PRAXIS

Instandsetzung

Die Tunnel-im-TunnelMethode Das Streckennetz der Rhätischen Bahn ist in die Jahre gekommen. Mehr als die Hälfte der 115 Tunnel müssen saniert und aktuellen Sicherheitsstandards angepasst werden. Das von der RhB entwickelte Instandsetzungsverfahren garantiert geregelte Bauabläufe und ermöglicht die Sanierung bei laufendem Bahnbetrieb. Im 103 Jahre alten Glatscherastunnel bei Bergün kommt es erstmals zur Anwendung.

Bilder: Ulrike Nitzschke

Von Ulrike Nitzschke

Oben: Eine Stahlkonstruktion ermöglicht die Sanierung des Glatscherastunnel bei laufendem Bahnbetrieb. Links: Die nächste Sprengung ist bereits vorbereitet. Hinter der verschiebbaren Schutzkonstruktion kann tagsüber gebohrt werden.

Nr. 34, Freitag, 26. August 2016

E

s ist kurz nach 21 Uhr. Ein Personenzug der Rhätischen Bahn (RhB) rollt aus dem Glatscherastunnel in Richtung Bergün. Der letzte an diesem Tag. Die Signale gehen auf Rot. Aus der Gegenrichtung nähert sich der Bauzug. Die Lok zieht offene Flachwagen. Sie sind beladen mit mannshohen Betonfertigteilen und dem Versetzgerät für ihre Montage. Kaum ist der Zug eingefahren, erhöht sich das Tempo der Männer in Orange. Der Tunnel wird zur Baustelle.

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Vier Mineure öffnen die weiss-rote Absperrung. Ein Arbeiter überprüft die Fahrleitung. Stromfrei. Motoren heulen auf. Nacheinander starten die Baufahrzeuge in den Tunnel. Zu einer grossen Stahlkonstruktion, einem Tunnel-im-Tunnel sozusagen. Das Kernstück des innovativen Sanierungsverfahrens. «Mit diesem Stahltunnel wird der frisch ausgebrochene Bereich unterstellt», erklärt Projektleiter Thomas Mäser von der Rhomberg Sersa Rail Group. «Damit ist auch für den

Fall, dass allenfalls noch etwas nachbricht, der Gleisbereich geschützt, der Bahnbetrieb jederzeit gewährleistet.»

Erfindergeheimnis: Teleskopieren Während tagsüber die Züge durch die Schutzkonstruktion fahren, kann dahinter die nächtliche Sprengung vorbereitet werden. Und noch einen Vorteil bietet der Stahltunnel: «Wir haben eine teleskopierbare Fahrleitung eingebaut. Dadurch baublatt  31  

Millimetergenau gesprengt: Bis zum Morgen muss die Fahrbahn wieder frei sein. 32  baublatt

können wir in Bereichen, die wir ohne Fahrleitung brauchen, diese in kurzer Zeit entfernen.» Das Teleskopieren ist eine Entwicklung der Baufirma in Zusammenarbeit mit der Furrer + Frey AG. So stolz Thomas Mäser darauf auch ist – aus der Nähe fotografiert werden darf der Vorgang nicht. «Es wird erstmals in dieser Art und Weise in Europa eingesetzt», verrät er. «Sonst könnte man hier nur mit Diesellokomotiven arbeiten.» Das Stahlgerüst wird aufgeschoben. Die aktuellen Sprenglöcher rund um den zu vergrössernden Tunnelbogen kommen zum Vorschein. Wenige Meter weiter vorn montieren Mineure den Sprengvorhang. Sprengmeister Helmut Fuchs verbindet die Kabel. «Jetzt sind sie scharf.» Alle verlassen den Tunnel. Das Signal zum Sprengen ertönt. Um Viertel nach zehn kracht es gewaltig. Für Sekundenteile zerschneiden Feuerblitze den Nr. 34, Freitag, 26. August 2016

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Bilder: Ulrike Nitzschke

Schutz für Mineure und Maschinen: Der Sprengvorhang wird montiert.

Die Sprengung erfolgt unter den Augen der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Mineure.

Qualm. Der zieht rasch in Richtung Tunnelausgang ab. Die Schutterer setzen ihre Atemmasken auf, steigen in ihre vergitterten Fahrzeuge und fahren zum gesprengten Abschnitt. Der Schuttberg und lose Felspartien im Tunnelbogen müssen noch in dieser Nacht vollständig geräumt werden. Mit Tunnelbagger und Dumper.

Komplett neue Tunnelwände Zur bereits sanierten Strecke geht es über den unteren Tunneleingang. Hier steht der Bauzug. Projektleiter Thomas Mäser gerät ins Schwärmen: «Das Tollste an der Baustelle ist sicher der Einbau der Tunnelinnenschale, die in Fertigteilbauweise realisiert wird, mit dem Hintergrund, dass wir nur ganz wenig Frischbeton vor Ort brauchen.» So kämen sie während der nächtlichen Streckensperre schneller voran. «Und wir sind damit nicht abhängig von Frischbeton, können Nr. 34, Freitag, 26. August 2016

Sprengmeister Helmut Fuchs: «Jetzt ist es scharf.»

so soviel einbauen, wie›s gerade geht in der Schicht, unabhängig von Aushärtezeiten oder von vorgegebenen Kubaturen.» Eine komplette Just-In-Time-Anlieferung. Die Tunnelwände werden nicht wiederhergestellt, sondern komplett durch Betonsegmente, Tübbinge, ersetzt. Für den 334 Meter langen Glatscheras-

tunnel werden 1200 Stück gebraucht. Davon 25 für fünf komplette Ringe in dieser Nacht.

Sanierung bei laufendem Bahnbetrieb Tübbing für Tübbing wird entladen und verankert. Zunächst die Teile beider Seiten. Mit Joysticks FORTSETZUNG AUF SEITE 35

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Normalbauweise

«Auf diese Weise saniert, kann der Tunnel 80 oder 100 Jahre alt werden» Wie zu Zeiten der Bahn-Pioniere rollen die Züge der Rhätischen Bahn durchs Hochgebirge. Christian Florin, stellvertretender Direktor der RhB und Leiter Infrastruktur, will die schmalen Felstunnel nun effektiv und effizient erneuern. Mit herkömmlichen Methoden würden die Tunnel einfach nur wiederhergestellt. Probleme wie Wassereintritt und Gebirgsdruck könnten nur bekämpft, nicht auf Dauer gelöst werden. Interview von Ulrike Nitzschke

sonst nicht möglich, weil wir dauernd Zugsbetrieb haben, und da natürlich die Vortriebsleistung massiv einbrechen würde. Diese Sanierungsmethode wird erstmals im Glatscherastunnel praktiziert. Woher wussten Sie, dass das funktioniert? Das war uns am Anfang auch unklar. Wir sind sehr vorsichtig ins Projekt eingestiegen. Wir haben zuerst das Ganze in der Theorie geübt, mit verschiedenen Spezialisten, haben dann im Hagerbachstollen bei Flums einen Versuchsstollen 1:1 aufgebaut, verschiedene Firmen eingeladen, sich dort mal «auszutummeln», diese Methode zu testen. Das war für uns eine ganz wichtige Erfahrung, weil wir die Methode nochmals massiv vereinfacht und verändert haben. Wie sieht die weitere Planung der Tunnelsanierung aus? Wenn alles so weiter geht wie bisher, hoffen wir, dass wir Ende dieses Jahres fertig sind. Die neuen Tunnels sind in der Pipeline. Einer ist

Auch beim Bauen selbst wird gespart. Wobei konkret? Das Bauen wird günstiger, weil wir vorfabrizieren. Das Ganze wird im Werk hergestellt. Vor Ort haben wir dann spezielle Geräte, «Bisher zahlten wir doppelt so viel für die Instanddie wir einsetzen können. setzung», sagt Christian Florin, stellvertretender Das macht uns sehr produkRhB-Direktor und Leiter Infrastruktur (hier anlässlich tiv. Und mit dieser Vorfabrider Anschlagfeier des neuen Albulatunnels). kation und der produktiven Arbeit wird langfristig natürlich auch Geld eingespart. Saniert wird bei laufendem Betrieb. Wie geht das? Der Vorteil dieser Methode liegt sicher auch darin, dass wir am Tage hinter speziellen Stahlkonstruktionen arbeiten können. In der Nacht haben wir ein sehr grosses Arbeitsvolumen, das wir bewältigen können, dank der Arbeit am Tag. Das wäre

im Engadin, der Sasslatschtunnel. Dort haben wir bereits mit dem Tunnelausbruch begonnen. Gleich in der Nähe vom Glatscheras geht es mit dem Mistailtunnel weiter. So wollen wir einen Tunnel nach dem anderen folgen lassen. Es gibt weltweit Interesse, dieses Verfahren zu übernehmen? Wir sind selber ein bisschen positiv überrascht, wie viele Spezialisten inzwischen Interesse an dieser Methode gefunden haben. Man verspricht sich viel davon. Wir selber werden diesen Versuch auswerten. Was bewährt sich? Ich bin der Meinung, diese Methode ist noch nicht fertig entwickelt, hier gibt's noch zusätzliches Potenzial. Ja, und ich bin überzeugt, dass das Nachahmer finden wird, und auch andere Bahnen auf diese Methode aufspringen werden. Und wer hat's erfunden? (schmunzelt) Nicht Ricola, aber die Rhätische Bahn. Und ich hoffe, dass wir das dann auch ein bisschen in die Welt hinaus tragen dürfen.

Bild: Rhätische Bahn / Michael Buholzer

Warum haben Sie sich für die Entwicklung eines neuen Instandsetzungsverfahrens entschieden? Christian Florin: Die Instandsetzungsmethoden, die wir bisher angewendet haben, bieten eine Lebensdauer von etwa 25 bis 30 Jahren. Das heisst, nach dieser Zeit kommt wieder eine neue Instandsetzung. Zudem können wir die Ursachen für Schäden, wie Wassereintritt und Gebirgsdruck, damit nicht bekämpfen. Ausserdem muss die Sicherheit in diesen kleinen Tunneln verbessert, zum Beispiel für ausreichend breite Fluchtwege gesorgt werden. Dies hat uns dazu bewogen, einen neuen innovativen Weg zu gehen, in dem wir das Tunnellichtraumprofil massiv ausgeweitet haben, und mit dem neuen Betonring, den wir bauen, eigentlich alle Probleme lösen können. Auf diese Weise saniert, kann der Tunnel 80 oder 100 Jahre alt werden.

Bild: Ulrike Nitzschke

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Milliardeneinsparung dank des neuen Instandsetzungsverfahrens So rechnet Christian Florin, stellvertretender RhB-Direktor und Leiter Infrastruktur: «Mit der neuen Instandsetzung in Normalbauweise sparen wir – gerechnet auf 100 Jahre – rund 1,2 Milliarden Franken. Diese Summe ergibt sich wie folgt: ❯❯ Der Neubau eines Tunnels kostet normalerweise 60 000 bis 63 000 Franken pro Laufmeter.

❯❯ Mit dem bisherigen Instandsetzungsverfahren waren das 35 000 Franken pro Laufmeter. Nach 30 Jahren mussten diese Tunnel jedoch erneut instandgesetzt werden.

Die neue Tunnelinnenschale wird eingebaut: Das Firstelement schliesst den nächsten Ring.

und Hebeln steuert ein junger Mineur aus einiger Entfernung das Hightech-Versetzgerät. Spielerisch wirkt das. In der Nähe wird nachjustiert. Perfekt. Ein Arbeiter montiert das durch die RhB entwickelte Dichtungssystem auf die Räder aller Tübbinge. Schon schwebt das Firstelement heran. Fertig sind die nächsten anderthalb Tunnelme-ter. In einem montierten Abschnitt hinterblasen zwei Mineure

mittels Kompressor Kies zwischen Tübbinge und Fels. Es ist kurz nach Mitternacht. In fünfeinhalb Stunden wird hier der erste Zug gen Filisur fahren. Dann ist die Nachtschicht beendet, die Schutzkonstruktion wird wieder auseindergefaltet, und der Bahnbetrieb läuft, ohne Störungen durch Bauarbeiten. Ende dieses Jahres soll der Glatscherastunnel fertig saniert sein. ■

Das heisst, neu zahlen wir für 100 Jahre 50 000 Franken pro Laufmeter. Bisher betrugen die Kosten dreimal 35 000 Franken pro Laufmeter, was gerundet 100 000 Franken pro Laufmeter entspricht respektive doppelt so viel wie für die Instandsetzung. Bei insgesamt 26 000 von insgesamt 58 704 Metern Tunnel, bei welchen die Normalbauweise zur Anwendung gelangt, ergibt dies langfristig – sprich auf 100 Jahre – Einsparungen von etwa 1,2 Milliarden Franken. Wichtig: Mit der Normalbauweise erhöhen wir zudem gleichzeitig die Tunnelsicherheit, wofür die Tunnel im Profil vergrössert werden.» (ava)

Nr. 34, Freitag, 26. August 2016

Grafik: Rhätische Bahn

❯❯ Mit unserem innovativen Instandsetzungsverfahren, der sogenannten Normalbauweise, kostet ein Laufmeter zwar 50 000 Franken. Der Tunnel bleibt danach aber 100 Jahre instandsetzungsfrei, also dreimal länger als bisher.

Der alte und neue Tunnelquerschnitt im Vergleich: Bei den RhB-Tunnels wird das Profil zu Gunsten der Tunnelsicherheit vergrössert.

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