Die Versorgung proximaler Humerusfrakturen durch die winkelstabile Marknagelung mit dem Targon-PH-Nagel. Technik und mittelfristige Ergebnisse

Universitätsklinikum Ulm Zentrum für Chirurgie Klinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Ärztlicher Direktor Prof. Dr. med...
Author: Irma Möller
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Universitätsklinikum Ulm Zentrum für Chirurgie Klinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Ärztlicher Direktor Prof. Dr. med. F. Gebhard

„Die Versorgung proximaler Humerusfrakturen durch die winkelstabile Marknagelung mit dem „Targon-PH-Nagel“. Technik und mittelfristige Ergebnisse“

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm

Vorgelegt von Paul Heyder, geb. in Bayreuth 2014

Amtierender Dekan: Prof. Dr. Thomas Wirth 1. Berichterstatter: Prof. Dr. Götz Röderer 2. Berichterstatter: PD Dr. Thomas Kapapa Tag der Promotion: 16.07.2015

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................II 1. Einleitung .........................................................................................................1 1.1 Die proximale Humerusfraktur ..............................................................1 1.2 Epidemiologie .......................................................................................2 1.3 Anatomie des proximalen Humerus .....................................................2 1.4 Frakturklassifikationen ..........................................................................4 1.5 Therapieoptionen .................................................................................6 1.6 Fragestellung........................................................................................11 2. Material und Methoden ...................................................................................12 2.1 Der „Targon-PH-Nagel“ ........................................................................12 2.2 Operationstechnik ................................................................................15 2.3 Patientengut .........................................................................................18 2.4 Patientenfragebogen ............................................................................20 3. Ergebnisse .......................................................................................................25 3.1 Untersuchungsergebnisse ....................................................................27 3.1.1 Auswertung nach Altersgruppen .................................................28 3.1.2 Auswertung nach Frakturklassifikation ........................................38 3.2 Nachbehandlung ..................................................................................48 3.3 Komplikationen und Zweiteingriffe........................................................48 4. Diskussion .......................................................................................................56 5. Zusammenfassung..........................................................................................64 6. Literaturverzeichnis ........................................................................................66 Danksagung.........................................................................................................70 Lebenslauf ...........................................................................................................71

I

Abkürzungsverzeichnis Aa.:

Arteriae

A.:

Arteria

Abb.:

Abbildung

AO-.:

Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen

LCP:

locking compression plate

LPHP:

locking proximal humerus

M.:

Musculus

N.:

Nervus

NCB:

non contact bridging plate

PH:

proximaler Humerus

PHN:

proximaler Humerus Nagel

Tab.:

Tabelle

UHN:

unaufgebohrter Humerus Nagel

VAS:

visuelle Analogskala

II

Einleitung

1. Einleitung 1.1 Die proximale Humerusfraktur Die häufigsten Frakturen sind mit bis zu 85 % der Fälle einfache, nicht oder gering dislozierte Frakturen, die bei konservativ frühfunktioneller Therapie gute Ausheilungsergebnisse zeigen [7, 17]. Bei Frakturen mit einer Fragmentverschiebung um mehr als 1 cm und/oder einer Achsfehlstellung von mehr als 45° sowie einer Dislokation der Tuberkula von mehr als 5 mm bzw. 1 cm, sogenannten dislozierten Frakturen [24], kann es unter konservativer Therapie zu schmerzhaften Funktionseinschränkungen kommen [61, 65]. Besonders problematisch sind die 3- und 4-Fragmentfrakturen. Alte Menschen haben wegen der schlechteren Verankerungsmöglichkeiten von Implantaten im osteoporotischen Knochen weniger gute Voraussetzungen ein zufriedenstellendes Operationsergebnis zu erreichen. Das kann über den Verlust der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in die Pflegebedürftigkeit führen. So wurde aufgrund der häufig schlechten Ausheilungsergebnisse nach geeigneten Verfahren zur Frakturversorgung gesucht. In der Literatur lassen sich zwei unterschiedliche Therapieansätze zur Versorgung proximaler Humerusfrakturen finden. Zum einen gibt es die konservative Therapie und zum anderen stehen operative Verfahren, wie die Versorgung mit Kirschnerdrähten, Zuggurtungen, Schrauben, Cerclagen, verschiedene Plattensysteme, intramedulläre Implantate und der prothetische Ersatz zur Verfügung. Es zeigt sich ein Trend zu den minimalinvasiven Operationsverfahren, da das Risiko von Rotatorenmanschettenläsionen, Verwachsung der Gleitschichten, Humeruskopfnekrosen oder von Infekten geringer ist [47]. Der Eingriff ist aufgrund des geringeren chirurgischen Traumas weniger belastend für den Patienten. Ein Nachteil ist unter anderem die eingeschränkte Möglichkeit zur Reposition. Das Hauptziel ist der schmerzfreie ungehinderte Gebrauch der Schulter. Dem Patienten soll es möglich sein, den gewohnten Verrichtungen des Alltags ohne gravierende Einschränkungen nachzugehen, daher richtet sich die Therapie nach den individuellen Bedürfnissen des Patienten [29]. So hat zum Beispiel ein 30 jähriger berufstätiger Mann andere Ansprüche als ein 80 jähriger Rentner. Auch der Unfallhergang ist unterschiedlich. Während bei einem jungen Patienten meist ein hochenergetisches Trauma ursächlich ist, spielt die Osteoporose in Verbindung mit indirekten Traumata im Alter die größte Rolle [11]. 1

Einleitung

1.2 Epidemiologie Die Humeruskopffraktur ist eine häufige Verletzung des höheren Lebensalters. Etwa 5% aller Frakturen sind Oberarmkopffrakturen, wobei die Inzidenz aufgrund des zunehmenden Altersdurchschnittes der Bevölkerung zunimmt [2]. Diese Art von Frakturen betreffen im Durchschnitt doppelt so viele Frauen wie Männer, weil Frauen häufiger eine altersbedingte Osteoporose aufweisen [49]. Hinsichtlich des Unfallhergangs gibt es entweder den direkten Sturz auf das Schultergelenk oder den indirekten Sturz auf die ausgestreckte Hand bzw. den Ellenbogen [4]. Je nach Krafteinwirkung kann man Biegungs-, Scher,- und Kompressionsbrüche unterscheiden [12]. Das Risiko eine Humerusfraktur zu erleiden wird vor allem durch die Osteoporose erhöht. Sie ist die häufigste metabolische Knochenerkrankung, die durch den Verlust von Knochenmasse und durch die Verschlechterung der Mikroarchitektur gekennzeichnet ist. Die Folge ist ein gesteigertes Frakturrisiko, wobei die Osteoporose im präklinischem Stadium zunächst keine Beschwerden verursacht [50]. In Deutschland sind 2-10 % der Bevölkerung erkrankt. Frauen sind drei bis viermal mal häufiger als Männer betroffen. Das erhöhte Frakturrisiko ist nicht nur der mangelnden Stabilität der Knochen zuzuschreiben, sondern auch dem beim alten Menschen erhöhtem Sturzrisiko durch Einschränkung des Sehvermögens, Gangunsicherheit und Muskelschwäche [50].

1.3 Anatomie des proximalen Humerus Der kugelförmige Humeruskopf ist die proximale Epiphyse des Humerus und bildet den Gelenkkopf des Schultergelenks. An ihn schließt sich der Humerusschaft über das ringförmige Collum anatomicum an. Unterhalb des Humeruskopf befinden sich zwei lateral gelegene knöcherne Apophysen zwischen denen die lange Bizepssehne verläuft. Diese dienen als Ansatzpunkte für die Muskeln der Rotatorenmanschette. Am Tuberkulum majus setzen der M. supraspinatus für die Abduktion und der M. infraspinatus mit dem M. teres minor für die Außenrotation an. Der M. subscapularis setzt am Tuberkulum minus an und ist für die Innenrotation zuständig. Diese Muskelschicht der Rotatorenmanschette ist lateral und dorsal vom M. deltoideus umgeben. Der M. deltoideus ist der stärkste Abduktor im Schultergelenk und wird vom N. axillaris innerviert, welcher durch die laterale Achsellücke um das Collum chirurgicum zieht. Hier sind die Frakturlinien der proximalen Humerus2

Einleitung

fraktur sehr häufig zu finden. Daher ist der N. axillaris bei Humeruskopffrakturen und deren operativer Versorgung gefährdet [60] [34]. Als Collum chirurgicum bezeichnet man den distal der Tuberkula gelegenen Übergang von Humeruskopf zum Humerusschaft. Die Muskeln der Rotatorenmanschette bedingen bei Frakturen bestimmte Dislokationsrichtungen der Fragmente [34]. Im Bereich des Schultergürtels sind die Bursa subacromialis und die Bursa subdeltoidea von Bedeutung, da sie bei Verklebung oder Schwellung Bewegungseinschränkung und Schmerzen hervorrufen können. Der Sulcus bicipitalis ist bei proximalen Humerusfrakturen häufig eine anatomische Grenzlinie zwischen den beiden Hauptfragmenten. Daher dient die zwischen den beiden Tuberkula verlaufende lange Bizepssehne meist als intraoperative Leitstruktur. Der Humeruskopf wird von den Aa. circumflexa anterior und posterior versorgt, die aus der A. axillaris stammen. Diese beiden zuführenden Arterien bilden mit den Arterien des Periosts und der Rotatorenmanschette ein Anastomosennetz. Bei einer subkapitalen Humerusfraktur kann so der häufige Ausfall einer der beiden Zuflüsse kompensiert werden [36].

Abb. 1: Die Blutversorgung des Humeruskopfes. Ansicht von ventral (rechts) und dorsal (links) [18]

3

Einleitung

1.4 Frakturklassifikationen Die am häufigsten verwendete Einteilung der proximalen Humerusfrakturen ist die Klassifikation nach Neer [5, 43]. Basis ist eine Viersegmenteinteilung des Humeruskopfes nach Codman, welche Schaftsegment, Kopfsegment, Tuberkulum majus und Tuberkulum minus Segment unterscheidet.

Abb. 2: Darstellung der Hauptfragmente der Humeruskopffraktur nach der modifizierten Klassifikation nach Codman [25]

Berücksichtigt wird die Anzahl und der Dislokationsgrad der Fragmente, wobei die Verschiebung erst ab 1 cm (bzw. 0,5 cm im Falle des Tuberkulum majus) oder einer Abkippung von mindestens 45 ° als disloziert gilt [24]. Dislokationen darunter fallen in die Kategorie 1 des Neer Scores und sind nicht operationspflichtig. Frakturen der Kategorie 4 werden neben der Fragmentanzahl noch nach Luxationsrichtung der Frakturteile eingeteilt. Eine Schwäche der Neer Klassifikation ist die fehlende Unterscheidung, ob der Frakturverlauf durch das Collum chirurgicum oder das Collum anatomicum geht. Eine Zweifragmentfraktur nach Neer gilt z.B. als prognostisch als günstig. Wenn diese Fraktur aber durch das Collum anatomicum verläuft, hat sie eine eher schlechte Prognose [12].

4

Einleitung

Abb. 3: Frakturklassifikation der proximalen Humerusfraktur nach Neer [38]

Um eine Fraktur korrekt einordnen zu können, ist die Indikation zum Computertomogramm des Frakturgebietes vor allem bei Mehrfragmentfrakturen großzügig zu stellen. Eine weitere, sehr geläufige Fraktureinteilung ist die AO-Klassifikation. AO steht für Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen. Sie unterteilt in drei Hauptgruppen (A, B, C). Die Typen A und B sind hierbei extraartikulär, der Typ C ist int-

5

Einleitung

raartikulär. Die Hauptgruppen werden jeweils wieder in 9 Frakturtypen unterteilt, somit existieren insgesamt 27 Untergruppen [40].

Abb. 4: AO-Frakturklassifikation der proximalen Humerusfraktur [38] (AO: Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen)

Nachteil beider Klassifikationen ist die geringe Reliabilität und Reproduzierbarkeit [55] [56].

1.5 Therapieoptionen Die proximalen Humerusfrakturen können operativ oder konservativ behandelt werden. Die Entscheidungshilfe bei der Therapiewahl sind die o.g. Frakturklassifikationen mit Berücksichtigung des Dislokationsgrades bzw. Stabilität der Fraktur. Das Ziel ist, neben der Wiederherstellung der Beweglichkeit, weitestgehende Schmerzfreiheit im Alltag zu erlangen.

6

Einleitung

Konservativ Nichtdislozierte Frakturen, wie Neer Typ1 oder sogenannte „1-FragmentFrakturen“ sind gut konservativ zu therapieren, da sie als stabil einzustufen sind und die Ergebnisse in funktioneller Hinsicht sehr gut sind [20]. Es soll keine weitere Manipulation vorgenommen werden und eine frühzeitige Physiotherapie nach kurzfristiger Ruhigstellung begonnen werden [24]. Die Stabilität wird durch ein meist intaktes Periost, die Gelenkkapsel und die Rotatorenmanschette gewährleistet.

Komplikationen der konservativen Therapie Die Hauptkomplikation ist ein schlechtes funktionelles Ergebnis durch Kapselschrumpfung mit Atrophie des M. deltoideus bei zu langer Immobilisation. Weitere Komplikationen sind die Humeruskopfnekrose, die Pseudarthrose, die Reflexatrophie, Schmerzen, das subacromiales Impingement durch ein disloziertes Tuberkulum majus Fragment und die sekundäre Arthrose [13]. Maßgeblich für ein gutes funktionelles Ergebnis der Beginn der Physiotherapie. Hierbei wird die Fraktur in der ersten Woche durch einen Gilchrist Verband ruhig gestellt und nur der Ellenbogen sowie die Hand beübt. In der zweiten bis dritten Woche schließen sich Pendelübungen an. Zwischen der vierten und sechsten Woche folgt die aktivassistierte Physiotherapie bis 90° Abduktion und Anteversion. Ab der siebten Woche ist der betroffene Arm wieder freigegeben [5]. Zur Vorbeugung der Komplikationen bei instabilen Frakturen sind regelmäßige Röntgenkontrollen sehr wichtig [42].

Operativ Indikation zur Operation wird gestellt, wenn 

offene Humeruskopffrakturen



Frakturen bei welchen das Tuberkulum majus um mehr als 0,5 cm disloziert ist



nicht geschlossen reponierbare Luxationsfrakturen



Frakturen mit Dislokation der Fragmente um mehr als 1 cm



oder pathologische Frakturen vorliegen.

7

Einleitung

Komplikationen operativer Frakturversorgung Komplikationen der operativen Versorgung proximaler Humeruskopffrakturen sind sekundärer Repositionsverlust, Infektionen, Dislokation des Osteosynthesematerials,

Kapselschrumpfungen,

Verlötung

der

Gleitschichten,

Rotatoren-

manschettenläsionen, periartikuläre Verknöcherungen und Pseudarthrosen. Dies kann Funktionseinschränkungen und Schmerzen zur Folge haben [24]. Eine ebenfalls gängige Komplikation ist die avaskuläre Humeruskopfnekrose [24, 53], die in Abhängigkeit des Frakturtypes und der Therapie in 10% bis 35% der Fälle vorkommt [42]. Sie entsteht vor allem nach Frakturen am Collum chirurgicum, weil hier die Blutzufuhr aus der A. arcuata und aus den periostalen Gefäßzuflüssen zum mediodorsalen Collum anatomicum unterbrochen wird [9]. Sie wird durch die Anzahl der Fragmente, deren Dislokationsgrad und der Höhe des Bruches beeinflusst. Entscheidend für die Prognose ist aber die verbleibende Vaskularisierung des Kalottenfragments, die zusätzlich zur traumatisch bzw. posttraumatisch bedingten Durchblutungsstörung iatrogen beeinflusst werden kann. So können die evtl. bislang kompensierten Durchblutungsverhältnisse bei iatrogener Manipulation verschlechtert oder ganz unterbrochen werden [8].

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Versorgung dem funktionellen Anspruch des Patienten gerecht werden muss. Die Hauptziele sind die anatomische Reposition, stabile Fixation und die funktionelle Nachbehandlung [41].

Möglichkeiten der operativen Versorgung Kirschner-Drahtspickung: Eine alte Versorgungsmethode ist die Kirschner-Drahtspickung, die sehr hohe Komplikationsraten aufweist, da die so versorgten Frakturen nicht ausreichend übungsstabil sind und eine suffiziente Verankerung im osteoporotischem Knochen häufig nicht möglich ist [26].

Zuggurtung: Die Cerclage nach dem Zuggurtungsprinzip ist besonders bei Frakturen mit Beteiligung des Tuberkulum majus von Vorteil [15]. Dieses minimalinvasive Osteosyntheseverfahren wird häufig in Verbindung mit Plattenosteosynthesen oder Kirschner-Drahtspickung angewandt [23, 39]. Durch die Zuggurtung wird eine Antagoni8

Einleitung

sierung bzw. Umwandlung der Zugkräfte der Rotatorenmanschette in Kompressionskräfte erreicht. Nachteil dieses Verfahrens ist die verzögerte frühfunktionelle Nachbehandlung, die Gefahr der Drahtlockerung oder des Drahtbruches mit Verlust der stabilisierenden Wirkung und die Kompression humeraler Gefäße [6].

Schraubenosteosynthese: Schraubenosteosynthesen werden bevorzugt bei Abrissfrakturen des Tuberkulum majus oder bei Frakturen im Collum anatomicum bzw. Collum chirurgicum angewendet, wenn die Frakturfläche relativ senkrecht zur Humeruskopfachse steht. Die Schraubenosteosynthesen sind übungsstabil und tragen somit zur frühzeitigen Mobilisation bei [15]. Problematisch ist die Verankerung der Schrauben im osteoporotischen Knochen, bei gesunden Knochen ist die Dislokationsgefahr hingegen geringer [57].

Plattenosteosynthese: Die Osteosynthese mittels winkelstabiler Implantate hat sich mittlerweile als Standardtherapie etabliert [19, 27, 31, 46, 52]. Bei Anwendung der konventionellen, d.h. der nicht winkelstabilen Plattenosteosynthese besteht der Hauptnachteil in den erhöhten Lockerungsraten mit Korrekturverlusten im osteoporotischen Knochen [64]. In einer Studie von Lill et al. wurde bei einem Kollektiv von 33 Patienten eine Plattenlockerungsrate von 18 % und eine sekundäre Fragmentdislokation von 72 % beschrieben [31]. Außerdem kommt es zu erhöhten Raten der Humeruskopfnekrose in bis 45% der Fälle [22], da die Platte dem Knochen eng anliegt und die periostale Durchblutung stört [24, 51]. Der Einsatz dieser Platten erfordert einen großen Zugang mit kompletter Freilegung der Fraktur. Es ergibt sich so ein zusätzlicher Weichteilschaden, welcher Infekte begünstigt und die Knochen- sowie Weichteilheilung beeinträchtigt [24]. Diese Probleme werden weitgehend durch Verwendung winkelstabiler Implantate, wie z.B. der „NCB-PH-Platte“ (non-contact bridging proximal humerus plate, Fa. Zimmer GmbH, Winterthur, CH) oder der „LPHP-Platte“ (locking proximal humerus plate, Fa. Synthes GmbH, Zuchwil, CH) umgangen. Es handelt sich hierbei um winkelstabile, dem Knochen nicht direkt anliegende Implantate, welche minimalinvasiv eingebracht werden können [53]. 9

Einleitung

Intramedulläre Nagelsysteme: Intramedulläre Fixierungssysteme stellen eine weitere Therapiemöglichkeit der Versorgung proximaler Humerusfrakturen dar. Insbesondere Mehrfragmentfrakturen des Humeruskopfes bei osteoporotischem Knochen können mit diesen Nagelsystemen versorgt werden [24]. Der hier beschriebene „Targon-PH-Nagel“ ist ein intramedulläres Fixierungssystem, welches den Anforderungen osteoporotischer Humerusfrakturen alter Menschen gerecht wird [59]. Hierbei besteht die Schwierigkeit darin, osteoporotische Fragmente mit zertrümmerten Rändern wirksam unter Kompression gegeneinander abzustützen.

Humeruskopfprothese: Die Hemiarthroplastik ist vor allem bei dislozierten Vier- und Mehrfragmentbrüchen oder bei einer Beteiligung von mehr als 40 % der Gelenkfläche indiziert. Die Humeruskopfprothese liefert als Primärmaßnahme bessere Ergebnisse als die sekundäre Versorgung [58]. Entscheidend für ein langfristig gutes Behandlungsergebnis ist vor allem die anatomisch korrekte und sichere Fixation der Tuberkula. Außerdem spielen die Wiederherstellung der exakten Humeruslänge, der individuellen Retrotorsion des Humeruskopfes und des Rotationszentrums eine wichtige Rolle [11]. Vorteile bei dieser Methode sind, auch bei sehr alten Patienten, die weitgehend schmerzfreie, aber eingeschränkte Schulterbeweglichkeit, die den normalen alltäglichen Anforderungen genügt. Nachteilig ist die problematische Tuberkulumeinheilung, die fehlende Längenverstellbarkeit und ein kleiner scharfkantiger Prothesenkopf [11].

Inverse Prothese: Die inverse Prothese wird bei nicht mehr wiederherstellbaren Läsionen der Rotatorenmanschette in Verbindung mit einer nicht mehr rekonstruierbaren proximalen Humeruskopffraktur oder schwerer Arthrose eingesetzt. Um ein gutes klinisches Ergebnis zu erzielen, ist die regelrechte Funktion des M. deltoideus Voraussetzung. Es finden sich bei der Versorgung proximaler Humerusfrakturen mit der inversen Prothese eingeschränkte Bewegungsumfänge, die aber mit den funktionellen Ergebnissen der konventionellen Frakturprothetik vergleichbar sind [5, 45].

10

Einleitung

Problematisch zu betrachten ist die fehlende bzw. komplizierte Revisionsmöglichkeit bei fehlgeschlagener Versorgung mit der inversen Prothese und dass keine Langzeitergebnisse existieren [5].

1.6 Fragestellung Die hier vorliegende Arbeit soll die mittelfristigen Ergebnisse von Patienten mit proximalen Humerusfrakturen darlegen, die zwischen 2001 und 2006 operativ mit einem intramedullären Nagel („Targon-PH-Nagel“, Fa. Aesculap, Tuttlingen, D), der mehrere winkelstabile Verriegelungsoptionen im Kopfbereich bietet, in der Abteilung für Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Ulm versorgt wurden. Zur Auswertung des Therapieerfolges erfolgte die Erstellung eines Fragebogens, der die visuelle Analogskala (VAS) und den Simple Shoulder Score enthielt. Um den individuellen Therapieerfolg zu erfassen wurden jeweils die Funktion des operierten Arms im Vergleich zum dem gesunden Arm des jeweiligen Patienten untersucht. Die Ergebnisse sind nach Alter der Patienten und nach Frakturklassifikation nach Neer erhoben, ausgewertet und diskutiert worden. Anhand der ermittelten Ergebnisse dieser Arbeit soll eine Entscheidungshilfe bzgl. der Wahl des Implantats in Abhängigkeit des Alters und der Frakturart der Patienten gegeben werden.

11

Material und Methoden

2. Material und Methoden 2.1 Der „Targon-PH-Nagel“ Der „Targon-PH-Nagel“ (Fa. Aesculap, Tuttlingen, D, „PH“ steht für proximaler Humerus) verfügt durch die zentrale Lage als intramedullärer Kraftträger über kurze Hebelarme, die die reponierten Fragmente nach dem Zugschraubenprinzip halten können. Ein weiterer Vorteil der zentralen Lage ist der axiale Stabilisierungseffekt durch die Einbringung in den Markraum. Durch die verminderte Relativbewegung der Fragmente untereinander soll die Revaskularisierung und endostale Einheilung beschleunigt werden. Der Verklebung der subacromialen Bursa kann durch die so erlangte frühe Übungsstabilität direkt nach Abklingen der postoperativen Entzündungsphase vorgebeugt werden [1]. Ein weiterer Vorteil ist die Schonung humeraler Gefäße durch die fehlende Kompression von außen was z.B. bei der Drahtcerclage oder bei der konventionellen T-Platte problematisch sein kann. Nachteilig bei der Einbringung des „Targon-PH-Nagels“ ist die Penetration der Bursa subacromialis, die Eröffnung der Rotatorenmanschette, die Empfindlichkeit gegenüber Rotationskräften, die hohe Belastung des Schultergelenks bei der antegraden Einbringung und das mögliche subacromiale Impingement durch die Implantatkanten [1, 3].

Indikation: Eingesetzt wird dieses Implantat vor allem bei einfachen Frakturen am Collum chirurgicum (Neer II 2) und bei Frakturen mit zusätzlicher Beteiligung eines Tuberkels (Neer IV 3, V 3) [33]. Sie kann auch bei 4-Fragment-Frakturen angewandt werden, solange das Kopffragment intakt und groß genug für die Versorgung mit dem Nagel ist.

12

Material und Methoden

Implantatdesign:

Abb. 5: Der „Targon-PH Nagel“ [54] Im oberen Anteil stellen sich die 4 optionalen Fixierungsschrauben und die 2 Transfixationsschrauben dar. Zwischen beiden Schraubengruppen liegt die N.axillaris-Schonungszone. Gemäß der Tuberkelanordnung verlaufen auch die Querbohrungen. Weiter distal gelegene Fragmente können aufgrund der verschiedenen Längenausführungen (150-280 mm) ausreichend gefasst werden. Die unteren Bohrungen gewährleisten Rotationsstabilität bei weit distal verlaufenden Frakturen.

Der „Targon-PH-Nagel“ ist ein gerader Verriegelungsnagel und besteht aus der Titanlegierung Ti6AI4V mit einem distalen Durchmesser von 8 mm bei einer Länge von 150 mm oder mit einem distalen Durchmesser von 7 mm bei einer Länge von 230 mm. Der lange Nagel ist auch zur Versorgung von Frakturen im distalen Schaftbereich geeignet, da die distalen Verriegelungsschrauben für genug Stabilität sorgen können. Proximal beträgt der Durchmesser bei beiden Nagelvarianten 10 mm. Das gerade Nageldesign hat den Vorteil, dass sich der Nagel am Apex 13

Material und Methoden

der Kalotte einbringen lässt und so an der Stabilisierung des Kalottenfragments beteiligt ist. Außerdem trägt der Nagel proximal 4 divergierende gleit- und winkelstabile Fixierschrauben, die das Kalottenfragment dreidimensional gegen Verkippung und Rotation abstützen. Die Schrauben haben ein spezielles Gewindedesign, welches Vorteile bei Verankerung im osteoporotischen Knochen bietet. Der groß dimensionierte Gewindedurchmesser mit 4,5 mm ermöglicht ein sicheres Fassen der Knochenfragmente. Der Schraubenkopf ist sehr flach gehalten und hat eine Fadenrille, die eine Fixation zertrümmerter Tuberkula mittels einer kurzen Rahmennaht ermöglicht

(„Rope-Over-Bitt“-Methode).

Die

Einlaufwinkel der

Schrauben sind anatomisch abgestimmt, so dass wichtige Strukturen, wie der Verlauf der Bizepssehne oder N. axillaris geschont werden und die Reposition der Tuberkula gewährleistet ist. Dem spontanen Herausdrehen der Schrauben, welches besonders beim osteoporotischen Knochen beobachtet wurde, wird im oberen Nagelabschnitt mit einem eingelassenen Kunststoffinlay (PEEK: PolyEtherEtherKeton) entgegengewirkt. Unterhalb der Frakturlinie wirken mit 3,5 mm Verriegelungsschrauben belegte Transfixationslöcher stabilisierend. Die Implantatentfernung ist bei komplikationslosem Verlauf nicht zwingend nötig [1].

14

Material und Methoden

2.2 Operationstechnik Die Patienten wurden in der Beach-Chair-Lagerung operiert.

Abb. 6: Beach-Chair-Lagerung [1] (OP-Anleitung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Aesculap, Tuttlingen, D)

Der Zugang erfolgte standardmäßig mittels Deltoid-Split am Vorderrand des Acromions und Eröffnung der Bursa subacromialis. Bei intakter Rotatorenmanschette wurde die Längsinzision 1 cm dorsolateral des ertasteten Sulcus bicipitalis im Faserverlauf nach medial geführt. Nach Anschlingen der Rotatorenmanschette erfolgte die Reposition der Kalotte unter Bildwandler-kontrolle. Bei defekter Rotatorenmanschette und dislozierten Tuberkula wurde eine Erweiterung des Rotatorenmanschettenrisses in Faser-verlauf durchgeführt. Nach Anschlingen und lateralem Weghalten der Weichteile wurde die Kalotte erfasst und mit einem SteinmannNagel im sogenannten „Joy-Stick-Verfahren“ reponiert. Unter Bildwandlerkontrolle in zwei Ebenen wurde ein Tellerspieß am kranialsten Punkt der Kalotte eingebracht. Danach erfolgten die Eröffnung des Humeruskopfes mittels Hohlfräße und die antegrade Einbringung des „Targon-PH-Nagels“ mit dem Zielgerät über das Kalottenloch in den Markraum. 15

Material und Methoden

Abb. 7: Die Einbringung des „Targon-PH-Nagels“ und der Fixierschrauben in den Humerus mittels Zielgerät in korrekter Position [1] (OP-Anleitung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Aesculap, Tuttlingen, D)

Wichtig war hierbei, dass der Nagel nicht über Kalottenkopf hinausragt, aber auch nicht mehr als 3-4 mm unterhalb des Knorpelniveaus versenkt wurde, um die Kalottenstabilisierung durch das obere Nagelende nicht zu gefährden. Bei richtiger Wahl der Eintrittsstelle und des Eintrittswinkels richtet sich das Kopffragment orthograd über dem Humerusschaft auf. Vor dem Einbringen der bis zu 4 Fixierschrauben wurde der Schraubenkanal mit dem passenden Spiralbohrer aufgebohrt und die jeweilige Länge der benötigten Fixierschraube gemessen. Die Schraube sollte hierbei an beiden Korticalices greifen. Bei Bedarf standen Fixierungsschrauben zum fixieren einzelner Fragmente zur Verfügung. Die Belegung der Transfixationslöcher erfolgte ebenfalls unter Verwendung des Zielgerätes. Im Anschluss wurde der M. deltoideus und die Rotatorenmanschette adaptiert und die Haut nach Einlage einer Wunddrainage verschlossen.

16

Material und Methoden

Abb. 8: Entfernung des Zielgerätes bei vollständiger Belegung aller Fixierschrauben [1] (OP-Anleitung mit freundlicher Genehmigung der Fa. Aesculap, Tuttlingen, D)

Abb. 9: In situ AP-Röntgenbild eines „Targon-PH-Nagels“ (Fallbeispiel) (AP: anterior-posterior)

17

Material und Methoden

2.3 Patientengut Gegenstand dieser retrospektiven Studie sind 168 Patienten, die zwischen September 2001 und November 2006 (62 Monate) im Universitätsklinikum Ulm mit dem „Targon-PH-Nagel“ versorgt wurden. Von diesen 168 Patienten erklärten sich 50 Patienten bereit an dieser Arbeit teilzunehmen. Schlussendlich haben 39 Patienten den an sie gesandten Fragebogen zurückgeschickt, wobei zwischen dem Operationszeitpunkt und der Beantwortung des Fragebogens im Durchschnitt 3 Jahre und 10 Monate vergingen. 22 Patienten waren weiblich (56,4%) und 17 männlich (43,6%). Das Durchschnittsalter lag bei 61,8 Jahren. Es setzt sich aus dem Durchschnittsalter der weiblichen Patienten zum Zeitpunkt der Operation mit 63,7 Jahren und aus dem der männlichen Patienten mit 59,4 Jahren zusammen. Die jüngste Patientin war 19 Jahre alt, die älteste Patientin war 80 Jahre alt. Bei den Männern war der jüngste Patient 35 Jahre und der älteste Patient 84 Jahre alt. Bei 23 (59 %) Patienten war der linke Arm betroffen, bei 13 (33,3 %) der rechte Arm und bei 1 (2,6 %) Patienten waren beide Arme betroffen. 2 (5,1 %) Patienten machten keine Angaben bzgl. der Seite. 100

Gesamtkollektiv Patientenalter ≥ 60

90

Patientenalter