Die Verwandlung von Franz Kafka Eine Produktion des Schauspielhauses Bochum
Theaterpädagogisches Material
Empfohlen ab 15/16 Jahren (10. Klasse) Premiere: 29. Oktober 2016, Kammerspiele Stückdauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Verehrtes Publikum, liebe Pädagoginnen und Pädagogen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir freuen uns sehr, Ihnen die Inszenierung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka in der Regie von Jan-Christoph Gockel vorstellen zu dürfen. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ – mit dieser ‚unerhörten Begebenheit‘ beginnt Franz Kafkas Erzählung. Der Satz zählt zu den berühmtesten der Weltliteratur und enthält zugleich in nucleo die gesamte Ästhetik Kafkas: das Rätselhafte, die Abgründigkeit einer trügerisch-sicheren, mit extremer Präzision verdichteten Sprache, den Schrecken auf der Kehrseite der Realität. Samsa ist allein, gefangen in seiner Kammer, bedrängt von Vater, Mutter und Schwester, die auf seine Verwandlung zunächst mit Ratlosigkeit, schließlich mit immer größerer Grausamkeit reagieren und ihn am Ende zugrunde gehen lassen. Eine Metapher für den Existenzkampf des Menschen? Die Gefährdung des Subjekts in der Entfremdung der Moderne? Die Falschheit bürgerlicher Lebensentwürfe? Kafkas Fremdheit fordert zur Deutung heraus. Zugleich ist jede Erklärung seiner Texte aber auch eine Art Zähmung, zumindest eine Reduktion. Jan-Christoph Gockel wird in seiner Bochumer Inszenierung versuchen, den Verlockungen der Zähmung und dem Sound der üblichen Kafka-Depression zu widerstehen: Die Puppen von Michael Pietsch begegnen Schauspielern, Marionetten Menschen. So lässt die Inszenierung die unterschiedlichen Perspektiven dieser Verwandlung aufeinandertreffen. Auf den folgenden Seiten finden Sie Hintergrundinformationen sowie Anregungen für die Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs. Im Interesse des Textflusses und der Lesefreundlichkeit werden in unserer Materialmappe keine geschlechtsspezifischen Termini gebraucht: Die Bezeichnungen Schüler, Lehrer usw. beziehen jeweils die weibliche Form mit ein. Wenn Sie Fragen, Kritik oder Anmerkungen dazu haben, zögern Sie nicht uns anzurufen oder uns eine E-Mail zu senden. Wir freuen uns auf regen Austausch! Mit herzlichen Grüßen aus dem Schauspielhaus Bochum
Ruth Hengel
&
Franziska Rieckhoff
INHALT INHALT ...................................................................................................................... 3 BESETZUNG ............................................................................................................... 4 HINTERGRUNDINFORMATIONEN ......................................................................... 6 Zum Inhalt......................................................................................................... 6 Berichterstattung ................................................................................................ 9 Alles ins Spiel bringen- Interview mit Jan-Christoph Gockel und Michael Pietsch ........13 Die Lieder .........................................................................................................16 Eindrücke einer Verwandlung ..............................................................................20 SWR Wissen Kafkas „DIE VERWANDLUNG“ - Horrortrip eines Ungeziefers .................22
FREMD UND ANDERS – KONSTRUKTIONEN DER ENTMENSCHLICHUNG ....... 25 Definition des Anderen .......................................................................................25 Kafka und Antisemitismus ...................................................................................26 Das Wir und die Anderen ....................................................................................27 Die Angst vor dem Fremden schlummert in jedem von uns .....................................29
VOR- UND NACHBEREITUNG ............................................................................... 32 Assoziationskreis ...............................................................................................32 Anregungen und Impulse zum Thema „Verwandlung“ .............................................32 Figurenmemory .................................................................................................33 Spiel mit den Sätzen ..........................................................................................33 Wer steht wie zu wem? ......................................................................................36 Heißer Stuhl - Wer bist du? .................................................................................36 Ausgeschlossen sein ...........................................................................................36 Sprechchor: Weg muss es! .................................................................................37 Steh auf, wenn… ................................................................................................37 Vorübung zum Puppenspieler ..............................................................................38 Puppenspiel ......................................................................................................38 Schreiben wie Kafka ...........................................................................................38 Kafkaesker Haiku ...............................................................................................39 Eine Postkarte aus Sicht von... ............................................................................39 Diskussionsanregungen ......................................................................................40 Positionslinie .....................................................................................................40 Das Nachgespräch .............................................................................................40
QUELLEN ................................................................................................................. 42 SERVICE: Theater & Schule ....................................................................................... 43 IMPRESSUM ............................................................................................................. 44
BESETZUNG
Jan-Christoph Gockel *1982, studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Wurde 2015 vom Fachmagazin „Theater heute“ als Nachwuchsregisseur des Jahres nominiert. Hat zusammen mit Michael Pietsch, mit dem er eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, das Konzept des Stücks entwickelt.
Michael Pietsch *1984, absolvierte sein Schauspielstudium 2008 an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Wurde 2010 von „Theater heute“ als Nachwuchsspieler des Jahres nominiert. Beschäftigt sich seit seinem 5. Lebensjahr mit Marionetten und hat bisher schon 200 Puppen geschnitzt. Hat die Puppen für „Die Verwandlung“ gebaut. Spielt die Puppen, den Prokuristen und die Bedienerin.
Nils Kreutinger *1986, absolvierte nach einer Ausbildung zum Energieelektroniker und ersten Bühnenerfahrungen am Stadttheater Regensburg sein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Seit der Spielzeit 2014/15 Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum. Spielt den Protagonisten Gregor Samsa.
Katharina Linder studierte an der Folkwang-Hochschule Essen. Engagements u.a. am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt. Wirkte an verschiedenen Kinoproduktionen mit. Seit 2010 festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum. Spielt die Mutter Gregors.
Uwe Zerwer *1961 in Bremerhaven, Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule Bochum. Engagements an Staatstheatern u.a. in Oldenburg, Mainz, Saarbrücken, Düsseldorf, Mannheim und Darmstadt. Seit 2008 Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Spielte u.a. Hamlet, Richard III, Macbeth, Timon von Athen und Danton. Spielt den Vater Gregors.
Bühne: Kostüme: Musik: Licht: Dramaturgie: Theaterpädagogik: Regieassistenz: Bühnenbildassistenz: Kostümassistenz: Souffleuse: Inspizienz: Hospitanzen:
Fotos:
Luana Velis *1988 in Bergisch Gladbach, DeutschChilenin. Von 2012 bis 2016 Schauspielausbildung an der Folkwang Universität der Künste in Bochum. 2015 spielte sie bereits in der Produktion „Im Westen nichts Neues“ am Schauspielhaus Bochum und bekam für ihre Rolle den Solopreis beim Theatertreffen der deutschsprachigen Schauspielstudenten. Seit der Spielzeit 2016/17 festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum. Spielt die Schwester Gregors, Grete. Julia Kurzweg Amit Epstein Matthias Grübel Denny Klein Alexander Leiffheidt Ruth Hengel, Franziska Rieckhoff Dennis Dusczak (Vorproben), Frederick Krieger Amelie Neblich Leonie Cordes Fee Sachse Alexander Störzel Yvonne Dicketmüller (Regie), Jule Oettinghaus (Regie, Kostüm), Sarah Meischein (Kostüm Vorproben) Diana Küster
Herstellung des Bühnenbilds und der Kostüme in den theatereigenen Werkstätten des Schauspielhauses Bochum
HINTERGRUNDINFORMATIONEN Zum Inhalt Franz Kafkas 1915 erschienene Erzählung „Die Verwandlung“ zählt zu den wichtigsten Werken des gebürtigen Österreichers. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Prager Familie Samsa, bestehend aus Gregor Samsa, dessen Schwester Grete sowie den Eltern. Weitere Personen sind ein Prokurist und mehrere Bedienstete der Familie Samsa. Zeitlich ist das Stück um die Jahrhundertwende (19./20. Jahrhundert) angesiedelt, die Handlung erstreckt sich auf einen Zeitraum von etwa sechs Monaten. Erster Teil Gregor Samsa arbeitet auf Wunsch seines strengen Vaters als Vertreter und hält mit seinem Einkommen sich, seine Schwester und die Eltern über Wasser. Alle vier wohnen zusammen und so kann es geschehen, dass seine Eltern eines Morgens seltsame Geräusche aus Gregors Zimmer wahrnehmen. Hinter der Tür erwacht der Vertreter gerade aus dem Schlaf und muss feststellen, dass er sich während der Nacht in etwas verwandelt hat, das von Kafka als „Ungeziefer“ beschrieben wird. Da sich der verwandelte Gregor nur minimal bewegen kann, muss er nun die meiste Zeit in seinem Bett verbringen, wo er beginnt, über sein bisheriges Leben nachzudenken. Dabei wird ihm schnell die Unzulänglichkeit seiner Existenz bewusst, da er seine Arbeit nur wegen der Schulden seines Vaters ausübt. Als einziger Ernährer der Familie kann er aber nicht kündigen und sein Leben in die eigenen Hände nehmen. Frustriert muss Gregor die zweifache Abhängigkeit (zu seiner Familie und zu seiner Arbeit) zur Kenntnis nehmen. Zweiter Teil Noch am selben Tag erscheint bei der Familie ein Prokurist von Gregors Arbeitgeber, um sich nach Gregors Verbleib zu erkundigen. Der Vater führt den Prokuristen in das Zimmer des Verwandelten. Beim Anblick des Insekts ergreift er umgehend die Flucht, während Gregors Vater – einem Dompteur gleich – versucht, den Sohn wieder in sein Zimmer zurückzutreiben. Als sich die Familie später am Tag mit der Situation auseinandersetzt, wird schnell klar, dass vor allem den Vater die bevorstehenden finanziellen Sorgen mehr belasten als der Zustand seines Sohnes. Die drei Angehörigen des bisherigen Ernährers beraten darüber, wie die Familie nun finanziell abgesichert werden kann. Der Vater sieht sich dazu außerstande, weil er seit seinem Konkurs vor einigen Jahren nicht mehr gearbeitet hat. Außerdem hat er seitdem erheblich an Gewicht zugelegt und ist lethargisch geworden. Auch für die Mutter kommt eine Anstellung nicht infrage. Neben den Aufgaben einer Hausfrau obliegt ihr auch die Pflege und Versorgung ihres von Selbstmitleid zerfressenen Ehemannes. Wie fast alle Frauen des 19. Jahrhunderts hat auch sie niemals gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Als ähnlich unfähig zum Broterwerb erweist sich Gregors Schwester Grete. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hat sie alle erdenklichen Freiheiten innerhalb der Familie, bekommt nahezu jeden Wunsch erfüllt und lebt vorwiegend in den Tag hinein. Weil Gregor seiner Schwester dieses süße Leben aber gönnte und sie förderte, hatten die beiden bis zu jenem Morgen ein harmonisches Geschwisterverhältnis. Nun wird Grete damit beauftragt, den verwandelten Bruder zu versorgen. Allerdings wird diese Aufgabe bei ihr schnell zum Kalkül, denn Grete liegt nun weniger an ihrem Bruder als viel mehr an ihrer gesteigerten Bedeutung innerhalb der Familie. Währenddessen wird immer deutlicher, dass es sich bei Gregors Verwandlung wohl um etwas Endgültiges handelt. Seine menschlichen Wesenszüge verblassen immer mehr und
auch seine Hoffnung auf eine Änderung der Lage schwindet. Gregor versucht, sich mit der Situation zu arrangieren und kriecht immer öfter durch sein Zimmer. Weil ihm das vor allem an den Wänden schon recht gut gelingt, wollen Mutter und Schwester das Zimmer völlig leerräumen, um dem Sohn mehr Möglichkeiten zur Fortbewegung zu bieten. Neben den Möbeln soll auch Gregors Lieblingsgemälde entfernt werden. Um dies zu verhindern, krabbelt Gregor auf das Bild, um es zu schützen, was allerdings von der Mutter als Attacke auf sie fehlinterpretiert wird. Gregors Mutter fällt vor Schreck in Ohnmacht. Als die herbeieilende Schwester nach einer Medizin für die Mutter greift, fällt versehentlich ein Fläschchen vom Regal, trifft Gregor im Gesicht und verletzt ihn. Weitere Wunden erleidet Gregor, als der Vater später am Tag von dem Vorfall erfährt und mit alten Äpfeln nach seinem Sohn wirft. Dritter Teil Weil Gregors Verletzungen unbehandelt bleiben, verschlechtert sich sein allgemeiner Zustand zusehends. Auch Grete, die ihren Bruder eigentlich mit Küchenabfällen versorgen sollte, vernachlässigt ihre Pflichten gegenüber ihrem Bruder immer öfter und in dem eigentlich freigeräumten Zimmer sammelt sich nun der Unrat. Ferner ist auch Gregors „Auslauf“ innerhalb der Wohnung stark eingeschränkt, weil die Familie als Einnahmequelle mehrere Zimmer vermietet hat. Die Familie hat sich insgesamt also arrangiert, die Aufgaben neu verteilt und geht mehr und mehr wieder zum Alltag über. Als die Tür zu Gregors Zimmer eines Abends versehentlich nicht verschlossen ist, schleppt er sich durch die Wohnung und wird prompt von den Untermietern entdeckt, die ihn für echtes Ungeziefer halten und daraufhin ausziehen. Dadurch reift bei den Eltern und bei Grete der Entschluss, sich des verwandelten Gregors zu entledigen. Schon lange waren alle wegen des fehlenden Einkommens, der Versorgung und der Geheimnistuerei frustriert, aber nun ist Gregor endgültig nur noch ein Störenfried in den Augen seiner Angehörigen. Aber noch bevor die Familie Gelegenheit zum Handeln hat, wird Gregor von seinem letzten Lebenswillen verlassen und stirbt in der nächsten Nacht. Mit der lieblosen Entsorgung seiner Überreste sind alle Spuren von Gregors Existenz vernichtet, was den Hinterbliebenen nicht wirklich ungelegen kommt. Bei einem gemeinsamen Ausflug beschließt Gregors Familie, das Erlebte hinter sich zu lassen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen, womit insbesondere die Zukunft Gretes gemeint ist. Eine neue Wohnung und vor allem ein Ehemann für Grete sind nun die Ziele der Familie; über den verlorenen Sohn wird nie wieder ein Wort gesprochen.
Für die Literaturwelt trägt „Die Verwandlung“ eindeutig autobiografische Züge Kafkas. Der Schriftsteller hielt sich selbst oft für unzulänglich und wurde von Zweifeln hinsichtlich seiner Rolle als Vater und Ehemann geplagt, die zeitweise bis zum Verlust der eigenen Identität reichten. In „Die Verwandlung“ zeigt Kafka auf, wie das wohlgeordnete Gleichgewicht innerhalb der Familie durch ein plötzliches, unbeherrschbares und noch dazu völlig sinnloses Ereignis in Schieflage gerät. Kernpunkt ist dabei die Frage nach der Machbarkeit von etwas eigentlich Unmöglichem. Dabei nutzt Kafka geschickt die Kontraste zwischen verschiedenen Handlungen und der Kommunikation. So werden die Gedanken Gregors als Käfer durch innere Monologe dargelegt, die restliche Familie aber versucht nicht, mittels Gesprächen weitere Lösungen zu finden und umgeht dadurch das offensichtlich normale Handeln. Unterstrichen wird das durch die betonte Absurdität der Geschehnisse. Die eher oberflächlichen Unterhaltungen im Hause Samsa stehen im krassen Widerspruch zu den Ereignissen, mit denen sich Gregor konfrontiert sieht. 7
Auf den Leser wirkt die Erzählung oftmals irritierend, denn er sieht sich gleich mehreren moralischen Wechselwirkungen ausgesetzt. Dazu zählt insbesondere der Gegensatz zwischen einem Käfer (= Ungeziefer) und der Gedankenwelt Gregors (= fühlendes Individuum mit menschlichen Werten). Auch die anfängliche Verleugnung der Geschehnisse durch Gregor selbst ist ein literarischer Kniff des Autors, der die Spannung des Stücks durch das Weglassen von Tatsachen vorantreibt. Die Verwandlung, Franz Kafka: Inhaltsangabe: In: https://www.inhaltsangabe.de/kafka/dieverwandlung/, Zugriff am 13.10.2016.
Uwe Zerwer (Vater)
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Berichterstattung
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Nils Kreutinger (Gregor Samsa)
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Alles ins Spiel bringen- Interview mit Jan-Christoph Gockel und Michael Pietsch Herr Gockel, in Ihrer Inszenierung der „Verwandlung“ gibt es Schauspieler, die Figuren spielen, die Puppen spielen; Puppen, die aus Puppen ‚geboren‘ werden, Figuren, die sich in den Puppen verdoppeln – alles in allem ein wahres Spiegelkabinett. Wie kam es zu dieser Idee? Jan-Christoph Gockel: Die erste Herausforderung von Kafkas „Verwandlung“ ist, dass die Erzählung so berühmt ist. Es gibt diesen berühmten ersten Satz, „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte…“. Wir haben uns gefragt: Wie lässt sich das auf einer Theaterbühne abbilden, außer durch die sehr naheliegende Variante, dass jemand in einem Käferkostüm im Bett liegt. Uns hat dann vor allem die Zersplitterung der Figur Gregor Samsa interessiert – ein Mensch, der sich im Laufe der Erzählung im wahrsten Sinne des Wortes in seine Bestandteile auflöst. Schon bei Kafka geht es nicht nur um eine Verwandlung, sondern es durchzieht ein Prozess von immer neuen Verwandlungen die gesamte Erzählung. An diesem Prinzip haben wir angesetzt und es zum Spiel mit Größendimensionen und Puppen- bzw. Menschenfiguren weiterentwickelt. Gregor Samsa ist bei uns einmal riesengroß, ein anderes Mal winzig klein, mal ist es Nils Kreutinger selbst, mal eine kleine Puppe von ihm, dann eine noch kleinere Puppe. Eine Zersplitterung von Identitäten, ein verschwindendes Ego – das ist bei uns die Verwandlung, oder sind die Verwandlungen des Gregor Samsa. Und ja nicht nur des Gregor Samsa, sondern auch der anderen Figuren. JG: Genau, weil die Welten eigentlich nie zusammen passen. Wir wollten ein Stück über jemanden machen, der nicht in die Welt passt. Das heißt: Die Puppen und Menschen treffen immer so aufeinander, dass sie nicht zusammen kommen können. Gregor Samsa trifft immer so auf seine Familie, dass sie nicht zusammen passen. Die Puppen sehen den Schauspielern sehr ähnlich – wobei sich für mich diese Ähnlichkeit erst von dem Moment an einlöst, in dem die Spieler ihre Puppen beleben. Was steckt hinter der Idee der „Doubles“? JG: Ein „Double“ ist ja die Kopie eines Originals. So ist es hier eigentlich gar nicht. Die Puppen sehen nicht nur aus wie die Schauspieler, sondern sie sind die Figuren tatsächlich, sie verkörpern sie in den entsprechenden Szenen. Es gibt also jede Figur mindestens doppelt auf der Bühne. Durch dieses Kafka’sche Doppelgänger- Prinzip versuchen wir, verschiedene Perspektiven der Geschichte zu erzählen. Einmal blickt man aus Samsas Perspektive auf die Familie, einmal aus Sicht der Familie auf Samsa, usw. Außerdem lässt sich über den Unterschied, dass es die Personen der Erzählung einmal aus Fleisch und Blut und einmal aus Holz gibt, das Thema der Zersplitterung, der Selbst-Aufsplittung sehr gut sinnlich erzählen. Michael Pietsch, Sie haben die Puppen entworfen und gebaut. Wie entsteht so eine Figur? Michael Pietsch: Der große Vorteil bei dieser Produktion war, dass wir, bevor ich angefangen habe die Figuren zu bauen, schon vor der Sommerpause zweieinhalb Wochen lang geprobt haben. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, die Menschen und Figuren des Stoffes kennenzulernen. Ich habe ein Gespür entwickeln können für die Charaktere, für die Aus13
strahlung, die so jeder Mensch hat. Gleichzeitig haben wir geprobt, also konnte ich meine Beobachtungen schon beim Bauen zusammendenken mit den Puppen und ihren Eigenschaften. Setzt man sich dann mit einem Stück Holz und ein paar Fotos in die Werkstatt und schnitzt drauf los? MP: Es war klar, dass die Puppen einen relativ hohen Naturalismus haben werden, also nicht abstrakt sind oder sehr grob, sondern dass man die Schauspieler treffen muss. Tatsächlich sitzt man dann erst einmal vor einem Stück Holz, einem Lindenholzblock in diesem Fall von 18 x 18 cm, und beginnt so viel Holz wegzunehmen, bis irgendwann das Gesicht übrig bleibt. Das ist ein sehr langer Prozess, denn man muss wahnsinnig vorsichtig sein. Alles, was weg ist, ist weg. Man tastet sich aus allen Richtungen vor, versucht immer mehr in das Zentrum des Gesichtes oder des Charakters zu kommen. Ich merke immer: Gerade, wenn man Portraits schnitzt, muss man sehr wach sein. Man muss auch regelmäßig kurze Pausen machen, so dass man immer wieder einen neuen Blick hat. Man tastet sich sozusagen aus dem Groben immer weiter vor ins Feine. Wie haben die Puppen den Probenprozess beeinflusst? MP: Wir hatten zunächst Probenpuppen, also Figuren aus einem alten Stück, mit denen wir geübt haben und die eher Kinderfiguren waren. Dadurch wirkte die Welt, die entstand, anfangs eher noch comichaft. Eine Comicwelt. Das Spiel und der Umgang mit den Puppen haben sich dann durch die Ankunft der richtigen Puppen völlig verändert. Dadurch, dass unsere Puppen so eine Traurigkeit haben, oder auch so eine bestimmte Art der Langsamkeit aushalten. Man merkt sehr deutlich, finde ich, wie die Schauspieler mit ihren Puppen anders umgehen, sie anders bespielen, weil sie es eben selbst sind. Jeder hat ein besonderes Verhältnis zu sich selbst als Puppe. Was, nebenbei bemerkt, auch beim Bauen eine große Verantwortung ist. Man muss da etwas herstellen, wozu sich derjenige, der abgebildet wird, ins Verhältnis setzen kann. Das bleibt bis zuletzt ein offener Prozess. Ich male zum Beispiel heute und morgen die Gesichter der Figuren an. Das ist eine Woche vor der Premiere. Bis zuletzt schaut man immer wieder: Was ist richtig für eine bestimmte Situation? Wie setzt man diesen Kosmos, der da entstehen soll, nach und nach zusammen? Seit vielen Jahren arbeiten Sie beide zusammen. Sind eigentlich in jeder Ihrer gemeinsamen Arbeiten Puppen vertreten? JG: Nein, nicht in jeder Inszenierung, aber schon in sehr vielen. Also in 2-3 Produktionen pro Spielzeit, würde ich sagen. Je nachdem wie es passt, oder was eben auch unsere Ideen sind. Woher kommt diese Faszination? JG: Im Spiel mit Figuren und Menschen liegt, finde ich, ein starkes episches und erzählendes Moment. Es gibt den Körper zwei Mal. Man hat ihn als Objekt, das man dann belebt und führt, in der Hand, und kann zugleich darüber berichten. Ich mache Theater auch für das Fantastische, versuche Bilder zu schaffen, die jenseits der Realität liegen, die man im Alltag oder im Fernsehen vielleicht so nicht sehen kann. Und dafür sind die Puppen von Micha natürlich toll, weil sie etwas Inneres, etwas Traumhaftes verkörpern können. Solche Sequenzen gibt es in meinen Inszenierungen oft, in denen die Realität verlassen, aufgebrochen, überhöht wird. Ich finde, dazu ist Theater auch da. 14
MP: Und teilweise können Figuren auch Dinge besser als Schauspieler. JG: Ja – sterben, zum Beispiel. MP: Das ist schon sehr eigen, dass der Zuschauer sich gerade bei so emotionalen Situationen sehr schnell mit einer Puppe identifiziert. Michael Pietsch, sind Sie auf der Bühne eigentlich lieber Puppenspieler oder lieber Schauspieler? MP: Da gibt es keinen Unterschied. Denn ich bin ja da – ich bin nicht der hinter einer Wand versteckte, unsichtbare Marionettenspieler. Wenn wir Arbeiten machen mit Figuren, gibt es nicht die Puppenspieler, die Schauspieler und die Puppen getrennt, sondern es ist alles ein einziger Kosmos. Ohne die Schauspieler wären die Puppen nicht lebendig. Umgekehrt üben die Puppen eine Wirkung auf das Spiel der Schauspieler aus, verändern, wie diese sich zu den Puppen und zueinander verhalten. Ich finde tatsächlich, dass der Übergang sehr fließend ist zwischen dem Spiel mit der Puppe, dem eigenen Spiel und der Interaktion. Es ist eine Bereicherung, alles gleichzeitig machen zu können. JG: Wir versuchen auch im Probenprozess immer, für einen kurzen Zeitraum eine Art ‚Kompagnie‘ zu formen, also eine Truppe von Spielerinnen und Spielern, die alles machen und üben müssen. Dabei ist das Ziel allerdings nie, dass man am Schluss sagen kann: Das ist eine perfekte Puppenproduktion. Es gibt auch ganz tolles Puppentheater, aber wir machen Schauspieltheater. Der Versuch, alles miteinander ins Spiel und in die Vermischung zu bringen, und das Interagieren zwischen Mensch und Puppe – das steht für uns im Vordergrund. Alexander Leiffheidt im Interview mit Jan-Christoph Gockel und Michael Pietsch: Programmheft zur Inszenierung von „Die Verwandlung“ am Schauspielhaus Bochum, S. 18ff.
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Die Lieder Alle Lieder wurden für „Die Verwandlung“ von Matthias Grübel neu arrangiert und eingespielt. Little Person (Jon Brion) gesungen von Luana Velis I'm just a little person One person in a sea Of many little people Who are not aware of me I do my little job And live my little life Eat my little meals Miss my little kid and wife And somewhere, maybe someday Maybe somewhere far away I'll find a second little person Who will look at me and say
We'll take a road trip way out west You're the one I like the best I'm glad I've found you Like hangin' 'round you You're the one I like the best Somewhere, maybe someday Maybe somewhere far away Somewhere, maybe someday Maybe somewhere far away Somewhere, maybe someday Maybe somewhere far away I'll meet a second little person And we'll go out and play
„I know you You're the one I've waited for Let's have some fun.“ Life is precious every minute And more precious with you in it So let's have some fun Little Person: In: http://songmeanings.com/songs/view/3530822107858747443/, Zugriff am 29.11.2016.
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The Beast In Me (Nick Lowe) gesungen von Katharina Linder The beast in me Is caged by frail and fragile bonds Restless by day And by night, rants and rages at the stars God help, the beast in me
Das Biest in mir, wird bloß von zerbrechlichen und fragilen Stäben gehalten. Rastlos bei Tag und bei Nacht, motzt und ruft es zu den Sternen. Gott helfe dem Biest in mir.
The beast in me Has had to learn to live with pain And how to shelter from the rain And in the twinkling of an eye Might have to be restrained God help the beast in me
Das Biest in mir, hat lernen müssen, mit Schmerzen zu leben und wie man sich vor dem Regen unterstellt. Und im Glitzern eines Auges, muss es wohl beherrscht werden. Gott helfe dem Biest in mir.
Sometimes It tries to kid me that it's just a teddy bear Or even somehow managed To vanish in the air And that is when I must beware Of the beast in me That everybody knows They've seen him out dressed in my clothes Patently unclear If it's New York or New Year God help the beast in me The beast in me
Manchmal versucht es mich zu täuschen, dass es nur ein Teddy Bär sei. Oder es gelang ihm sogar irgendwie, in die Luft zu entweichen. Das ist, wenn ich mich in Acht geben muss, vor dem Biest in mir, das jeder kennt. Sie haben ihn draußen gesehen, in meine Kleider gekleidet, völlig unklar, ob New York oder Neujahr. Gott helfe dem Biest in mir, dem Biest in mir.
The Beast In Me: In: http://www.songtexte.com/uebersetzung/nick-lowe/the-beast-in-me-deutsch7bd632bc.html, Zugriff am 30.11.2016.
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In Germany Before The War (Randy Newman) gesungen von Uwe Zerwer In Germany Before The War There was a man who owned a store In nineteen hundred thirty-four In Dusseldorf And every night at five-o-nine He'd cross the park down to the Rhine And he'd sit there by the shore
I'm looking at the river But I'm thinking of the sea Thinking of the sea Thinking of the sea We lie beneath the autumn sky My little golden girl and I And she lies very still
I'm looking at the river But I'm thinking of the sea Thinking of the sea Thinking of the sea I'm looking at the river But I'm thinking of the sea A little girl has lost her way With hair of gold and eyes of gray Reflected in his glasses As he watches her A little girl has lost her way With hair of gold and eyes of gray In Germany Before The War: In: http://www.golyr.de/randy-newman/songtext-in-germany-before-thewar-65843.html, Zugriff am 30.11.2016.
Nils Kreutinger (Gregor Samsa) 18
I´m Only Sleeping (The Beatles) gesungen von Matthias Grübel When I wake up early in the morning Lift my head, 'm still yawning When I'm in the middle of a dream Stay in bed, float up stream (float up stream) Please don't wake me, no, don't shake me Leave me where I am I'm only sleeping Everybody seems to think I'm lazy I don't mind, I think they're crazy Running everywhere at such a speed Till they find there's no need (there's no need) Please don't spoil my day, I'm miles away And after all I'm only sleeping Keeping an eye on the world going by my window Taking my time Lying there and staring at the ceiling Waiting for a sleepy feeling Please don't spoil my day, I'm miles away And after all I'm only sleeping Keeping an eye on the world going by my window Taking my time When I wake up early in the morning Lift my head, I'm still yawning When I'm in the middle of a dream Stay in bed, float up stream (float up stream) Please don't wake me, no, don't shake me Leave me where I am I'm only sleeping
Wenn ich frühmorgens aufwache, erhebe ich meinen Kopf und gähne noch. Wenn ich gerade mitten in einem Traum bin, bleib ich im Bett, treibe stromabwärts (treibe stromabwärts). Bitte weckt mich nicht, nein, rüttelt mich nicht, lasst mich , wo ich bin, ich schlaf doch nur. Jeder denkt, ich bin faul, ist mir egal , ich denke, sie sind verrückt. Laufen mit Volldampf kreuz und quer, bis sie bemerken, dass es keinen Grund gibt ( keinen Grund gibt ). Bitte verderbt mir nicht den Tag, bin Meilenweit weg, und außerdem , schlaf ich doch nur. Ich behalte die Welt im Auge, die vor meinem Fenster vorbeispaziert. Nehm mir meine Zeit, liege da und starre an die Decke, warte auf ein schläfriges Gefühl. Bitte verderbt mir nicht den Tag , bin Meilenweit weg, und außerdem, schlaf ich doch nur. Ich behalte die Welt im Auge, die vor meinem Fenster vorbeispaziert, lass mir Zeit. Wenn ich frühmorgens aufwache, erhebe ich meinen Kopf und gähne noch. Wenn ich gerade mitten in einem Traum bin, bleib ich im Bett, und treibe stromabwärts ( treibe stromabwärts ). Bitte weckt mich nicht , nein , rüttelt mich nicht, lasst mich , wo ich bin, ich schlaf doch nur.
I´m Only Sleeping Songtext: In: http://www.songtexte.com/songtext/the-beatles/im-only-sleeping6bd292e2.html, Zugriff am 30.11.2016.
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Eindrücke einer Verwandlung
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Uhl, Idun; Anklam, Sandra; Echterhoff, Silke; Klare, Thomas: „Theater in der Psychiatrie. Von Verwandlungen, Wagnissen und heiterem Scheitern“. Schattauer GmbH, Stuttgart, 2016, S. 20f.
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SWR Wissen Kafkas „DIE VERWANDLUNG“ - Horrortrip eines Ungeziefers Aus der Reihe: Klassiker der Schullektüre (1/3) Von Sabine Stahl
Verwandlung
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ (Die Verwandlung) Die Erzählung des Prager Schriftstellers Franz Kafka (1883 - 1924) ist weltberühmt, nicht nur wegen der grausig-fantastischen Metamorphose eines Menschen in ein Ungeziefer. Mindestens genauso erschreckend ist, wie eine Gemeinschaft sich gegenüber einem Mitglied verhält, das nicht so „funktioniert“ wie gefordert: Der Andersartige wird überhört, übersehen, übergangen, ausgeschlossen und schließlich „entfernt“. Fehlende Empathie und soziale Isolation – das ist der erschütternd realistische Horror der Verwandlung des Gregor Samsa. Gregor Samsa jedoch kann der neuen Situation zunächst durchaus etwas abgewinnen: Sie befreit ihn nämlich von verhassten Verpflichtungen. Damit ist allerdings seine gesellschaftliche Ausgrenzung besiegelt – und letztlich auch sein Tod. Zwänge und Pflichten Gregor ist ein junger Handlungsreisender. Ein 30-jähriger Mann, der statt auszugehen abends am elterlichen Tisch Zugpläne studiert und sich mit Laubsägearbeiten die Zeit vertreibt. Ein Junggeselle – in Sachen Liebe ein Loser. Und obwohl er das Vertrauen seines Arbeitgebers genießt, Geld einzutreiben, wird er wie ein Untergebener behandelt, dem man kaum Gehör schenkt. Er leidet unter dieser Situation, doch die Samsas sind hoch verschuldet und Gregor hatte sie in den letzten Jahren allein finanziert.
„Man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester war ihm nahe geblieben.“ (Die Verwandlung) Eltern und Schwester klopfen morgens an Gregors Tür, als dieser nicht pünktlich erscheint. Als Gregor es schließlich schafft, aus eigener Kraft die Tür zu öffnen, sind alle schockiert. Der Vater treibt Gregor das „Riesenungeziefer“ mit Stockschlägen und Zeitungshieben in sein Zimmer zurück. Ungeziefer als Symbol Die Symbolkraft ist vieldeutig. Offenbar war Gregor in seinem bürgerlichen Menschenleben brav – vielleicht sogar ein Kriecher? Ungeziefer sind aber auch diejenigen Tiere, die den Menschen besonders verhasst sind und sie erschrecken.
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Und sie zählen zur langen Liste der Tiere, die zur Verunglimpfung von lästigen, unbeliebten oder angeblich gefährlichen Menschen herhalten müssen: Die Nationalsozialisten etwa schmähten Juden als „Ratten“. Franz Kafka waren solche Attacken nicht fremd. Seine Familie gehörte zu den deutschsprachigen Juden in Prag. Er erlebte Konflikte zwischen Tschechen und Deutschen, antisemitische Ausschreitungen sowie die Abgrenzungstendenzen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst. Denn die assimilierten Westjuden wollten mit den orthodoxen Ostjuden nichts zu tun haben. Und von Kafkas Vater ist bekannt, dass auch er mit Tierbezeichnungen andere Menschen verächtlich gemacht und disqualifiziert hat. Die Expressionisten, deren Generation Kafka zugerechnet wird, identifizierten sich mit Tieren, betonten das Ursprüngliche, Wilde, von der menschlichen Zivilisation Unverdorbene. Gleichzeitig spiegelten sie, wie Tiere von Menschen behandelt und Menschen in ihrem Namen erniedrigt werden. Franz Kafka in der Altstadt von Prag (um 1920)
Als Insekt kann sich Gregor zwar endlich aus Verpflichtungen ausklinken, aber frei ist er nicht, im Gegenteil. Er ist noch abhängiger von seiner Familie als vorher. Und alle ekeln sich. Doch als Käfer erobert er nun neuen Raum, krabbelt an Decke und Wänden herum. Seine Versuche aber, sich verständlich zu machen, bleiben so vergeblich wie seine Hoffnung auf Ansprache. Er wird ein stummes Tier, das Erfüllung nur noch im Beobachten und Nachdenken, im Rückzug nach Innen und im langsamen Entschwinden aus der menschlichen Welt gewinnen kann. Rückzug Während der Käfer Gregor in seinem dunklen verwahrlosten Zimmer liegt, öffnen die anderen in einem Anflug von Großmut abends die Tür zum Wohnzimmer, sodass er ein bisschen zuhören kann. Doch zunehmend wird er wütend über „die schlechte Wartung“; er ist gekränkt und verbittert. Auch die Schwester Grete, die sich zunächst noch um ihn gekümmert hatte, zieht sich zunehmend aus der Verantwortung und schiebt eine beliebige Speise mit dem Fuß zur Tür herein. Außerdem erfährt er, dass die Familie gar nicht bankrott ist und sehr wohl Geld auf der hohen Kante hat. Die Samsas kommen gut ohne Gregor zurecht. Schließlich verbündet sich die geliebte Schwester mit dem despotischen Vater – ein Verrat, wie ihn Franz Kafka ähnlich im Verhältnis zu seiner Schwester Ottla erlebt hat. Und Grete erklärt Gregor zum „Untier“ und letztlich zum Ding: „Wir müssen versuchen, es loszuwer-
den (…). Weg muss es, das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden versuchen, dass es Gregor ist. (...) Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingese23
hen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“ (Die Verwandlung) Stil und Interpretation Der Text, den Kafka mit 30 verfasste, fasziniert durch seinen typischen kristallklaren und gleichzeitig rätselhaften Stil. Der große, auffallend magere Mann mit den klaren, dunklen, durchdringenden Augen schrieb nüchtern und so „skelettiert“ und pointiert wie ein Pathologe. Franz Kafka war ein Meister im Vermessen von Innen- und Außenwelt, er observierte, studierte und sezierte, vor allem seinen Vater, zu dem er zeitlebens ein gestörtes Verhältnis hatte. „Die Verwandlung“ steht in einer Reihe von frühen Erzählungen, die Franz Kafka unter den Stichworten „Söhne“ und „Strafe“ zusammenfasste. Dazu zählen „Der Verschollen“ und „Das Urteil“. Ihnen gemeinsam ist, dass die unverheirateten Söhne dem normalen bürgerlichen Lebensstil nicht entsprechen und von dominanten, autoritären Vätern in ihren Bedürfnissen unterdrückt, nicht ernst genommen, verstoßen und verurteilt werden. Diese Missachtung ist das wirklich Grauenhafte, der Horrortrip Gregors, der sich wie so viele Andersgläubige, Andersdenkende, Anderslebende, Andersliebende, Fremde und Entfremdete, Verunsicherte und Schikanierte als ausgegrenzte Kreatur erleben muss. Dass er dies aber in der eigenen Familie erfährt, erhöht die Tragik noch. Denn verweigerter Respekt, unterlassene Liebe und fehlendes Verständnis schlagen dort, wo besonders enge emotionale Bindungen bestehen, die tiefsten Wunden. Und manchmal sind sie tödlich. Es ist die alte Bedienerin, die morgens in sein Zimmer kommt und den reglosen ausgetrockneten Körper mit dem Besen kitzeln will:
„Als sie den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern riss die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: >>Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!