Die Vexierbilder des Johann Sebastian Bach

Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Sept/Okt 2008 Die Vexierbilder des Johann Sebastian Bach Ein musikalischer Indizienprozess Abgeschr...
Author: Max Keller
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Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Sept/Okt 2008

Die Vexierbilder des Johann Sebastian Bach Ein musikalischer Indizienprozess Abgeschrieben, lautet die Anklage; milderner Umstand: von sich selbst. Johann Sebastian Bach – dieser Ruf eilt ihm voraus – hat abgeschrieben, fachsprachlich und neutraler ausgedrückt: parodiert. Gerade in seinem immensem Kantaten-Schaffen wird dies deutlich. So hat auch die Kantate „Freue dich, erlöste Schar“ BWV 30, die Nikolaus Harnoncourt im Oktober aufs Programm setzt, in der Kantate BWV 30a eine nahe Verwandte. In einem musikalischen Indizienprozess lässt sich Sabine M. Gruber von ihrer eigenen Wahrnehmung leiten, das Henne-Ei-Problem zu lösen und einen möglichen Schuld- in einen Freispruch zu verwandeln. Schon wieder hat Johann Sebastian Bach von sich selber abgeschrieben. Die Komposition des Anfangschores der geistlichen Kantate „Freue dich, erlöste Schar“ gleicht aufs Haar dem ersten Chor aus seinem weltlichen Werk, „Angenehmes Wiederau“. Auch die vier Arien und der Schlusschor der geistlichen Kantate sind kompositorisch ident mit den entsprechenden Stücken aus der Huldigungskantate für einen gewissen Johann Christian von Hennicke, frisch gebackener Erbherr auf dem angenehmen Schloss Wiederau. Was hat Bach wovon abgeschrieben? War das geistliche Werk zuerst da oder das weltliche? Die Gewissheit ist nur einen Blick in ein Nachschlagewerk entfernt, jedoch – warum uns nicht einmal ahnungslos stellen und als Pioniere der Musikwissenschaft betätigen. Zwei Partituren – und jemand hat das Datum ausgelöscht. Erstes Indiz – die beiden Texte, gedichtet als perfekte Parodien: in Länge, Rhythmus, Versmaß zum Verwechseln gleich, im Inhalt grundverschieden. Der weltliche Text ist ziemlich platt. Eigentlich können wir ihn in einem einzigen Wort zusammenfassen und hätten schon fast alles gesagt: Huldigung. So nannte man das zu Bachs Zeiten, Laudatio, würden wir heute sagen, am Prinzip jedoch hat sich über die Jahrhunderte nichts geändert. Dem Gehuldigten wird nur und ausschließlich gehuldigt, der Belobigte über die Maßen gelobt, dem einen wie dem anderen nur das Beste nachgesagt und für die Zukunft gewünscht. Was nicht ins Jubelbild passt, bleibt ungesagt, das Sowohl-als-Auch ist ebenso unerwünscht wie das Einerseits-und-Andererseits, für den Huldiger von einst wie für den Laudator von heute ist Ambivalenz etwas um jeden Preis zu Vermeidendes. Und weil die Huldigung/Laudatio einst und jetzt am liebsten Prominenten übertragen wird, treten in „Wiederau“ diverse Lobhudler auf: das Schicksal höchstselbst, das wohlgeborne Glück, die richtig wichtige Zeit sowie ein anscheinend prominenter Fluss namens Elster, der die Auen des zu Lobenden durchfließt. Der geistliche Text, dem nicht unprominenten Johannes dem Täufer gewidmet, wird von namenlosen Nichtpromis vorgetragen, also offensichtlich keine Huldigung. Der Text ist in

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seiner Grundstimmung optimistisch, doch mit feinen Nuancen und keineswegs frei von Ambivalenz. Schon die Erlösung an sich impliziert das, wovon wir erlöst werden; die diversen Versprechen tragen in sich, dass es nicht leicht ist, sie zu halten; und der Grad der Erleichterung ist ein Maß für die vorangegangene Schwere. 1 Wir haben allen Grund zur Freude, denn die Erlösung ist so nah, dass wir uns im Chor, im Kollektiv also, schon so gut wie erlöst fühlen. 2 Das Gesetz nämlich, das Gesetz des Alten Testaments, erfüllt sich, und unser Warten hat ein Ende: Wir werden, endlich, zur Ruhe kommen – Gott sei Dank! 3 Denn: Johannes ist geboren, der lang versprochene Wegbereiter dessen, der uns erlösen wird. 4 Wir sind aufgerufen, dem Licht zu folgen, dem Licht des Johannes, dann – das wird uns garantiert – sind uns die Himmels-Auen sicher. 5 Gesündigt? Bewusst – oder gleichsam schlafend? Verirrtes Schaf? Einerlei. Der Heiland ruft, ja schreit! uns alle zu sich, wartet ungeduldig, uns allesamt zu heilen: Alles wird gut. 6 Der Chor schließt die kollektive Botschaft des ersten Teils ab und erlässt einen allgemeinen Aufruf zu einem interessanten Bauprojekt: ein bequemer, ebener Weg für Gott soll entstehen. Jedoch nicht nach unten nivellieren sollen wir, womöglich die Berge abtragen, nein – die Täler sollen wir anheben! 7 Gleich zu Beginn des zweiten Teils wird die soeben noch kollektive Botschaft persönlich. Das „ihr“ wird durch das „du“ ersetzt, und aus „wir“ wird „ich“. Die Arbeitsteilung wird sofort klargestellt: Gott verspricht, seine Versprechen zu halten. Und ich? Was habe ich zu tun? Ich werde heilig sein und gottesfürchtig … 8 … alles hassen, was nicht Lieben ist … 9 … meine Wankelmütigkeit überwinden, obwohl’s mir schwerfällt, und Gott stets verlässlich ehren und loben. 10 Meine Belohnung: Mit meinen Artgenossen endlich in Ruhe und Frieden leben, selbst mit meinen ärgsten Feinden. Dafür werde ich meinem Gott ewig dankbar sein, wenn’s so weit ist. Worauf ich mich im Übrigen schon so freue, dass ich es kaum noch erwarten kann. 11 In einer Art Selbstgespräch mahne ich mich zur Geduld: Der angenehme Tag, an dem ich (und alle anderen aus der eingangs erwähnten Schar) von aller irdischen Not und Plage inklusive Tod vollkommen befreit sein werde, ist zum Greifen nahe. 12 Am Ende werden wir – mittlerweile nicht nur erlöst, sondern auch heilig – wieder im Kollektiv zum Freuen aufgerufen, doch dieser Aufruf ist nur mehr Formsache. Schweben wir doch schon, über alles erhaben und mit uns höchst zufrieden, auf Wolke sieben, für immer und

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ewig. Der Verfasser von einem der beiden Texte ist unbekannt. Der andere stammt von Bachs Freund und Lieblingsdichter Christian Friedrich Henrici alias Picander. Doch welcher ist welcher? War Picanders Text der erste? Oder hat er die Parodie verfasst? Er gilt als mittelmäßiger Dichter. Ist also der eindimensionale Text von ihm? Dann wäre vielleicht auch das „Angenehme Wiederau“ die Originalkomposition. Unser nächstes Indiz – die Kompositionen. Die Instrumentation ist ident, bis auf die Pauken und Trompeten, die Bach im Eingangschor der Wiederau-Kantate hinzugefügt hat – oder hat er sie in der Johanniskantate weggelassen? Die Frage stellt sich auch für die Arie des ElsterFlusses, die keine geistliche Entsprechung findet. Und nach der Nr. 5 hat Bach einen Choral hineingenommen. Oder eben heraus. Interessant sind die Rezitative. Obwohl in perfekter Parodie gedichtet, sind sie verschieden vertont. Das hilft uns auch nicht weiter. Bleibt die Frage: Welchem der beiden Texte entspricht die Vertonung besser? Wo finden wir das ideale Wort-Ton-Verhältnis? Nachdem wir im Partiturlesen und -hören ungeübt sind, unsere Neugier wächst und die Zeit drängt, schlage ich vor: Musik-Download aus dem Internet. Aha. „Freue dich, erlöste Schar“ wird unter BWV 30 geführt, das „Angenehme Wiederau“ als BWV 30a. Das könnte doch ein Hinweis auf die Chronologie sein. Würde eher bedeuten, die „Erlöste Schar“ war vor dem „Angenehmen Wiederau“. Die Aufnahmen sind nun heruntergeladen, die erste CD liegt im CD-Player, zwei Hörknöpfe stecken in meinen Ohren. Gleich wird sich der Kriminalfall lösen. Welcher Text wurde der „originalen“ Komposition untergejubelt? Ich bin aufs äußerste gespannt. Tja. Lösen können wir den Fall auf diese Weise wohl nicht, stattdessen – eine verblüffende Erfahrung: Eine notenmäßig idente Komposition ergibt, kaum dass ein anderer Text darunterliegt, auch eine andere Musik. Der Text nämlich liegt nur auf dem Papier darunter. Sobald die Musik GEMACHT wird, tut er das nicht mehr. Was heißt hier GEMACHT? Nikolaus Harnoncourt zum Beispiel hat Chor und Orchester kürzlich folgende Anweisung gegeben: „Was ihr da machen sollts, steht nicht in den Noten! Es ist noch nicht komponiert, es entsteht erst durchs MACHEN.“ Sobald also die Musik GEMACHT wird, kriecht der Text gleichsam in die Musik hinein und verändert sie – von innen. Musik interpretiert Text. Im selben Maß jedoch interpretiert Text Musik. Visuelle Phänomene dieser Art sind uns vertraut. Vexierbilder, Kippfiguren, Wackelbilder sind solche Erscheinungen: Sobald wir den Blickwinkel ändern, wird etwas eben noch Unsichtbares plötzlich sichtbar – oder umgekehrt, etwas zuvor Sichtbares verschwindet spurlos. Aus einer Landschaft wird ein Gesicht, aus einem Entenkopf ein Hase, aus einem Totenkopf ein Liebespaar, die Rückseite eines Würfels wird zu seiner Vorderseite.

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Unsere Wahrnehmung nämlich ist nicht stabil, sondern „multistabil“: Sie kann spontan wechseln, ohne dass wir viel dazu tun müssen. Einzige Voraussetzung: Das Bild an sich muss mehrdeutig sein, also die Möglichkeit in sich tragen, verschieden wahrgenommen zu werden. Beim Hören ist es nicht anders. Die Wahrnehmung von Musik funktioniert ähnlich „multistabil“, nur – wie soll ich jemandem meine gehörte oder gar meine verändert gehörte Wahrnehmung: zeigen? Zurück zu unserer Frage. Erlöste Schar oder Wiederau, was war zuerst? Kann dieser platte Huldigungstext Johann Sebastian Bach zu jener höchst differenzierten Musik inspiriert haben, die ich in der geistlichen Kantate wahrnehme? Muss nicht das Differenzierte zuerst da gewesen sein, bereit, in den Hintergrund zu treten, sobald später der Wiederau-Text hineinkriecht? Wir verschaffen uns Gewissheit und wenden uns an einen berufenen Bach-Spezialisten. Bei Alfred Dürr (Johann Sebastian Bach, Die Kantaten) steht es schwarz auf weiß. Die OriginalKantate wurde komponiert zu Ehren – des neuen Herrn von Wiederau und am 28. September 1737 dortselbst uraufgeführt. Der Text stammt von Picander. Die Johannis-Kantate hingegen entstand zum Johannisfest des darauffolgenden Jahres, zum 24. Juni 1738. Bach hat zu einem ziemlich eindimensionalen Text Musik geschrieben, die vieldeutig ist, um ihm dann später einen Text zu unterlegen, der die Vieldeutigkeit erst zum Erklingen bringt. Er hat akustische Vexierbilder geschaffen, Vexier-Hör-Bilder. Einmal hören wir auf irdischen Ruhm und Reichtum beschränktes Hofschranzen, die Zweckoptimismus verbreiten. Dann kippen wir das Bild, betätigen einen Schalter, auf dem „Text“ steht, und hören: Musik, die in ihrer Grundstimmung optimistisch ist, doch voll feiner Nuancen und keineswegs frei von Ambivalenz. Schon die Erlösung an sich impliziert das, wovon wir erlöst werden; die diversen Versprechen tragen in sich, dass es nicht leicht ist, sie zu halten; und der Grad der Erleichterung ist ein Maß für die vorangegangene Schwere. Der Schalter „Text“ ist nicht der einzige, der umgelegt wird. Der zweite Schalter heißt: „KonText“. Bach nämlich komponiert sämtliche Rezitative neu. Alfred Dürr findet das verwunderlich, ich nicht. Denn, auch das kennen wir als visuelles Phänomen, ein veränderter Kontext verändert den Gegenstand, obwohl dieser selbst unverändert bleibt. Eine Kugel, von kleineren Kugeln umgeben, wirkt größer, als wenn sie sich inmitten von größeren befindet. Ein und dasselbe Grau kommt uns in einer schwarzen Umgebung heller vor als in einer weißen. Bach verändert die Farbe, den Charakter von Musikstücken unter anderem, indem er den Kontext verändert. Mit Hilfe von Rezitativen bettet er zum Beispiel die Arie Nr. 5 einmal in einen Dur-Kontext ein und dann in eine Moll-Umgebung. Die Komposition bleibt gleich, Text und Kontext sind verschieden und verändern die Musik in unserer Wahrnehmung. Die Chronologie hätten wir also geklärt, doch die Sache mit dem Abschreiben? Abgeschrieben, glaube ich, hat Johann Sebastian Bach niemals etwas.

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Sabine M. Gruber Sabine M. Gruber lebt als freie Autorin („Der Schmetterlingsfänger“, „Michaels Verführung“, „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten. Die Sprachbilderwelt des Nikolaus Harnoncourt“) in Klosterneuburg und singt im Arnold Schoenberg Chor.

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