Ruth Leiserowitz (Hg.)

Die unbekannten Nachbarn Minderheiten in Osteuropa

Ch. Links Verlag, Berlin

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Inhalt

Ruth Leiserowitz Die unbekannten Nachbarn Ein Mosaik der Minderheiten in Ostmitteleuropa

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Polen Ulrike Butmaloiu Die belarussische Sprache ist vom Aussterben bedroht Die weißrussische Familie Pawlowska im polnischen Zaluki

20

Minderheiten im heutigen Polen

35

Litauen Vivi Bentin ’ Nalesniki und Piłsudski Die Polen in Litauen

44

Minderheiten im heutigen Litauen

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Lettland Roland Stork »Irgendwie sind wir alle Russen und irgendwie sind wir alle keine Russen.« Die Familie Morosli in Riga

Minderheiten im heutigen Lettland

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64 79

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Estland Alexandra Frank Die Seto Ein Leben zwischen Estland und Russland

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Minderheiten im heutigen Estland

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Deutschland Melanie Longerich Sorben in Deutschland Familie Handrick in Wendischbaselitz

107

Minderheiten im heutigen Deutschland

120

Tschechien Blahoslav Hruška Kneifel – Ein Porträt des Landespatrioten als alter Mann Leben und Meinungen des letzten deutschen Holzfällers im Riesengebirge

Minderheiten im heutigen Tschechien

130

140

Slowakei Zuzana Kleknerová Pätorak gehört zum Schlimmsten Besuch in einer Roma-Siedlung

151

Minderheiten in der heutigen Slowakei

162

Slowenien Veronika Wengert Die Seeräuber aus den Bergen Familie Žurćak – ein slowenisch-kroatisches Miteinander

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Minderheiten im heutigen Slowenien

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Ungarn Nikola Richter Friehrige Zeite Die ungarndeutsche Familie Hammer in der »Schwäbischen Türkei«

Minderheiten im heutigen Ungarn

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205

Rumänien Laura Căpăţână Juller Das Lächeln, das vom Untergang bedroht ist Jüdisches Leben in Kronstadt

218

Minderheiten im heutigen Rumänien

232

Bulgarien Diljana Lambreva Die erzwungenen Namen Râgenowo und die Kampagne von 1984

246

Minderheiten im heutigen Bulgarien

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Anhang Danksagung Gesamtüberblick der Minderheiten Literaturverzeichnis Über die Herausgeberin und die Autoren

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267 268 270 282

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Tallinn Värska

Riga

Mickunai

Vilnius Zaluki

Berlin

Warschau

Wendischbaselitz Janovy Boudy

Prag

Rudňany

Bratislava Budapest Bonyhád

Ljubljana Novo Mesto

Braşov

Bukarest

Sofia

Ragenovo

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Ruth Leiserowitz

Die unbekannten Nachbarn Ein Mosaik der Minderheiten in Ostmitteleuropa

Seit dem 21. Dezember 2007 können wir aus Deutschland ohne eine einzige Passkontrolle bis in die estnisch-russische Grenzstadt Narva reisen, in das galizische Medyka bis kurz vor das ehemalige Lemberg, nach Košice und weiter bis an die Waldkarpaten oder an die kroatische Grenze. Wir können nun einen größeren europäischen Raum in Richtung Osten und Südosten barrierefrei durchqueren. Dabei bewegen wir uns nun durch ein Territorium, das wir als Aneinanderreihung unterschiedlicher Staaten betrachten und kaum als Ganzes. Wir können es kaum als Einheit wahrnehmen, da es in dieser Gestalt bisher nicht in unserem Gesichtsfeld lag. Verbindet die zahlreichen verschiedenen Länder Polen, Tschechien und die Slowakei mit Ungarn und den drei baltischen Staaten etwas Gemeinsames, das über die Klammer der sowjetisch geprägten Ostblockerfahrung hinausreicht? Ja, es gibt verbindende Elemente und Phänomene. Eines, das alle jetzt miteinander teilen, ist die Gemeinschaft des europäischen Raumes. Hier ist die Grundlage für eine gleichberechtigte Nachbarschaft in Europa gelegt worden, die jetzt allmählich entstehen kann. Hier haben wir den geographischen Raum, in dem sich die »Unvereinigten Staaten von Europa« (so der Filmemacher Cédric Klapisch) entfalten können. Ein weiteres herausragendes und verbindendes Phänomen ist die Existenz zahlreicher Minderheiten in allen diesen osteuropäischen Ländern. Ihr Leben, ihre Kultur und Geschichte haben viele kleine mittel- und osteuropäische Winkel und Regionen über lange Jahrhunderte geprägt, bereichert und auch miteinander verbunden. Gerade durch sie wurde Osteuropa einstmals zu einer vielfarbigen und kulturell reichen Landschaft. Die Vielfalt dieser Kulturen, ihre Heterogenität, ihre reiche Differenziertheit und ihre Verwobenheit bewirkten eine einzigartige Pluralität, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts zerstört wurde. Zusätzlich geriet das Wissen über dieses ehemalige dichte 9

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kulturelle System in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fast vollständige Vergessenheit. Wie konnte das geschehen? Der Leser des vor uns liegenden Bandes wird nach der Lektüre mehr Fragen als Antworten haben und er wird beginnen zu begreifen, dass das östliche Europa durch den Zweiten Weltkrieg und in dessen Folge weitaus tiefgehender beschädigt und verändert wurde, als gemeinhin angenommen wird. Nach diesem Krieg konnte Ostmitteleuropa zu keiner wie auch immer gearteten oder vorgestellten Normalität zurückkehren, denn der Eiserne Vorhang riss Regionen auseinander, die jahrhundertelange enge Beziehungen gepflegt hatten. Es kam nicht nur zu einer einfachen Teilung Europas bzw. Abschottung des nun entstandenen sowjetischen Blockes. Die UdSSR riegelte sich inklusive der von ihr besetzten Gebiete, der nun entstandenen estnischen, lettischen, litauischen und moldawischen Unionsrepublik fast hermetisch von den übrigen Staaten ab, so dass Ostmitteleuropa gleich mehrfach auseinandergerissen wurde und die zahlreichen lebendigen Kommunikationsstränge, die konstitutiv für das gesamte östliche Europa gewesen waren, brachgelegt wurden. Zusätzlich zu der Unterbindung der Kommunikation kam es aus weiteren Ursachen zu grundlegenden Veränderungen im Profil dieses Teils von Europa. Denn große und deutlich wahrnehmbare Minderheitengruppen waren nach 1945 nicht mehr existent. Die osteuropäischen Juden waren fast vollständig umgebracht worden, die deutsche Minderheit war am Ende des Zweiten Weltkrieges geflohen, wurde wie in Rumänien und Ungarn zum Teil in das Innere der Sowjetunion deportiert oder während des darauffolgenden Jahrzehnts unter wechselnden Umständen mit zeitweise drastischen Methoden ausgesiedelt. Auch die polnische Minderheit wurde aus den östlichen Gebieten, die nun zur UdSSR gehörten, vertrieben. Diese polnischen Vertriebenen fanden sich plötzlich in den neuen polnischen Nord- und Westgebieten, in Ostpreußen, Schlesien und Pommern wieder. Die Reste der noch existierenden Minderheiten sollten sich nach dem Willen der neuen Machthaber nicht oder nur äußerst marginal artikulieren können. Die Umstände der unterschiedlichen Umsiedlungsaktionen durften zumeist in der Gesellschaft weder öffentlich thematisiert noch gar debattiert werden. In diesem Zusammenhang gerieten auch die Erinnerungen an die ehemaligen Heimatregionen zu politisch missliebigen Themen. Häufig wurden die Umgesiedelten auch politisch diffa10

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miert und von vornherein mit dem Etikett des Revanchismus belegt. So versuchten sie zumeist, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, was vorrangig bedeutete zu schweigen, seine eigene Herkunft zu verschweigen. Das führte mehrheitlich dazu, dass Kindern und Enkelkindern nur noch dürftige Kurzfassungen der Familiengeschichte vermittelt wurden. Ganze europäische Regionen wie beispielsweise die Waldkarpaten, Ostpreußen, das Sudetengebiet oder die »schwäbische Türkei« in Südungarn gerieten aus dem Blickfeld und wurden allmählich zu weißen Flecken in der europäischen Geschichte. In einigen Ländern, wie in den baltischen Sowjetrepubliken, kam es auch zur Zuwanderung neuer Minderheitengruppen, die sich teilweise ebenfalls nicht zu artikulieren wagten, denn vielfach bot die Teilnahme an einem der sowjetischen Neubesiedlungsprogramme die Möglichkeit, einer politisch bedrohlichen Situation am bisherigen Heimatort zu entkommen. So flohen Juden Ende der 40er Jahre aus politischen Brennpunkten der Sowjetunion in das abgelegene Kaliningrad, um antijüdischen Kampagnen zu entgehen, oder weißrussische Bauern meldeten sich für den Aufbau von Kolchosen im ehemaligen Memelland, um dem Partisanenkrieg in Ostlitauen zu entfliehen. Damals einte die verschiedenen alten und neuen Minderheiten in Ostmitteleuropa vor allem das Gefühl, schweigen zu müssen. Selbst die Minderheiten, die das zweifelhafte Glück hatten, in der Nachkriegszeit offiziell anerkannt zu sein, mussten sich der jeweiligen Politik anpassen. Sie durften nur gewisse, ideologisch nicht belastete Teile ihrer Geschichte und Kultur pflegen, was eine Einschränkung ihrer kulturellen Arbeit bedeutete. Sie mussten sich mit der stetigen staatlichen Kontrolle arrangieren und liefen darüber hinaus ständig Gefahr, sich vom Staat instrumentalisieren zu lassen. Es kam in einem Großteil der nun entstandenen Ostblockstaaten zu einer oberflächlichen nationalen Homogenisierung. Ethnische Minderheiten galten als rückständige Überreste, die die sozialistische Entwicklung rasch überwinden könne. Die verordnete Orientierung nach Moskau und der verstohlene und sehnsüchtige Blick in Richtung Westen bewirkten auf längere Dauer eine habituelle Schizophrenie. Als es in der Mitte und Ende der 1950er Jahre Möglichkeiten zur Ausreise nach Deutschland und Israel gab, verließen vor allem Deutsche und Juden ihre Heimat, in der 11

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sie sich nicht mehr zu Hause fühlten. Diese Entscheidungen führten häufig zur Trennung ganzer Familienverbände und erwiesen sich als bestimmend für das ganze weitere Leben. Die Geschichte der Ausreise und ihrer Folgen ist bis heute nicht erzählt worden. Die Ausgereisten schwiegen, um ihre Angehörigen, die dortgeblieben waren, nicht zu kompromittieren. Die Dagebliebenen blieben als geschrumpfte Minderheit sprachlos zurück und versuchten, sich mit der neuen Lage zu arrangieren. Das östliche Europa war über einen Zeitraum von 45 Jahren zerstückelt wie nie zuvor in seiner Geschichte. Der Blick auf die politische Landkarte, der einen großen roten Block zeigte, trog. In Wirklichkeit verbargen sich dahinter einzelne Fragmente, fein säuberlich voneinander durch Stacheldraht abgetrennt. Fast jeder Kontaktversuch der Bevölkerung wurde lange Zeit zusätzlich aufgrund komplizierter Ein- und Ausreisebestimmungen und -mechanismen erschwert. Europäische Nachbarschaft im Sinne von normalen Kontakten zwischen Nachbarländern konnte sich nicht entwickeln. Europa existierte somit nur noch in der Erinnerung oder auf der abstrakten Landkarte im Atlas. Der begrenzte Raum und die mangelnden Erfahrungen (im wahrsten Sinne des Wortes) führten im Laufe der Zeit auch zur Beschränkung der individuellen Vorstellungen. Ethnische Vielfalt war nur noch begrenzt denkbar. In den Zeiten, in denen Losungen zu hören waren wie: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, in denen das strikte Prinzip des Entweder-oder herrschte, gab es keinen Platz für Doppel- oder Mehrfachidentitäten. Wie hätte jemand plausibel erklären können, dass er sich als Deutscher und Este fühlt, als Kroate und Ungar? Solche Denkmuster waren in jener Zeit nicht vorgesehen. Wie äußerte sich das im sozialistischen Alltag? In den vielen neuen Siedlungen der rasant wachsenden osteuropäischen Städte lebten Tür an Tür sehr unterschiedliche Familien, die hier in den großen neuen Betrieben Arbeit und gleich nebenan in den Plattenbauten ihr neues Zuhause gefunden hatten. Die Nachbarn kannten sich, sie halfen sich gegenseitig aus, stritten sich manchmal und feierten zusammen. Dabei wussten sie einiges voneinander, aber häufig auch nicht zu viel. Natürlich hörten die Hausbewohner, dass der eine unter ihnen einen anderen Dialekt sprach, wussten, dass die Großmutter aus dem Parterre Kuchen nach einem seltenen Rezept buk, den alle im Treppenaufgang 12

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