben des Außenministeriums verlas, das ihn informierte, dass seine USA-Reise auf unbestimmte Zeit verschoben werden müsse, da er nicht um die Zustimmung des Präsidenten für eine Regierungsverordnung zu den Zielen der Reise nachgesucht habe. In der Sitzung unterzeichnete Janukowitsch die Regierungsverordnung, die anschließend vom Präsidenten genehmigt wurde. Janukowitsch erklärte, dass er seine Vorbehalte gegen den Außenminister schriftlich an das Parlament geben werde. Am 1.12. stimmte das Parlament dann mit den Stimmen der Regierungskoalition für die Entlassung von Außenminister Boris Tarasjuk. Präsident Juschtschenko erklärte jedoch, dass er die Entlassung nicht akzeptiere und Tarasjuk im Amt verbleiben solle. Tarasjuk wurde im Folgenden am Zugang zu Regierungssitzungen gehindert. Den Besuch Tarasjuks in der Tschechischen Republik am 15.1.2007 bezeichnete die Regierung als »nicht autorisiert«. Ministerpräsident Viktor Janukowitsch forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, Maßnahmen gegen Tarasjuk zu ergreifen. Das Außenministerium erklärte hingegen, dass die Reise Tarasjuks mit dem Präsidenten abgesprochen sei. Wie zur Bestätigung seiner Richtlinienkompetenz in der Außenpolitik entließ Präsident Juschtschenko eine Woche später den ukrainischen Botschafter in Österreich, da dieser auf Einladung des Transportministers Mikola Rudkowskis Visa an zwei turkmenische Oppositionsführer vergeben hatte. Juschtschenko forderte die Entlassung Rudkowskis, da dieser sich unbefugt in die ukrainische Außenpolitik eingemischt habe. Am 30.1. trat Tarasjuk sichtlich genervt von seinem Amt zurück. Juschtschenko schlug daraufhin seinen Stellvertreter, Wolodimir Ohrisko, als Nachfolger vor. Dieser wurde jedoch am 22.2. nach Tumulten im Sitzungssaal vom Parlament abgelehnt. Um die Ernennung des neuen Außenministers entsteht damit vorerst eine Pattsituation.

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Konfliktfeld Verfassungsreform Das Patt um die Entlassung Tarasjuks zeigt, dass die Verfassungsreform, die im Zuge der Verhandlungen am Runden Tisch während der Orangen Revolution unter extremem Zeitdruck zustande kam, Lücken aufweist. Während sie die Kompetenz zur Ernennung der Außen- und Verteidigungsminister klar regelt, macht sie bezüglich deren Entlassung keine expliziten Aussagen. Auch in anderen Fällen bietet sie für ein Patt zwischen den politischen Akteuren keine eindeutige Lösung. Präsident Juschtschenko, der selber an der Vereinbarung zur Verfassungsreform beteiligt war, hat deshalb schon frühzeitig eine Annullierung der Reform gefordert. Hierzu müsste das Verfassungsgericht die Änderungen als verfassungswidrig einstufen. Das Parlament, das dadurch seine neu gewonnenen Kompetenzen verlieren würde, war deshalb mehrheitlich gegen eine Anrufung des Verfassungsgerichtes. Es blockierte lange Zeit die Ernennung der Verfassungsrichter, womit das Verfassungsgericht funktionsunfähig blieb. Zeitgleich zur letztendlichen Ernennung der Verfassungsrichter im August 2006 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das eine Überprüfung der Verfassungsreform 2004 durch das Verfassungsgericht untersagt. Da dieses Gesetz eindeutig verfassungswidrig ist, besteht formal weiter die Möglichkeit nach einer Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetz auch eine Überprüfung der Verfassungsreform durch das Verfassungsgericht zu erreichen. Zu welchem Urteil die Überprüfung kommen würde, ist aber offen. Dementsprechend haben sowohl Regierungskoalition als auch Präsident es bisher vorgezogen, mit Hilfe einer neuen Reform die verbliebenen Lücken zu schließen. Die Regierungskoalition entwarf hierzu einen Gesetzentwurf »Über die Regierung«, der alle strittigen Fragen zugunsten der Regierung entschied. Präsident Juschtschenko brachte seinen eigenen Gesetzentwurf in das Parlament ein. Da er gegen den Gesetzentwurf der Regierungskoalition sein Veto einlegen kann, scheint er auf einen Kompromiss über Verhandlungen gehoff t zu haben. Ende November rief er so zu Gesprächen am Runden Tisch auf. Da diese Idee aber keinen Anklang fand, legte er 86 Änderungsvorschläge zum Gesetzentwurf der Regierungskoalition vor und als das Parlament die Version der Regierungskoalition unverändert verabschiedete, legte er dann im Januar 2007 sein Veto ein. Hier gelang der Regierungskoalition nun ein wesentlicher Durchbruch, indem sie durch die Unterstützung des Blocks Timoschenko die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zur Überstimmung des Vetos erreichte. Als Präsident Juschtschenko sich trotzdem weigert, das Gesetz zu unterschreiben, leistet Parlamentspräsident Moros die Unterschrift, so dass das Gesetz formal in Kraft getreten ist. Präsident Juschtschenko erklärte Anfang Februar, vor das Verfassungsgericht gehen zu wollen, da sowohl Teile des Gesetzes über die Regierung als auch das Verfahren seiner Inkraftsetzung verfassungswidrig seien. Gut zwei Wochen später kündigte er dann an, eine Verfassungskommission einberufen zu wollen, die eine neue Verfassungsreform ausarbeiten solle. Über diese Reform solle dann in einem Referendum von der Bevölkerung abgestimmt werden. Da ein derartiges Referendum aber keine bindende Wirkung hat und das Parlament im Jahre 2000 bereits einmal ein Verfassungsreferendum ignoriert hat, besitzt Juschtschenko derzeit keine Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen über die Verfassungsreform durchzusetzen. Ob er die Reform der Regierungskoalition stoppen kann, hängt nun vom Verfassungsgericht ab.

Konfliktfeld Personalpolitik Auf der Suche nach Verbündeten und direktem Einfluss auf Politikgestaltung wurde die Personalpolitik ein zentrales Konfliktfeld zwischen Regierungskoalition und Präsident. Dabei geht es bei weitem nicht nur um Ministerposten in der Regierung. Bereits Ende September 2006 versuchte Ministerpräsident Janukowitsch Präsident Juschtschenko dazu zu bewegen, fünf Gouverneure, allesamt Mitglieder von Unsere Ukraine, zu entlassen. In Charkiw organisierten regionale Parlamentsabgeordnete der Partei der Regionen hierzu sogar einen Hungerstreik. Im November folgte der Konflikt um die Entlassung von Außenminister Tarasjuk und Innenminister Luzenko aus der Regierung, im Februar 2007 dann der Konflikt um die Ernennung des neuen Außenministers. Zwischenzeitlich gab es weitere Auseinandersetzungen, etwa um die Ernennung des Geheimdienstchefs oder die Entlassung des Botschafters in Österreich. Mitte Februar erklärte Justizminister Alexander Lawrinowitsch, dass die Regierung das Verfassungsgericht angerufen habe, da der Präsident trotz des für ihn verbindlichen Zwei-Drittel-Votums einiger kommunaler Parlamente die entsprechenden Bürgermeister nicht entlassen habe.

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Konfliktfeld Gesetzgebungskompetenz Ähnlich wie bei der Personalpolitik geht es auch bei der Gesetzgebungskompetenz beiden Seiten darum zu zeigen, dass sie am längeren Hebel sitzen. Bereits Ende September hatte sich die Regierung so geweigert, sieben Präsidialerlasse zu akzeptieren, da sie vor der Gegenzeichnung durch den Ministerpräsidenten und den zuständigen Minister bereits vom Präsidenten veröffentlicht worden seien, was der Verfassung widerspreche. Der Konflikt eskalierte dann im Dezember mit einer Flut von Vetos des Präsidenten gegen vom Parlament verabschiedete Gesetze. Juschtschenko legte sein Veto ein gegen das Gesetz über die Regierung, gegen den Staatshaushalt 2007, gegen das Privatisierungsprogramm, gegen ein Moratorium auf den Verkauf von Agrarland.

Von inhaltlicher Debatte zu Kompetenzgerangel Der Überblick über die Entwicklung des Machtkampfes zeigt deutlich, dass selbst in den Bereichen, wo es um klare inhaltliche Kontroversen geht, wie etwa in der Außenpolitik, der Konflikt zunehmend zu einem Kompetenzgerangel verkommt. Ging es im September 2006 noch um die Frage des NATO-Beitritts und im November zumindest formal um einen inhaltlichen Rechenschaftsbericht des Außenministers, so wird seitdem nur noch über die Kompetenzen zur Ernennung und Entlassung gestritten. Und die Vergabe von Visa an turkmenische Oppositionelle als Entlassungsgrund für einen Botschafter zu nehmen, ist für einen sich als Demokraten verstehenden Präsidenten auch nicht gerade eine Zierde. Dementsprechend ist der Machtkampf auch zunehmend von nicht sachbezogenen Kompromissen geprägt. Am 6.12. legte Präsident Juschtschenko sein Veto gegen den Staatshaushalt ein. Damit gefährdete er die Handlungsfähigkeit der Regierung ab Januar. Am 13.12. blockierte dann die Regierungskoalition die Entlassung des Geheimdienstchefs, den Juschtschenko anschließend zum Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates ernennen wollte. Am 22.12. stimmte das Parlament der Entlassung dann zu und der Präsident unterschrieb das nur unwesentlich veränderte Haushaltsgesetz am selben Tag.

Konsequenzen Der Machtkampf zwischen Regierungskoalition und Präsident hat seit September 2006 immer mehr Politikbereiche erfasst und gefährdet damit die politische Handlungsfähigkeit der Ukraine in zentralen Fragen. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Außenpolitik: Von August bis November hatte die Ukraine einen Außenminister, der erklärte, dass der Ministerpräsident für Außenpolitik nicht kompetent sei, von Dezember bis Januar hatte die Ukraine dann einen Außenminister, von dem die Regierung erklärte, er reise und spreche nur als Privatmann, und seitdem hat die Ukraine vorläufig gar keinen Außenminister mehr. Wie so die internationalen Beziehungen, sei es mit Russland, sei es mit der EU, gestaltet werden sollen, kann wohl keines der Lager beantworten. Auch entsteht zunehmend der Eindruck, dass sich Regierungskoalition und Präsident nicht mehr nur aus inhaltlichen Überzeugungen heraus blockieren, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchen, ein Druckmittel für weitere Verhandlungen zu finden. Die kleinen Kompromisse, wie etwa der vom 22.12., können zwar als pragmatischer Ausweg aus einzelnen Blockaden gelobt werden. De facto scheinen die Konfliktpartner aber solche Blockaden nur zu provozieren, um anschließend für ihre Auflösung Zugeständnisse erhalten zu können. Diese Haltung, die mit allen Mitteln politische Vorteile sichern will, offenbart sich auch immer wieder bei den Parlamentsabgeordneten, wenn Debatten von allen Fraktionen statt mit Worten mit Podiumsblockaden und Zerstörung der Abstimmungsanlage gestaltet werden. Dies scheint auch die Wahrnehmung der Mehrheit der Bevölkerung zu sein. Während die Orange Revolution noch politisierte und mobilisierte, produziert der aktuelle Machtkampf nur Politikverdrossenheit. Das Problem von Unsere Ukraine ist dabei, dass ihre Wähler einen höheren Anspruch an die Moral ihrer Politiker zu haben scheinen, und sich deshalb schneller abwenden. Ob Timoschenko es schaff t, die moralischen Erwartungen ihrer Wähler nicht zu enttäuschen, bleibt abzuwarten. Gegenüber ihren orangen Weggefährten Moros und Juschtschenko ist sie derzeit zumindest eindeutig in der besseren Position.

Perspektiven Für viele ukrainische wie westliche Beobachter, die sich von der Begeisterung der Orangen Revolution mitreißen ließen, ist die aktuelle Entwicklung eine schwere Enttäuschung. Sie scheint zu belegen, dass die Ukraine die Schatten der Vergangenheit weder personell noch ideologisch überwinden kann, dass sie auf weiteres in ihrer

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post-sowjetischen Mentalität gefangen bleibt. Hier droht jedoch die allzu große Euphorie in allzu große Enttäuschung umzuschlagen. Revolutionen mögen über Nacht gemacht werden, Demokratien werden aber nicht an einem Tag geschaffen. Der Politikwissenschaftler Henry Hale hat so argumentiert, dass es gerade der resultierende Machtkampf ist, der der orangen als einziger unter allen bunten Revolutionen in der GUS Chancen auf einen nachhaltigen Demokratisierungseffekt gäbe. Aus seiner Sicht waren die bunten Revolutionen Folge einer Schwäche des jeweiligen Präsidenten, die von einer Gegenelite mit Unterstützung von Massenprotesten genutzt wurden, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Ohne Verfassungsänderung gab es aber damit wieder einen allmächtigen Präsidenten, der – vielleicht durchaus mit den besten Absichten – der Versuchung der Macht erlag und immer mehr Kompetenzen an sich riss. In einer breiteren historischen Perspektive betont auch der Bremer Sozialwissenschaftler Dieter Senghaas die Bedeutung politischer Konfliktkonstellationen für die Entwicklung von Demokratie. Er schreibt: »Die wirklich interessanten konstitutionellen Innovationen in der westlichen Verfassungsgeschichte resultierten aus einer machtpolitischen Patt-Situation. Betrachten wir, wiederum beispielhaft, die Geschichte der Rechtsstaatlichkeit, der rule of law, und greifen wir ein frühes Beispiel heraus, die Magna Charta von 1215.« »Sie enthält die weitreichenden, langfristig bedeutsamen Artikel, die dem Schutz des Individuums (zunächst der Barone!) vor der Willkür des Staates und einem rechtmäßigen Gerichtsverfahren, dem due process of law, dienen. Das alles – eine politische Vereinbarung – kam wider Willen zustande, keineswegs aus freien Stücken. Diese frühe Konstellation ist nun repräsentativ für Prozesse, aus denen im Laufe der Zeit, d.h. von Jahrhunderten bzw. Jahrzehnten, und in Ermangelung von machtpolitischen Alternativen nach und nach »Versöhnung« mit der Folge von leidlich akzeptierter, institutionell-rechtlich abgesicherter Toleranz resultierte. Denn nachhaltige Toleranz dokumentiert sich schließlich in akzeptierten Verfassungen und ihren Prinzipien, die dann – wo nachhaltig geworden – während mehrerer Generationen einsozialisiert und als Selbstverständlichkeit begriffen werden und schließlich sich entsprechend emotional verankern.« In dieser Perspektive werden Demokratien nicht von Demokraten geschaffen, sondern von Konfliktpartnern, die gezwungen sind, die Macht zu teilen und die dafür eindeutige Regeln und Kontrollmechanismen entwickeln, um eine Pattsituation zu überwinden. Dies ist ein langer Prozess, dessen Erfolg nicht garantiert ist. Noch ist die Ukraine aber auf dem richtigen Weg.

Über den Autoren: Dr. Heiko Pleines ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Lesetipps: •

Henry E. Hale: Democracy or autocracy on the march? The colored revolutions as normal dynamics of patronal presidentialism, in: Communist and Post-Communist Studies 39 (2006), S. 305–329.



Dieter Senghaas: Zivilisierung wider Willen. Der Kampf der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt a.M. 1998.

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Der Konflikt um die Parlamentsauflösung (April 2007) Heiko Pleines, Forschungsstelle Osteuropa, Bremen

Am 2. April 2007 verfügte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko per Erlass die Auflösung des Parlaments und setzte Neuwahlen für den 27.5. an. In einer Fernsehansprache begründete er seine Entscheidung mit dem verfassungswidrigen Versuch der Regierungskoalition Oppositionsabgeordnete anzuwerben. Mit der Veröffentlichung im Amtsblatt trat der Erlass am Folgetag formal in Kraft. In einer Eilsitzung des Parlaments verurteilten die Abgeordneten der Regierungskoalition die Parlamentsauflösung als »Schritt zu einem Staatsstreich«. In einer Resolution verfügten sie die Auflösung der Wahlkommission und verbaten der Regierung die Finanzierung vorgezogener Parlamentswahlen. Abgeordnete der Regierungskoalition fordern das Verfassungsgericht auf, die Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsauflösung zu klären. Damit beginnt eine neue Phase im Konflikt zwischen Regierung und Präsident. Erstens kann sich das Verfassungsgericht nun nicht länger aus dem Konflikt heraushalten. Zweitens mobilisieren beide Seiten ihre Anhänger zu Protestveranstaltungen in Kiew. Entscheidend aber ist, dass der Konflikt nun endgültig den Charakter einer akuten Verfassungskrise annimmt. Im folgenden kommentieren Ukraine-Experten die aktuellen Entwicklungen. Redaktionsschluss für die Beiträge war der 23.4. Anschließend folgt eine Dokumentation der Haltung der Bevölkerung zur Krise und zu den beteiligten politischen Akteuren.

»Staatszerfall« in der Ukraine? Ursachen und Konsequenzen der gegenwärtigen Krise Dr. Ingmar Bredies, DAAD-Fachlektor mit Schwerpunkt »Deutschland- und Europastudien« am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Nationalen Universität »Kiewer Mohyla-Akademie«

Viele Beobachter gingen lange davon aus, dass die Ukraine nach dem »zweiten Systemwechsel« der Orangen Revolution einen nachhaltigen und unumkehrbaren Schritt in Richtung Demokratisierung und Europäisierung vollzogen hätte. Nicht erst die Eskalation der politischen Spannungen durch den Präsidentenerlass zur Parlamentsauflösung Anfang April 2007 verlangt eine grundlegende Neubewertung der jüngsten Ereignisse. Es handelt sich hierbei um einen Konflikt, dessen Ursprung in der zahlreiche Schieflagen und normative Lücken aufweisenden Verfassungsordnung von 1996 angelegt ist und seither zyklisch immer wieder unüberwindbar scheinende Konfrontationen zwischen Präsident und Parlament provozierte. Der Amtsvorgänger Viktor Juschtschenkos, Leonid Kutschma, ließ sich vor dem Hintergrund des jüngsten Präsidentenerlasses zu der Aussage verleiten, er hätte während seiner zehnjährigen Amtszeit (1994-2004) nur davon träumen können, das Parlament tatsächlich aufzulösen. Der letzte große Kompromiss kam dabei im Dezember 2004 zustande, als die Umsetzung eines bis dato präzedenzlosen 3. Wahlgangs bei Präsidentschaftswahlen nur über die Gewährung einer Verfassungsänderung, die ein parlamentarisch-präsidentielles Regierungssystem etablieren sollte, ausgehandelt werden konnte. Was sich 2004 ereignet hat, lässt sich am treffendsten als Resultat einer gesellschaftlich erzwungenen, selektiven Elitenpluralisierung beschreiben. Bereits seit 2000 bemühte sich Präsident Kutschma, angesichts wachsenden öffentlichen Drucks und Unpopularität, um die Umsetzung einer Verfassungsreform, die eine Selbstbeschneidung der Kompetenzen des Präsidenten zugunsten des Parlaments vorsah. Diese Scheinreform trug dem Umstand Rechnung, dass die in sich hoch fragmentierte und aus einer Vielzahl von Individualinteressen bestehende »Allianz der Macht« um das Präsidentenamt als Koordinationszentrum künftig nicht mehr zu halten war. Seit den Parlamentswahlen 1998 fand eine starke Vereinnahmung des Parlaments durch einzelne Finanz-Industrielle Gruppen statt. Diese Gruppierungen konnten im Gefolge der »Revolution in Orange« mit Hilfe der Unterstützung von bestimmten Bevölkerungsteilen ein »Umgießen« des Elitenregimes vom superpräsidentiellen in ein parlamentarisch-präsidentielles Regierungssystem erwirken. Die Form selbst änderte sich, alte Funktionsmechanismen politischer Herrschaft sollten sich jedoch als intakt erweisen, wie sich nach der Orangen Revolution schnell herausstellen sollte. Die mit 2004 nachweislich einsetzende gesamtgesellschaft-

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liche Demokratisierung entstand in der Ukraine nur als beiläufiges Nebenprodukt im Kontext des bereits erwähnten Prozesses selektiver Elitenpluralisierung, ohne jedoch den politischen Raum und seine Institutionen nachhaltig zu durchdringen. Dieser hier grob angedeutete Entwicklungsverlauf erlaubt es, vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Pattsituation von Staatszerfall im Sinne von systematischer Delegitimation staatlicher Kerninstitutionen und politischer Akteure zu sprechen, was das Funktionieren der Anweisungskette zwischen Regierenden und Regierten erheblich einschränken kann. Erneut zeigt sich anhand der gegenwärtigen Krisensituation, dass die Ukraine über keinerlei satzungsgeleitet handelnde Institutionen verfügt, die überpersonelle, berechenbare und von allen politischen Akteuren anerkannte Entscheidungen hervorbringen. Politische Debatten finden nur über Zuständigkeiten von Institutionen und die Allokation von Führungspositionen, nicht jedoch zu inhaltlichen Fragen statt. Institutionelle Optionen geraten vor diesem Hintergrund lediglich zum Handlungsgegenstand kurzsichtig agierender politischer Akteure. Ein besonders großer Irrtum liegt dabei in der Annahme, die Parlamentarisierung des zuvor superpräsidentiellen Regierungssystems würde per se der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung zuträglich sein. Im Gegenteil, die institutionell voraussetzungslose Parlamentarisierung des Regierungssystems hat erheblich zur Destabilisierung der politischen Situation beigetragen. Zudem tragen die Konfliktparteien um die zentralen Akteure Janukowitsch – Juschtschenko – Timoschenko in ihrem Bemühen um die Mobilisierung ihrer Anhängerschaft zur Verschärfung soziokultureller Konfliktlinien in der Gesellschaft bei. Nicht nur zahlreiche »Polittechnologen« sind der Auffassung, dass es einfacher und »effektiver« wäre, die Bevölkerung über »virtuelle Debatten« (Russisch als zweite Amtsprache, NATO und EU-Mitgliedschaft, Neubewertung historischer Ereignisse) zu mobilisieren und entsprechende »Dividenden« einzustreichen. Die ständige Neuauflage dieser sicherlich zentralen, für die ukrainische Tagespolitik jedoch nur bedingt relevanten Debatten lassen zunehmend den Eindruck der Unregierbarkeit des Landes entstehen. Dabei nützt es der Ukraine wenig, immer wieder den großen russischen Nachbarn belehrend auf die eigenen »Demokratisierungserfolge« hinzuweisen, wenn man bedenkt, dass das Land nahezu 6 der letzten 12 Monate faktisch regierungs- und handlungsunfähig war. Im Gegensatz zur Situation 2004 wird mit dem aktuellen Konflikt klar, dass beide Lager Verfassungsrecht gebrochen haben: sowohl der Präsident (mit seinem Erlass über die Parlamentsauflösung) als auch die Regierungskoalition (durch das Abwerben wankelmütiger Abgeordneter, wodurch zur Erlangung einer verfassungsändernden Mehrheit von 300 Stimmen letztlich nur 6 Stimmen fehlten). Daher ist damit zu rechnen, dass das Verfassungsgericht dieses Mal ein ausgewogenes Urteil treffen wird, ohne eine der beiden Konfliktparteien zu »erniedrigen«. Auch eine nachträgliche Abschwächung des Präsidentenerlasses wäre denkbar. Vorgezogene Parlamentswahlen werden aller Voraussicht nach im Herbst 2007 stattfinden, wobei der Wahlausgang selbst keine großen Veränderungen in der Wahlarithmetik erwarten lässt. Insbesondere Julia Timoschenko, die seit der Bildung der »Antikrisenkoalition« kontinuierlich auf Neuwahlen hinarbeitete, geht mit dieser Forderung ein hohes Risiko ein. Letztlich stammten 15 der abtrünnigen Überläufer im Parlament aus ihrer eigenen Fraktion. Ohne die Reformierung der Nominierungsprozeduren der parteiinternen Kandidatenlisten und entsprechende normative Ergänzungen zum Status der Abgeordneten machen vorgezogene Parlamentswahlen generell wenig Sinn. Wahrscheinlich ist, dass die zentralen politischen Akteure erneut einen jener kurzsichtigen Kompromisse aushandeln werden, der die zentrale Debatte um einen neuen Verfassungsgebungsprozess ausklammern und bis zur nächsten politischen Krise vertagen wird.

Lesetipp: Ingmar Bredies: Institutionenwandel ohne Elitenwechsel? Das ukrainische Parlament im Kontext des politischen Systemwechsels 1990-2006, Hamburg: LIT Verlag 2007.

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Heiko Pleines (Hg.)

Noch kein Licht am Ende des Tunnels. Ist die Transformation in der Ukraine gescheitert? Dr. Iris Kempe, Centrum für angewandte Politikforschung an der Ludwig Maximilians Universität München

Im April 2007 ist die Ukraine erneut in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit geraten. Präsident Viktor Juschtschenko verkündete am 2. April die Auflösung des Parlaments und setzte Neuwahlen für den 27. Mai an. Allerdings begab er sich dabei auf das Glatteis unklarer konstitutioneller Regelungen. Das Parlament stellte sich nach Auszug der pro-westlichen Parteien mehrheitlich hinter den Premier Viktor Janukowitsch, tagte weiter und rief das Verfassungsgericht für eine Klärung der unklaren konstitutionellen Fragen an. Beide Seiten, die Anhänger von Juschtschenko und Janukowitsch, versuchten gesellschaftliche Massenproteste auf den Straßen von Kiew zu ihrer Unterstützung zu mobilisieren. Die gegenwärtige Situation erinnert manche Kommentatoren an die Zeiten der orangen Revolution als die Anhänger Viktor Juschtschenkos erfolgreich für freie und faire Wahlen kämpften und die Anhänger Viktor Janukowitschs versuchten, den Einfluss und die Interessen der amtierenden Administration aufrecht zu halten. Allerdings unterscheidet sich der gegenwärtige Machtkampf fundamental von dem im Dezember 2004, als die beiden Viktors und mit ihnen die Massen auf den Strassen der Ukraine um demokratische Grundwerte rangen. Derzeit ähnelt die Ukraine eher den beiden Amtsperioden Leonid Kutschmas, in denen einzelne Akteure und Interessengruppen die Ukraine dominierten und auch Mittel wie Korruption oder die gewaltsame Beseitigung ihrer politischen Gegner als Mittel zum Macherhalt einsetzten. Aufgrund der Verletzungen der Medienfreiheit drohte damals der Europarat mehrfach mit dem Ausschluss der Ukraine. Pavel Lazarenko, einer der damaligen Premierminister wurde in den USA wegen Geldwäsche zu einer rechtskräftigen Haftstrafe von neun Jahren verurteilt. Es wäre verfrüht, bereits jetzt von einem Scheitern der Transformation zu sprechen. Vielmehr bedarf es einer nüchternen Analyse der Lage. Die orange Revolution 2004 wirkte wie ein Systemwechsel aus dem Bilderbuch. Der demokratische Kandidat wurde im Wahlkampf behindert, sogar vergiftet, überlebte, und wurde schließlich nur durch Manipulationen besiegt. Doch anders als in den Jahren zuvor stand das Volk auf, Gerichte und Medien schlugen sich auf dessen Seite, hunderttausende harrten fröhlich-feiernd und fordernd aus, die drohende Spaltung des Landes konnte verhindert werden und zum Schluss siegte die Demokratie in einem spektakulären Triumph pünktlich zu Weihnachten. Aus einem Appendix Russlands schien über Nacht ein selbstbewusster, sympathischer europäischer Staat geworden zu sein. Allerdings beginnen die eigentlichen Herausforderungen erst nach den demokratischen Wahlen. Juschtschenko vereinte nur eine knappe Mehrheit hinter sich und ihm blieb durch die Änderung der Verfassung zu einer parlamentarischen Demokratie nur ein knappes Zeitfenster von einem Jahr seine Vollmachten für die Transformation des Landes zu nutzen. Aber auch, wenn die orangene Revolution bereits richtungsweisende Standards für eine demokratische Gesellschaft gesetzt hat – etwa im Bereich der Medienberichterstattung und bei der Durchführung von freien und fairen Wahlen – darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wahl Juschtschenkos zunächst nicht viel mehr als ein Vorschuss war und für die unter hohem politischen Druck im Dezember 2004 am Runden Tisch ausgehandelte Verfassungsreform der breite gesellschaftliche Konsens fehlte. Der Erfolg der orangen Revolution ging maßgeblich darauf zurück, dass es der Opposition gelungen war, sich zu einem Reformteam unter der Führung von Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko zusammenzuschließen. Diese Koalition war nur von kurzer Dauer. Zu Unstimmigkeiten kam es hinsichtlich des wirtschaftlichen Reformkurses. Während Premierministerin Timoschenko für Elemente einer staatlich gelenkten Wirtschaft votierte, orientiert sich Präsident Juschtschenko an Leitlinien einer liberalen Wirtschaftspolitik. So schlug Timoschenko zunächst vor, die Privatisierung von rund 3000 Betrieben zu überprüfen, um sie gegebenenfalls rückgängig zu machen. Juschtschenko sprach dagegen nur von der Reprivatisierung von 30 Unternehmen, vor allem aus der Metallindustrie, deren Privatisierung intransparent verlaufen war. Der Konflikt zwischen den beiden Flügeln des Oppositionslagers erreichte mit der Entlassung der Premierministerin Anfang September 2005 seinen Höhepunkt. Dieser Konflikt ist zugleich Indiz für die insgesamt fehlende Transformationsperspektive und den nur schwach entwickelten und widersprüchlichen Reformkurs. Neben den Schwächen bei der wirtschaftlichen Umgestaltung gelang es nicht, das Erbe der Kutschma Vergangen-

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heit aufzuarbeiten. Nach wie vor ist nicht beantwortet, wer für den Mord an dem oppositionellen Journalisten Jurij Gongadze verantwortlich ist, welche Rolle Janukowitsch oder der Kreml bei der Vergiftung von Juschtschenko und ebenso bei der Wahlfälschung bei der Stichwahl am 21. November 2004 spielten. Auch nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten konnte Olexander Normalverbraucher das Licht am Ende des Tunnels der Transformation nicht erkennen. Bei zahlreichen Problemen ist die Ukraine kein Einzelfall, sondern typisch für die Transformationsprozesse in Ost- und Ostmitteleuropa. Allerdings sind die Rahmenbedingungen weitaus schwieriger. Ein einscheidender Faktor dabei ist die Politik Russlands. Die orange Revolution verdeutlichte zunächst das Scheitern des Kremls, die ukrainische Entwicklung mit personellen Netzwerken und kultureller Nähe maßgeblich beeinflussen zu können. Russland verfügte über keinen attraktiven Mechanismus zur Integration der Nachbarstaaten, der zudem demokratischen Standards entsprach. Die Emanzipation der Ukraine von Moskau drohte ein Welle von Unabhängigkeitsbewegungen auszulösen, die nicht im Interesse des Kremls sind. Auch wenn es verständliche Gründe dafür gab für Russland im Januar 2006 die Gaslieferungen an die Ukraine auf ein marktwirtschaftliches Niveau zu stellen, signalisierten die Wahl des Zeitpunktes ebenso wie das medienwirksame Abdrehen des Gashahns, dass diese Entscheidung Gazproms nicht frei von politischen Motiven war. Im Unterschied zu den Transformationsstaaten Ostmitteleuropas, fehlte es außerdem an einer Integrationsperspektive für westliche Bündnisse, wie der Europäischen Union oder der NATO. Zwar gab die Europäische Kommission mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik ein Zeichen, dass die neuen Nachbarstaaten ohne Zweifel Bestandteil der europäischen Agenda sind, allerdings fehlte es an der entscheidenden Perspektive für den Beitritt. Die viel zu breite geographische Reichweite der ENP (Osteuropa, Kaukasus und Mittelmeerraum) stand zudem im Zeichen EU-interner Interessen. Sie war nicht mit der Idee verbunden, einen Wegweiser für die ukrainische Transformation und Emanzipation von der russischen Übermacht zu setzen. Trotz der zahlreichen aktuellen und strukturellen Probleme in der ukrainischen Transformation wäre es falsch, von einem Scheitern zu sprechen. Die Ukraine ist nicht Russland, wo das System Putins immer weniger Anzeichen für Demokratie erkennen lässt und die derzeitigen ukrainischen Machtkämpfe und Konflikte können auch als Chance für eine marktwirtschaftliche Transformation eingeschätzt werden. Nach wie vor muss eine demokratische Ukraine auch im Interesse des Westens bleiben.

Krise der Außenpolitik und Vermittlungsbedarf für die EU Dr. Rainer Lindner, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Zu Beginn der Verhandlungen über ein »vertieftes Abkommen« zwischen der Europäischen Union und der Ukraine steckt das Nachbarland der EU erneut in einem zähen Macht- und Ressourcenkonflikt, der zunächst zu Neuwahlen des Parlaments und womöglich auch zu Präsidentschaftswahlen führen wird. Ungeachtet einer stabilen Wirtschaftsbilanz und günstiger Aussichten für einen WTO-Beitritt im Herbst 2007 ist die Ukraine derzeit politisch nicht handlungsfähig. Das links-konservative Bündnis um Premier Viktor Janukowitsch und die zerstrittenen national-demokratischen Kräfte um Präsident Viktor Juschtschenko und Ex-Premier Julia Timoschenko stehen sich bislang unversöhnlich gegenüber. Das ukrainische Parlament, das vor einem Jahr aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen ist, steht vor der Auflösung. Die EU wird in einer Vermittlerrolle gesehen, die sie als Teil ihrer Nachbarschaftspolitik wahrnehmen sollte. Am Drama um die Entlassung des langjährigen prowestlichen Außenministers Boris Tarasjuk, das sich zwischen Dezember und Januar 2007 abspielte, und um die anschließende, zweimal gescheiterte Kandidatur von Wolodimir Ohrisko, einem professionellen Diplomaten aus dem Umfeld Tarasjuks, wird die außenpolitische Dimension der Krise sichtbar. Nach Auffassung der Partei der Regionen hätte die Ernennung Ohryskos »die Beziehungen mit Russland stören« können, für die Kommunisten war der vom Präsidenten favorisierte Amtsnachfolger ein »Tarasjuk hoch zwei«, so dass die Kandidatur für den Präsidenten schließlich eine vermeidbare weitere Autoritätsminderung nach sich zog; vermeidbar, da auch der neue, am 21. März ernannte Außenminister, der aus der Westukraine stammende Arseni Jazenjuk, aus dem präsidialen Umfeld stammt. Der erst 32-jährige Wirtschaftsjurist ist Verfasser eines Lehrbuchs über Bankenaufsicht für Wirtschaftsstudenten und hatte sich bereits als Staatsbeamter in hohen zentralen und regionalen Funktionen hervorgetan.

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Das Gerangel um den Außenminister macht drei Tendenzen deutlich, die den Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Ukraine erschweren: Erstens ist die Außenpolitik zum Austragungsort innerer Krisen geworden, zweitens spricht die ukrainische Außenpolitik derzeit mit vielen, nicht selten widerstreitenden Stimmen. Premier Janukowitsch versucht gegenwärtig, die Führung in den Verhandlungen mit der EU an sich zu reißen. Das Außenministerium droht unter den gespannten Beziehungen zwischen Präsidialamt und Premier-Büro seinen Gestaltungsraum einzubüßen. So hat der Janukowitsch-Stab vorbei am Präsidenten und am Außenamt Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft der Ukraine im Gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland, Belarus und Kasachstan, über eine ukrainische Gasförderung in Westsibirien und über eine 50-prozentige Beteiligung Russlands am ukrainischen Gastransportsystem geführt, die allerdings bisher ergebnislos geblieben sind. Drittens wird es die EU je nach politischer Konjunktur in der Ukraine mit einer zunehmenden Personalfluktuation zu tun haben. Die EU erhoff t sich von dem seit Anfang März 2007 verhandelten »vertieften Abkommen«, für das sie bis 2010 immerhin fast 500 Millionen Euro bereitstellen will, (1) eine neue Reformagenda für die Ukraine, (2) die Herausbildung und Konsolidierung eines demokratischen Regierungssystems, (3) eine Verbesserung des Investitionsklimas in der Ukraine für in- und ausländische Investoren, (4) einen konstruktiven Beitrag der Ukraine zur europäischen Energiesicherheit und (5) eine neue Rolle Kiews bei der Regelung regionaler Konflikte, etwa im Transnistrien-Konflikt. Auf der ukrainischen Seite hat sich zwar nach den Gesprächen zwischen Präsident Juschtschenko, Kommissionspräsident Barroso und EU-Außenkommissarin Ferrero-Waldner am 8. März 2007 der Eindruck verfestigt, dass »die Tür zur EU für die Ukraine nicht verschlossen ist«, wie es Oleksander Tschalyj, Juschtschenkos stellvertretender Büroleiter, formulierte. Tschalyj wertete vor allem die Äußerungen der Kommissarin, dass die Nachbarschaftspolitik ausdrücklich nicht das Format der zukünftigen Beziehungen zwischen EU und der Ukraine festlege, als einen Durchbruch in den beiderseitigen Beziehungen. Die Entwicklung eben dieser Beziehungen setzt jedoch voraus, dass die Ukraine innen- und außenpolitisch handlungsfähig ist. Die am 9. April von Fraktionen des ukrainischen Parlaments und später auch von der Regierung in Kiew geäußerte Bitte um internationale Vermittlung erging zwar zu einem Zeitpunkt, als die inneren Ressourcen der Konfliktmoderation noch nicht ausgeschöpft waren; doch wird sich die EU einer Schlichterrolle im Verfassungsstreit und bei der Normalisierung der institutionellen Beziehungen zwischen den Gewalten nicht entziehen können. Angesichts des kommenden Ukraine-EU-Gipfels am 14. September 2007 in Kiew, der das »vertiefte Abkommen« fi xieren soll, bedeutet jeder Monat des politischen Ausnahmezustands verlorene Verhandlungszeit für das neue Abkommen und vor allem verlorene Zeit für die Reformagenda der Ukraine selbst. Das Abkommen sieht unter anderem die Schaff ung einer Freihandelszone und die Verstärkung der Nachbarschaftsbeziehungen mit der Ukraine vor. Für die EU, den Europarat und die deutsche Präsidentschaft ergeben sich aus der aktuellen Krise wichtige Handlungsoptionen: •

Formierung einer Kontakt-Delegation Ukraine aus Mitgliedern des Europaparlaments, des Europarats und internationalen Schlichtern. Dabei muss es sich um Persönlichkeiten handeln, die in der gesamten ukrainischen politischen Klasse anerkannt sind (wie z.B. der polnische Ex-Präsident Alexander Kwaśniewski);



Aufbau eines juristischen Beratungsteams aus Juristen und (ehemaligen) Verfassungsrichterinnen/-richtern, das Konzepte für einen Ausweg aus der Verfassungskrise erarbeitet;



Verstärkung der interparlamentarischen Kooperation mit den nationalen EU-Parlamenten;



Fortsetzung und Forcierung der bestehenden Programme zur Umsetzung des Aktionsplans im Rahmen der ENP;



Ausdehnung der Nachbarschaftspolitik auf zivilgesellschaftliche Projekte, wie das derzeit in Planung befindliche »Förderprogramm Ukraine«, das auch die östlichen Regionen der Ukraine einbezieht.

Lesetipp: Rainer Lindner: Konflikt in der Ukraine, SWP Aktuell 2007/A 28, April 2007 http://www.swp-berlin.org/de/produkte/swp_aktuell_detail.php?id=7175&PHPSESSID=cc137be7d543d915bb74f9310ea e5958

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Oranges Pharisäertum Univ.Prof. Dr. Gerhard Mangott, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck

In Kiew haben die ‚orangen Revolutionäre’ unter der Losung der Rettung der Demokratie zur Rechtsbeugung gegriffen. Die orangen Zeitungsspalten in Kiew spotten über die alkoholisierten und rückständigen Landsleute, die, in die Hauptstadt gekarrt, eine lächerliche Figur auf dem Majdan abgäben. Dieses selbstgerechte und manichäische Denken, das dem hehren orangen Lager das vermeintlich rückständige der blauen Landsleute entgegenstellt, ist Audruck dieser verzerrten und eingeengten Wahrnehmung, die den Apologeten der orangen Bannerträger eigen ist. Diese ist getragen von der sozialen Arroganz der Kiewer Mittelschicht und voller Ignoranz für das klägliche Scheitern der angeblichen Lichtgestalten der orangen Revolution. Juschtschenkos Dekret über die Auflösung des Parlaments ist für nahezu alle nicht-ukrainischen Rechtsexperten eine schwere Beugung, wenn nicht gar ein klarer Bruch der Verfassung. Jene ist völlig deutlich in ihrer taxativen Aufzählung der präsidialen Auflösungsgründe; keiner davon ist gegeben, auch nicht der präsidiale Rekurs auf den angeblichen Rechtsbruch durch die Überläufer aus seinen eigenen Reihen in das Lager der blauen Koalitionäre. Doch selbst wenn man das Auflösungsdekret als verfassungskonform ansieht, steht dem Präsident explizit nicht zu, vorgezogene Parlamentswahlen anzusetzen. Auch des Präsidenten Verweis auf die angebliche Machtusurpation der blauen Koalition durch das im Januar angenommene ‚Gesetz über die Regierung’ ist rechtlich umstritten, vor allem aber politisch bizarr, denn dieses Gesetz wurde mit den Abgeordnetenstimmen der organgen Volktribunin Timoschenko angenommen – jener heiligen Julia, die nun in Brandreden fordert, die blauen Abgeordneten davonzujagen, mit denen sie doch eben noch gegen Juschtschenko gestimmt hatte. Die Majdan-Revolution der frühen Wintertage 2004 hat viele Hoffnungen geweckt – vor allem die nach Freiheit, Würde und Selbstachtung; aber auch die Hoffnung auf eine frische Elite, die das Land mit Entschlossenheit, Mut, Weitsicht und Integrität führt. Die Ikonen dieser mutigen Demonstranten taug(t)en aber kaum, diesen Hoffnungen gerecht zu werden. Präsident Juschtschenko hatte noch 2001 die Bürger, die gegen die Ermordung des Journalisten Gongadze durch die Henker des Kutschma-Regimes (dessen Teil Juschtschenko ebenso war wie Timoschenko) auf die Straße gingen beschimpft und die Gralsfigur Timoschenko hatte noch kurz davor mit den Meistern der Bestechlichkeit um Ministerpräsident Pawlo Lazarenko an ihrem Aufstieg in den Klub der ukrainischen Reichen geschmiedet. Die neu entdeckte Leidenschaft dieser selbstinszenierten Ikone am sozialen Populismus, den sie in den Regierungsgeschäften deutlich werden ließ, hat zu wirtschafts- und finanzpolitisch erratischen Entscheidungen geführt, dem Einbruch der Wachstumsraten des ukrainischen BIP, dem Abzug ausländischer Direktinvestitionen nicht zuletzt aufgrund der rachsüchtigen Rufe Timoschenkos nach der Renationalisierung kriminell privatisierter Unternehmer, und einem ausufernden Budgetdefizit. Dies war umso ernüchternder, als zugleich Günstlinge der neuen Führung zu den Gewinnern der eilig angesetzten Reprivatisierungen zählten. Die post-revolutionäre Regierung ist bald im Strudel von Korruptionsvorwürfen zwischen Timoschenko und Juschtschenko und den Intrigen oranger Oligarchen wie Poroschenko auseinandergebrochen; die Parlamentswahlen wenig später waren bereits ein bitterer Fingerzeig enttäuschter Bürger; als dann im Machtrausch von Timoschenko und Poroschenko und dem Zaudern Juschtschenkos auch noch die von den Wählern unterstützte orange Mehrheitskoalition scheiterte, was das groteske Finale der verratenen Majdan-Revolution erreicht. Die Rückkehr der Betrüger, Kleingeister und – nun wieder der blauen – Oligarchen war das bittere Ergebnis der unsäglichen orangen Unfähigkeit. Sie war Ausdruck der an den Ambitionen der Volktribunin und der Entscheidungsschwäche des, durch die Verbrecher des alten Regimes gezeichneten, Präsidenten gescheiterten Majdan-Erhebung. Wenn nun Juschtschenko zum vermeintlichen Befreiungsschlag ansetzt und gleichsam das orange Scheitern durch einen Handstreich auszumerzen versucht, ist das Risiko enorm, das er damit eingeht. Daran ändert auch nichts, wenn Juschtschenko nun in geradezu bizarrer religiöser Deutung davon spricht, die (blauen) Pharisäer und Händler aus dem Tempel zu jagen. Das Urteil des Verfassungsgerichtes, dem die beiden Lager entgegenharren, wird aber kein Richterspruch, sondern ein politischer Spruch sein – wie immer er auch ausfällt. Macht wird in der Ukraine nicht durch Recht

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eingehegt, das Recht wird durch die Mächtigen zurechtgebogen. Die Gemüter werden sich an diesem Entscheid erhitzen, aber blutige Schrecknisse werden den Majdan nicht entweihen. Versagen die Richter dem Präsidenten die Gefolgschaft, kann das Land trotzdem noch in eine schlimme Krise stürzen – dann aber mit einem seiner Autorität völlig verlustig gegangenen Präsidenten. Erhält Juschtschenko aber die Unterstützung der Richtermehrheit, dann wird das Land den Weg der Neuwahlen bestreiten, die bereits jetzt durch Verfahrensmängel angefochten werden könnten. Was aber werden die orangen Lichtgestalten machen, wenn die blauen Koalitionäre an den Wahlen nicht teilnehmen sollten: Werden sie dann im Parlament alleine die Sitzreihen ausfüllen und dabei die West- und Zentralukraine hinter sich wissen? Wo werden sich dann die ostukrainischen Bürger wiederfinden und was wird dann aus der jetzt von Juschtschenko so salbungsvoll beschworenen Einheit des Landes? Sollten die blauen Selbstbereicherer, die die sozialen Ängste und Nöte derer, die im verschmutzten und verseuchten Osten des Landes wohnen, schamlos für ihre Zwecke benutzen, aber an dem Wahlgang teilnehmen (was sie aus Machtgier tun werden), ist eine Mehrheit für diese sehr wahrscheinlich. Die Ukraine wäre dann wieder dort, wo sie auch vor zwei Wochen schon war. Das Land wäre damit durch eine nutzlose Verfassungskrise erschüttert und durch das Aufreißen kaum noch verheilter Gräben kein Stück weitergekommen, sondern zurückgeworfen worden. Wird dann die Rachsucht des blauen Lagers zu einem neuerlichen Machtrausch ausarten, der das Recht beugt und bricht? Was auch immer am Ende dieses Abenteuers stehen mag: Die Bürger der Ukraine werden sich, wie auch jetzt schon, in den Fängen der ukrainischen Elite des orangen und des blauen Lagers wiederfinden, die in ihrer Unfähigkeit, Unentschlossenheit, Verlogenheit und Eitelkeit den Aufbruch des Majdan zunichte gemacht hat; einer Elite, die den Kompromiss vermeidet, aber die völlige Macht anstrebt. Die orangen Ikonen und die blauen Revisionisten – sie taugen alle nicht.

Zurück zur Präsidialrepublik? Alexander Rahr, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Die Ukraine könnte bald von einer parlamentarischen Republik wieder in eine Präsidialrepublik umgewandelt werden. Das Land hat seine Reifeprüfung in Sachen Demokratie offensichtlich nicht bestanden. Dabei waren die Hoffnungen sehr groß, dass die Ukraine als erste Nachfolgerepublik der untergegangenen Sowjetunion nach den Baltischen Staaten das alte autoritäre Machtsystem abstreifen könnte. Zunächst sah es ganz danach aus, als ob die Ukraine den demokratisch-europäischen Weg erfolgreich gehen und zu den mittelosteuropäischen Ländern aufholen könnte. Doch bedauerlicherweise entpuppten sich die persönlichen Machtambitionen der gegenwärtigen ukrainischen Politiker und der Elite als stärker als der Wille im Land die demokratischen Spielregeln zu verankern. Die Ukraine befindet sich in einer dreifachen Existenzkrise. Zum Ersten streiten Präsident Viktor Juschtschenko, Premier Viktor Janukowitsch und Oppositionsführerin Julia Timoschenko mit allen Mitteln um persönliche Macht. Keiner ist bereit auf seinen Machtanspruch zu verzichten, die Akteure kämpfen um alles oder nichts. Juschtschenko will sich mit seiner verminderten Präsidentenrolle nicht abfinden, der er selbst während der orangenfarbenen Revolution zugestimmt hat. Um an der Macht zu bleiben, ist er sogar bereit die Verfassung zu manipulieren. Janukowitsch will seinen ehemaligen Rivalen, Juschtschenko, öffentlich demütigen und ihn zu einer Dekorationsfigur machen, d.h. die Exekutivgewalt ganz auf die Regierungsebene verlagern. Von einer Kohabitation Präsident – Premier, die vor weniger als einem Jahr geschmiedet wurde, um die ukrainische Nation zu einen, ist nicht mehr die Rede. Unter Janukowitsch kehren die alten Oligarchen wieder an die Schaltzentren der politischen Macht zurück. Und Timoschenko, die sich mit Juschtschenko in der anfänglichen orangenfarbenen Koalition aufgrund eigener Ambitionen zerstritten hatte, möchte jetzt die undurchsichtige Lage brutal ausnutzen, um als lachende Dritte – über eine weitere Destabilisierung des Landes – an die Macht zurückzukehren. Ihr Sozialpopulismus führt ihr zwar die Wähler in Scharen zu, ist jedoch brandgefährlich.

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Zum Zweiten gerät das politische System in eine Legitimitätskrise. Es wird immer unklarer, nach welcher Verfassung die Ukraine künftig existieren soll. Wenn das Parlament seine Entmachtung durch einen fragwürdigen Präsidentenerlass so einfach hinnehmen sollte, droht die Legislative künftig an Autorität zu verlieren. Wer nimmt ein solches Parlament künftig noch ernst? Und wird nicht auch in Zukunft bei ähnlichen Streitigkeiten zwischen Präsident und Regierung das Parlament leichtfertig aufgelöst? Falls sich Juschtschenko und Timoschenko gegenüber Janukowitsch durchsetzen, kann davon ausgegangen werden, dass im Land wieder eine starke Machtvertikale unter dem Präsidenten aufgebaut wird. Timoschenko wird kaum in die jetzige Premierministerrolle Janukowitschs schlüpfen wollen. Sie wird die gesamte Machtfülle für sich einfordern, denn nach allen Umfragen liegt sie weit vor dem amtierenden Präsidenten. Eine Rückkehr der Ukraine zur Präsidialrepublik könnte die Idee einer demokratischen Parlamentsrepublik für lange Zeit begraben. Möglicherweise wird die Ukraine in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium aber auch von keinem Parlament zu regieren sein, denn sie bleibt ein gespaltenes Land. Die neue drohende Spaltung des Landes stellt die dritte Krise dar. Man kann in der Ukraine noch so viele faire und freie Wahlen durchführen – die Bevölkerung wählt immer konstant: im Osten und auf der Krim für Janukowitsch und eine Annäherung an Russland, im Westen und Kiew für Timoschenko und Juschtschenko und für eine schnelle Integration mit dem Westen. Die Lage ist oft absurd: Janukowitsch gilt im Westen der Ukraine als Verräter, Präsident Juschtschenko kann sich im Osten seines Landes kaum sehen lassen. Erschwerend kommt auch noch hinzu, dass die USA, Russland und die EU sich um Einfluss über die Ukraine bemühen. Dennoch hat die Ukraine eines positiv zu verzeichnen: Freiheit wird großgeschrieben. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen sind für die Ukraine auch nichts Neues. Mitte der 1990er Jahre wurde um die Zukunft der Verfassung ähnlich gerungen. Es bleibt zu hoffen, dass die ukrainischen Politiker auch diesmal doch irgendwie einen Kompromiss erzielen. Natürlich wird auch dieser nicht lange währen.

Rechtsnihilismus und Entfremdung der politischen Klasse von der Gesellschaft als Quelle politischer Turbulenzen Univ.Prof. Dr. Dieter Segert, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien

Wieder sind Tausende Demonstranten auf dem Maidan in Kiew, aber es handelt sich doch um keine Wiederholung des Herbstes 2004, um keine erneute Revolution. Schon die sichtbare Gleichgültigkeit der Kiewer Bevölkerung gegenüber den jetzigen Demonstranten unterscheidet beide Ereignisse. Nach der vom Präsidenten verfügten Parlamentsauflösung ist der politische Konflikt, der schon seit dem letzten Sommer zwischen räsident und Parlamentsmehrheit (bzw. der durch diese getragenen Regierung) schwelte, offen ausgebrochen. Schon werden Vergleiche zur russischen Verfassungskrise vom Herbst 1993 gezogen und manche Beobachter warnen vor dem Einsatz militärischer Gewalt. Dagegen spricht aber nicht nur der Unterschied in den Persönlichkeiten Jelzins und Chasbulatows/ Ruzkojs einerseits und Juschtschenkos und Janukowitschs andererseits. Auch die historische Situation ist aus meiner Sicht eine ganz andere. In Russland hatte die Transformation gerade erst begonnen, in der Ukraine sind schon über 15 Jahre seit dem Beginn des Systemwechsels vergangen. Trotzdem handelt es sich bei den Ereignissen um einen Wendepunkt in der Entwicklung der Ukraine. Es wird sich entscheiden, ob sich die Ansätze einer demokratischen Entwicklung verstärken oder aber sich eine Wende zurück zu einer autoritären Regierungsform vollziehen wird. Der Verfassungskompromiss vom Dezember 2004 hat so viele Fragen offen gelassen, dass eine Fortführung der Verfassungsdebatte immer dringender wird. Die seit den Wahlen zum Parlament im März 2006 anhaltende Pattsituation zwischen zwei politischen Lagern bildet immerhin auch die Chance auf eine Festigung des politischen Konsenses in der Ukraine. Vermittels der Parlamentarisierung des politischen Systems haben sich die politischen Cleavages in der Gesellschaft unmittelbarer in der öffentlichen Politik niedergeschlagen. Zumindest potentiell werden sie nunmehr von den parlamentarischen Parteien repräsentiert, die miteinander im Kampf um Einfluss stehen. Die Opposition ist nicht völlig machtlos. Politik ist nicht mehr eine Arena des »Alles oder Nichts!« sondern ein Raum, in

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dem unterschiedliche Interessen je nach Kräfteverhältnis mehr oder weniger befriedigt werden, Kompromisse ausgehandelt werden können, wie jüngstens bei der Entscheidung über den Staatshaushalt. Der Präsident ist in seinen überbordenden Kompetenzen aus der Zeit Kutschmas deutlich beschnitten worden, die Regierung, von einer in Verhandlungen gebildeten Parlamentsmehrheit abhängig, hat eigenes Gewicht gewonnen. Die Parteien, die schon seit der Wahlrechtsänderung wichtiger geworden sind, werden nun tatsächlich zu starken Akteuren der politischen Arena. Aus dem Gegeneinander und der Unmöglichkeit einer Seite, die andere dauerhaft zu dominieren, könnte auch der Anstoß zu einem dauerhaften Regelkompromiss erwachsen, ein stabilerer Konsens entstehen – wie schon Heiko Pleines kürzlich in der Ukraine-Analyse Nr. 21 vermutet hatte. Bisher entstand er nicht, da die Verfassungsentscheidungen 1996 und 2004 häufig aus einem chaotischen Gegeneinander und zum Teil aus Überfall ähnlichen Situationen entstanden sind. Weitere Änderungen am Wahlund Parteienrecht sind ebenfalls dringend. Allerdings gibt es andere Szenarien als dieses sehr optimistische eines aus dem Patt erwachsenden Elitenkompromisses. Aus meiner Sicht haben beide politischen Lager (oder wenn BJUT extra gerechnet wird: alle drei) zumindest zwei große Probleme, die sich kaum kurzfristig überwinden lassen. Die ukrainische Politik ist auch nach der »Orangen Revolution« durch einen tiefen Rechtsnihilismus der Politiker und deren Entfremdung von der Bevölkerung gekennzeichnet. Das Recht und die Gerichte werden immer noch vor allem als Instrument der Durchsetzung der eigenen Macht verstanden. Regeln werden nur eingehalten, sofern sie den eigenen Zielen nutzen. Einzelne Gerichte und Richter spielen bei diesem Missbrauch des Rechts als Machtinstrument eine besonders unrühmliche Rolle. Bekanntlich gab es nicht nur Gerüchte sondern konkrete Beschuldigen der Spitze der Staatssicherheit gegen eine Richterin des Verfassungsgerichtes, sie sei durch mehrere Wohnungen und Grundstücke in bevorzugter Lage bestochen worden. Gegen die Kritik der Opposition an der Bestechlichkeit von Richtern des Verfassungsgerichts setzte ein Politiker, der eine zeit lang mit der Opposition gegangen war, Michail Brodskiy, öffentlich den Vorwurf, auch Julia Timoschenko hätte erfolgreich Richter dieses Gerichtes bestochen. Es geht aber nicht nur um die Einschränkung der Unabhängigkeit der Gerichte, sondern um den generellen Rechtsnihilismus der Politiker. Auch im Präsidentenerlass vom 2. April wird weniger mit dem Buchstaben der Verfassung als mit ihrem Geist argumentiert. Jedenfalls stellt die in diesem Erlass angewiesene sofortige vollständige Einstellung der Tätigkeit des Parlaments eine aus anderen Demokratien nicht bekannte Kompetenz des Staatsoberhauptes dar. Über die Rechtsverletzungen der anderen Seiten muss nicht berichtet werden. Ohne eine gewisse Achtung vor den gesetzlich beschlossenen Regeln und Normen des Verhaltens, vor dem demokratisch legitimierten Recht, kann es keine Demokratie geben. Zur Missachtung des Rechtsstaates durch ukrainische Politiker gehört auch die Praxis einer extrem ausgeweiteten Abgeordnetenimmunität, die ihnen Schutz gegen jegliche Verletzung von Gesetzen bietet. Es erstaunt nicht, dass dieses Verhalten der Mitglieder der politischen Klasse zu ihrer Entfremdung vom Rest der Bevölkerung führt. Die Gleichgültigkeit der Bevölkerung Kiews gegenüber den blau-weißen oder orangen Fahnenmeeren der politischen Lager im April 2007 ist ein Ausdruck dieser zunehmenden Entfremdung. In einer aktuellen Meinungsumfrage erklärten sich dieser Tage 65 % der Befragten mit der Aussage einverstanden, dass die Parlamentsabgeordneten in ihrer Tätigkeit ihren persönlichen Interessen, nicht aber denen ihrer Wähler nachgehen. Die Politiker leben auf Grundlage ihrer nicht immer legalen Einkünfte in einer anderen Welt als die Masse der Bevölkerung. Die Früchte des wirtschaftlichen Aufschwungs, der seit 1999 anhält, sind bei den meisten Ukrainern (zumindest außerhalb Kiews) noch nicht angekommen. Beide Merkmale, Geringschätzung des geschriebenen Rechts und Entfremdung vom Alltag der Bevölkerung könnten dazu führen, dass die Legitimität der demokratischen Institutionen (ob Präsident, Regierung oder Parlament) weiter unterhöhlt wird. Die autoritäre Macht, die in der ersten Hälfte des laufenden Jahrzehnts gescheitert ist, könnte getragen von einer Kampagne des energischen Kampfes gegen Korruption wiederkehren, wenn es zu keiner Überwindung der geschilderten Probleme im Verhalten der Politiker/innen kommt. Solange die Institutionen schwach sind, hängt bekanntlich sehr viel von den starken Akteuren ab. Das wäre dann eher ein weißrussisches Szenario.

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Kampf um die Macht oder die Demokratie in der Ukraine? Prof. Dr. Gerhard Simon, Lehrbeauftragter am Institut für Politik und Soziologie der Universität Bonn

Die Ukraine kommt nicht zur Ruhe. Auch nach der Orangen Revolution und den freien und fairen Parlamentswahlen im März 2006 gibt es keinen Konsens über die grundsätzlichen Spielregeln der Politik: Was für eine Verfassung braucht das Land, wie sollen die Kompetenzen zwischen Präsident, Parlament und Regierung verteilt sein? Auch das Wahlgesetz, der Status der Abgeordneten sowie Rolle und Funktion der parlamentarischen Opposition sind umstritten. Die Ukraine hat zu keiner Zeit seit der Unabhängigkeit 1991 eine Verfassung gehabt, die von allen politischen Kräften akzeptiert worden wäre. Die Revision der Verfassung war und ist ein Dauerthema der politischen Klasse, wobei natürlich jeder in eine andere Richtung zieht. Das unterscheidet die Situation in der Ukraine von der Bundesrepublik Deutschland, deren Grundgesetz von 1949 von allen maßgeblichen politischen Kräften als Handlungsrahmen von Anfang an anerkannt wurde. Die mit heißer Nadel genähte Verfassungsreform vom Dezember 2004, durch die das Land von einer präsidentiellen in eine überwiegend parlamentarische Republik umgewandelt wurde, hat neue zusätzliche Probleme geschaffen und ist für die jetzt offen ausgebrochene Krise wesentlich verantwortlich. Die Verfassungsreform ist nicht nur handwerklich miserabel gemacht; sie setzt etwas voraus, was erst noch entstehen muss: eine demokratische Kultur. Die sogenannte Politreform hat deshalb in der Verfassungswirklichkeit der Manipulation durch die Gerissenen und Reichen erst recht Tür und Tor geöffnet. Die Verfassungsreform hat die Gefahr einer autoritären Revanche nicht gebannt. In dieser Situation zog Präsident Viktor Juschtschenko die Notbremse, löste am 2. April das Parlament auf und schrieb Neuwahlen für den 27. Mai aus. Er begründet das mit der Gefahr einer autoritären Revanche durch die jetzt regierende Koalition und deren Regierung unter Ministerpräsident Viktor Janukowitsch. Aus den Parlamentswahlen vor einem Jahr waren die orangen Kräfte mit einer, wenn auch nicht überwältigenden Mehrheit hervorgegangen. Aber durch den Übertritt der Sozialisten unter Olexander Moros auf die andere Seite, der sich auf diese Weise den Posten des Parlamentspräsidenten sicherte, gewannen die Partei der Regionen und ihre Partner im Parlament die Mehrheit und konnten im August 2006 die Regierung bilden. Seither haben die Blauen durch zahlreiche Maßnahmen die Kompetenzen des Präsidenten immer weiter eingeschränkt und die Opposition an die Wand gedrückt. 17 Abgeordnete der Oppositionsparteien wurden dazu veranlasst, zur Regierungskoalition überzutreten. Es gilt als sicher, dass dabei nicht der Wandel der politischen Überzeugungen, sondern handfeste Gegenleistungen den Ausschlag gegeben haben. Zuletzt brüstete sich die Regierungskoalition damit, bis zum Mai eine Zwei-Drittel-Mehrheit (300 Stimmen) im Parlament beisammen zu haben. Das hätte erlaubt, das Veto des Präsidenten gegen Parlamentsbeschlüsse zurückzuweisen und die Verfassung weiter zuungunsten des Präsidenten zu ändern. Die Blauen hätten die Chance erhalten, ihre Vision von einer anderen Ukraine zu realisieren. Juschtschenko hat argumentiert, damit sei der Wählerwille durch Manipulationen schwerwiegend verfälscht worden. Außerdem verbietet die Verfassungsreform mit der Einführung des imperativen Mandates den Übertritt von Abgeordneten von einer Fraktion zur andern, sie verlieren dann ihr Mandat. Regierung und Regierungskoalition weigern sich bislang, das Auflösungsdekret des Präsidenten auszuführen und Neuwahlen vorzubereiten. Sie haben das Verfassungsgericht angerufen, um die Verfassungswidrigkeit des Präsidentendekrets feststellen zu lassen. Der Präsident und die Oppositionsparteien bestehen auf vorgezogenen Neuwahlen. Die meisten Abgeordneten der Opposition haben auch formal ihr Parlamentsmandat gegenüber dem Präsidenten niedergelegt und damit die Brücken verbrannt. Die beiden politischen Lager in der Ukraine, zwischen denen es in der Vergangenheit durchaus Übergänge, Kompromisse und Kuhhändel gegeben hat, treten damit in großer Schärfe auseinander. Die Opposition hat sich organisatorisch, personell und programmatisch konsolidiert. Julia Timoschenko ist die unbestrittene Oppositionsführerin. »Unsere Ukraine« schwankt nicht mehr zwischen Anlehnung an und Ablehnung Janukowitschs wie bis zum Herbst 2006. Die Blauen ihrerseits profilieren sich auf dem Majdan in Kiew als volksverbunden, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Ob und welche Entscheidung das Verfassungsgericht treffen wird, gilt als völlig offen. Die Autorität des Verfassungsgerichts ist gering, der Druck auf die Richter groß und die Zweifel an der politischen Neutralität des Gerichts wachsen mit jedem Tag. Deshalb ist die Erwartung, das Verfassungsgericht werde mit einem eindeutigen Votum die politische Krise lösen, unrealistisch. Vielmehr wird versucht, eine politische Lösung

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zu finden, die wohl nur Bestand haben kann, wenn ihr die drei entscheidenden Personen zustimmen: Juschtschenko, Janukowitsch und Timoschenko. Natürlich findet derzeit ein politischer Machtkampf statt. Aber geht es nur darum? Sind die politischen Positionen, Zukunftsvisionen und Handlungsoptionen beider politischen Lager im Grunde gleich? Spielt es für das Land am Ende keine entscheidende Rolle, wer die Oberhand behält, weil es allen nur um Posten, Geld und Befriedigung des eigenen Ehrgeizes geht? Schaut man auf die zahlreichen Schwankungen (nicht zuletzt des Präsidenten), Seitenwechsel, zweifelhaften Pakete, die geschnürt wurden, und die zynischen Aktionen vieler Politiker, kann ein solcher Nihilismus verständlich erscheinen. Er geht dennoch an der Realität vorbei und unterschätzt die gefährliche Lage, in der sich die Ukraine befindet, sollte die Koalition aus der Partei der Regionen, der Sozialisten und Kommunisten die Möglichkeit erhalten, ihre Macht ungebremst weiter zu festigen und das Land zurückzuverwandeln in einen Hort des Autoritarismus, sollte also die Ära Kutschma wiederkehren. Die jetzt Regierenden waren auf dem besten Weg, ihre Macht so auszubauen, dass freie und faire Wahlen in einigen Jahren nicht mehr gesichert erschienen. Die Postkommunisten unter den heute Regierenden sehen in der Opposition bestenfalls ein unabwendbares Übel, aber nicht eine Alternative, die die Chance haben muss, selbst die Macht zu übernehmen. Mit anderen Worten, die Umgebung von Janukowitsch ist allenfalls demokratisch aus Opportunismus, aber nicht aus der Überzeugung heraus, dass die Demokratie der Weg in eine bessere Zukunft für die Ukraine ist. Die jetzige Regierungskoalition strebte eine Monopolisierung der Macht an, dem ist der Präsident mit seinem Auflösungsdekret entgegengetreten. Juschtschenko und die anderen politischen Kräfte aus der orangen Tradition haben erreicht, dass die Ukraine ein Land mit freien Medien, uneingeschränktem politischen und weltanschaulichem Pluralismus und ein Land ist, in dem politische Konflikte gewaltlos ausgetragen werden. Es gibt einen öffentlichen Raum für Politik und keine Einschränkungen für die Opposition. Dass dies keineswegs selbstverständliche Errungenschaften sind, zeigt ein Blick zum Nachbarn im Norden. Die Ukraine ist das einzige Land im GUS-Raum, in dem die politische Freiheit heute gewährleistet ist. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Gefordert ist der Einsatz für die Freiheit, der sich über den Zynismus erhebt. Gewiss ist die Ukraine keine institutionell gefestigte Demokratie, aber der Weg dahin bleibt offen, solange die postsowjetischen Kräfte nicht die Möglichkeit erhalten, allein den Kurs zu bestimmen.

Meinungsumfragen zu Wahlen und politischer Stimmung Grafik 1: Sind Sie für Neuwahlen zum Parlament? (März 2007) 14% 29% Ja Nein Weiß nicht

57%

Quelle: FOM-Ukraina, http://bd.fom.ru/map/projects/fom_ukraine

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

23

Grafik 2: Wahlprognosen 40 35 30

%

25 20 15 10 5 0 Mrz 06 Apr 06 Mai 06 Jun 06

Partei der Regionen

Jul 06

Aug 06 Sep 06 Okt 06 Nov 06 Dez 06 Jan 07 Feb 07

Block Timoschenko

Unsere Ukraine

Sozialisten

Kommunisten

Quelle: FOM-Ukraina, http://bd.fom.ru/map/projects/fom_ukraine

Grafik 3: Sitzverteilung im Parlament Fraktionsgrößen gemäß Wahlergebnis März 2006 Sozialistische Partei 33 Sitze 7%

Kommunistische Partei 21 Sitze 5%

Partei der Regionen 186 Sitze 41%

"Unsere Ukraine" 81 Sitze 18%

Block Julia Timoschenko 129 Sitze 29%

Quelle: Ukraine-Analysen Nr. 11, http://www.ukraine-analysen.de/pdf/2006/UkraineAnalysen11.pdf

Tatsächliche Fraktionsgrößen im April 2007 Kommunisten 5%

Fraktionslos 2%

Sozialisten 7% Unsere Ukraine 17%

Partei der Regionen 41%

Block Timoschenko 28% Quelle: Werchowna Rada, http://gska2.rada.gov.ua/pls/site/p_fractions (Fortsetzung von Grafik 3 auf nächster Seite)

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Heiko Pleines (Hg.)

Grafik 3: Sitzverteilung im Parlament (Fortsetzung) Hypothetische Fraktionsgrößen gemäß Wahlprognose April 2007

Kommunisten 7% Unsere Ukraine 15% Partei der Regionen 45%

Block Timoschenko 33% Quelle: Razumkow-Zentrum

Grafik 4: Welcher politischen Kraft vertrauen Sie derzeit am meisten? (Februar 2007) 1%

9%

25%

28%

7%

Ministerpräsident Regierungskoalition Präsident Parlamentsopposition Keinem Allen Weiß nicht

11% 19%

Quelle: FOM-Ukraina, http://bd.fom.ru/map/projects/fom_ukraine

Grafik 5: Welchem der folgenden Politiker vertrauen Sie? (beliebig viele Antworten) Februar 2007 30%

25%

20%

15%

10%

5%

0% Janukowitsch Timoschenko Juschtschenko

Luzenko

Quelle: FOM-Ukraina, http://bd.fom.ru/map/projects/fom_ukraine

Moroz

Litwin

Simonenko

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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Grafik 6: Welchem der folgenden Politiker vertrauen Sie nicht? (beliebig viele Antworten) Februar 2007 30% 25% 20% 15% 10% 5%

en ko on

to w Si m

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Ku tsc hm a Ja nu ko wi tsc h Kr aw tsc hu k Po ro sc he nk o

Ju sc hts ch en ko Tim os ch en ko

0%

Quelle: FOM-Ukraina, http://bd.fom.ru/map/projects/fom_ukraine

Grafik 7: Meinen Sie, dass die ukrainische Verfassung geändert werden muss? (März 2007) 23,3% 46,6%

30,1%

Quelle: Sofia Social Studies Center

Ja Nein Weiß nicht

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Heiko Pleines (Hg.)

Krisenbewältigung auf ukrainisch: Einigung ohne Kompromiss? (Mai 2007) Nico Lange, Außenstelle Kiew der Konrad-Adenauer-Stiftung

Zusammenfassung Nach der Krise ist bekanntlich vor der Krise. Politik und Gesellschaft der Ukraine leiden inzwischen seit Jahren periodisch unter von den politischen Eliten herbeigeführten krisenhaften Zuspitzungen der Machtkonflikte. Mit der Auflösung des Parlaments durch Präsident Viktor Juschtschenko und der Ansetzung von Neuwahlen erreichten die Auseinandersetzungen kürzlich einen neuen Höhepunkt. Trotz langwieriger Verhandlungen zur Auflösung der Pattsituation zeigen sich die Konfliktparteien bisher kaum dazu bereit, von ihren Positionen abzurücken. Die Entwicklung der Kompromissfähigkeit der ukrainischen politischen Eliten vollzieht sich langsam und schmerzvoll.

Der bisherige Verlauf der Krise Entfesselt wurde die jetzige Krise durch den Erlass des Präsidenten vom 02. April 2007, mit dem Juschtschenko das Parlament auflöste und vorgezogene Neuwahlen für den 27. Mai ansetzte. Vorher bewerkstelligte die regierende Koalition aus Partei der Regionen, Sozialisten und Kommunisten zahlreiche Wechsel von Oppositionsabgeordneten ins Regierungslager und kündigte öffentlich bereits vollmundig an, auf diese Weise eine verfassungsändernde Mehrheit von 300 Abgeordneten zustande zu bringen. In Reaktion darauf verkündete Präsident Juschtschenko seinen verfassungsrechtlich streitbaren Erlass. Die Regierungskoalition verweigerte die Auflösung des Parlaments, der Werchowna Rada, und 53 Abgeordnete reichten Verfassungsklage ein. Das Verfassungsgericht nahm die Klage an und beriet ab dem 17. April täglich. Während der Sitzungen wurden schwerwiegende Korruptionsvorwürfe gegen die berichterstattende Richterin Susanna Stanik erhoben. Die Opposition sprach dem Gericht die Unabhängigkeit ab und war bemüht, den Konflikt mit neuerlichen Massenaktionen aus dem Gerichtssaal wieder auf die Straße zu tragen. Am 26. April unterzeichnete Juschtschenke einen weiteren Präsidialerlass. Er annullierte das Dokument vom 02. April, löste das Parlament erneut auf und setzte den Termin für die Neuwahlen nunmehr auf den 24. Juni fest. Juschtschenko reagierte damit zum einen auf die unter anderem auch durch den Europarat geäußerte Kritik, dass der Termin im Mai eine zeitgerechte Vorbereitung der Wahlen und eine Chancengleichheit der Parteien nicht garantieren könne. Zum anderen entzog er mit der Annullierung dem Verfassungsgericht den Verhandlungsgegenstand. Auch gegen den Erlass vom 26. April reichten die Parlamentarier der Regierungskoalition bereits wieder Verfassungsklage ein. Das ukrainische Verfassungsgericht wurde durch die Krise mittlerweile jedoch stark beschädigt. Hatte es in den Monaten vorher die Chance verpasst, sich durch Urteilsfindung in einem der zahlreichen bereits vorliegenden Verfahren als politische und moralische Letztinstanz zu etablieren, steht es nunmehr gänzlich ohne Autorität da. Präsident Juschtschenko entließ innerhalb des vergangenen Monats insgesamt drei Richter per Erlass, die sich jedoch aufgrund des fragwürdigen Urteils eines Provinzgerichts weiter im Amt sehen. Nachdem schließlich auch noch der vorsitzende Richter Iwan Dombrowskij zurücktrat, übernahm der eigentlich vom Präsidenten entlassene Verfassungsrichter Waleri Pschenitschni jetzt sogar den Vorsitz des Gremiums. Eine Entscheidung dieses Verfassungsgerichts wird auf keinerlei Akzeptanz stoßen und scheidet als Möglichkeit der Konfliktlösung aus. Während des gesamten Verlaufs der Krise bestanden bisher, trotz immer neuer Verschärfungen der Situation, gut funktionierende Kommunikationsmechanismen zwischen Präsident und Premier. Eine Einigung schien bereits mehrfach möglich, nachdem Viktor Janukowitsch Zugeständnisse in allen strittigen Punkten, abgesehen von den Neuwahlen, angekündigt hatte. Es entstand jedoch der Eindruck, dass insbesondere der, mittlerweile als »Kriegspartei« bezeichnete, engere Kreis der Präsidialadministration, sich mit einer Lösung nicht zufrieden geben wollte, die keine Neuwahlen beinhaltet. Am 04. Mai vollzog sich dann eine erste Wende: Premier Janukowitsch stimmte nach einem erneuten Gespräch mit Juschtschenko öffentlich den Neuwahlen zu. Eine Arbeitsgruppe aller Parlamentsfraktionen erarbeitet seitdem Vorlagen für den nötigen gesetzlichen Rahmen. Das Parlament soll nach Abschluss der Vorar-

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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beiten dann in einer letzten gemeinsamen Sitzung diese Gesetze zusammen mit der Selbstauflösung beschließen, um den Weg für Neuwahlen zu ebnen. Was zunächst nach einem vernünftigen Ausweg klang, scheiterte jedoch an der offensichtlichen Unreife und Kompromissunfähigkeit der beteiligten Politiker. Das sogenannte »große Paket« einer Klärung der Verfassungsgrundlagen, Machtverteilung und Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Präsident und Parlament noch vor den Neuwahlen erwies sich stante pede als unerreichbar. Die Verhandlungen konzentrieren sich seitdem auf ein »kleines Paket«. Es beinhaltet ergänzende Regelungen zum Wahlgesetz und zur Wahlfinanzierung, ein Gesetz über das imperative Mandat und die gemeinsame Festlegung eines Wahltermins.

Zentrale Konfliktpunkte der laufenden Verhandlungen Es ist weitgehend unstrittig, dass Präsident Juschtschenko mit der Auflösung des Parlaments die Notbremse zog, um die verfassungsändernde Mehrheit der Regierungskoalition und die drohende Abschaffung des Präsidentenamtes zu verhindern. Im Lager der Partei der Regionen gibt man mittlerweile auch unumwunden zu, dass das Prahlen mit der baldigen Verfassungsmehrheit ein eklatanter Fehler war. Aus dem Präsidentenpalast vernimmt man aber zusätzlich auch geradezu metaphysische Begründungsmuster für das Verhalten in der Krise. Juschtschenko vollzieht die Auflösung des Parlaments nach eigener Aussage als »Abschreckungs- und Erziehungsmaßnahme«. Nach seiner Logik wird das Parlament durch die Erfahrung der eigenen Auflösung künftig von den Krankheiten der häufigen Fraktionswechsel und der politischen Korruption geheilt sein. Ein weiterer Aspekt hat außerdem im Verlauf der Krise an Bedeutung gewonnen. Die harte Hand des Präsidenten wird von den Wählern honoriert. Die öffentliche Zustimmung zu seiner Person und zur Partei Nascha Ukraina wuchs in den Wochen des Konflikts ständig an. Für Juschtschenko stehen damit einerseits die Ziele der Durchsetzung des imperativen Mandats, der Festigung der Fraktionen und die Stärkung seiner eigenen Partei im Vordergrund. Andererseits geht es aber auch um die Verankerung seiner persönlichen Machtposition und eine überhöhte Selbstpositionierung als alleinigem »Wächter« der ukrainischen Demokratie. Für seine Gegenspieler in der Regierungskoalition kommt es vor allem darauf an, unter allen Umständen einen Präzedenzfall zu vermeiden. Natürlich wird die Partei der Regionen auch aus vorgezogenen Wahlen als stärkste Kraft hervorgehen. Elementar wichtig ist für Janukowitsch aber, dass diese Wahlen ausschließlich durch Selbstauflösung der Rada und durch eigenes Einverständnis rechtlich herbeigeführt werden können und somit eine einmalige Ausnahme darstellen. Der Faktor der nötigen Gesichtswahrung ist für Janukowitsch außerdem nicht zu unterschätzen. Auch in seiner Heimatbasis Donezk erwartet man in erster Linie Stärke von politischen Führern. Eine zweite offensichtliche Niederlage gegen Juschtschenko wäre für die Basis der Partei der Regionen schädlich. Ein Wahltermin, der entkoppelt von der aktuell starken Position des Präsidenten liegt und in der Zwischenzeit wieder Möglichkeiten für eigenes Agieren eröffnet, wäre demzufolge für die Regierungskoalition wünschenswert.

Maximalforderungen, extreme Rhetorik und Anwendung aller Hebel Vor dem Hintergrund dieser Positionen vollzieht sich das fast schon klassische Modell ukrainischer »Kompromissbildung«. Statt konstruktiv und offen am oft beschworenen runden Tisch nach Lösungen zu suchen, tauschen die Protagonisten vor allem Phrasen und Anschuldigungen aus. Zeitgleich mobilisieren sie alle zur Verfügung stehenden administrativen Ressourcen außerhalb der Verhandlungsrunde, um die gegnerische Partei unter Druck zu setzen und zum Einlenken zu zwingen. Präsident Juschtschenko bringt nach den Präsidialerlassen und den Entlassungen von Verfassungsrichtern dabei zuletzt den Nationalen Sicherheitsrat als ultima ratio in Stellung. Seine Signale sind deutlich: Sollte eine Einigung nicht zügig herbeigeführt werden, könne der Nationale Sicherheitsrat die Regierung entlassen und zur Auflösung der Krise bis zu den Neuwahlen selbst die Amtsgeschäfte übernehmen. Janukowitsch unternimmt unterdessen Versuche zur Reanimierung des Verfassungsgerichts, um doch noch eine Entscheidung gegen die Erlasse des Präsidenten zu erwirken und die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Auch die öffentlichen Proteste der bezahlten Anhänger in Kiew wurden neu mobilisiert, nachdem die betreffenden Bühnen Anfang Mai bereits abgebaut und der Busverkehr eingestellt worden waren.

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Heiko Pleines (Hg.)

Schwierige intervenierende Akteure Erschwert werden die Einigungsprozesse zusätzlich durch intervenierende Akteure. Obwohl Julia Timoschenko sich im Konflikt seit Wochen mit einer Nebenrolle abfinden muss, zeigte sich ihre Fraktion in der Arbeitsgruppe bemüht, hoch zu eskalieren. Fortwährend drohte BJUT mit einem Abbruch der Verhandlungen und rief den Präsidenten zur autoritären Durchsetzung seiner Positionen auf. Ähnlich verhält sich auch der zuletzt deutlich im Aufwind befindliche Juri Luzenko, der mit populistischer Agitation die Krise der Eliten und die durch die Sozialisten hinterlassene Leerstelle für sich auszunutzen sucht. Absolut destruktiv verhält sich die Kommunistische Partei um Petro Simonenko, die in der aktuellen Situation Neuwahlen für 2009 vorschlug und kürzlich seine Unterschrift unter dem »Pakt der Nationalen Einheit« annullierte. Mit Gesprächspartnern wie diesen sind die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe kein leichtes Unterfangen. Eine der momentanen Schlüsselfiguren ist Parlamentssprecher Olexander Moros. Einige Beobachter behaupten sogar, die drastische Eskalation des Konflikts sei ein verwegener »Moros-Plot«, mit der dieser Ambitionen auf das Präsidentenamt geltend machen wolle. In jedem Fall hat Moros in der aktuellen Situation ein Interesse daran, die Krise endlos auszudehnen – und auch viele Möglichkeiten dazu. Zuletzt kündigte er an, selbst das »kleine Paket« der Einigungen der Arbeitsgruppe noch einmal aufschnüren zu wollen. Es seien gesonderte Lesungen und Abstimmungen für jede einzelne Gesetzesänderung nötig. Unterstützung erhält Moros von zahlreichen Abgeordneten, nicht nur aus seiner sozialistischen Partei. Diese Abgeordneten wollen längstmöglich ihre weitreichende Immunität bewahren und die Zeit bis zu den Neuwahlen intensiv zum eigenen materiellen Vorteil nutzen. Insbesondere die zahlreichen Fraktionswechsler, die damit rechnen müssen, künftig auf keiner Liste mehr aufgestellt zu werden, haben ein großes Interesse an einer Verschleppung des Einigungsprozesses. Juschtschenko und Janukowitsch müssen bei einer Einigung auch ihren jeweiligen Bündnispartner in den Griff bekommen. Selbst wenn die Hauptkontrahenten sich einigen, besteht die Gefahr, dass Nebenakteure den Versuch unternehmen, Kompromisse zu torpedieren. Früher oder später wird man vor allem Moros Angebote bis hin zur Aufnahme der Sozialisten auf der Wahlliste der Partei der Regionen unterbreiten müssen, um den Weg für die Durchsetzung einer Einigung zu ebnen.

Profiteure der permanenten Krise Nicht übersehen sollte man die signifikante Eigenlogik der politischen Krise in der Ukraine. Im Schatten der Kiewer Auseinandersetzungen nutzen viele der Akteure in Politik und Wirtschaft gesetzgeberische Leerstellen und die Lähmung von Legislative und Exekutive konsequent aus. Das gilt für die derzeit laufende »zweite Bereicherungswelle« auf dem Gebiet der Immobilien und Bauflächen ebenso wie für ausufernde feindliche Übernahmen von Unternehmen. In den Staatsverwaltungen auf kommunaler und regionaler Ebene ist man außerdem nicht allzu unglücklich über die wirksame Ablenkung der Aufmerksamkeit von den eigenen Problemen. Die Krise bietet ein hervorragendes Alibi für eigene Untätigkeit und die Ablehnung von Entscheidungen unter Berufung darauf, dass »man erst abwarten müsse, was in Kiew passiere«. Auch das Mediensystem der Ukraine hat sich bequem in der Dauerkrise mit den stark personalisierten Auseinandersetzungen eingerichtet. Die Kiewer Eskapaden garantieren, ähnlich wie ein großes Sportereignis, einen anhaltend hohen Aufmerksamkeitsfaktor und damit Erlöse auf dem schnell wachsenden Werbemarkt der Ukraine. Käme der Konflikt zu einem abrupten Ende, entstünden durchaus signifikante Leerstellen und Einkunftsverluste.

Wahrscheinliche Szenarien Der aktuelle Stand der Dinge macht zwei Szenarien für den weiteren Fortgang der Krise möglich. Am wahrscheinlichsten ist es, dass man sich nach weiteren rhetorischen Konfrontationen auf das »kleine Paket« einigen wird. Als möglicher Wahltermin gilt dabei der 9. September 2007. Auch wenn die tatsächlichen Veränderungen in der Zusammensetzung des Parlaments anschließend nur klein wären, zeigt sich eine Tendenz in Richtung der Bildung einer großen Koalition zwischen der Partei der Regionen und Nascha Ukraina in diesem Fall. Diese Idee wird nicht zuletzt deswegen populärer, weil nach Meinung vieler Beobachter nur in dieser Konstellation die notwendigen Anpassungen der Verfassungsordnung und Kompetenzabgrenzungen erfolgversprechend in Angriff genommen werden könnten. Sowohl die Partei der Regionen als auch Nascha Ukraine befürworten ausdrücklich die Einsetzung einer Verfassungskommission nach den Neuwahlen. Beide scheinen sich darüber hinaus auch darüber einig zu sein, Julia Timoschenko als Ministerpräsidentin der Ukraine möglichst zu verhindern.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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Sollte die beschriebene Einigung nicht zustande kommen, könnte die zweite Variante im schlimmsten Fall dazu führen, dass Präsident Juschtschenko durch den Nationalen Sicherheitsrat die Regierung auflöst. In diesem Fall wird sich die Regierung ihrer Entmachtung widersetzen. Es würde im Konflikt in der Ukraine damit schließlich doch noch der Punkt überschritten, ab dem nur noch durch die Hilfe ausländischer Vermittler eine Beilegung der Krise möglich ist. Weitere kursierende Varianten, wie die Durchführung der Neuwahlen unter Boykott in der Ostukraine, gleichzeitige Parlaments- und Präsidentschaftswahlen oder gar Neuwahlen erst nach Verabschiedung einer komplett neuen Verfassung sind unwahrscheinlich und dienen wohl vor allem als Drohkulissen.

Resümee »Nach der Krise« wird in Kiew auch in diesem Fall sehr wahrscheinlich »vor der Krise« sein. Eine Beilegung des Konflikts wird nur vorläufigen Charakter haben. Die Schieflagen in der Verfassungsordnung, die eklatanten handwerklichen Fehler der Verfassungsänderungen von Anfang 2006 und der tiefe Rechtsnihilismus der Eliten machen weitere, periodisch auftretende Konfrontationen zwischen Parlament und Präsident sehr wahrscheinlich. Das »kleine Paket« der Einigungen auf dem Wege des minimalen Konsenses vor den Neuwahlen wird als Grundlage selbst für mittelfristige Stabilität kaum ausreichen. Die von den Konfliktgegnern angeregte Aufnahme der Verfassungsdiskussion nach den Neuwahlen ist notwendig und wünschenswert. Angesichts der beschriebenen Akteure und Kultur der Verhandlungsführung wird die Arbeit eines solchen Gremiums wohl aber kaum kurzfristige Ergebnisse produzieren. Das politische System der Ukraine und die politischen Eliten befinden sich in einem beklagenswerten Zustand. Für die weitere Konsolidierung der ukrainischen Demokratie scheint das wenig ermutigend. Die führenden Parteien sind weitgehend diskreditiert, die Populismusanfälligkeit steigt signifikant, die demokratischen Kerninstitutionen Parlament und Präsident haben beide stark gelitten. Das Verfassungsgericht ist diskreditiert und die katastrophale rechtsstaatliche Situation der Ukraine trat einmal mehr deutlich zutage. Eine wesentliche Erkenntnis bahnt sich in Kiew jedoch langsam ihren Weg. Trotz allen Ziehens und Zerrens und der fortwährenden Mobilisierung aller auch nur denkbaren Instrumente auf beiden Seiten der politischen Auseinandersetzung führt letztlich kein Weg am Kompromiss vorbei. Aufgrund der soziokulturellen und politischen Pattsituation gelingt es weder dem Lager des Präsidenten noch dem des Ministerpräsidenten eine eigene »Tyrannei der Mehrheit« zu etablieren. Die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses führt derzeit auf beiden Seiten des Konflikts zu weitergehenden Überlegungen. Sowohl Juschtschenko als auch Janukowitsch streben klare institutionelle Regelungen an, die einmal gefasste Kompromisse auch effektiv absichern können. Vor dem geschilderten Hintergrund ist der Weg zu diesen wirksamen Institutionen in der Ukraine noch ein steiniger und langer – aber er ist der richtige.

Über den Autoren Nico Lange ist Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Ukraine und leitet das Büro der Stiftung in Kiew.

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Heiko Pleines (Hg.)

Die Einigung auf Neuwahlen im September (Juni 2007) Heiko Pleines, Forschungsstelle Osteuropa, Bremen

In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2007 haben sich die Spitzenpolitiker der Ukraine auf einen Kompromiss zur Lösung der akuten Krise geeinigt. Die von Präsident Viktor Juschtschenko per Erlass verfügten Neuwahlen sollen durchgeführt werden – allerdings erst am 30. September. Im Gegenzug sollte die Opposition die vom Parlament seit dem Präsidialerlass zur Parlamentsauflösung verabschiedeten Gesetze im Nachhinein durch ihre Zustimmung sanktionieren. Gleichzeitig sollte eine Reihe wichtiger Gesetze (insbesondere zum WTO-Beitritt) noch vor den Neuwahlen verabschiedet werden. Das Parlament sollte alle erforderlichen Abstimmungen an zwei Sitzungstagen bis zum 30. Mai durchführen. Die Einigung der Spitzenpolitiker wird auf der nächsten Seite vollständig widergegeben. Am 29. Mai beendete die Opposition ihren Boykott des Parlaments, das sie seit dem Präsidialerlass zu seiner Auflösung als nicht legitim betrachtet hatte. Aufgrund von Meinungsunterschieden über den Wortlaut etlicher zu verabschiedender Gesetze kam es jedoch zu Verzögerungen. Unter anderem setzte die Regierungskoalition die Festlegung einer Mindestwahlbeteiligung von 51 % durch. Im Falle eines Wahlboykotts durch eine große Partei ist so damit zu rechnen, dass die Wahl ungültig wird. Die von der Opposition verlangte Einführung eines imperativen Mandats für Parlamentsabgeordnete wurde nicht zur Abstimmung gestellt. Es dauerte so bis zum 1. Juni, bis das Parlament allen vereinbarten Regelungen zugestimmt hatte. Der Präsident unterzeichnete die verabschiedeten Gesetze sofort. Die Abgeordneten der beiden Oppositionsparteien Block Timoschenko und Unsere Ukraine legten daraufhin ihre Mandate nieder. Am folgenden Tag wurde diese Entscheidung auf Parteitagen bestätigt und wurde damit rechtskräftig. 26 Abgeordnete des Block Timoschenko hatten sich geweigert, ihr Mandat niederzulegen. Der Parteitag beschloss deshalb, ihnen ihr Mandat zu entziehen. Aus Sicht der Opposition ist das Parlament damit aufgelöst, da die Zahl der Abgeordneten unter die in der Verfassung vorgeschriebenen 300 gesunken ist. Damit seien Neuwahlen zwingend erforderlich. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Argumentation wurde jedoch von Abgeordneten der Regierungskoalition bezweifelt. Parlamentspräsident Olexander Moroz erklärt, dass die Mandatsniederlegungen Verfahrensfehler beinhalten. Er bezweifelt ausserdem, dass alle Abgeordneten ihr Mandat persönlich und freiwillig niedergelegt hätten. Eine abschließende Feststellung der Gültigkeit der Mandatsniederlegungen könne nur durch die Zentrale Wahlkommission erfolgen. Solange die für die Beschlussfähigkeit erforderlichen 226 Abgeordneten anwesend seien, werde das Parlament deshalb seine Tätigkeit fortsetzen. Die Position der Opposition werde er nur akzeptieren, wenn sie vom Verfassungsgericht bestätigt würde. Am 5. Juni hob der Präsident seine beiden vorhergehenden Erlasse zur Parlamentsauflösung auf und setzte Neuwahlen für den 30. September an. Der neue Erlass verfügt keine Parlamentsauflösung sondern konstatiert nur, dass das Parlaments durch die Mandatsniederlegungen der Abgeordneten der Opposition nicht mehr existiere. Eine Chronik der aktuellen Entwicklung findet sich am Ende dieser Ausgabe. Die Einigung hat kurzfristig eine Eskalation der Krise verhindert. Sie löst jedoch nicht die zugrundeliegenden Probleme. Die Neuwahlen könnten durchaus die alten Kräfteverhältnisse im Parlament bestätigen. Die grundlegenden Kompetenzkonflikte zwischen Regierung und Präsident sind nicht beigelegt worden. Das Verfassungsgericht als letzte Entscheidungsinstanz hat seine politische Glaubwürdigkeit durch die politischen Manipulationen weitgehend verloren.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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Gemeinsame Erklärung des Präsidenten, Parlamentsvorsitzenden und Ministerpräsidenten über unaufschiebbare Maßnahmen zur Lösung der politischen Krise durch vorgezogene Neuwahlen zum Parlament, 27. Mai 2007 [nicht-amtliche Übersetzung] In vollem Bewußtsein der umfassenden Verantwortung für die gesellschaftlich-politische und sozioökonomische Lage des Staates, zur Gewährleistung der Verhinderung einer Eskalation der Krise und ihrer unverzüglichen Lösung auf ausschließlich friedliche Weise und auf der Basis eines Dialoges zwischen den führenden politischen Kräften sowie der Sicherstellung der nationalen Interessen und der Einigkeit des Landes haben sich die Parteien auf folgendes geeinigt:

1. Um die erforderlichen Bedingungen zur Verwirklichung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu schaffen, muß garantiert werden, dass alle Versuche, die Spannungen in der Gesellschaft zu verstärken, abgewendet werden und alle Handlungen, die zu einer gewaltsamen Entwicklung führen, verhindert werden. 2. Vorgezogene Neuwahlen zum Parlament werden am 30. September durchgeführt. 3. Es wird anerkannt, dass die Neuwahlen zum Parlament in Übereinstimmung mit dem Erlass des Präsidenten auf der Grundlage von Teil 2, Absatz 82 der Verfassung durchgeführt werden. 4. Für die gesetzliche Gewährleistung von ehrlichen, transparenten und demokratischen Neuwahlen zum Parlament sollen vom Parlament vom 29. bis 30. Mai 2007 Plenarsitzungen durchgeführt werden, auf denen folgendes beschlossen wird: •

Verabschiedung im Ganzen der Entwürfe der Rechtsakte, die von der Arbeitsgruppe der Bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten, der Regierung, der Regierungskoalition und Parlamentsopposition vereinbart wurden (Anlage 1);



Bestätigung der Ergebnisse der Parlamentsabstimmungen des Zeitraums vom 2. April bis 29. Mai (Anlage 2);



Verabschiedung der vorläufig vereinbarten Gesetze, die den Beitritt der Ukraine zur WTO betreffen sowie weitere Gesetze zu sozialökonomischen Fragen (Anlage 3).

5. Die Regierung soll gemeinsam mit der Zentralen Wahlkommission die Umsetzung des Gesetzes »Über das staatliche Wählerverzeichnis« gewährleisten. 6. Mit dem Ziel der Durchführung von ehrlichen, transparenten und demokratischen Wahlen sollen auf der Grundlage der Vereinbarungen, die durch die Arbeitsgruppe der Bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten, der Regierung, der Regierungskoalition und Parlamentsopposition erreicht wurden, Änderungen in der personellen Zusammensetzung der Zentralen Wahlkommission vorgenommen werden. 7. Die beteiligten Seiten verpflichten sich, sich nicht außerhalb ihrer Kompetenzen in die Tätigkeit der Gerichte und der Rechtsschutzorgane einzumischen. Der Präsident der Ukraine

Der Vorsitzende des Parlaments der Ukraine

Der Ministerpräsident der Ukraine

V.A. Juschtschenko

A.A. Moroz

V.F. Janukowitsch

Übersetzung: Lina Pleines Quelle: http://www.president.gov.ua/ru/news/data/print/16139.html

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Heiko Pleines (Hg.)

Das ukrainische Verfassungsgericht Heiko Pleines, Forschungsstelle Osteuropa, Bremen

Einleitung Die aktuelle politische Krise ist zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass die Verfassungsreform von 2004 die Kompetenzen zwischen Präsident, Regierung und Parlament in vielen Fällen nicht eindeutig abgrenzt. So wird etwa festgelegt, dass der Präsident den Außen- und den Verteidigungsminister ernennt. Wer für die Entlassung der beiden Minister zuständig ist, wird jedoch nicht explizit bestimmt. Bei der Ernennung der regionalen Gouverneure wird lapidar eine Abstimmung zwischen Präsident und Regierung verlangt. Wie im Konfliktfall vorzugehen ist, bleibt offen. Der seit September 2006 eskalierende Konflikt zwischen Präsident und Regierungskoalition hat sich immer wieder an Fragen der Verfassungsinterpretation entzündet. Hinzu kommt, dass beide Seiten die Lücken und Widersprüche der Verfassung über Gesetzesvorlagen zu ihren Gunsten beseitigen wollten. In einer derartigen Situation kommt einem Verfassungsgericht eine zentrale Bedeutung zu. Entsprechend der ukrainischen Verfassung ist das Verfassungsgericht zuständig für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von nationalen Gesetzen und Rechtsakten und für die Auslegung der Verfassung und der Gesetze der Ukraine. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts dazu gelten als verbindlich, endgültig und unanfechtbar. Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm kann vom Präsidenten, von einem Zehntel der Parlamentsabgeordneten, vom Obersten Gericht, vom Parlamentsbeauftragten für Menschenrechte und vom Parlament der Krim beim Verfassungsgericht beantragt werden. Sowohl der Präsident als auch die Regierungskoalition haben im Verlaufe der politischen Krise mehrfach vor dem Verfassungsgericht geklagt. In den letzten fünf Monaten (Januar bis Mai) haben Parlamentsabgeordnete 14 und der Präsident 12 Verfassungsbeschwerden eingereicht. Insgesamt sind derzeit 40 Beschwerden von Parlamentsabgeordneten, 13 Beschwerden des Präsidenten sowie vier der Regierung vor dem Verfassungsgericht anhängig. Einen Überblick über zentrale Verfassungsbeschwerden gibt Tabelle 1 auf den Seiten 8 bis 10. Das Verfassungsgericht besteht aus insgesamt 18 Richtern, von denen jeweils sechs vom Staatspräsidenten, dem Parlament und der Obersten Vereinigung der Ukrainischen Richter bestimmt werden. Die Amtszeit der Verfassungsrichter beträgt neun Jahre – eine erneute Amtszeit ist nicht möglich. Erreichen die Richter das 65. Lebensjahr, scheiden sie automatisch aus dem Amt aus. Für die Beschlussfähigkeit des Verfassungsgerichts ist ein Quorum von 12 Richtern erforderlich. Dadurch, dass zwei Drittel der Verfassungsrichter von Präsident und Parlament bestimmt werden, wurde das Verfassungsgericht bereits in der Amtszeit von Präsident Leonid Kutschma als politisiert betrachtet. Umstritten war etwa die – hinterher politisch nicht relevante – Entscheidung, dass Präsident Kutschma für eine dritte Amtszeit kandidieren könne. Die Ansetzung einer dritten Runde der Präsidentschaftswahlen 2004 wegen Wahlfälschungen im zweiten Durchgang, die ein zentraler Faktor für den Erfolg der »orangen Revolution« wurde, erfolgte allerdings nicht durch das Verfassungsgericht sondern durch das Oberste Gericht, da Wahlfälschungen ein Straftatbestand sind und keinen Bezug zur Interpretation der Verfassung haben. Da der neu gewählte Präsident Viktor Juschtschenko ankündigte, die im Zuge der »orangen Revolution« vereinbarten Verfassungsänderungen, die die Position des Parlaments stärkten, vor dem Verfassungsgericht anzufechten, blockierte das Parlament die Ernennung der sechs von ihm zu bestimmenden Verfassungsrichter. Erst die neue Regierungskoalition unter Viktor Janukowitsch einigte sich dann im August 2006 auf die Ernennung der sechs Verfassungsrichter. Einen Überblick über die Verfassungsrichter gibt Tabelle 2 auf Seite 10. Gleichzeitig verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das dem Verfassungsgericht die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verfassungsreform von 2004 untersagte. Ein Gesetz, das eindeutig verfassungswidrig ist, aber bisher nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten wurde. Seit dem Beginn der politischen Krise ist das Verfassungsgericht also funktionsfähig und es ist bereits in einer Vielzahl von Fällen angerufen worden. Entschieden hat es jedoch erst in einem Fall, quasi in eigener Sache. Mitte Mai erklärte es einen Absatz des Gesetzes über die Gerichtsbarkeit der Ukraine für verfassungswidrig. Alle für die Lösung der politischen Krise relevanten Entscheidungen wurden vom Gericht systema-

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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tisch verschleppt. Derzeit laufen vor dem Verfassungsgericht 39 Verfahren, weitere werden zur Verfahrenseröffnung vorbereitet. Als Parlamentsabgeordnete dann im April das Verfassungsgericht zur Überprüfung des Präsidialerlasses zur Auflösung des Parlaments und zur Ansetzung von Neuwahlen anriefen, konnten sich die Verfassungsrichter nicht mehr länger aus dem politischen Konflikt heraushalten. Da der Präsidialerlass Neuwahlen schon vor der Sommerpause vorsah, wurde vom Verfassungsgericht eine schnelle Entscheidung verlangt. Gleichzeitig erhöhten sowohl die Regierungskoalition als auch der Präsident und die parlamentarische Opposition den Druck auf die Verfassungsrichter. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Iwan Dombrowski, war für Stellungnahmen nicht zu erreichen und trat am 17. Mai zurück. Etliche Verfassungsrichter forderten Personenschutz an. Der Geheimdienst warf der Verfassungsrichterin Susanna Stanik Korruption vor. Präsident Juschtschenko entließ schließlich wegen »Verletzung des Amtseides« per Präsidialerlass von Ende April bis Mitte Mai drei Verfassungsrichter, die noch sein Vorgänger Leonid Kutschma berufen hatte. Die drei Richter erkannten die Entlassung nicht an und klagten vor Gericht. Parlamentsabgeordnete reichten Verfassungsbeschwerde gegen die Entlassungen ein. Die drei Richter nahmen weiter an Sitzungen des Verfassungsgerichts teil, einer von ihnen wurde nach dem Rücktritt Dombrowskis sogar in Vertretung Vorsitzender des Verfassungsgerichts. Anstatt zur Lösung der Krise beizutragen und die Verfassung als über politischen Konflikten stehendes, allgemeingültiges Regelwerk zu stärken, haben die Verfassungsrichter ihre Chance vertan, durch ein »salomonisches Urteil« Politik zu gestalten. Stattdessen sind sie selber zum Spielball der politischen Konfliktparteien geworden. Schon durch die Ignorierung des Gesetzes, das eine Überprüfung der Verfassungsreform verbietet, hat das Verfassungsgericht im Herbst 2006 seine Rolle als Schiedsrichter in Frage gestellt. Mit der Demontage im Zuge des Konfliktes um die Parlamentsneuwahlen hat es sowohl seine Entscheidungsfähigkeit als auch seine Legitimität wohl für längere Zeit verloren.

Tabelle 1: Die zentralen politisch relevanten Verfassungsbeschwerden Lfd. Nr.

Klagegegenstand

Kläger

aktueller Status

1

Verfahren über die offizielle Auslegung der Art. 5 Abs.3, Art. 69 Abs. 3, Art. 74 Abs. 3, Art. 94 Abs. 2, Art. 156 Abs. 1 der Verfassung der Ukraine

Präsident

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

2

Verfassungsbeschwerde zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Regierungserlasses »Über die Änderungen der Regierungserlasse der Ukraine vom 14. August 1996 und vom 9. Oktober 1996 Nr. 1247« vom 20. September 2006 Nr. 1336

Präsident

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

3

Verfassungsbeschwerde zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Regierungserlasses vom 13. Dezember 2006 Nr. 1731, 1734, 1735, 1736, 1737, 1741, 1742 (Ernennung der Stellvertreter des Innenministers der Ukraine)

Präsident

Das Verfahren wurde noch nicht eröffnet, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

5

Verfahren über die offizielle Auslegung von Art. 72 Abs. 2, Art. 74 Abs. 2 (Bedeutung von Referenden im Gesetzgebungs- und Verfassungsgebungsprozess)

Präsident

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

34

Lfd. Nr.

Heiko Pleines (Hg.)

Klagegegenstand

Kläger

aktueller Status

7

Verfassungsbeschwerde bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Verabschiedung und Inkraftsetzung des Gesetzes »Über das Kabinett« vom 21. Dezember 2006 Nr. 514-V (Präsident Juschtschenko hatte gegen das Gesetz sein Veto eingelegt und anschließend seine Unterschrift verweigert)

Präsident

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

11

Verfassungsbeschwerde zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regierungserlasse »Über dringende Maßnahmen zur Gewährleistung der Umsetzung der Parlamentsverordnungen vom 2. April 2007 Nr. 837-V »Über die Verhinderung von Aktionen, die die konstitutionelle Gesetzordnung, den gesellschaftlichen Frieden und die Stabilität der Ukraine gefährden« und Nr. 839-V »Über die politische Situation in der Ukraine, die durch den Erlass des Präsidenten der Ukraine vom 2. April 2007 »Über die vorzeitige Auflösung des Parlaments« vom 3. April 2007 Nr. 595

Präsident

Prüfung der Beschwerde durch das Richterkollegium

13

Verfahren bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des Regierungserlasses »Über die Maßnahmen zur Verhinderung von Aktionen, die gegen die Verfassung und Gesetze der Ukraine verstoßen« vom 11. April 2007 Nr. 617

Präsident

Prüfung der Beschwerde durch das Richterkollegium

21

Verfahren über die offizielle Auslegung der Bestimmungen von Art. 15 Abs. 4, Art. 16 Abs. 3, Art. 28 Abs. 18, Art. 84 Abs. 1, Art. 84 Abs. 3, Art. 84 Abs. 5, Art. 85 Abs. 7, Art. 85 Abs. 8, Art. 86 Abs. 1, Art. 104 Abs. 1 des Gesetzes »Über die Wahlen des Präsidenten der Ukraine«

49 Parlamentsabgeordnete

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

34

Verfahren zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes »Über die Entlassung von Amtsinhabern, die das Abgeordnetenmandat mit anderen Tätigkeiten verbinden«

52 Parlamentsabgeordnete

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Vorbereitung der Beschwerde für die Gerichtsverhandlung

43

Verfassungsbeschwerde zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze »Über die Einbringung von Änderungen in die Verfassung der Ukraine« vom 8. Dezember 2004 (Nr. 2222-IV) und »Über die Einbringung von Änderungen in den Abschnitt 4 »Übergangs- und Schlussbestimmungen« des Gesetzes »Über das Verfassungsgericht der Ukraine« vom 4. August 2006 Nr. 79-V

102 Parlamentsabgeordnete

Prüfung der Beschwerde durch das Richterkollegium

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

Lfd. Nr.

35

Klagegegenstand

Kläger

45

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses »Über den Beschluss des Sicherheitsrates der Ukraine vom 5. April 2007 »Über die politische Lage und dringende Maßnahmen zur Gewährleistung der verfassungsmäßigen Rechte der ukrainischen Bürger« vom 6. April 2007 Nr. 285

52 Parlamentsabgeordnete

Prüfung der Beschwerde durch das Richterkollegium

aktueller Status

47

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses »Über die vorzeitige Auflösung des Parlaments und Anordnung von Neuwahlen« vom 26. April 2007 Nr. 355

160 Parlamentsabgeordnete

Eröffnung des Verfahrens nach dem Beschluss des Richterkollegiums, Gerichtsverhandlungen seit dem 21.05.2007 (Das Verfahren zum vorhergehenden Präsidialerlass zur Parlamentsauflösung wurde damit eingestellt.)

48

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses vom 30. April 2007 Nr. 369 »Über die Entlassung von W. Pschenitschnyj aus dem Amt des Verfassungsrichters«

49 Parlamentsabgeordnete

Das Richterkollegium entscheidet am 11.6.2007 keine Gerichtsverhandlung aufzunehmen

49

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses vom 1. Mai 2007 Nr. 370 »Über die Entlassung von S. Stanik aus dem Amt der Verfassungsrichterin«

53 Parlamentsabgeordnete

Das Richterkollegium entscheidet am 11.6.2007 keine Gerichtsverhandlung aufzunehmen

50

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses vom 30. April 2007 »Über die Entlassung von W. Iwaschtschenko aus dem Amt des Verfassungsrichters«

50 Parlamentsabgeordnete

Das Richterkollegium entscheidet am 11.6.2007 keine Gerichtsverhandlung aufzunehmen

Verfassungsbeschwerde zur Verfassungsmäßigkeit des Präsidialerlasses »Über die Anordnung von Parlamentsneuwahlen« vom 5. Juni 2007

55 Parlamentsabgeordnete

Eingegangen am 15.6.2007

Quelle: Verfassungsgericht der Ukraine; http://www.ccu.gov.ua/pls/wccu/P000?lang=0, 15.06.2007

36

Heiko Pleines (Hg.)

Tabelle 2: Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts Name

Datum der Ernennung

Aktueller Status

Präsidentenquote Iwaschtschenko, Wolodimir Iwanowitsch

März 2001

von Präsident Juschtschenko entlassen am 10. Mai 2007

Pschenitschnyj, Waleri Grigoriwitsch

Januar 2003

von Präsident Juschtschenko entlassen am 30. April 2007; seit 17.05.2007 Vorsitzender des Verfassungsgerichts in Vertretung

Stanik, Susanna Romanowna

März 2004

von Präsident Juschtschenko entlassen am 1. Mai 2007; stellvertretende Vorsitzende des Verfassungsgerichts

Kampo, Wolodimir Michajlowitsch

November 2005

Lilak, Dmitro Dmitrowitsch

November 2005

Schischkin, Viktor Iwanowitsch

November 2005

ersucht am 21. Mai 2007 Präsident Juschtschenko um seine Entlassung

Parlamentsquote Tkatschuk, Pawlo Mikolajowitsch Golowin, Anatoli Sergijowitsch

Juli 2002 August 2006

Kolos, Michajlo Iwanowitsch

August 2006

Markusch, Maria Andriiwna

August 2006

Owtscharenko, Wjatscheslaw Andrijowitsch

August 2006

Stezjuk, Petro Bogdanowitsch

August 2006

Vom Parlament entlassen am 24. Mai 2007

Quote des Richterkongresses Strishak, Andri Andrijowitsch

Januar 2004

Dshun, Wjatscheslaw Wasiljowitsch

November 2005

Didkiwski, Analotlij Olexandrowitsch

November 2005

Brinzew, Walil Dmitrowitsch

November 2005

Dombrowski, Iwan Petrowitsch

November 2005

Matschushak, Jaroslawa Wasiliwna

November 2005

Vorsitzender des Verfassungsgerichts, entlassen auf eigenen Wunsch am 17.05.2007

Quelle: Verfassungsgericht der Ukraine; http://www.ccu.gov.ua/pls/wccu/P000?lang=0, 14.06.2007.

Der Wahlkampf im Sommer 2007

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

39

Die politische Stimmung zum Beginn des Wahlkampfs Repräsentative Umfrage des FOM-Ukraine Mitte Juni 2007, http://bd.fom.ru/report/map/projects/fom_ukraine/du070901

Grafik 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn Sonntag Parlamentswahlen wären? 2005–07 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% 1 Unsere Ukraine

2 Partei der Regionen

3

Block Timoschenko

Kommunisten

Sozialisten

Anmerkung: Zahlen für März 2006 entsprechen dem Wahlergebnis.

Grafik 2: Welche Partei würden Sie wählen, wenn Sonntag Parlamentswahlen wären? Januar bis Juni 2007 %

35 30 25 20 15 10 5 0 Januar

Februar

Unsere Ukraine Block Timoschenko Sozialisten

März

April

Mai

Partei der Regionen Kommunisten Block Nationale Selbstverteidigung

Juni

40

Heiko Pleines (Hg.)

Grafik 3: Hypothetische Fraktionsgrößen gemäß Wahlprognose Juni 2007 7% 16%

Partei der Regionen Kommunisten Block Timoschenko Unsere Ukraine Selbstverteidigung des Volkes

46%

24% 7%

Eigene Berechnung

Grafik 4: Regionale Parteipräferenzen 60% 51% 50%

40%

35%

30%

27%

25% 18%

20% 13%

10% 10%

10%

6%

4%

4% 1%

0% Westukraine

Zentralukraine Partei der Regionen

Südukraine

Block Timoschenko

Ostukraine

Unsere Ukraine

Grafik 5: Zustimmung zu vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. September 1%

11% Bin dagegen Bin dafür Weiß nichts davon Keine Antwort

46%

42%

Grafik 6: Helfen die vorgezogenen Neuwahlen, die politische Krise zu lösen? 14%

28%

Nein Ja Keine Antwort 58%

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

41

Der Wahlkampf läuft auf vollen Touren Yuliya Yurchuk, MA Eurocultures, Universität Göttingen

Zusammenfassung In fünf Tagen werden die Ukrainer in den Wahllokalen für die Parteien stimmen, aus denen sich künftig die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament zusammensetzen wird. Angeblich soll mit den vorgezogenen Wahlen die gegenwärtige politische Krise gelöst werden. Es gibt allerdings kaum Hoffnung, dass sich die augenblickliche Situation nach dem 30. September, dem Wahltag, verändern wird. Klar ist, dass dieselben Personen am Spiel um die Macht beteiligt bleiben. Spekuliert wird lediglich über die künftige Koalition, die den Ministerpräsidenten bestimmt.

Weshalb die Wahlen? Wenn es um die Ursachen für die vorgezogenen Wahlen geht, dann ist eine einfache Antwort sehr verlockend: nämlich, das seit den Parlamentswahlen 2006 ständig zunehmende politische Chaos in der Ukraine. Die schnellen Wahlen scheinen der einfachste Weg zu sein, die Blockade zwischen Präsident Viktor Juschtschenko und seinem Rivalen Ministerpräsident Viktor Janukowitsch zu beenden. Allerdings ist der einfachste Weg nicht immer der richtige. Für die Wahlen gibt es formale Ursachen wie auch informelle Motive. So ist einerseits der Präsident bestrebt, seiner Verpflichtung als Verfassungsgarant gegenüber den Bürgern nachzukommen und löste das fortwährend verfassungswidrig handelnde Parlament auf. Andererseits hängt die Frage »Weshalb Wahlen?« sehr eng mit jener nach »Warum die Krise?« zusammen, da ja die Wahlen ein Echo auf die Probleme darstellen. Erklären lässt sich die Krise zum einen als Folge des Konfliktes zwischen den Parteien Block Julia Timoschenko, Juschtschenkos Unserer Ukraine sowie der Partei der Regionen von Janukowitsch, zum anderen resultiert sie aus den Hoffnungen der Regierungskoalition, die absolute Mehrheit zu erhalten. Auch wurde die Krise noch durch den Interessenkonflikt zwischen verschiedenen Oligarcheneliten des Finanz- und Industriesektors verstärkt. All dies verweist auf die mangelnde Bereitschaft der ukrainischen Politiker, sich zu einigen und miteinander zu kooperieren, um eine gesittete Machtaufteilung zu realisieren. Selbst das Verfassungsmodell von 2004 scheint recht unbequem zu sein; entspricht es doch nicht mehr den persönlichen Ambitionen führender politischer Akteure. Wegen der zeitlichen Kürze des diesjährigen Wahlkampfes, hatten neue politische Akteure keine Chance sich zu etablieren. Dementsprechend ist maximal eine geringe Veränderung in der Zusammensetzung der führenden Politiker zu erwarten, vor allem im Fall einer neuen Regierungskoalition.

Dieselben Personen an derselben Stelle Betrachtet man den Wahlkampf 2007 etwas genauer, so beschleicht einen das Gefühl eines déjà vu der Wahlen von 2006. Es gibt zwar manche Veränderungen auf den Wahllisten, diverse Umbesetzungen bei den Kandidaten und veränderte Rhetoriken mancher Parteien gegenüber der Bevölkerung. Im Kern ist allerdings alles beim alten geblieben. Dieses Faktum wurde bereits auf den Parteitagen zu Beginn des Wahlkampfes deutlich, die Anfang August stattfanden. Den spektakulärsten Parteitag veranstaltete die Partei der Regionen. Dieser fand im Sportpalast statt, der größten Konzerthalle Kiews, in der 2005 der European Song Contest durchgeführt wurde. Der Weg zum Eingang war, der Farbe dieser Partei entsprechend mit blauem Teppich gesäumt, die Menge der Anhänger und das pompöse Auftreten der Parteimitglieder glichen sehr der prachtvollen Oscar-Verleihung. Für die Politiker war die Anerkennung auf dem Parteitag ebenso bedeutend, wie der Oscar für die Schauspieler. An die gegenwärtigen politischen Freunde des Parteivorsitzenden verteilte man Plätze auf den Wahllisten: Je enger die Bindung, desto höher der Listenplatz. Das ist die Logik. Die größten »Überraschungen« finden sich unter den ersten fünf Listenplätzen. Da gibt es zwei neue Namen in der Partei der Regionen: Inna Bohoslowska und Nestor Schufritsch. Bei den letzten Wahlen waren sie mit ihren Parteien »Witsche« und der »Sozialdemokratischen Partei der Ukraine (Vereinigt)« unverbesserliche Rivalen; jetzt werden sie gemeinsam eine maßgebliche Rolle in der Fraktion der Partei der Regionen spielen. 2006

42

Heiko Pleines (Hg.)

schaff te keine der beiden Parteien den Einzug ins Parlament. Gemeinsam jedoch können Bohoslowska und Schufritsch einen beachtlichen Teil der Wählerstimmen unterschiedlicher sozialer Schichten mobilisieren. Die »Witsche«–Partei Bohoslowskas war 2006 progressiv auf junge Menschen sowie die liberale Mittelschicht hin ausgerichtet. Im Gegensatz dazu unterstützte die Sozialdemokratische Partei (Vereinigt) den Status quo der Kutschma-Regierung, die vielmehr auf den älteren Teil der Bevölkerung des Landes konzentriert war. Berücksichtigt man außerdem die rhetorischen Fähigkeiten der beiden Kandidaten wie auch ihre Beliebtheit in der Bevölkerung, so stellen sie das ideale Sprachrohr der Partei der Regionen dar, nur dass sie keinerlei strategischen Wandel in der Partei bewirken werden. Im Vergleich zum Wahlkampf von 2006, bei dem die Partei der Regionen inhaltlich hauptsächlich ihre AntiNATO-Haltung, die engere Verflechtung mit Russland sowie die Rolle der Russischen Sprache thematisierte, betont sie in diesem Jahr die mangelnde Demokratie in der Ukraine als Folge der »orangen« Herrschaft. Die Partei verspricht, die Situation zu verbessern. Seit Monaten schon hebt sie ihre internationale »Zwei-Vektoren«Politik hervor, bei der die Partnerschaft der Ukraine sowohl mit der Europäischen Union wie auch mit Russland richtungweisend ist. Wie auch immer, wahrscheinlich sind es nur rhetorische Veränderungen in den Parteireden, um die pro-europäischen Wähler für sich gewinnen zu können – zeigten doch die russischen Gäste Konstantin Satulin und Konstantin Kosachow von der Kremlpartei »Einiges Russland« die Dringlichkeit der russisch-ukrainischen Verbindungen auf und sprachen über »den Schrecken des orangen Giftes«, welches die Ukraine betäubt hätte. Die Partei der Regionen müsse die Ukraine von dieser Vergiftung erlösen. Unter Berücksichtigung des innerparteilichen Zusammenhaltes, ihrem Image einer starken Partei sowie ihrem Einfluss auf die Massenmedien, hat die Partei der Regionen sehr gute Aussichten, als Sieger aus dieser Wahl hervorzugehen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen, hat der Block Julia Timoschenko, eine Koalition der BatkiwschtschinaPartei (Vaterland), deren Vorsitzende Julia Timoschenko ist, der Sozialdemokratischen Partei der Ukraine sowie der Partei Reformen und Ordnung, dieses Mal bessere Aussichten, hauptsächlich durch die sehr emsige Aktivität ihrer Vorsitzenden. Nicht zuletzt hat Timoschenko durch die erschwerte Zulassung ihres Parteibündnisses zu den Wahlen durch das Zentrale Wahlkomitee zusätzlich öffentliche Sympathien für sich gewinnen können. Der Parteitag des Blocks stand in der Art seiner Durchführung den Konkurrenten in nichts nach. Für tausende Anhänger, die als Unterstützung ihres ideologischen Leittieres gekommen waren, sangen die besten Musiker des Landes. Allerdings waren einige der Zuschauer von der Einstellung der Vorsitzenden verblüff t. So regte Wilfried Martens, Vorsitzender der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) die Batkiwschtschina-Partei dazu an, sich der EVP anzuschließen. Julia Timoschenko nahm die Einladung erfreut an. Die Verbindung mit einer konservativ ausgerichteten Partei könnte einen Gesinnungswandel der Parteiführung andeuten, da sich die Batkiwschtschina-Partei selbst eigentlich als die am weitesten links angesiedelte ukrainische Volkspartei positioniert. Dieser politische Wandel scheint sehr fraglich. Viel eher beabsichtigte die Parteiführung mit dieser Maßnahme wohl, ihre Popularität unter den Wählern zu vergrößern. Sarkozy, Merkel, Barrozo und andere prominente Anhänger der EVP symbolisieren Macht, Stabilität und Europäisches Interesse an der Ukraine. Diese Einladung ist demnach äußerst positiv konnotiert; demonstriert sie doch die guten Beziehungen Timoschenkos zu anderen führenden europäischen Politikern, vor allem, wenn man an ihre berüchtigte Vergangenheit denkt. Die dritte Partei, die definitiv nach dem 30. September ins Parlament einziehen wird, ist Unsere UkraineSelbstverteidigung des Volkes, eine Union von neun demokratischen Parteien. Die bekanntesten unter ihnen sind die Partei Unsere Ukraine von Viktor Juschtschenko, Selbstverteidigung des Volkes mit ihrem Vorsitzenden Juri Lusenko, Mitorganisator der Orangen Revolution und bis zum Herbst 2006 Innenminister, sowie die Volksfront (RUKH). Die Parteitagsrhetorik beschäftigte sich hier vor allem mit dem Status der ukrainischen Sprache, der Herstellung eines Konsenses innerhalb der Orthodoxen Kirche, einer nationale Kultur- und Gesellschaftspolitik sowie mit wirtschaftlichen Normen. Die größte Kontroverse gab es bei der Abschaff ung der Immunität für Abgeordnete, die dann doch zu einem zentralen Wahlkampfthema wurde. Was die derzeitige Positionierung von Unsere Ukraine- Selbstverteidigung des Volkes innerhalb der ukrainischen Parteienlandschaft betriff t, so bekennt man sich zum Block Julia Timoschenko. Wie die letzten Jahre jedoch gezeigt haben, kann sich dies nach der Wahl schnell wieder ändern, denn Freund und Feind sind unter den ukrainischen Politikern wie Karten in einem Spiel vermischt.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

43

Die Gewinner und Verlierer der vorzeitigen Wahlen Wie in jedem Spiel, gibt es auch in der Politik Sieger und Verlierer. Für gewöhnlich sind es mehr Verlierer, was wohl auch nach den Wahlen in der Ukraine der Fall sein wird. Der größte unter ihnen könnte möglicherweise die Sozialistische Partei der Ukraine mit ihrem Vorsitzenden Oleksandr Moros sein. Seine Partei schafft es wahrscheinlich nicht, überhaupt ins Parlament einzuziehen, da Moros das Vertrauen der Wähler verloren hat. Dies zeigen auch die letzten Umfragen. Die Kommunisten haben ebenfalls geringe Aussichten, die Vier-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu überwinden. Während der Kutschma-Ära stellten sie noch eine Alternative zum Präsidenten dar. Diesen Part hat nun die Partei der Regionen übernommen. Darüber hinaus integrierte die Partei der Regionen auch programmatische Inhalte der Kommunisten in ihr eigenes Wahlprogramm, darunter die Anti-NATOHaltung sowie die Forderung nach einem offiziellen Status der russischen Sprache, weshalb die Bevölkerung voraussichtlich eher für die Partei der Regionen stimmen wird. Für den in der politischen Mitte angesiedelten Block Litvin wie auch für die nationalistische Allukrainische Vereinigung »Swoboda« sind die Aussichten auf Einzug ins Parlament schlecht. Die Wähler, die eine nationalistische Politik unterstützen, wählen wahrscheinlich eher den Block Julia Timoschenko oder Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes.

…und nach den Wahlen? Nach dem 30. September haben sich die Ukrainer eine Pause verdient. Innerhalb der letzten drei Jahre ging die Bevölkerung zu oft in die Wahllokale. Aber werden die bevorstehenden Wahlen dem Land Stabilität bescheren? Das ist zweifelhaft, da Ruhe und Stabilität im Land nur gewährleistet wären, wenn eine Partei die absolute Mehrheit gewinnen würde, entweder die Partei der Regionen, Unsere Ukraine oder der Block Julia Timoschenko. Weil dies kaum denkbar ist, ist Stabilität in der ukrainischen Politik ebenfalls schwer vorstellbar. Eigentlich ist nach den Wahlen eine erneute Krise zu erwarten, die das Land mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen 2009 begleiten wird. Es bleibt die Tatsache, dass die Parteien wieder eine Koalition bilden müssen. Die zwei bereits 2006 versuchten Varianten sind auch 2007 wieder wahrscheinlich. Entweder werden die orangen Parteien, also der Block Timoschenko und Unsere Ukraine zusammenarbeiten und so die Mehrheit im Parlament stellen können oder Unsere Ukraine wird, wie 2006, gemeinsam mit der Partei der Regionen, den Kommunisten und Sozialisten, falls diese in das Parlament einziehen, die Mehrheit erlangen. Selbstverständlich gibt es auch eine dritte, wenn auch kaum denkbare Variante. Der Block Julia Timoschenko könnte mit der Partei der Regionen zusammenarbeiten. Denkt man an die kommenden Präsidentschaftswahlen 2009, bei denen Timoschenko gute Aussichten hat, mit ihrer kontinuierlichen und beharrlichen Politik zu gewinnen, so ist diese Koaltionsvariante jedoch sehr unwahrscheinlich. Timoschenko hat verstanden, dass die Bevölkerung es leid ist, sich nicht auf die Beständigkeit der Politiker verlassen zu können. Die Parteien wiederum sind bemüht, ihre Wähler davon zu überzeugen, dass sie nicht wieder die gleichen Fehler machen werden. Präsident Juschtschenko erklärte, dass seine Partei mit ihren Freunden vom Block Timoschenko Hand in Hand geht und eine Koalition mit der Partei der Regionen künftig nicht denkbar sein wird. Dieses feierliche Versprechen kann kaum für bare Münze genommen werden, weil der Wert des Wortes von Politikern in Wahlkampfzeiten gering ist. Es gehört bereits zur Tradition in der ukrainischen Politik, das Gesicht nach der Wahl zu verändern. Folglich kann jede Prognose falsch liegen. In zwei Jahren werden die Ukrainer den Präsidenten wählen. Möglicherweise wird sich dann etwas ändern. Übersetzung: Jana Matischok

Über die Autorin: Yuliya Yurchuk hat an der Universität Rivne studiert und absolviert derzeit den MA Euroculture an den Universitäten Göttingen und Duesto, San Sebastian. Von Juli bis September 2007 war sie Praktikantin an der Forschungsstelle Osteuropa.

44

Heiko Pleines (Hg.)

Die Wahlprogramme der drei großen Parteien Halyna Kokhan, Kiew

Zusammenfassung Programme politischer Parteien im Wahlkampf zeigen nicht nur, womit politische Kräfte bei den Wahlen antreten, sondern auch die politischen Kurse, die sie nach den Wahlen, d. h. falls sie gewählt werden, zu verfolgen versprechen. Hier sollen nun die Wahlprogramme der drei großen Parteien kritisch gewürdigt werden, die eine Chance haben, eine neue Regierungskoalition maßgeblich zu prägen. Dies sind die Partei der Regionen, der Wahlblock Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes und der Block Timoschenko.

Die Partei der Regionen Parolen der Partei der Regionen, von welchen es in der ukrainischen politischen Werbung genügend gibt, lauten: »Eine glückliche Familie ist ein erfolgreiches Land!«, »Wohlstand und Stabilität!«, »Was wir damals gemacht haben, schaffen wir heute noch einmal!«. Mit Andeutungen, dass orange Versprechen nur leere Worte sind, versucht Ministerpräsident Viktor Janukowitsch die Wähler von seiner Überlegenheit zu überzeugen. In ihrer politischen Werbung setzt seine Partei den Akzent auf Stabilität und Wohlstand im Lande, mit denen sich diese politische Kraft assoziiert, und auf den Vergleich der eigenen Partei mit den Kräften des »orangen« Lagers. So findet man am Ende des Wahlprogramms eine vergleichende Analyse der Tätigkeit der Regierungen von Timoschenko, Jechanurow und Janukowitsch. Bei allen Werten (Wachstum des BIP, Volumen der Industrie- und Bauproduktion, Preisentwicklung, Exportwachstum, Durchschnittsrente, Mindest- und Durchschnittslohn) ist die Regierung von Janukowitsch vorne, was auch immer diese handverlesenen Indikatoren über die jeweils sehr kurzen Regierungsperioden aussagen mögen. Das Programm der Partei der Regionen ist breitgefächert, jede Programmthese wird durch eine Beschreibung ergänzt, wie sie realisiert werden soll. Politik In diesem Bereich setzt die Partei auf eine Fortführung der politischen Reformen und eine feste Verankerung der parlamentarischen Demokratie (soll heißen der starken Stellung des Parlaments, in dem eine Mehrheit angestrebt wird, gegenüber dem von der Opposition gestellten Präsidenten). Die Rechts- und Gerichtsreform beinhaltet die Gründung unabhängiger Gerichte, eine direkte Richterwahl durch Bürger, Sicherung der Rede- und Pressefreiheit. Im Bereich lokaler Selbstverwaltung beabsichtigt die Partei, möglichst viele Macht- und Finanzbefugnisse an die Organe lokaler Selbstverwaltung zu übertragen, um regionale und lokale Entwicklungsstrategien zu verwirklichen. Bezüglich der viel beschworenen Spaltung des Landes zwischen Ost und West heißt es: »Wir sind verschieden, aber wir alle sind Bürger eines Staates.« Die Frage, ob Russisch den Status einer zweiten Amtssprache bekommt, wurde mit dem Leitsatz »Zwei Sprachen – ein Volk!« beantwortet, wobei allerdings einschränkend eine Zustimmung der Parlamentsmehrheit zur Bedingung gemacht wird. Die Sprachenfrage ist damit wieder Wahlkampfmunition. Außenpolitik Die Partei der Regionen tritt für einen blockfreien Status der Ukraine ein, d. h. eine NATO-Mitgliedschaft wird nicht unterstützt. Diese Frage soll aber in einem Referendum direkt durch die Bevölkerung entschieden werden. Dessen Ergebnis ist derzeit allerdings leicht vorherzusagen. Die Partei sieht andererseits EU- und WTOMitgliedschaft als Mittel zur Steigerung des Wohlstandes der Bürger. Insgesamt strebt sie so eine ausgeglichene sowohl west- als auch ostorientierten Außenpolitik an, was eine Rückkehr zur ukrainischen Politik der Kutschma-Zeit bedeutet. Großen Wert legt die Partei der Regionen außerdem auf die Beteiligung der Ukraine am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), was die Möglichkeiten der Ukraine auf dem europäischen Markt erweitert, in der Praxis jedoch zum Verlust der Aussichten auf EU-Mitgliedschaft führen kann. Wirtschaft Für Unternehmen soll ein neues Steuerrecht eingeführt werden, nach dem kleine und mittlere Unternehmen ab Anfang 2008 fünf Jahre lang von Steuern und Gebühren für Registrierung und Erhalt aller notwendigen

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

45

Dokumente befreit werden. Das Kapitel »Reformen sind der Weg zum Erfolg« konzentriert auf moderne liberale Schlagwörter: Befreiung der Wirtschaft von staatlicher Einmischung und Vormundschaft, Übergang zur Wissensgesellschaft, Einführung energiesparender Technologien. Landwirtschaft Im Bereich der Landwirtschaft geht es um die Bildung eines transparenten, legalisierten Bodenmarktes mit einem jährlichen Pachtgrundbetrag von nicht weniger als 400 UAH (ca. 60 Euro) pro Hektar, die Bereitstellung eines qualitativ hochwertigen Telefonnetzes und Internetzugangs für alle ländlichen Gegenden, die Verdoppelung der Agrarinvestitionen, Gründung einer nationalen Getreidebörse und Durchführung von Obst- und Gemüseauktionen in den Städten, was zum besseren Schutz landwirtschaftlicher Interessen beitragen soll. Soziales Die soziale Programmatik ist von zentraler Bedeutung im Wahlprogramm der Partei der Regionen. Das Programm widmet sich allen derzeit in der ukrainischen Öffentlichkeit diskutierten sozialen Problemen. Es werden auch konkrete Angaben zur Finanzierung der versprochenen zusätzlichen Sozialleistungen gemacht. Die Wohnungsnot soll durch Grundstücksauktionen von 2008 bis 2010 behoben werden. Die Bereitstellung von Wohnfläche soll vom Dienstalter abhängig gemacht werden: Nach 20 Berufsjahren erhält man eine Wohnung kostenlos, nach 10 Berufsjahren – zum halben Preis. Diese Initiative erscheint interessant im Hinblick auf eine starke Arbeitnehmerförderung und Senkung der internen Arbeitskräftemigration, entspricht jedoch nicht den Bedürfnissen eines freien Arbeitsmarkts, auf dem viele ihren Arbeitsplatz häufiger wechseln und auch regional mobil sind. Das Programm garantiert jedem Rentner eine Rente, die nach der Anzahl der Berufsjahre, der Qualifikation und den Arbeitsbedingungen berechnet wird, d. h. jede Rente wird individuell bestimmt, was viel zusätzliche Arbeit für die Sozialdienste bedeutet. Die Einführung einer nichtstaatlichen Rentenversicherung setzt eine Reihe von Reformen im Bereich der Sozialversicherung fort, die bereits Mitte der 1990er begonnen wurden. Im Bereich des Gesundheitswesens wird das Augenmerk auf eine qualitative medizinische Versorgung sozial schwacher Bürger, das Finanzleasing, die Ausarbeitung spezieller Programme und die Einführung einer Krankenversicherung gerichtet. Das Problem der niedrigen Geburtenrate soll nicht durch eine einmalige Geburtsbeihilfe, sondern durch eine systematische finanzielle Unterstützung bis zum 18. Lebensjahr gelöst werden. Das Stipendium für Studierende soll auf 200 bis 1060 UAH (etwa 30 bis 150 Euro) steigen. Die Höhe hängt von der Akkreditierung der Hochschule und vom sozialen Status des Studierenden ab. Die Partei der Regionen schlägt eine finanzielle Unterstützung von Betrieben vor, um jedem Einzelnen einen ersten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können. Die Versorgung junger Familien mit Dienstwohnungen soll ebenfalls sichergestellt werden. Jungen Spezialisten, die in strategischen Betrieben arbeiten, wird eine gute Wohnungsversorgung garantiert, indem der Staat die finanzielle Bürgschaft übernimmt. Eine weitere Initiative der Partei der Regionen im sozialen Bereich ist der Übergang zu einer Berufsarmee, die den Anforderungen der heutigen Zeit entspricht und nach dem Prinzip des EU-Militärs organisiert ist. Außerdem sieht das Programm vor, die soziale Sicherung von Armeeangehörigen, vor allem ihre finanzielle Versorgung zu erhöhen und ein Netz von Militärschulen zur Vorbereitung von Reservekräften als Grundlage der patriotischen Erziehung zu schaffen.

Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes Parolen, auf die diese politische Kraft im Wahlkampf gesetzt hat, sind: »Ich verspreche nicht, ich garantiere!«, »Vorzeitige Bürgermeisterwahlen in Kiew!« »Setzt die korrumpierte Obrigkeit Kiews ab!«, »Kiew bis 2012 in eine florierende europäische Hauptstadt umwandeln!«, »Für die Ukraine – ein neues Parlament, für Kiew – eine neue Macht!«, »Schaffen wir die Abgeordnetenimmunität ab!« »Das Gesetz ist eins für alle!«, »Sie haben Renten erhöht. Ist es so? Sie haben Löhne erhöht. Ist es so? Sie haben Preiserhöhungen gestoppt. Ist es so? Denk nach!« Das Wahlprogramm wurde unter der Parole »Für die Menschen, nicht für die Politiker!« geschrieben. Grundlegend dafür waren die Ergebnisse des Programms des ukrainischen Präsidenten »Zehn Schritte auf die Menschen zu!« von 2005–2006, nämlich:

46



Heiko Pleines (Hg.)

die Erhöhung der Geburtsbeihilfe um das 11fache,

• die Steigerung des Mindestlohns um 68 Prozent; die Anhebung der Renten auf das Existenzminimum, •

die Sicherung der Redefreiheit,



der Abzug der ukrainischen Armee aus dem Irak,



die Kürzung der Wehrdienstzeit,

• Stärkung ausländischer Investitionen in die ukrainische Wirtschaft. Die strategischen Ziele der Partei sind: einen Rechtsstaat zu schaffen. die Nation durch eine geistige Wiedergeburt zu vereinen. eine neue Wirtschaftsstrategie zu verwirklichen. Politik Der politische Teil des Wahlprogramms von Unsere Ukraine ist teilweise recht unpräzise. Alle Forderungen weisen in Richtung Demokratisierung, oft jedoch sehr verkürzt. Die Forderung »Wir werden eine Rechenschaftspflicht für alle staatlichen Organe und Organe lokaler Selbstverwaltung gesetzlich verankern!« ist nicht ganz klar, weil die Organe lokaler Selbstverwaltung als gewählte Machtorgane nicht rechenschaftspflichtig sein können, insbesondere, wenn es um die finanzielle Unabhängigkeit der lokalen Selbstverwaltung von der Zentralmacht geht. Die Durchführung einer öffentlichen Überprüfung und Einschätzung, ob politische Parteien ihre Wahlversprechen erfüllen, kann als Verstoß gegen die Rede- und Denkfreiheit und gegen das Gesetz »Über politische Parteien« von 2001 bewertet werden. Die »Entpolitisierung der Polizei« ist letztendlich eine vereinfachte Lösungsmöglichkeit eines Problems, das sich nur während der Wahlen oder »Revolutionen« verschärft. Bestimmungen zur Einführung des Amtes wählbarer Friedensrichter, zur Gründung einer Gerichtskammer zur Eignungsüberprüfung aller Richter und zur Übereinstimmungskontrolle ihres Einkommens mit den Besitzverhältnissen bringen eine extreme Erweiterung des Gerichtssystems durch Bildung neuer Organe und dürften damit die Arbeit der Justiz in der Praxis erheblich erschweren. Außenpolitik Im Bereich der Außenpolitik setzt das Wahlprogramm von Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes den Akzent auf den WTO-Beitritt der Ukraine und resultierende wirtschaftliche Vorteile. Die Schaffung einer Freihandelszone mit der EU und Vereinfachung des Visaregimes demonstrieren eine eindeutig europäische Orientierung. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Migrationspolitik, die bei den anderen Parteien meist überhaupt nicht thematisiert wird. Mit den Ländern, in denen ukrainische Bürger arbeiten, sollen Abkommen zur Sicherung ihrer Sozial- und Arbeitsrechte geschlossen werden. Dieser Vorschlag wurde bereits vor langer Zeit von Ombudsleuten gemacht, das entsprechende Gesetz befindet sich jedoch immer noch in der Entwurfsphase. Wirtschaft Zentrale Forderung des Wahlprogramms von Unsere Ukraine im Bereich der Wirtschaft ist die Gründung einer nationalen Antikorruptionsbehörde, die überprüft, ob die Ausgaben hochgestellter Amtspersonen ihrem versteuerten Einkommen entsprechen. Ebenfalls zentral ist die Forderung nach einer Reduzierung der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, die vor allem durch den Einsatz neuer Technologien, eine Diversifizierung des Energieimports und Verwendung alternativer Energien erreicht werden soll. Für 2008 plant Unsere Ukraine die Einführung eines neuen Steuerrechts, das ab 2009 einfache und verständliche Regeln für Steuerzahlungen vorgeben soll. In diesem Fall sollten die Autoren des Programms den Begriff »einfache und verständliche Regeln«, falls es dabei um die Steuerzahlungen geht, näher erklären und die Abschaff ung des Steuerfahndungsdienstes begründen. Die Liquidierung von Korruptionsschemata für die Mehrwertsteuererstattung, Abschaff ung der Steuerkarte und Senkung der Mehrwertsteuer auf 17 Prozent

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

47

wiederholen nur die Position des Blocks Timoschenko. Die im Programm vorgesehene Einführung einer Vermögens- und Luxussteuer, die regionale Haushalte füllen soll, dürfte in der Praxis Probleme bereiten, weil die Erfahrung des schwedischen Sozialstaates in der Ukraine mit ihrer Schattenwirtschaft schwer zu implementieren sein dürften. Die Anwerbung neuer Investitionen für den Bau moderner Autobahnen, Stadien, Sportanlagen und die Schaff ung neuer Arbeitsplätze während der Vorbereitung und Durchführung der Fußball-EM im Jahre 2012 sind Versprechen angesichts eines wichtigen Sportereignisses, das wahrscheinlich auch in der Bevölkerung eine breite Unterstützung erfährt. Landwirtschaft Das Wahlprogramm verspricht ein durchsichtiges Anmeldeverfahren für Grundbesitzrechte, das Recht, frei über seinen Grundbesitz zu verfügen, eine vorsätzliche Zerstörung der fruchtbaren Bodenschicht strafbar zu machen, das Privatisierungsverfahren für Besitzer geteilter Parzellen zu vereinfachen, die Erbschaftssteuer für Grund und Boden für Bauern zu senken. Außerdem garantiert die Partei eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 20.000 UAH (knapp 3.000 Euro) für Hochschulabsolventen, die nach ihrem Studium nicht weniger als drei Jahre auf dem Lande arbeiten werden. Soziales Die Beamtengehälter im Bildungs-, Kultur-, Gesundheits-, Sportwesen, im Sozialdienst, die Gehälter von Armeeangehörigen und Polizisten sollen nach der vollständigen Einführung eines einheitlichen Tarifnetzes um 58 Prozent steigen. Der Plan zur Durchführung einer Rentenreform mit der Aufhebung der Gleichmacherei bei den Renten (indem man das Dienstalter berücksichtigt und die Rente im Durchschnitt um 35 Prozent erhöht) und Abschaffung von Sonderpensionen für Abgeordnete und Minister bildet größtenteils (bis auf um ein paar Tausend UAH höhere Beträge) die Vorschläge anderer politischer Parteien zum Sozialpaket ab. Das Versprechen, gerechte Kommunaltarife einzuführen (»Die Bürger werden für das Gas keinen höheren Preis bezahlen, als seine Förderung in der Ukraine kostet«), erscheint nicht sehr realistisch, weil der Bedarf von Privathaushalten kaum durch das in der Ukraine gewonnene Gas sondern vor allem durch importiertes Gas gedeckt wird. Im übrigen drohen auch bei den anderen Kommunalleistungen deutliche Preiserhöhungen, die nur durch eine fortgesetzte Subventionierung aus dem Staatshaushalt zu vermeiden sind. Die Thesen von Unsere Ukraine zum Gesundheitswesen erinnern an die ihrer Gegner. Zum ersten Mal werden jedoch das Problem des Alkoholismus, das Rauchen von Kindern und Lebensbedingungen behinderter Menschen angesprochen. Außerdem wird eine deutliche Steigerung der staatlichen Geburtsbeihilfe und des Kindergeldes gefordert. Die Initiative, eine Berufsarmee zu bilden, die mit modernen Waffen vor allem heimischer Hersteller ausgerüstet wird, stellt nur eine formulierte Hoffnung und keine realistische Option dar. Die Initiative »Bis 2010 werden alle Armeeangehörigen eine Wohnung bekommen« ist ein Versprechen ohne eine Erklärung, wie man solch massenhafte Bautätigkeit finanzieren soll. »Die Sozialwohnungen werden erschwinglicher durch eine freie Verteilung von Grundstücken für den massenhaften Wohnungsbau!« Die Verteilung von Grundstücken bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass die Wohnflächenpreise sinken, sondern lediglich eine Erhöhnung der Wohnungsanzahl. Im Bereich der Bildung will der Wahlblock Unsere Ukraine gegen die Korruption bei Aufnahmeprüfungen an Hochschulen vorgehen, indem ein einheitlicher Aufnahmetest außerhalb von Hochschulen eingeführt wird. Das Stipendium für Waisenkinder, die studieren bzw. eine Berufsschule besuchen, wird erhöht, Vergünstigungen im Fernverkehr für Schüler und Studierende werden das ganze Jahr über gültig sein, neue, auch private, Kindergärten werden geschaffen. Die Vorschulbildung garantiert jedem Kind die Beherrschung der ukrainischen Sprache und den Kontakt mit volkeigenen Traditionen. Die Finanzierung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit wird an europäischen Standards angepasst und soll nicht weniger als 2 Prozent des BIP betragen. Leiter von Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen sollen wieder gewählt werden. Bis 2010 soll jede Schule auf dem Lande ans Internet angeschlossen sein. Kultur Im kulturellen Bereich setzt Unsere Ukraine auf den Schutz der ukrainischen Sprache und Kultur, die Schaffung eines einheitlichen Informationsraums, Entwicklungsfreiheit für Sprache und Kultur aller in der Ukraine leben-

48

Heiko Pleines (Hg.)

den Minderheiten, Unterstützung des nationalen Theaters und Films, der nationalen Kunst, Förderung des Buchdrucks und Bildung eines landesweiten Vetriebssystems für Bücher. In jeder Ortschaft soll es bis 2009 wieder eine Buchhandlung geben. Die Partei garantiert Glaubensfreiheit und einen respektvollen Umgang mit dem Bestreben von Millionen, eine einheitliche orthodoxe Kirche zu stärken.

Block Timoschenko Die politische Werbung des Blocks Timoschenko arbeitet mit Ironie: »Timoschenko ist für die Benzinkrise verantwortlich, das Benzin kostete doch 4 Hrywna, gebt uns diese Krise zurück!«, »Alle versprechen vor den Wahlen und tun nichts, sie hat es nach den Wahlen geschafft!«, »Timoschenko ist für die Fleischkrise verantwortlich, das Fleisch kostete jedoch 20 Hrywna, und jetzt kostet es trotz der Stabilität 40 Hrywna!«. Der Wahlblock präsentierte den Wählern ein strategisches Entwicklungsprogramm »Der ukrainische Durchbruch«. Warum der Begriff »Durchbruch« und nicht etwa »Evolution« gewählt worden war, erklärten die Autoren des Programms folgendermaßen: »Der Begriff ‚Durchbruch’ bedeutet das Gegenteil einer langsamen Evolution im Schildkrötentempo«. Der Block stellt sich als eine politische Kraft dar, die weiß, was zu tun ist. Der Zeitraum, innerhalb dessen das Programm umgesetzt werden soll, beträgt ein Jahr, was eine eng bemessene Zeit für die Realisierung eines ernsthaften strategischen Programms ist. Das Programm erhebt den Anspruch, einzigartig zu sein und das optimalste System der Lebensgestaltung einer Gesellschaft mit einem würdigen Erbe anbieten zu können. Politik Das Wahlprogramm des Blocks Timoschenko schlägt vor, ein Referendum über eine neue ukrainische Verfassung durchzuführen. Das Volk solle selbst entscheiden, wie seine Verfassung aussehen soll, indem es zentrale Schlüsselfragen beantwortet. Diese betreffen vor allem die Regierungsform (präsidial oder parlamentarisch), Richterwahlen, Aufhebung der Abgeordnetenprivilegien und der Abgeordnetenimmunität, Mandatsaberkennung bei Korruption, Rechteerweiterung für Organe lokaler Selbstverwaltung, Überprüfung von Machtstrukturen, Vereinfachung des Procederes bei Referenden. Der Block setzt sich für die Gründung unabhängiger Rechnungsprüfungsorgane ein und will die Verantwortung für sie an die politische Opposition geben. Hinzu kommen eine wesentliche Verschärfung der Strafen für Korruption einschließlich einer lebenslangen Haft, die Wiederaufnahme des Programms »Stopp den Schmuggel!«, die Gründung eines Kommunikationsnetzes zwischen den Bürgern und der Polizei zur Meldung von Korruptionsfällen, die Erhöhung der Sozialsicherung und der materiellen Versorgung von Ordnungshütern. Alle Forderungen laufen auf die Schaff ung neuer Verwaltungsorgane hinaus und bedeuten die Fortsetzung der politischen Initiativen, die Julia Timoschenko als Ministerpräsidentin einleitete. Außerdem macht der Block Timoschenko den Vorschlag, Richtergehälter wesentlich zu erhöhen, Gerichtskosten für bestimmte Verfahren zu senken, kostenlose Rechtsanwaltshilfe für sozialschwache Bürger anzubieten. Wirtschaft Die Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Einfluss des Beamtentums beim Treffen wirtschaftlicher Entscheidungen und seine Einmischung in die Unternehmenstätigkeit sollen vermindert werden. Auf diese Weise entfalle wirtschaftliche Korruption. Der Block schlägt vor, eine spezielle Prüfungskommission zu bilden, die alle Gesetzentwürfe im Hinblick auf das Korruptionsrisiko untersuchen soll. Es ist jedoch nicht gesagt, dass diese Kommission unbestechlich bleibt, wenn alle Gesetzentwürfe dort auf dem Tisch landen. In diesem Fall funktioniert der Mechanismus der Selbstkontrolle nicht mehr. In der derzeitigen Gesetzgebung sollen alle Probleme, Gegensätze und »weiße Flecken« beseitigt werden, die ein Hindernis für ukrainische und ausländische Investitionen darstellen. Es wäre zu empfehlen, diese Standpunkte als Schlüsselthesen des Wirtschaftsbereichs zu konkretisieren. Um einen Durchbruch auf dem Gebiet der Energieeffizienz herbeizuführen, schlägt der Wahlblock vor, den Bau der Ölpipeline »Odessa-Brodi-Danzig« zu Ende zu bringen, eine Gaspipeline »Kaspisches Meer – Ukraine« zu bauen, eine optimale Erschließung und Förderung von Erdöl und Erdgas auf den Festlandsockeln des Schwarzen und Asowschen Meeres zu sichern. Das Wahlprogramm erklärt die Ukraine zu einem großen Transitland, dessen Ressourcen nicht mal zu 10 Prozent ausgenutzt werden. Es ist nicht ganz klar, woher diese Zahl kommt, denn sie taucht in den offi ziellen

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

49

Berichten des Verkehrsministeriums der Ukraine nicht auf. Jedenfalls geht das Programm davon auss, dass um den Durchbruch im Transitbereich zu verwirklichen, günstige Bedingungen für eine staatlich-private Zusammenarbeit bei der Errichtung wichtiger Transitübergänge geschaffen und ihre Sicherheit gewährleistet werden muß. Außerdem müssen neue Erdöl- und Gaspipelines gebaut, um neue Alternativen für die ukrainische Energieversorgung zu finden, das Transitregime sowohl für Passagiere als auch für Waren soll liberalisiert werden, eine staatlich-private Kooperation beim Bau von Flughäfen gesichert werden und für eine »militärische Ordnung« auf den Bahngleisen müsse ebenfalls gesorgt werden. Der Durchbruch im Bereich des Unternehmertums ist zu schaffen, wenn man ein neues Steuerrecht mit Steuererleichterungen, Erweiterung der Steuerbemessungsgrundlage, Steuervergünstigungsabbau einführt und die Mehrwertsteuer abschaff t. Der Block Timoschenko schlägt außerdem vor, die Ukraine in ein Investitionsparadies für Investoren zu verwandeln. Dazu gehören Garantien für eine Rückerstattung von Kapitalanlagen und gewinnbringende Voraussetzungen für den Kapitaleinsatz. Ein neues offenes Privatisierungsprogramm mit gleichen Bedingungen für alle, transparente Tenderverfahren, bessere Investitionsbedingungen im Energiesektor, ein Ombudsmannnetzwerk für Investoren, vereinfachte Importzertifizierungsverfahren und eine an die WTO-Praxis angeglichene Gesetzgebung sind weitere Forderungen im Wirtschaftsbereich. Landwirtschaft Der Verkauf von Grund und Boden für nicht-landwirtschaftliche Zwecke darf ausschließlich auf Auktionen stattfinden. Der Durchbruch in der Landwirtschaft sieht Folgendes vor: die Entwicklung einer landwirtschaftlichen Infrastruktur (und zwar: eines Agrarfonds, einer Agrarbörse, eines Versicherungsfonds und einer Agrarbank), Einführung eines transparenten Marktes für ukrainische Hersteller und Förderung ihrer Produkte auf dem Außenmarkt, eine wesentliche Erhöhung der Arbeitsplätze auf dem Lande, Abschaffung der unsystematischen Finanzierung der Dörfer und Übergang zu typischen Business-Projekten, die sowohl die Verarbeitung der Agrarprodukte als auch ihre ökologische Sauberkeit berücksichtigen. Soziales Babyboom und Bauboom sind Schlüsselfaktoren für die moderne Entwicklung. Der Durchbruch im Baugewerbe soll durch die Entwicklung eines Hypothekensystems und die Senkung des Darlehenssatzes zur Anschaffung von Wohneigentum bis auf das »europäische Niveau«, Steuervergünstigungen für den Bau von Industrieobjekten und staatliche Bauaufträge für Sozialwohnungen bewirkt werden. Das Programm sieht außerdem eine Krankenversicherungspflicht vor, ohne garantierte kostenlose medizinische Leistungen abzuschaffen. Der Staat übernimmt die Kosten der Krankenversicherung für sozialschwache Bürger. Der Arbeitgeber wird gesetzlich dazu verpflichtet, seine Arbeitnehmer zu versichern. Der Geburtsbeihilfebetrag übertrifft die Wahlversprechen anderer politischer Parteien und beläuft sich auf 25.000 UAH (über 3.500 Euro). Dessen Berechnungs- und Ausgabeverfahren sollen vereinfacht werden. Den »demographischen Durchbruch« interpretiert der Block Timoschenko als Bildung eines sozialen Arzneimittelmarktes, Realisierung des Programms »Landarzt«, Gründung nationaler Gesundheitszentren, die für die Ausarbeitung spezieller Programme zuständig sind, Rückkehr ukrainischer Bürger, die im Ausland arbeiten, in ihr Heimatland. Wie auch in anderen Bereichen setzt das Wahlprogramm des Blocks Timoschenko vor allem auf die Schaff ung neuer (meist staatlicher) Institutionen für bestimmte Aufgaben, ohne deren Funktionsweise und den institutionellen Rahmen näher zu definieren. Bildung und Wissenschaft Der »intellektuelle Durchbruch« besteht für den Block Timoschenko darin, die Internetnutzung und den Zugang zu neuen Informationstechnologien zu sichern. Die Korruption im Hochschulwesen wird gar nicht erwähnt. Die Schaffung eines Silicon Valley bedarf jedoch sowohl finanzieller als auch intellektueller Investitionen sowie gleicher Zugangsmöglichkeit zu den Ressourcen für alle. Außerdem müsste zwischen der akademischen Wissenschaft insgesamt und der Entwicklung von Spitzentechnologien unterschieden werden, weil letztere nur nur ein Teil der nationalen Wissenschaft sind. Der Wahlblock fordert neue Technologien anstelle von Wissenschaftlern zu exportieren. Ukrainische Wissenschaftler sollen zu ausländischen Wissenschaftskonferenzen und nicht als billige Arbeitskräfte aus der drit-

50

Heiko Pleines (Hg.)

ten Welt ins Ausland fahren. Ziel des Wahlprogramms ist es die Autorität der Wissenschaft, der Intellektuellen zu erhöhen und Jugendliche aus den Nachtclubs in die Bibliotheken zurückzuholen. Die Entwicklung eines Schutzsystems für Forschungsleistungen, Bildung eines nationalen Verwaltungssystems für innovative Entwicklungen, das Programm »Internetzugang für jeden«, die Schaff ung eines unabhängigen Kontrollsystem zur Überprüfung des Wissensniveaus von Schülern sind die Prioritäten des Blocks Timoschenko im Bildungswesen. Übersetzung: Olga Dudkowskaja

Über die Autorin: Halyna Kokhan arbeitet für den American Council for International Education und als freie Journalistin für Arhumenty i fakty w Ukraine. Sie hält einen B.A. in Politikwissenschaft (National University Ostroh Academy, Region Rivne) und einen M.A. in Politikwissenschaft (Europa-Studien) der National University KyivMohyla Academy.

Wahlprognosen Tabelle 1: Wahlprognosen der führenden Umfrage-Institute im Vergleich (Stand: Erste Septemberhälfte 2007) Demokratische Initiativen

RasumkowZentrum

Sozis

FOM-Ukraina

Partei der Regionen

34,7 %

33,9 %

29 %

32 %

Block Timoschenko

25,7 %

23,5 %

19 %

20 %

Unsere Ukraine

11,9 %

13,1 %

10 %

10 %

Kommunisten

2,7 %

5,0 %

3%

4%

Sozialisten

1,8 %

1,6 %

1%

2%

Block Litwin

3,3 %

3,0 %

4%

4%

Anmerkung: Ab dem 14.09.2007 dürfen keine neuen Umfrageergebnisse mehr in Massenmedien veröffentlicht werden. Bei den Wahlen gilt eine 3%-Hürde. Quelle: Siehe die Darstellung der Umfrage-Institute im folgenden Abschnitt.

Grafik 1: Resultierende hypothetische Sitzverteilungen im Parlament 1. Prognose Demokratische Initiativen

2. Prognose Rasumkow-Zentrum

4%

6%

4%

16%

17% 43%

46%

34%

30%

Partei der Regionen Kommunisten

Block Timoschenko Block Litwin

Unsere Ukraine

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

3. Prognose Sozis

51

4. Prognose FOM-Ukraine 6%

6%

6%

5%

14%

15%

46%

45%

29%

29%

Partei der Regionen Kommunisten

Block Timoschenko Block Litwin

Unsere Ukraine

Grafik 2: Welche Partei würden Sie wählen, wenn Sonntag Parlamentswahlen wären? Kurzfristige Trends Januar bis September 2007 35 30 25 20 15 10 5

Unsere Ukraine Kommunisten

Partei der Regionen Sozialisten

t Se pt em be r

us Au g

Ju li

Ju ni

M ai

il Ap r

M är z

r Fe br ua

Ja nu ar

0

Block Timoschenko Block Litwin

Quelle: FOM-Ukraina

Grafik 3: Welche Partei würden Sie wählen, wenn Sonntag Parlamentswahlen wären? Langfristige Trends 2005–07 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% Mai1,00 2005 Unsere Ukraine Kommunisten

März 2006 2,00 Partei der Regionen Sozialisten

Anmerkung: Zahlen für März 2006 entsprechen dem Wahlergebnis. Quelle: FOM-Ukraina

Juni3,00 2007 Block Timoschenko

Das Wahlergebnis im politischen Kontext

54

Heiko Pleines (Hg.)

Das Wahlergebnis Grafik 1: Das amtliche Endergebnis 40% 35%

34,37% 30,71%

30% 25% 20% 14,15%

15% 10%

5,39% 5%

7,24% 3,96%

2,86%

1,32%

So ns tig e

en

es siv e

So z

ia l

ist

lis ten So zia Pr og r

Bl oc kL itw in

Ko mm un ist en

ine ra Un se re

Uk

ch os im kT

Bl oc

Pa rte id er R

eg io n

en

en

ko

0%

Anmerkung: Wahlbeteiligung: 62 %. Quelle: Zentrale Wahlkommission der Ukraine, http://www.cvk.gov.ua/vnd2007/w6p001.html

Grafik 2: Veränderung gegenüber den Parlamentswahlen 2006 10%

8,40%

5% 2,20%

1,73%

1,52%

0,20%

1,32% -2,83%

-12,59%

0%

-10%

-15%

Quelle: Zentrale Wahlkommission der Ukraine, http://www.cvk.gov.ua/vnd2007/w6p001.html und http://www.cvk.gov.ua/vnd2006/w6p001.html

Sonstige

Progressive Sozialisten

Sozialisten

Block Litwin

Kommunisten

Unsere Ukraine

Block Timoschenko

Partei der Regionen -5%

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

55

Grafik 3: Resultierende Fraktionsgrößen im Parlament 27 20

72

175

Partei der Regionen Block Timoschenko Unsere Ukraine Block Litwin Kommunisten

156

Grafik 4: Rechnerisch mögliche Koalitionen (Zahl der Abgeordneten)

 





 









 #MPDL5JNPTDIFOLP  6OTFSF6LSBJOF

#MPDL5JNPTDIFOLP  6OTFSF6LSBJOF  #MPDL-JUXJO

1BSUFJEFS3FHJPOFO  6OTFSF6LSBJOF

56

Heiko Pleines (Hg.)

Tabelle 1: Die Wahlgewinner nach Regionen Region

Wahlgewinner

Stimmenanteil

Westukraine Wolynien

Block Timoschenko

57,59 %

Ternopil

Block Timoschenko

51,57 %

Riwne

Block Timoschenko

50,97 %

Iwano-Frankiwsk

Block Timoschenko

50,67 %

Lwiw

Block Timoschenko

50,38 %

Tscherniwzi

Block Timoschenko

46,17 %

Karpathen

Unsere Ukraine

31,11 %

Region Kiew

Block Timoschenko

53,38 %

Winnizja

Block Timoschenko

49,97 %

Chmelnizki

Block Timoschenko

48,16 %

Tscherkasi

Block Timoschenko

47,03 %

Zentralukraine

Stadt Kiew

Block Timoschenko

46,18 %

Sumi

Block Timoschenko

44,45 %

Tschernihiw

Block Timoschenko

41,92 %

Poltawa

Block Timoschenko

37,86 %

Kirovohrad

Block Timoschenko

37,57 %

Shitomir

Block Timoschenko

37,00 %

Partei der Regionen

60,99 %

Südukraine Krim Mikolajiw

Partei der Regionen

54,40 %

Odesa

Partei der Regionen

52,22 %

Cherson

Partei der Regionen

43,23 %

Ostukraine Luhansk

Partei der Regionen

73,53 %

Donezk

Partei der Regionen

72,05 %

Saporisha

Partei der Regionen

55,45 %

Charkiw

Partei der Regionen

49,61 %

Dnipropetrowsk Partei der Regionen Quelle: Zentrale Wahlkommission der Ukraine, http://www.cvk.gov.ua/vnd2007/w6p001.html

48,15 %

Tabelle 2: Spitzenwerte der Parteien nach Wahlbezirken Partei Partei der Regionen

Wahlbezirk 85 % (Nr. 46, Donezk)

Durchschnittswert Region

Durchschnittswert landesweit

72 %

34 %

Block Timoschenko

64 % (Nr. 25, Wolynien)

58 %

31 %

Unsere Ukraine

49 % (Nr. 125, Lwiw)

36 %

14 %

Kommunisten

12 % (Nr. 188, Cherson)

9%

5%

Block Litwin

18 % (Nr. 60, Shitomir)

8%

4%

Sozialisten

50 % (Nr. 48, Donezk)

8%

3%

Anmerkung: Die hohen Werte der Sozialisten in vier Wahlkreisen in Donezk sind von einigen Kommentatoren als Beleg für Wahlfälschungen gesehen worden. Quelle: Zentrale Wahlkommission der Ukraine, http://www.cvk.gov.ua/vnd2007/w6p001.html

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

57

Ein Sieg für die Demokratie – hoffentlich mal wieder (Oktober 2007) Heiko Pleines, Universität Bremen

Einleitung Der Verlauf der vorgezogenen Parlamentswahlen kann durchaus als Sieg für die Demokratie gesehen werden. Nach einem Wahlkampf in dem von allen Seiten alle (vor allem auch die weniger feinen) Register gezogen wurden, zeigen sich die Politiker nun recht besonnen. Bevor sich nun alle in Spekulationen um die nächste Regierung und deren Probleme stürzen, erscheint es wichtig, einige Punkte festzuhalten, die – hoffentlich – Bestand haben werden.

Der Wahlkampf Erstens scheinen die Wahlen insgesamt frei und fair verlaufen zu sein. Dies ist die Einschätzung der Wahlbeobachter von der OSZE. Hinzu kommt, dass die von der Zentralen Wahlkommission verkündeten Ergebnisse ziemlich genau mit den Exit Polls übereinstimmen, die unabhängige Meinungsforschungsinstitute am Wahltag durchgeführt hatten. Ein konkreter Manipulationsverdacht von größerem Umfang hat sich bisher nur bei vier Wahlkreisen in Donezk ergeben, in denen die Sozialisten über 30 % erhielten, was gegenüber den Ergebnissen umliegender Wahlkreise extrem absticht. Ebenfalls negativ vermerkt wurde, dass die Wahlprotokolle etlicher Wahlbezirke erst mit einigen Tagen Verzögerung an die Zentrale Wahlkommission in Kiew übermittelt wurden, so dass sich die Stimmenauszählung fünf Tage hinzog. Insgesamt lässt sich aber konstatieren, dass Wahlen in der Ukraine grundlegenden demokratischen Standards entsprechen. Zweitens haben alle großen Parteien das Gesamtergebnis der Wahlen anerkannt. In Anbetracht der hauchdünnen Mehrheit der orangen Parteien ist dies keinesfalls selbstverständlich. Die Partei der Regionen hatte kurz vor der Wahl schon eine Zeltstadt auf dem Unabhängigkeitsplatz errichtet. Jetzt entsteht aber der Eindruck, dass die zentralen politischen Akteure realisiert haben, dass Polit-Theater auf der Straße im politischen Machtkampf keine Punkte mehr bringt. Bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht von Dauer ist und der derzeitige ruhigere Ton zumindest bis zum Präsidentschaftswahlkampf 2009 und nicht nur bis zur ersten Parlamentssitzung erhalten bleibt. Drittens scheint die ukrainische Bevölkerung trotz vieler Frustrationen ihre Politikverdrossenheit zu kontrollieren. Die Wahlbeteiligung lag mit 62 % ziemlich genau so hoch wie bei den letzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2006 und das, obwohl vor der Wahl nur knapp 30 % der Ukrainer der Meinung waren, dass die Wahlen zur Lösung der politischen Krise beitragen können.

Das Wahlergebnis Das Wahlergebnis bestätigt erneut, dass die ukrainischen Wähler in etwa gleich großen Teilen zum orangen und blauen Lager tendieren und dass diese Spaltung entlang regionaler Linien verläuft. Diese mittlerweile zur Binsenweisheit gewordene Einsicht gibt aber schon lange keinen Anlass mehr, ein Auseinanderbrechen des Landes zu befürchten. Andererseits machen aber die schwammigen Andeutungen von Präsident Viktor Juschtschenko, dass nun alle drei großen Parteien sich gemeinsam einigen müssen, in einer auf Ideenwettbewerb angelegten Demokratie wenig Sinn. Sie erinnern vielmehr fatal an die Erklärung der nationalen Einheit vom Sommer 2006, die versuchte reale Interessenkonflikte und gegensätzliche inhaltliche Positionen durch Worthülsen zu übertünchen. Was sich aber tatsächlich andeutet, ist die Entwicklung eines stabilen Parteiensystems, das konkrete gesellschaftliche Interessen vertritt, wenn es sie auch bisher kaum einbindet. Obwohl Oligarchen weiterhin im Parlament sitzen und Wahlkämpfe finanzieren, sind die aktuellen Parteien doch deutlich mehr als die ferngesteuerten PR-Projekte, die als Parteien der Macht Präsident Leonid Kutschma eine Parlamentsmehrheit sichern sollten.

Regierungsbildung Das Wahlergebnis lässt eigentlich nur eine Neuauflage der orangen Koalition zu. Dabei muss sich allerdings Unsere Ukraine, die nur halb so viele Stimmen erhielt wie der Block Timoschenko, mit der Rolle des Juniorpartners abfinden. Der Timoschenko-nahe Flügel von Unsere Ukraine hat bereits signalisiert, dass er hierzu

58

Heiko Pleines (Hg.)

bereit ist. Bei der Verhandlung um Posten und auch bei der inhaltlichen Festlegung insbesondere in der Wirtschaftspolitik könnte es allerdings zu Konflikten innerhalb von Unsere Ukraine kommen. Erschwert würden diese Verhandlungen, wenn der Block Litwin in die Koalitionsverhandlungen einbezogen würde. Diese Option würde der orangen Koalition eine stabile Parlamentsmehrheit sichern. Wladimir Litwin würde aber wahrscheinlich, genau wie Olexander Moroz bei den vorhergehenden Koalitionsverhandlungen, auf dem Posten des Parlamentspräsidenten bestehen. Moroz war der Posten damals verweigert worden, was wohl die zentrale Ursache für seinen Seitenwechsel war. Ebenso hatten die damaligen Koalitionsverhandlungen die Opposition verärgert, da das orange Lager die Leitung aller Parlamentsausschüsse unter sich ausmachte. Die Regierungskoalition unter Leitung der Partei der Regionen hatte der Opposition dann hingegen entsprechend ihres Stimmenanteils auch Parlamentsausschüsse zugestanden. Die aktuellen Äußerungen von Präsident Juschtschenko bezüglich Verhandlungen mit der Partei der Regionen sind deshalb wohl vorrangig so zu verstehen, dass die berechtigten Ansprüche der Opposition auch beachtet werden müssen. Die entscheidende Frage wird aber sein, ob Block Timoschenko und Unsere Ukraine in der Lage sind, gemeinsam konstruktiv Politik zu gestalten. Beides sind Wahlblöcke, die eine Vielzahl recht unterschiedlicher Parteien eher lose zusammenfassen. Damit stellt sich angesichts der knappen Mehrheit die Frage, ob alle Mitglieder auf eine Linie eingeschworen werden können. Durch das Verbot von Fraktionswechseln können Parlamentsabgeordnete nun vergleichsweise gut diszipliniert werden. Allein die Abwesenheit von drei Abgeordneten bei einer zentralen Abstimmung würde einer orangen Koalition (ohne Litwin) aber schon die Mehrheit kosten. Hinzu kommen die schweren inhaltlichen Differenzen vor allem in der Wirtschaftspolitik. Während Präsident Juschtschenko im Herbst 2005 die Ministerpräsidentin Timoschenko nach der alten Verfassung noch einfach entlassen konnte, ist jetzt ein Misstrauensvotum des Parlaments erforderlich und die Stellung der Ministerpräsidentin auch in der Politikgestaltung gestärkt. Präsident Juschtschenko und Unsere Ukraine werden also viele Kompromisse eingehen müssen, wenn die orange Koalition dieses Mal von Dauer sein soll. Ob sie diese Zerreisprobe aushalten, darf bezweifelt werden.

Demokratisierung als langer Weg Wenn Demokratisierung nicht als einmaliger sensationeller Sieg der demokratischen Kräfte gegen die Diktatur verstanden wird, sondern als langer Lernprozess, in dem Politiker, Bürokraten, Journalisten, Wähler nicht nur freie Wahlen sicherstellen sondern Kontroll-, Informations- und Diskussionsfunktionen übernehmen, dann war der Verlauf der vorgezogenen Parlamentswahl hoffentlich mal wieder ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn es sich die zentralen politischen Akteure nicht spontan noch anders überlegen, womit in der Ukraine leider immer gerechnet werden muss, dann wird die Durchführung demokratischer Wahlen langsam zur Routine. In der Definition des Politikwissenschaftlers Juan Linz ist eine Demokratie konsolidiert, wenn gilt: »Democracy is the only game in town.« Zumindest in der Rhetorik aller wesentlichen politischen Kräfte in der Ukraine gilt dies jetzt. In ihren Handlungen leider bisher noch nicht immer. In dieser Perspektive ist der größte Sieg der Orangen Revolution die Integration von Viktor Janukowitsch in ein demokratisches System. Wenn sich die Partei der Regionen mit ihrer denkbar knappen Wahlniederlage und einer konstruktiven Oppositionsrolle wirklich abfindet, dann ist dies ein größerer Schritt in Richtung Demokratisierung als er von einer dauerhaften orangen Koalition je hätte geleistet werden können. Über den Autor: Prof. Dr. Heiko Pleines vertritt derzeit an der Universität Bremen die Professur »Vergleichende Analyse politischer Systeme«. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa (z.Z. beurlaubt).

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine 2007

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Verdienen ukrainische Eliten ein solches Wahlvolk? Stefanie Harter, Delegation of the European Commission to Russia, Moskau

Einleitung Beobachtungen, die ich im Rahmen einer OSZE-Wahlbeobachtungsmission in der Zeit vom 26.9 bis 3.10.2007 machte, haben den Blick auf äußerst engagierte Menschen freigelegt. Im oblast' Nikolajew waren es zumeist Frauen, die dafür Sorge trugen, dass nun fünf Parteien im Wettbewerb in der Werchowna Rada vertreten sind. Die Wähler, die hier mit einer Wahlbeteiligung von 54 Prozent abstimmten, haben noch immer die Hoffnung, dass ihre Anliegen entsprechend in Kiew vertreten werden. Dies verändert den Blick auf die politischen Ereignisse in der Ukraine. Die Wahlen waren gut organisiert und – zumindest am und um den Wahltag herum – fair. Das Argument, dass man oft in Russland hört, nämlich, dass das Volk für eine funktionierende Demokratie nicht reif sei, wurde durch diese Wahl entkräftet. Vielmehr stellt sich die Frage, wie lange die politischen Eliten sich noch auf einen so zuverlässigen Demos verlassen können.

Wer öfters wählt, der weiß Bescheid Gegen drei Uhr morgens, in der Nacht vom 30. September 2007 zum 1. Oktober 2007 bildet sich eine große Menschentraube vor dem Eingang zum Distriktwahlkomitee (DEC) in Snegeriewka, im oblast' Nikolajew. Die Vorsitzenden örtlicher Wahlkommissionen (PEC), sekundiert von der Kommissionssekretärin, einem weiteren Vertreter der Wahlkommission und zwei Milizionären, wollen ihre Wahlunterlagen abgeben und das dazugehörige Wahlprotokoll dem Distriktwahlkomitee vorlegen. Wer nicht zum ersten Mal ein Wahlkomitee leitet, der weiß, dass es sich lohnt, bereits im Vorfeld eine Person zum Schlangestehen abzukommandieren. Ansonsten kann es bis in den frühen Morgen dauern, bis die Unterlagen abgegeben sind und der Empfang registriert ist. Doch dies sind organisatorische Feinheiten.

Verantwortungsbewusst und genau In den drei vorherigen Wochen mussten Wahlkommissionen ihre im Schnitt etwa 1500 Wähler umfassenden Wahlkreise informieren, Wahlkabinen zimmern, die Einladungen zur Wahl verschicken, Fragen der Wähler beantworten, das Wahlgesetz studieren, und – vor allem, Wählerlisten aktualisieren. Letzteres war in diesem Jahr eine besondere Herausforderung: Es wurden die Wahllisten von 2006 benutzt, mit zusätzlichen Daten von Steuerbehörden und Passämtern. Einzelne Arbeitsgruppen waren beauftragt, die Datensätze zusammenzusetzen. Gleichzeitig aber hatten diese Arbeitsgruppen anscheinend nicht die rechtliche Befugnis, die neu entstandenen Listen auch zu bereinigen. Doppelnennungen kamen ebenso häufig vor wie Unterlassungen. Frisch Vermählte, oder in diesem Jahr volljährig gewordene Wähler wurden nicht immer in die Listen aufgenommen. Zwar haben die Wahlkommissionen das Recht, technische Veränderungen in den Listen vorzunehmen. Was aber genau eine technische Veränderung ist, kann unterschiedlich interpretiert werden. Und so passierte es, dass einige Wähler wieder nach Hause geschickt wurden, weil sie nicht in den Listen vorkamen, und dies, obwohl sie persönlich bekannt waren. Außerdem wurde in verschiedenen Gebieten unterschiedlich mit der – erst am Samstag vor der Wahl – als nicht rechtskonform abgelehnten Auflage umgegangen, die Informationen der Grenzkontrollen in den Wahllisten zu verwenden. Ukrainer, die bereits vor einiger Zeit das Land verlassen hatten, aber dennoch in der Ukraine gemeldet sind, sollten aus dem Wahlregister gestrichen werden, um so einem möglichen Missbrauch entgegenzuwirken. Die notwendigen Informationen hierzu sollten die Grenzbehörden liefern. In einigen Gebieten wurden auf Grund dieser Informationen Wähler als nicht stimmberechtigt deklariert – zu Unrecht, wie gerichtlich am 29. September entschieden wurde. Da war es aber zu spät, die Namen wieder in die Wählerlisten aufzunehmen. Listen durften nur bis zum 24. September ergänzt werden. Dies mögen im Kontext der großen politischen Verhandlungen nur Kleinigkeiten sein. Für die Mitglieder der Wahlkommissionen hingegen waren dies wesentliche Fragen. Die Kommissionsmitglieder, Vertreter der verschiedenen Parteien, waren bisweilen unerfahren und daher besonders bemüht, das Gesetz metikulös zu befolgen. Zu groß war die Sorge, wegen technischer Fehler des Wahlbetrugs angeklagt zu werden. Gerade in ländlichen Gebieten, in denen man sich kennt, fühlte man sich besonders verantwortlich für eine technisch genaue Abwicklung der Wahl. Stimmen werden mit dem Abakus gezählt und die Wahlprotokolle noch von Hand ausgefüllt. Letzteres ist in den Stunden nach 22 Uhr, als die Wahllokale geschlossen wurden, vermutlich die zeitintensivste Arbeit. Jedes Kommissionsmitglied und jeder anwesende Wahlbeobachter hat Anrecht

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auf den Erhalt eines Protokolls. Dies kann bedeuten, dass etwa 40 bis 50 Protokolle ausgefüllt und unterschrieben werden müssen. Die genaue Befolgung der Vorgaben führt zu einer strikten Auslegung des Wahlgesetzes. Recht viele Kommissionsvorsitzende wurden in der Wahlnacht wieder zurück geschickt, weil technische, nicht immer inhaltliche, Mängel im Protokoll konstatiert wurden. Diese Mängel konnten aber nur im Beisein aller Kommissionsmitglieder behoben werden. Die wiederum waren längst zu Hause und nicht einfach zu erreichen. Die Korrekturen, und dementsprechend die endgültigen Auszählungen, haben sich demnach bis zum Montag hingezogen.

Zentrale Trends der politischen Entwicklung Dr. Rainer Lindner, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin Folgende Trendschärfungen zeichnen sich inzwischen im politischen System der Ukraine ab: Erstens: Nach 15 Jahren Unabhängigkeit entwickelt sich mit dem Block Timoschenko (BJUT) eine erste gesamtnationale Partei in der Ukraine. Von 2002 bis 2007 wuchs die Zustimmung von 7 % auf 30 %. Während die Partei der Regionen (PdR) Stimmen einbüßte und ihre regionale Präsenz nur geringfügig ausdehnen konnte, gewann BJUT in 16 von 26 Regionen des Landes (und der Hauptstadt Kiev) die meisten Stimmen. BJUT erreichte selbst im Südosten – im bisherigen Stammland der PdR – zwischen 15 und 25 % der Wählerschaft. Zweitens: Das Parteienspektrum der Ukraine hat sich insgesamt stabilisiert. Die heutigen politischen Kräfte sind seit 2002 im Parlament unter gleichem oder ähnlichem Namen vertreten. Die PdR war aus der KutschmaBewegung »Für eine geeinte Ukraine« hervorgegangen. Der Trend zur Ausbildung eines Zweiparteiensystems hat sich weiter verstärkt. Die PdR und BJUT konnten ihre Stimmenanteile im Vergleich zu 2006 prozentual steigern: um 2 % bzw. 7 %. Dagegen müssen die Kunstprodukte und Splitterparteien die politische Bühne des Parteienwildwuchses nach und nach räumen. Zugleich hat die Fokussierung der Medien auf die großen Parteien dazu geführt, dass lediglich sieben Parteien über 1 % der Wählerstimmen hinaus kamen. Drittens: Die neo- bzw. postsowjetische Linke verabschiedet sich aus der Geschichte in die Geschichte. Im Vergleich mit dem Jahr 2002 fiel die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) um Petro Simonenko von 20 % auf 5 % zurück, die sozialistischen Gefolgschaften haben nach mehrfachem Frontwechsel (Olexander Moroz) und gescheiterten Moskauer Spaltungsaufträgen (Natalija Witrenko) aus Sicht des Wahlbürgers im Parlament nichts mehr zu suchen; Stimmenverlust und Stimmenwanderung der Sozialisten dürfte den Kommunisten letztmalig Einzug in die Rada verschaff t und ein schlechteres Abschneiden der PdR verhindert haben. Viertens ist eine Stagnation der Präsidialpartei Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes (UU-SV) zu beobachten, die nur durch die Spitzenkandidatur des vormaligen sozialistischen Innenministers Juri Luzenko und das wirtschaftsnahe Agieren des Leiters des Präsidialsekretariats, Viktor Baloha, vor einem größeren Wahldebakel bewahrt worden ist. Fünftens: Der Einzug des Volksblockes Litwin (VBL) des vormaligen Präsidialamtschefs unter Kutschma und Parlamentssprechers (2002–2006) ist ein ambivalentes Wahlergebnis: einerseits löst Litwin die MorozSozialisten als »vierte Kraft« im parlamentarischen Raum ab, zugleich verdeutlicht dieses politische Comeback eine Sehnsucht eines Teils der Wählerschaft nach der vermeintlichen Stabilität der Kutschma-Jahre im Kontrast zur politischen Unübersichtlichkeit und des politischen Streits der postrevolutionären Ukraine. Litwin suchte mit den Begriffen »Volkstum, Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit« seine Wählerschaft zu überzeugen und warb dabei um Stimmen aller Lager, nicht zuletzt aus dem Lager der Sozialisten. Litwin propagierte die Erhöhung der Gesundheitsausgaben des Staates um »nicht weniger als 5 % ihres bisherigen Umfangs«. Außerdem gab er das Ziel aus, die Volkswirtschaft um nicht weniger als 10 % pro Jahr wachsen zu lassen. Sechstens: Die PdR ist unter Premier Janukowitsch entzaubert worden. Sie konnte zwar die meisten Stimmen bei den vorgezogenen Wahlen auf sich vereinigen, aber am Ergebnis in absoluten Zahlen lässt sich ablesen, dass neben der UU-SV auch die PdR zu den Verlierern des Urnengangs gehört. Die Partei, die in den vergangenen Monaten in Regierungsverant wortung auf zentraler wie auf lokaler Ebene stand, ist von den Realitäten des Alltags eingeholt worden. Janukowitsch und zahlreiche Gouverneure aus der PdR haben seit der

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gewonnen Parlamentswahl vom 26. März 2006 immer weniger die regionale Identität des Ostens flächendeckend bedienen können. Siebtens: BJUT setzt auf das Konzept des territorialen Nationalismus. Anders als die ausschließlich ukrainisch sprechende UU-SV, die mit Themen wie der ukrainischen Sprache, der Kultur und Geschichte den Bürgern im russischsprachigen Osten oder auf der Krim noch immer nicht wählbar erschienen waren, nutzte Timoschenko die territoriale Identität der Wähler, warnte in Charkiv, Donezk oder Dnipropetrowsk vor dem wachsenden Einfluss des russischen Kapitals auf dem ukrainischen Markt in Gestalt des Gaszwischenhändlers Rosukrenergo. Ihre Botschaft richtete sich an die Staatsbürger der Ukraine, nicht an die Ukrainer als Nation. Der Antrag auf Mitgliedschaft, den die Partei am 1. Oktober 2007 bei der Europäischen Volkspartei gestellt hat, verdeutlicht außerdem, dass Julia Timoschenko ein Bündnis mit den europäischen Konservativen sucht und die sich ausbildende Mittelschicht in der Ukraine als ihre künftige Stammwählerschaft im Blick hat. Tabelle: Gewinne und Verluste der großen Parteien in absoluten Zahlen Partei/ Block

2006

2007

Differenz

UU-SV

3.539.140

3.301.012

- 238.128

BJUT

5.652.876

7.162.174

+1.509.298

PdR

8.148.745

8.013.918

- 134.827

[Eine ausführlichere Version des vorliegenden Kommentars wird in Heft 11 der Zeitschrift OSTEUROPA erscheinen.]

Stabiles Parteiensystem, stabile Demokratie? Univ.Prof. Dr. Dieter Segert, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien Für die Wahlen zur Werchowna Rada war in der Ukraine vor 2006 eine sehr hohe Fluktuation der Wählerschaft von ca. 30 % charakteristisch. Bei den Wahlen 2006 und 2007 liegt sie bei 8,5 %. Ist daraus zu schlussfolgern, dass sich das ukrainische Parteiensystem grundlegend stabilisiert hat? Da ein stabiles, funktionsfähiges Parteiensystem eine wichtige Bedingung für eine funktionsfähige repräsentative Demokratie ist, wäre das eine gute Nachricht. In den letzten Jahren hat das Gewicht der Parteien innerhalb des Entscheidungsprozesses gemessen an den rechtlichen Regelungen zugenommen. Wahlrechtsänderungen (beginnend mit den Wahlen 1998), das Parteiengesetz und die (seit 2005 mögliche) staatliche Parteienfinanzierung, sowie die bekannte Verfassungsreform, die 2006 in Kraft trat, welche die Parlamentarisierung des Regierungssystems deutlich vorangetrieben hat, führten dazu. Das Problem ist allerdings, dass auf diesen Wegen weniger die Parteien als demokratische Institutionen an Gewicht gewonnen haben, als mehr die jeweiligen Parteiführungen an realer Macht. Ich kann hier dazu nicht ausführlich argumentieren, will aber zumindest meine wichtigsten Argumente skizzieren: Erstens, viele der Konflikte, die sich im »Orangen Lager« seit Anfang 2005 zeigten, entstanden aus persönlichen Ambitionen des Führungspersonals. Das war etwa der Fall in der Krise des Herbstes 2005, die zur Ablösung der ersten Regierung Timoschenko führte, aber auch im Sommer 2006, beim Wechsel des Vorsitzenden der Sozialisten, Moros, in das gegnerische Lager. In beiden Fällen spielten aber bekanntlich nicht nur die Ambitionen der bezeichneten Personen eine Rolle, sondern auch ebensolche Ambitionen bei der anderen Orange-Partei, »Unsere Ukraine«. Diese Vorherrschaft der persönlichen Ambitionen der Führer (oder Führerinnen) verweisen schon an sich auf eine Schwäche der formellen Konfliktregelungsmechanismen und der formellen Institutionen insgesamt. Zweitens, auch in diesen Konflikten innerhalb des in unserer Öffentlichkeit hochgeschätzten »demokratischen Lagers« spielten die Verflechtungen zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht, die so genannten

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»Oligarchen«, eine wichtige Rolle. Oligarchen und ihren ambivalenten politischen Einfluss gibt es eben nicht nur im Handeln der »Partei der Regionen«. Drittens, alle Gruppierungen der politischen Elite schätzen Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Bedeutsamkeit der formellen Konfliktregulierungsmechanismen, gering. Dieser Rechtsnihilismus der politischen Elite verstärkte insbesondere in der Krise um die vorfristige Auflösung des Parlaments die Entfremdung der politischen Klasse von der Gesellschaft. Viertens, ist es für die Stabilität von Parteien als Institutionen wichtig, ob es innerhalb der Parteien stabile institutionelle Beziehungen zwischen oben und unten gibt, also sich so etwas wie eine innerparteiliche Demokratie entwickelt. Dafür ist natürlich die Frage, wer über die Wahllisten bestimmt, entscheidend. Bei den beiden Wahlen nach Ende 2004 zeigte sich, dass über den Platz auf der Parteiliste und somit die Chance auf Wahl die Beziehungen zu den jeweiligen Parteiführungen die zentrale Rolle spielen. Diese innerparteilichen Aspekte spielen auch für die Beziehungen zwischen Parteien und Bürgergesellschaft eine Rolle. Unter den Bedingungen des Übergangs zur reinen Listenwahl sind die Abgeordneten so noch weniger von ihren konkreten Wählerschaften abhängig. Real hängen sie hingegen von der Führung der Parteien ab, die festlegt, wer einen aussichtsreichen Platz auf der Liste bekommt, und wer nicht. Es gibt natürlich auch positive Entwicklungen innerhalb des Parteiensystems, ich will nur auf eine hinweisen, die Verringerung der Spaltungslinien zwischen den »beiden Ukrainen« in den Wahlen 2007, sowohl BJUT als auch PdR haben im Wahlgebiet des jeweilig anderen Partners gegenüber 2006 zulegen können: für Janukowitsch triff t das in der zentralen Ukraine, für Timoschenko im Süden und in Teilen des Ostens zu. Der Trend zur Bildung zweier Blöcke, die dabei sich partiell überschneidende Wahlgebiete haben, hat zugenommen. Warum das so ist, bedürfte einer genaueren Analyse. Die Grundtendenz ist, wie gesagt, anders: das Grundproblem der »Vor-Orange-Zeit« ist auch nach 2005 nicht überwunden. Es gibt ein zu großes Gewicht der informellen Regeln gegenüber den formellen Institutionen. Meine These ist also zusammengefasst, dass ungeachtet der institutionellen Stärkung der Rolle von Parteien seit 2005 gerade nicht die Parteien als Institutionen der Repräsentanz der Bürgergesellschaft gestärkt worden sind. Politische Parteien agieren in der Ukraine weiterhin als »personenzentrierte Elitennetzwerke« und somit als Machtmittel einer kleinen, von der Bevölkerung relativ isolierten Elite. Was D’Anieri kürzlich – allerdings für die Zeit vor 2004 – formulierte, »in Ukraine much of what is obviously important happens outside of formal institutions and in contradiction to the formal rules«, das gilt bisher auch für die Zeit seither. Dieter Segert arbeitet gegenwärtig in einem Projekt zur »(Re)Integration der Ukraine nach Europa« (Leitung J. Besters-Dilger) mit. Informationen zum Projekt finden sich im Internet unter http://www.univie.ac.at/reintegration/index.php

Die Demokratie siegt – die Unsicherheit über die Zukunft bleibt Prof. Dr. Gerhard Simon, Lehrbeauftragter am Institut für Politik und Soziologie der Universität Bonn Entgegen vielfacher Skepsis war die Parlamentswahl ein Sieg der Demokratie und das in mehrfacher Hinsicht. Es war der dritte Wahlgang in Folge seit Dezember 2004, der von den internationalen Wahlbeobachtern als fair und frei eingestuft worden ist. Keine andere Wahl im GUS Raum ist in den vergangenen Jahren von den westlichen Wahlbeobachtern mit diesen Prädikaten ausgezeichnet worden. Die Parlamentswahlen brachten einen Sieg der demokratischen Parteien. Die Wahlblöcke Julia Timoschenko (BJUT) und Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes bezeichnen sich als »demokratische Parteien«, wohl auch um die Enttäuschung über die Orange Revolution hinter sich zu lassen. Beide Gruppierungen wollen zusammen eine Mehrheitskoalition im Parlament und die neue Regierung bilden. Die Wahl war aber auch insofern ein Sieg der Demokratie als alle politischen Kräfte das Wahlergebnis anerkennen. Ministerpräsident Janukowitsch und seine Partei der Regionen bezeichneten sich nach der Wahl zwar auch als Sieger, weil sie 2,2 % der Stimmen hinzugewonnen haben und nach wie vor mit 34,4 % und

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175 Abgeordneten die stärkste politische Kraft sind, aber sie stellen sich doch zähneknirschend auf die Rolle der zukünftigen Opposition ein, wenn denn die demokratischen Kräfte zusammenhalten und sich nicht auseinanderdividieren lassen werden. Es ist auch ein Sieg der Demokratie, weil das extrem unterschiedliche Wählerverhalten in den Regionen des Landes Zeichen der Entkrampfung zeigt. Zwar sind die großen politischen Parteien nach wie vor in erster Linie regional verwurzelt, aber die Grenzen sind durchlässiger geworden. BJUT und Unsere Ukraine haben in vielen Gebieten im Osten und Süden Stimmen hinzugewonnen und die Partei der Regionen im Westen und im Zentrum. Die demokratischen Parteien konnte z. B. ihren Stimmenanteil im Gebiet Charkiw gegenüber der Wahl vom März 2006 von 18,6 % auf 24,5 % steigern und im Gebiet Odessa von 16,3 % auf 20,2 %. Umgekehrt legte die Partei der Regionen im Gebiet Winniza von 8,1 % auf 12,5 % und im Gebiet Sumi von 10,9 % auf 15,7 % zu. Eindeutiger Wahlsieger ist BJUT, d. h. Julia Timoschenko persönlich, die ihren Stimmenanteil um 8,4 % und damit um weit mehr als alle anderen politischen Gruppierungen steigern konnte. BJUT gewann nicht nur prozentual Stimmen hinzu, sondern auch hinsichtlich der absoluten Zahl der Wähler. Die beiden anderen großen Parteien verloren in absoluten Zahlen Wählerstimmen. Julia Timoschenko fordert seit Jahren konsequent den Wandel, Reformen und Aufbruch. Der ukrainische Wähler hat also deutlich gemacht, dass er nicht den status quo, sondern Veränderungen will. Allerdings gaben nur 30,7 % der Wähler BJUT ihre Stimme. Eine mögliche Mehrheitskoalition mit Unsere Ukraine-Selbstverteidigung des Volkes wird über 228 von 450 Abgeordneten im Parlament verfügen. Wird diese hauchdünne Mehrheit angesichts der notorischen Unzuverlässigkeit und weit verbreiteten Käuflichkeit innerhalb der politischen Klasse ausreichen, um die dringend notwendigen Reformen anzupacken und eine gewisse Stabilität und Berechenbarkeit der ukrainischen Politik zu sichern? Etwas Weiteres kommt hinzu: Ganz oben auf der Agenda notwendiger Reformschritte stehen Verfassungsänderungen. Die hastig und handwerklich miserabel gearbeitete Verfassungsrevision vom Dezember 2004 hat sich als unzureichend und unpraktikabel erweisen und wesentlich zur Krise des Jahres 2007 beigetragen. Alle politischen Kräfte sind sich über die Notwendigkeit von Änderungen an der Verfassung einig, inhaltlich gehen die Vorstellungen allerdings weit auseinander. Verfassungsänderungen setzen eine zwei Drittel Mehrheit im Parlament voraus. Ohne Einbindung der Partei der Regionen gibt es also keine Aussicht auf Erfolg. Präsident Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko sind zum Entgegenkommen bereit und auch dies markiert einen Fortschritt gegenüber der ersten orangen Regierung im Januar 2005, als kein Versuch gemacht wurde, die damaligen Wahlverlierer Janukowitsch und die Partei der Regionen durch Angebote zur Zusammenarbeit einzubeziehen. Frau Timoschenko hat jetzt der Partei der Regionen als Opposition eine Art Mitregierung vorgeschlagen: Übernahme des Postens eines stellvertretenden Ministerpräsidenten und der Funktionen von stellvertretenden Ministern. Ob dies jedoch praktikabel und im Sinne der Demokratieförderung ratsam ist, muss bezweifelt werden. Es ist wie so häufig die Tendenz, von einem Extrem ins andere zu verfallen: vom Nullkompromiss zu einer Konsensdemokratie nach Schweizer Muster, wozu in der Ukraine alle Voraussetzungen fehlen. Ob und wie die Partei der Regionen in die zukünftige politische Arbeit einbezogen werden kann, wird jedenfalls mitentscheiden über den Erfolg einer möglichen Regierung Timoschenko. Es gibt Elemente für Gemeinsamkeiten: Wirtschaftsreformen, Steuerreform, Dezentralisierung und Verwaltungsreform innerhalb der Ukraine, Annäherung an die EU, Vermeidung des Topos Beitritt zur Nato. Andererseits hat sich Frau Timoschenko stets durch eine große Hartnäckigkeit und Prinzipienfestigkeit ausgezeichnet. Sie wird und muss Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruption unternehmen, sie wird und muss versuchen, Licht in das undurchdringliche Dunkel der Gasgeschäfte mit Russland zu bringen und überhaupt mehr Transparenz im Verhältnis von Politik und Wirtschaft durchzusetzen. Damit wird sie die durch Dollarmillionen zementierten Interessen der Lobbys gefährlich herausfordern, die sich in der Partei der Regionen verschanzt haben. Während die Ukraine auf dem steinigen Weg zu einer demokratischen Ordnung quälend langsam voranschreitet, und noch Wochen brauchen wird, um einen neuen Ministerpräsidenten zu bestimmen, hat Putin bekannt gegeben, er werde in Zukunft statt Präsident möglicherweise Ministerpräsident in Russland sein. Jedenfalls entscheidet in Russland der Präsident über seine Nachfolge und nicht der Wähler, der lediglich akklamiert. Hier wird in großer Schärfe der Abstand in der Demokratieentwicklung deutlich.

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Die labile Demokratie in der Ukraine braucht und verdient die Unterstützung des Westens. Es gab einen Aufbruch nach der Orangen Revolution. Dann ist er mit der verständlichen Enttäuschung über den orangen Niedergang versickert. Wenn die Westeuropäer und die Amerikaner sich jetzt zu politischen Signalen für eine demokratische Ukraine durchringen könnten, würden sie dem Land und sich selbst einen großen Dienst erweisen. Eine Politik der guten Nachbarschaft ist nicht genug.

Im Zickzack gen Europa: Zur Rolle der jüngsten Wahlen in der Nationalstaatsbildung und Demokratisierung der Ukraine Dr. Andreas Umland, Nationale Taras-Schewtschenko-Universität Kiew Die ukrainische Politik bleibt eine Fundgrube für Journalisten, Kommentatoren und Politologen. Seit den Herbstereignissen vor drei Jahren wandelt sich die politische Landschaft in der Ukraine mit atemberaubender Geschwindigkeit. Die Konstellationen, Optionen und Positionen der Akteure wechseln in beinahe monatlichem Rhythmus und sind nur schwer vorauszusagen. Gestern noch war die Sozialistische Partei der »Königmacher« im Parlament; heute ist sie marginalisiert und ihre Zukunft ungewiss. 2006 schien der ehemalige Präsidialamtschef und Parlamentspräsident Wolodimir Litwin seine politische Karriere beendet zu haben; heute schaut man mit Spannung, welche Rolle er in der Sechsten Werchowna Rada spielen wird. Vor einigen Wochen schien klar, dass Ministerpräsident Viktor Janukowitsch der unumstrittene Führer und künftige Präsidentschaftskandidat der Partei der Regionen ist; in den letzten Tagen wird öffentlich über mögliche Alternativen zu ihm nachgedacht. Ich habe mich in einigen publizierten Prognosen bezüglich der politischen Entwicklung der Ukraine geirrt. Mir schien Juschtschenkos Auflösung des Parlaments im Frühjahr 2007 ein zu riskanter Schritt zu sein, der seinen Opponenten ein ganzes Arsenal mehr oder minder effektiver Gegenstrategien zur Verfügung stellen würde (Konfrontation, Verweigerung, Sabotage, Eskalation, gerichtliche Klagen, etc.). Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Juschtschenko den »richtigen Riecher« hatte, die Reaktion des blauen Lagers zutreffend prognostiziert hat und offenbar die Stimmung seiner Landsleute gut fühlt. Zwar schnitt die ihm nahestehende Partei »Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes« prozentual nur geringfügig besser ab als »Unsere Ukraine« 2006 bzw. verlor in absoluten Zahlen sogar Stimmen gegenüber dem Vorjahr. Trotzdem ging das orange Lager insgesamt als Sieger aus den Wahlen hervor – wenn auch mit so knappem Ergebnis, dass Zweifel an der politischen Überlebensfähigkeit der inzwischen dritten orangen Koalition, die sich dieser Tage bildet, aufkommen. Wie auch immer: Während vor einem Jahr Juschtschenkos öffentliches Image zu verschwimmen schien, tritt er heute wieder klar als Staatsmann Nummer 1 der Ukraine in Erscheinung. Aus meiner Sicht mindestens ebenso überraschend sowie für die Ukraine noch wichtiger (und positiver) waren die Entwicklungen der letzten Monate im blauen Lager. Zum einen hat Viktor Janukowitsch im Frühsommer dieses Jahres mit seiner beim Großteil seiner Anhänger unpopulären Zustimmung zu Neuwahlen als Mittel zur Lösung des politisch-verfassungsrechtlichen Patts einen wichtigen Schritt in Richtung Demokratieakzeptanz getan. Freilich mag der Hintergrund von Janukowitschs »Einknicken« gewesen sein, dass der hinter ihm stehende Clan von Achmetov und Co. einen möglichen Bürgerkrieg für – aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht – unvorteilhaft eingeschätzt hat. Nichtsdestoweniger müssen sich die Entscheidungsträger im blauen Lager im klaren gewesen sein, dass mit diesen Neuwahlen ein Präzedenzfall geschaffen wird, der die von den Blauen auch nach der orangen Revolution bevorzugte Taktik einer Manipulation des politischen Willensbildungsprozesses weiter entwertet. Zwar blieb den Blauen angesichts von Juschtschenkos »Alles oder Nichts« womöglich keine andere Wahl. Jedoch hat die Partei der Regionen in den Augen der Öffentlichkeit mit ihrer Zustimmung zu Neuwahlen in gewisser Hinsicht die Rechtmäßigkeit von Juschtschenkos scharfer Reaktion auf die Machenschaften des Achmetow-Clans in der Fünften Werchowna Rada anerkannt. Zum anderen haben die Neuwahlen als solche eine erstaunlich positive, nämlich zentripetale Dynamik im Formierungsprozess des Spektrums der politischen Parteien ausgelöst. Während die para-revolutionären Ereignisse von 2004 – neben allen Verdiensten der »Revolutionäre« – auch geeignet waren, die Teilung des Landes in Ost und West zu vertiefen, hat der elektorale Wettbewerb das Land einigende Entwicklungen befördert. Nicht nur der Timoschenko-Block hat kräftig im ost- und südukrainischen Kernland der Partei der Regionen gewildert. Auch Janukowitsch kann 2007, wenn auch nur kleine, so doch durchgehende Verbesserungen sei-

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nes Wahlergebnisses gegenüber 2006 in den klassisch orangen westukrainischen Wahlbezirken für sich verbuchen. Die beiden wichtigsten Akteure im ukrainischen Parlament haben damit einen ersten Schritt weg von Regional- hin zu gesamtukrainischen Parteien getan. Man ist versucht, sich nochmalige Neuwahlen zu wünschen, damit diese für die Nationalstaatsbildung der Ukraine wichtige Entwicklung weiter geht. Was aus meiner Sicht die bedeutendste Entwicklung in der ukrainischen Politik der letzten Monate darstellt, ist die Verwandlung der Partei der Regionen in eine inzwischen klar EU-orientierte und sich zunehmend gesamtukrainisch-patriotisch gebende politische Kraft. Das grandiose Abschlusskonzert der Partei der Regionen am Vorabend der Wahlen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Ende September 2007 wirkte teilweise geradezu befremdlich: die Hand am Herzen, sangen die Politiker des blauen Lagers die ukrainische Nationalhymne mit einer Inbrunst, wie es die Orangen wohl nicht besser hätten machen können. Was auch immer die Motivation hinter diesem bemerkenswerten Imagewechsel gewesen sein mag: Sollte es Janukowitsch gelingen, nicht nur die ost- und südukrainischen Eliten, sondern auch seine dortige Wählerschaft in einen geeinten Nationalstaat Ukraine zu führen, so werden Historiker seine Rolle womöglich einst in günstigerem Licht sehen, als das heute meist in den westlichen Medien der Fall ist. Man könnte sogar provokativ behaupten, dass die Regionenpartei durch das öffentliche Aufgeben ihrer panslawistischen Positionen in den letzten Jahren stärker zu einer Europäisierung der Ukraine beigetragen hat, als einige unsensible Politiker aus Galizien. In bestimmten Fällen vertreten Repräsentanten der Westukraine einen (freilich auch im Baltikum und anderen postsowjetischen Staaten populären) Ethnozentrismus, der wenig mit dem Normenkatalog der heutigen EU zu tun hat, eher an populäre Weltbilder im Vorkriegseuropa erinnert und die Spaltung der Ukraine vertieft. Fehleingeschätzt habe ich in diesem Zusammenhang Anfang 2007 auch die Folgen dieser sich damals schon abzeichnenden Bewegung der Regionenpartei hin zum politischen Zentrum. Mir schien, dass der proeuropäisch-patriotische Wandel der Blauen die »linke Flanke« des politischen Spektrums öffnen würde. Zwar hat die Kommunistische Partei der Ukraine 2007 tatsächlich ihr Wahlergebnis gegenüber 2006 verbessern können. Doch hat dies womöglich mehr mit dem Niedergang der Sozialisten als der Verwandlung der Regionenpartei zu tun. Vor allem kam es nicht zum von mir befürchteten Eintritt von Natalja Witrenkos antisystemischer sog. Progressiv-Sozialistischer Partei in die Werchowna Rada. Obwohl Witrenkos Block 2006 mit 2,93 % nur knapp am Einzug ins Parlament gescheitert war, konnte ihre Partei 2007 nicht von der Entradikalisierung der Blauen profitieren, ja verlor mit einem Ergebnis von 1,32 % sogar noch erheblich an Zuspruch und wird nun womöglich von der politischen Landkarte der Ukraine verschwinden. Der große Unbekannte in der Entwicklung der postsowjetischen Ukraine war und bleibt Russland – weniger die Ukrainepolitik des Kremls per se, als die politische Entwicklung des großen Nachbars insgesamt. Sollte der derzeit zu beobachtende jährliche Anstieg nationalistischer Tendenzen in der russischen Gesellschaft in den kommenden Jahren anhalten, so wird sich Russlands Verhältnis zu vielen Ländern in Ost und West verschlechtern. Die Beziehungen zu denjenigen Staaten, die nicht unter dem Schirm der NATO stehen und an die Russland territoriale oder ähnliche Ansprüche stellt, werden hiervon besonders betroffen sein. Wie sich die russophonen Bevölkerungsteile der Ukraine im Falle einer Zuspitzung etwa eines ukrainisch-russischen Konflikts um die Zukunft des russischen Marinestützpunktes in Sewastopol verhalten werden, ist schwer vorherzusehen. Nicht weniger explosiv könnte eine konsequente Umsetzung der per Verfassung an und für sich vorgeschriebenen Einsprachigkeit in der Kommunikation der staatlichen Institutionen der Ukraine (Gerichte, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Verwaltungen etc.) werden. Dies würde unweigerlich – zumal ein nationalistisch aufgepeitschtes – Russland auf den Plan rufen. Die nähere Zukunft der Ukraine entscheidet sich heute weniger in Kiew, als in Moskau.

Arbeitspapiere und Materialien der Forschungsstelle Osteuropa ISSN 1616-7384 No. 74

Participation of Civil Society in New Modes of Governance The Case of the New EU Member States Part 2: Questions of Accountability By Heiko Pleines (ed.) (February 2006)

Nr. 75

Die Ukraine unter Präsident Juschtschenko Auf der Suche nach politischer Stabilität Von Heiko Pleines (Hg.) (April 2006)

No. 76

Participation of Civil Society in New Modes of Governance The Case of the New EU Member States Part 3: Involvement at the EU Level By Heiko Pleines (ed.) (September 2006)

Nr. 77

Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“ Beiträge für die 14. Tagung junger Osteuropa-Experten Veranstaltet von Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Europäische Akademie Berlin (September 2006)

Nr. 78

Das Archiv ist die Kunst Verfahren der textuellen Selbstreproduktion im Moskauer Konzeptualismus Von Julia Scharf (Dezember 2006)

Nr. 79

Der politische Einfluss der Agrarlobbies in Polen, Russland und der Ukraine Eine vergleichende Politikfeldanalyse Von Heiko Pleines (Dezember 2006)

Nr. 80

Der politische Einfluss der Kohlelobbies in Polen, Russland und der Ukraine Eine vergleichende Politikfeldanalyse Von Heiko Pleines (Dezember 2006)

Nr. 81

Das Comeback von Viktor Janukowitsch Die innenpolitische Entwicklung in der Ukraine 2006 Von Heiko Pleines (Hg.) (Januar 2007)

Nr. 82

Das Buch verlassen Lev Rubinštejns Künstlerbücher Von Valentina Parisi (Juni 2007)

Nr. 83

Das lettische Okkupationsmuseum Das Geschichtsbild des Museums im Kontext der Diskussionen über die Okkupationszeit in der lettischen Öffentlichkeit Von Rebekka Blume (Juli 2007)

Nr. 84

Staat und Pressefreiheit in der ersten Amtsperiode des russischen Präsidenten Vladimir Putin (2000 – 2004) Von Alena Göbel (August 2007)

Bezugspreis pro Heft: 4 Euro + Portokosten Abonnement (10 Hefte pro Jahr): 30 Euro + Portokosten Bestellungen an: [email protected] Forschungsstelle Osteuropa, Publikationsreferat, Klagenfurter Str. 3, 28359 Bremen Vergriffene Hefte können als PDF-Datei gratis bestellt bzw. von der Website der Forschungsstelle Osteuropa (www.forschungsstelle-osteuropa.de) heruntergeladen werden.

Aktuelle Bücher aus der Forschungsstelle Osteuropa

Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa Bd. 21

Isabelle de Keghel: Die Staatssymbolik des neuen Russland. Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse LIT-Verlag (Münster) 2007 (in Vorbereitung), 256 S., br., ISBN 3-8258-8862-2, € 24,90

Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik Bd. 38

Isabelle de Keghel: Konstruktionsversuche neuer historischer Identitäten im Russland der Transformationszeit LIT-Verlag (Hamburg) 2006, 678 S., ISBN 3-8258-8201-2, € 44,90

Changing Europe Bd. 3

Daniela Obradovic, Heiko Pleines (eds.): Civil Society Groups from the New Post-Socialist Member States in EU Governance ibidem-Verlag (Stuttgart) 2007 (im Druck), 244 S., br., ISBN ISBN 978-3-89821-750-7

Bd. 2

Jochen Tholen, David Lane, Gyorgy Lengyel (eds.): Restructuring of the Economic Elites after State Socialism. Recruitment, Institutions and Attitudes ibidem-Verlag (Stuttgart) 2007, 350 S., br., ISBN 978-3-89821-754-5, € 34,90

Bd. 1

Sabine Fischer, Heiko Pleines, Hans-Henning Schröder (eds.): Movements, Migrants, Marginalisation. Challenges of Social and Political Participation in Eastern Europe and the Enlarged EU ibidem-Verlag (Stuttgart) 2007, 224 S., br., ISBN 3-89821-733-7, € 29,90

Archiv zur Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas. Quellen – Bestände – Analysen Bd. 3

Forschungsstelle Osteuropa (Hg.): Die russische Sammlung. Samizdat und Nachlässe aus der Sowjetunion, Russland und den Nachfolgestaaten. Die 1950er Jahre bis heute ibidem-Verlag (Stuttgart), 2007 (in Vorbereitung)

Bd. 2

Forschungsstelle Osteuropa (Hg.): Monographien im Zweiten Umlauf Polens 1976 – 1989 ibidem-Verlag (Stuttgart), 2007 (in Vorbereitung)

Bd. 1

Wolfgang Eichwede (Hg.): Das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa. Sowjetunion, Russland, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, DDR ibidem-Verlag (Stuttgart), 2007 (in Vorbereitung)

Einzelveröffentlichungen Heidrun Hamersky, Heiko Pleines, Hans-Henning Schröder (Hg.): Eine andere Welt? Kultur und Politik in Osteuropa 1945 bis heute. Festschrift für Wolfgang Eichwede ibidem-Verlag (Stuttgart), 2007, 338 S., Hardcover, ISBN 978-3-89821-751-4, € 59,90 Heidrun Hamersky (Hg.): „Gegenansichten“. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956–1989 Verlag Chr. Links (Berlin) 2005, 300 S., 200 Abb., ISBN 3-86153-373-1, € 29,90

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Russlandanalysen Die „Russlandanalysen“ bieten wöchentlich eine Kurzanalyse zu einem aktuellen Thema, ergänzt um Grafiken und Tabellen. Zusätzlich gibt es eine Wochenchronik aktueller politischer Ereignisse. Abonnement unter: [email protected] Russian Analytical Digest Der Russian Analytical Digest bietet zweimal monatlich englischsprachige Kurzanalysen sowie illustrierende Daten zu einem aktuellen Thema. Abonnement unter: http://www.res.ethz.ch/analysis/rad/ kultura. Russland-Kulturanalysen Die Russland-Kulturanalysen diskutieren in kurzen, wissenschaftlich fundierten, doch publizistischaufbereiteten Beiträgen signifikante Entwicklungen der Kultursphäre Russlands. Jede Ausgabe enthält zwei Analysen und einige Kurztexte bzw. Illustrationen. Erscheinungsweise: monatlich, in je einer deutschen und englischen Ausgabe. Abonnement unter: [email protected] Ukraine-Analysen Die Ukraine-Analysen bieten zweimal monatliche eine Kurzanalyse zu einem aktuellen Thema aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, ergänzt um Grafiken und Tabellen. Zusätzlich gibt es eine Chronik aktueller Ereignisse. Abonnement unter: [email protected] Polen-Analysen Die Polen-Analysen bieten zweimal monatliche eine Kurzanalyse zu einem aktuellen Thema aus Politik, Wirtschaft oder Kultur, ergänzt um Grafiken und Tabellen. Zusätzlich gibt es eine Chronik aktueller Ereignisse. Abonnement unter: http://www.polen-analysen.de Bibliographische Dienste Die vierteljährlich erscheinenden Bibliographien informieren über englisch- und deutschsprachigeNeuerscheinungen zu Polen, Russland, Tschechischer und Slowakischer Republik sowie zur Ukraine. Erfasst werden jeweils die Themenbereiche Politik, Außenpolitik, Wirtschaft und Soziales. Abonnement unter: [email protected]