Die Synagoge. Chaim Noll. Roman

Chaim Noll Ein kleiner Ort mitten in der israelischen Wüste während der zweiten Intifada – hier befinden sich das Grab eines berühmten Politikers, me...
Author: Irma Waldfogel
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Chaim Noll

Ein kleiner Ort mitten in der israelischen Wüste während der zweiten Intifada – hier befinden sich das Grab eines berühmten Politikers, mehrere wissenschaftliche Institute für Solarenergie und Wüstenforschung, eine Highschool sowie eine Militärbasis. Die Menschen, die hier leben, sind überwiegend Akademiker oder Verwaltungsangestellte – Juden und Christen aus aller Welt, die ihre Häuser mit Hilfe von Arbeitskräften aus den Palästinensergebieten bauen oder die Traditionen der Beduinenstämme erforschen. Religion spielt in dem Leben der meisten von ihnen nur eine nachgeordnete Rolle. Im Zentrum des Romans steht die prachtvolle, doch meist leere Synagoge des Ortes. Nur einige wenige, wie die Deutschen Abi und Livia oder Paul, dessen Mutter vor Kurzem gestorben ist, suchen hier Halt und Trost. Anderen aus der Nachbarschaft ist die Synagoge eher ein Dorn im Auge, so auch Holly, einem radikalen Veganer und Wehrdienstverweigerer … Chaim Noll wurde 1954 in Ostberlin geboren. 1983 reiste er nach Westberlin aus, 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel. Veröffentlichungen, u.a.: »Der Abschied« (1985), »Berliner Scharade« (1987), »Der goldene Löffel« (1989, wieder Verbrecher Verlag 2009), »Nachtgedanken über Deutschland« (1992), »Meine Sprache wohnt woanders. Gedanken zu Deutschland und Israel« (mit Lea Fleischmann, 2006). Im Verbrecher Verlag erschienen die Romane »Der Kitharaspieler« (2008) und »Feuer« (2010) sowie der Erzählungsband »Kolja. Geschichten aus Israel« (2012).

Die Synagoge Roman

Verbrecher Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und deren Namen sind nicht beabsichtigt.

Erste Auflage Verbrecher Verlag Berlin 2014 www.verbrecherei.de © Verbrecher Verlag 2014 Einband: Christian Walter Lektorat: Kristina Wengorz Satz: Christian Walter ISBN 978-3-943167-77-1

Printed in Germany Der Verlag dankt Steffi Gimmerthal, Sannah Jahncke und Phillip Zöhrer.

I. Der Fremde

Der Fremde kam mit dem Bus aus Jerusalem und stieg aus, als er begriff, dass die Endstation erreicht war. Der Bus hielt seitlich neben offenen Läden, die Fahrgäste standen auf, griffen nach Rucksäcken und Maschinenpistolen, redeten durcheinander, lachten. Er wandte sich an den Busfahrer, der als Einziger sitzen blieb: »Beer Sheva?« Kurzes Kopfnicken. Der Mann sah nicht auf. Er zählte Geldscheine und sortierte sie nach Zwanzigern, Fünfzigern, Hundertern, die er bündelweise in eine blaue Plastiktüte stopfte. Zögernd stieg der Fremde die Stufen hinab, steif vom langen Sitzen. Die nächste Viertelstunde verbrachte er damit, über das heiße, schmutzige Pflaster des Busbahnhofs zu laufen und Unbekannten Fragen zu stellen. Eine alte Frau in Hosen, ärmelloser Bluse und klobigen Turnschuhen schüttelte, ohne ihn anzuhören, den Kopf und ging weiter. Auch andere schienen seine Frage nicht zu verstehen oder keine Antwort zu wissen. Ein hochgewachsener Soldat, ein Falafel in der Hand, wies kauend auf eine Gruppe, die sich an einem der eisernen Gitter versammelt hatte, wo eben ein grüner Bus hielt. Langsam, mit schmerzenden Knien, ging der Fremde hinüber zu den Wartenden und gesellte sich zu ihnen. Er nahm den schwarzen 7

Borsalino vom Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann trank er aus einer kleinen Wasserflasche und tupfte sich mit demselben Tuch den Mund ab. Seine blauen, hell bewimperten Augen blinzelten irritiert in das strahlende Licht der Vormittagssonne. Er mochte sechzig Jahre zählen oder mehr, war groß, knochig, leicht gebeugt, seine Haut blass. Auf seinem langen, bärtigen Schädel, dessen noch dichtes Haar vom Hanfgelben ins Graue spielte, saß eine schwarze Kipah. Auch seine Kleidung, bis auf das verschwitzte weiße Hemd, war schwarz, das Jackett, die Hosen und Socken, die derben, staubigen Schuhe. Er trug eine Reisetasche aus schwarzem Leder, einst elegant, inzwischen abgeschabt, das Leder wie verdorrt. Die langen Finger seiner Rechten tasteten in der äußeren Tasche nach einem Gegenstand und zogen ihn heraus, einen zerlesenen Sidur. Er blätterte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte, dann begann er, im Stehen zu lesen, in einem Wispern, das nur er selbst verstehen konnte, doch mit sichtbar bewegten Lippen. Niemand achtete auf ihn. Der Busfahrer saß im geschlossenen Bus, der eben in die Box der Haltestelle eingefahren war, und telefonierte, wobei kein Ton nach draußen drang, doch die Art, wie er sich beim Reden aufpumpte und in großer Schnelligkeit Worte ausstieß, deutete auf ein lautes, erregtes Gespräch. Auch darauf achtete niemand. In Erwartung, dass sich demnächst die Tür neben dem Fahrer öffnen würde, schoben sich die Fahrgäste nahe an das grün glänzende Blech. Die meisten waren Soldaten, Mädchen und Jungen in der sandgelben Uniform der Luftwaffe oder der grünen der Bodentruppen. Sie schoben und drängelten sich unter Gelächter und Gerede an der Vordertür und der Gepäckklappe weiter hinten, im Bauch des Busses, vor der Taschen und Rucksäcke aufgehäuft lagen. 8

Zwischen ihnen standen ältere Fahrgäste, dicke, Russisch sprechende Frauen mit unförmigen Taschen und Beuteln, in ihrer Gesellschaft mürrische Männer, die braun gebrannt waren wie fast jedermann hier und denen zugleich – eingelagert in der Tiefe ihres Fleisches – eine frühere Blässe, ein fernes, mit diesem Ort, der Sonne und Wärme unvereinbares Leben anzusehen war. Sie trugen amerikanische Baseballmützen, Jeans und andere betont jugendlich wirkende Kleidungsstücke, doch die Art, wie sie um sich blickten, mit einer zur Schau getragenen, mürrischen Selbstverständlichkeit, verriet ihre niemals endende Verwunderung darüber, hier zu sein. Die alten Frauen redeten fast pausenlos in ihrer weichen, gaumig fließenden, von kleinen Ausrufen und Trillern belebten Sprache, während die Männer nur gelegentlich knurrende Worte einwarfen. Der Fremde lehnte sich an das eiserne Geländer und stellte seine Tasche auf den Steinboden, der schwarz war von Schmutz. Hier und da leuchteten ein kürzlich zertretener Kaugummi oder ein Klecks Taubendreck aus dem schmierigen, vom Abrieb Tausender Turnschuhsohlen und Soldatenstiefel gummierten Dunkel. Plastikflaschen lagen herum, mit Resten bunter Getränke. Brot, verwesende Sandwiches in fettigem Papier, Packungen von Erdnüssen und Schokolade. An den Bänken, die zu den Pforten der Halteboxen führten, standen bedruckte Pappbecher von Starbucks und McDonald’s mit Neigen von Kaffee oder Cola. Vorn, an der Öffnung des Eisengitters zum Einsteigen in den Bus, zankten sich zerrupfte Tauben um ein Stück Pizza, das jemand weggeworfen hatte. All das musterte der Fremde mit unbestimmtem Lächeln, seine tief in den Höhlen liegenden, einst blauen, nun verblassten Altmänneraugen mieden jede Fixierung, jedes weitere Wahrnehmen unerfreulicher Details. Er wollte nichts Besonderes sehen oder erleben, nur den Bus wechseln auf seiner Fahrt in die Wüste, in die 9

ödeste, am dünnsten besiedelte Gegend des Landes. Er hatte sich diese Fahrt lange vorgenommen, ohne genau zu wissen, warum. Gewiss, es war die ehrwürdigste aller Wüsten, die Wüste, durch die Gott sein Volk vierzig Jahre lang geführt, wo er es erprobt und versucht, in der Hitze gedörrt und hart gebrannt hatte, bis es imstande war, über den Jordan zu gehen und das ihm Versprochene zu nehmen. Zugleich war es ein vernachlässigter Verwaltungsbezirk im Süden des Landes, deutlich eine Kulturstufe unter Jerusalem und der Zentralregion, mit Bewohnern, die hart arbeiteten in Kibuzim, Siedlungen und Militärbasen, aber wenig Zeit, wenig Sinn dafür hatten, die einzigartige spirituelle Botschaft der sie umgebenden Landschaft zur Kenntnis zu nehmen. Er klammerte sich innerlich an seinen Gleichmut und gedachte, bis zur Abfahrt darin auszuharren, als er plötzlich in nächster Nähe, wenige Meter hinter sich, zwei Stimmen Englisch reden hörte. Als er sich umwandte, verriet sein Gesicht das Glück eines Menschen, der unerwartet, an einem fremden Ort, die Klänge seiner Muttersprache hört. Er sah zwei Frauen in den Fünfzigern, mit angegrautem, unfrisiertem Haar, in Hosen und kurzärmeligen Oberteilen, in der ewig studentischen, pflegeleichten Aufmachung, die weibliche Intellektuelle seiner Generation bevorzugten, immer schon, seit er denken konnte, seit er mit ihnen aufs College, auf die Universität gegangen war und in Woodstock gesessen hatte. Sie hatten sich schamlos mit den Jungs vergnügt, geraucht, gekifft und niemals Büstenhalter getragen, sodass man, ob man wollte oder nicht, ihre sich unter dem weichen Stoff abzeichnenden Brustwarzen hatte sehen können … »Excuse me«, sagte er in muttersprachlichem Amerikanisch und versuchte ein verbindliches Lächeln, »could you please tell me whether this is the bus to Mizpeh Ramon?« 10

»It is«, erwiderte eine der Frauen, kurz, schnappend, ohne ihn anzusehen. Ihr Ton verriet, dass sie nicht vorhatte, ein weiteres Wort an den schwarz gekleideten Mann zu verschwenden, der vor ihr stand, lang, ungelenk, mit leicht geöffnetem Mund, um den graue Bartsträhnen hingen. Sie nahm ihr Gespräch wieder auf, mit einem übertriebenen Nachdruck, der nicht nötig gewesen wäre – der Fremde hätte auch ohne diese Demonstration verstanden –, und redete weiter, in einem Akzent, über den er einen Augenblick nachdachte, bis er zu dem Ergebnis kam: Südafrika. Die Gesprächspartnerin war Britin, daran bestand kein Zweifel. Sie schwelgte in ihrem Oxford-English, ließ es blitzen und schrillen mit wahrer Wonne, von klein auf daran gewöhnt, dass, wer solches Englisch sprach, in Lumpen gekleidet oder sturzbetrunken sein konnte, und dennoch von jedem Landsmann als Angehöriger der höheren Klassen erkannt wurde. Der Fremde wandte sich wieder dem Bus, den Soldaten, den russischen Rentnern zu, von seinen Lippen fiel ein halblautes »Thank you« wie Krümel von trockenem Kuchen. Er schien darüber hinaus, Ablehnung schwer zu nehmen. Es gab wichtige Gründe, diese Fahrt in die Wüste zu wagen, und kein menschliches Wesen – mochte es sich zu ihm benehmen wie es wollte – würde ihn davon abhalten. Das Lächeln, mit dem er sich auf weiteres Warten einrichtete, wirkte selbstgewisser als das vorhin. Er fühlte sich fremd an diesem Ort, fremd bis zur Verlorenheit, doch das gehörte dazu, war in Ordnung, war geradezu vorschriftsmäßig, »wie es im Buche steht«. Der Ort musste abweisend, ungemütlich, unzumutbar sein bis zur Grausamkeit. So war er beschrieben im göttlichen Buch, so war er bis heute, so würde er – auf eine andere, schwer vorhersehbare Weise – immer sein. 11

Seine geschiedene Frau, wäre sie hier, hätte den Kopf geschüttelt über diese Fahrt ins Nichts. In den letzten Jahren ihrer Ehe hatte sie oft den Kopf über ihn geschüttelt. Sie fiel ihm jetzt ein, er hätte nicht sagen können, warum. Auch seine Kinder, die längst erwachsen waren. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich an diesem Ort ausnehmen würden, und gestand sich ein, dass es seine Fantasie überforderte. Allein ihre Schuhe, schmal, aus feinem Leder – undenkbar auf diesem Pflaster. Die selbstverständliche Sauberkeit, Gediegenheit ihrer Kleidung. Alles, was sie umgab, war neu, sah neu aus und wurde, kaum stellten sich Zeichen der Abnutzung ein, aussortiert. Alljährlich verschwanden Dutzende Kleider, Hemden, Schuhe, Handtücher, elektrische Geräte, noch brauchbar, haltbar für Jahre, vollständig verwendbar im Sinne dessen, wozu sie gedacht waren, oft elegant, schön, gelungene Ideen ihrer Erfinder, Produkte perfekter Herstellung, nur durch ein winziges Löchlein, eine Schramme, einen Fleck um die Illusion ihrer Unzerstörbarkeit gebracht – was ausreichte, sie zu verwerfen. Das Aussondern und Verschwinden geschah unmerklich, kaltblütig, ohne ein Wort zu verlieren, in verschwiegenen Plastiksäcken. Je älter er wurde, umso mehr sah er darin ein Verbrechen. Fortwährendes Zerstören und Morden. Massenhaftes Vernichten der irdischen Ressourcen. Er hatte sich irgendwann gefragt, woher Menschen die Berechtigung nahmen, so zu leben. So mit der Welt und ihren Mitgeschöpfen umzugehen. Mit Tieren, Pflanzen, Wasser, Luft. Damals war er ein erfolgreicher Mann, wohlhabend, die Familie versorgt. Eines Abends hielt ein durchreisender Rabbiner einen Vortrag in ihrer Stadt, er war hingegangen, hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört … Ein Ruck ging durch die Menschenmenge. Vorn im Bus öffnete sich lautlos die Tür, sofort begannen die Soldaten, die russischen 12

Frauen, die alten Männer mit den Baseballcaps zu schieben, zu drängeln, sich mit Püffen ihrer Ellenbogen voranzuarbeiten. Für die Soldaten schien es ein Spaß zu sein, sie lachten und zeigten ihre Zähne, die weißen Zähne junger Raubtiere, ihre Augen blitzten. Die alten Leute hatten verzerrte, verzweifelte Gesichter, als sie kurzatmig schnaufend ihre unbeholfenen Leiber vorwärtsschoben, ihre Stimmen gingen ins Kreischen über, sie griffen mit panischen Bewegungen nach ihren Taschen und Tüten, die im Gedränge abhandenzukommen drohten. An der Tür entstanden kleine Tumulte. Zwei riesige Soldaten in Grün, tief gebräunt, mit geschorenen Köpfen, einer schwarz, einer blond, hoben ein Mädchen in Uniform an anderen Wartenden vorbei über die Stufen der offenen Tür, dabei kam es zu Gerangel und Gelächter. Eine ältere Frau, beladen mit Taschen, schob sich sofort hinterher, rot vor Wut und Aufregung. Die Soldaten waren dem Mädchen gefolgt, ohne die Frau zur Kenntnis zu nehmen, sie redeten und lachten über sie hinweg, ihre Rücken, an denen schwarze Maschinenpistolen hingen, füllten die schmale Öffnung. Auch der Fremde schob sich mit energischen Bewegungen zur Tür des Busses. Sobald sich eine Gelegenheit bot, packte er die Haltestange, trat auf die unterste Stufe und drängte aufwärts. Er war lange genug im Land, um zu wissen, dass er nicht zögern, nicht zurückschrecken durfte. In der ersten Zeit seines Hierseins hatte er höflich abwartend neben der Tür gestanden und anderen den Vortritt gelassen, so lange, bis der Bus ohne ihn abfuhr. Es dauerte eine Weile, bis er hinter einem Mädchen in Uniform die Stufen erklommen, am Sitz des Busfahrers gestanden, gezahlt, Wechselgeld, Ticket, einen flüchtigen Blick empfangen und sich am Fahrer vorbei ins Innere des Fahrzeugs gezwängt hatte, in den schmalen Gang zwischen den Sitzen. Er fand einen Sitzplatz im 13

hinteren Drittel, neben einem vierschrötigen, dunkeläugigen Mann mit olivfarbener Haut, der das blaugraue Uniformhemd der Gefängnisverwaltung trug und halblaut in ein Mobiltelefon sprach. Von seinem Sitz aus beobachtete der Fremde, wie sich der Bus füllte, wie immer mehr Menschen einstiegen, mehr Menschen als es Sitze gab, ohne dass der Fahrer dem ein Ende gemacht hätte. Einige Soldaten setzten sich auf Gepäckstücke im Gang oder auf die Stufen an den Ausgängen, wo sie weiter redeten, in ihre Telefone oder die Ohren ihrer irgendwo stehenden, sitzenden Kameraden, teils leise, teils brüllend, doch wie laut man sprach, schien niemanden zu kümmern. Jeder hatte das Privileg, mit voller Stimme zu reden, dröhnend, dass der ganze Bus mithören konnte, eine Klage darüber wäre als Einmischung betrachtet worden, als Übergriff in die persönliche Sphäre des anderen. Jeder Bürger des Landes sah es als sein Recht an, sich unmissverständlich zu äußern. Überall wurde laut telefoniert, der Bus vibrierte von Gerede und Gelächter. Auch die Mädchen setzten ihre volle, ungebremste Stimmkraft ein, der Fremde war überrascht, welche Kommandostimme sich hinter zarten Lippen, einem süßen Gesicht verbergen konnte. Mit wem redeten all diese jungen Leute, wer rief sie ständig an, was gab es immerzu zu besprechen? »Wo bist du?«, hieß es. Und: »Ich bin im Bus. Ich bin unterwegs. Auf dem Weg zur Basis. Ich komme Sonntag. Ja, ich habe ein Falafel gegessen, eine Pizza, einen Kuchen.« All das wurde mit einem Nachdruck mitgeteilt, als hinge davon das Leben ab … Unter den Letzten, die einstiegen, war ein Mann Anfang Sechzig, gerade gewachsen, den Kopf hoch erhoben. Der Fremde nahm ihn wahr, mit der unbewussten, spontanen Sympathie, die man für Menschen empfindet, die uns ähnlich sind: ein Mann 14

seines Alters, hager, ein weißer Vollbart umrahmte sein Gesicht. Die Bräune seiner Haut verriet, dass er in der Wüste lebte, sonst wirkte er gesittet, städtisch. Feiner Hemdstoff, blinkendes Brillengestell, dunkle Tuchhose. Er bewegte sich langsam und lächelnd durch den engen Gang zwischen den Sitzreihen, die beiden englischsprachigen Frauen begrüßten ihn mit einer an Begeisterung grenzenden Freundlichkeit, man hörte die schrille Stimme der Engländerin: »Hi, Jerry, how are you?« Im selben Augenblick schob sich der Bus rückwärts aus der Box, in der er gehalten hatte, dabei gab er ein Geräusch von sich, ein Piepen oder Tuten, das klang wie der Notruf eines bedrängten Tieres, er schwenkte schwerfällig nach links, gewann die offene Betonfläche, schob sich an anderen Bussen vorbei, passierte die Tankstelle des Busbahnhofs, dann ein enges, von bewaffneten Männern bewachtes Tor, schwenkte nochmals nach links, beschleunigte mit hörbarer Anstrengung, reihte sich ein in den dichten Verkehr auf der Straße nach Süden. Der Fremde lehnte sich in seinen Sitz zurück und atmete auf. Ein Gefühl der Erleichterung ergriff von ihm Besitz, das er nicht deuten konnte. Vor ihm lag ein Abenteuer. Ein Ort am Ende der Welt. Er wusste nicht, was ihn dort erwartete. Zugleich war er froh, weil er im Bus saß und der Bus endlich fuhr. Weil es endlich losging. Die letzte Etappe des langen Weges begann, eines Weges mit vielen Hindernissen, realen und geträumten, in einer knappen Stunde würde er – b esrat ha shem – den Ort erreichen, an dem er das Wochenende verbringen wollte, Freitag, Shabat, auch noch den Sonntag, um Montag früh nach Jerusalem zurückzufahren. Er hatte viel Energie, viel Entschlusskraft in diese Fahrt investiert, viel Nachdenken, wie immer, wenn er starken Widerstand in sich spürte. Die guten, wichtigen Dinge im Leben waren die, zu denen 15

man sich überwinden musste. Während die Scheinaufregungen des Alltags, die Affären, Geldsorgen, Gelüste, Leidenschaften, die unsere Tage und Nächte bestimmen, uns immer tiefer in Inaktivität versinken lassen. In ein verschwiegenes, allmähliches Absterben. Bis wir in einem unvorhersehbaren Augenblick – am Steuer des Wagens irgendwo im Stau vor Los Angeles, beim Essen mit Geschäftsfreunden, beim Spaziergang am Meer mit einem Hund, der inzwischen aus unserem Leben verschwunden ist wie so vieles – begreifen: All das ist es nicht. Nicht dazu sind wir auf der Welt. Ein Erwachen, schreckhaft, heilsam. Vor fünf Jahren hatte ihm der Vortrag eines durchreisenden Rabbiners im Gemeindezentrum die Augen geöffnet, ein Vortrag, der mit den überraschenden Worten begann: »Who is you? Pardon my grammar, but it was the straightest opener I could come up with. Who is ›you‹? Beyond your name, your job, your income, your property, your social position, stripped down to nothing but a pronoun, what is left of you?« Die Frage hatte ihn tief erschüttert, er fühlte sich außerstande, sie zu beantworten. Bis dahin hatte er sich damit begnügt, am Shabat zum Tempel der Or-Emet-Gemeinde zu fahren, im Auto natürlich, die Kipah trug er in der Jackentasche, um sie, wie Hunderte andere Männer, die aus ihren Autos stiegen, unmittelbar vor Betreten des Betraums aufzusetzen. Er hatte beim anschließenden Kidush, ein Whiskyglas in der Hand, seine Geschäfte besprochen, Freunde hatten ihm auf die Schulter geklopft und ihn Jake genannt statt Jaakov, so wie er sie Dave oder Sammy nannte, sie waren Amerikaner, dies vor allem anderen. Er hatte, wie sie, geschehen lassen, was geschah, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen: Weder über den horrenden Verbrauch seiner Familie an Autos, Textilien, Mobiltelefonen, Plüschhasen, Tabletten, Süßig16

keiten, noch über das Versinken seiner Ehe in den Kabbelseen des Kalkulatorischen, die Mesalliance seines ältesten Sohnes mit einer Nichtjüdin, die beharrliche Ehelosigkeit seines zweiten, die alles erdrückende Profanität seiner geliebten Tochter, die zwar einen jüdischen Investmentbanker geheiratet hatte, aber über nichts in der Welt sprechen konnte – offenbar auch nicht wollte – als über Geld, Geld und nochmals Geld. Grelles Sonnenlicht stach ihm in die Augen. Die Wüste hatte schon nördlich der Stadt begonnen, allmählich waren Bäume und Gewächse spärlicher geworden, der Sand allgegenwärtig, traf die brennende Sonne auf immer weniger Widerstand, immer weniger schattige Stellen. Doch erst hier, auf der Chaussee nach Süden, zeigte sie sich in ihrer ganzen Erbarmungslosigkeit. Wüste, endlos groß und Furcht einflößend, ha midbar ha gadol ve ha norah, wie er mit spürbarem Schauder zum hundertsten Mal, seit er sie erstmals bewusst gelesen, die hebräischen Worte wiederholte. Auch die Stadt, in ihren südlichen Vierteln, vertröpfelnden Ausläufern, hatte etwas Wildes, Chaotisches. Hinter den niedrigen, rissigen Mauern flacher Lagerhäuser, Werkstätten, Markthallen, zusammengepappt aus Blech und dem unbeständigen Beton der frühen Jahre, schossen Hochhäuser in den Himmel, strahlende Gebilde aus Marmor, Metall und Glas. Dazwischen breiteten sich riesige, in der Hitze flimmernde Ödflächen aus, auf denen gelbe Planierraupen das Terrain für neue Wohnviertel ebneten, Planierraupen, winzig, in bizarrer Beweglichkeit, wie leuchtend gelbe Käfer auf dem stumpfen Sand. Auch der Bus schien im Mittagslicht der Wüste zu schrumpfen – wie alle Fahrzeuge auf der fahlen, sonnenbleichen Chaussee, wie die Jeeps, Kombis, staubigen Limousinen, Trucks und Tanklaster, die mattgrünen Armeeautos, Baufahrzeuge, die Pick-ups der 17

Beduinen. Der Bus bewegte sich weich, schnell, in regelmäßiger, schwacher Vibration südwärts, hielt nur selten, änderte kaum je seine Geschwindigkeit. Er überholte, was sich vor ihm an langsamer fahrenden Wagen im flirrenden Licht der Wüstensonne zeigte, einen Tieflader, auf dem ein Panzer transportiert wurde, einen Tanklastzug, ein mit behelmten Soldaten besetztes, offenes Gefährt, das seine langen Antennen in den Himmel starren ließ wie ein Insekt seine Fühler, einen schleichenden Kleinwagen mit zwei ins Gespräch vertieften Frauen, die Hüte trugen, einen Pickup, auf dessen offener Pritsche eine Ziege angebunden war und an dessen Steuer ein alter, bärtiger Beduine saß, einen Autotransporter, einen anderen Bus, er überholte sie alle mit der Unbekümmertheit eines Rennwagens, an dessen Steuer ein Halbwüchsiger sitzt. Der Fremde, der als einer der wenigen Fahrgäste die Augen offen hielt, fragte sich, ob der Busfahrer wahnsinnig war oder von einem überirdischen Vertrauen beseelt, das sich mit dem Licht der Wüste ausbreitete und auch ihn selbst ergriff, je länger die Fahrt dauerte. Im Bus war es still geworden. Überraschend, fast bedrückend still nach dem lauten Aufbruch. Die Soldaten schliefen oder dösten, Augen geschlossen, Kopfhörer im Ohr. Hier und da wurde telefoniert, doch jetzt mit gedämpften Stimmen, als gelte es, zärtliche Rücksicht auf die Schlafenden zu nehmen. Weiter vorn plauderten zwei russische Frauen in ihrer schmiegsamen Sprache mit gedehnten Vokalen und sanften Zischlauten, auch das wirkte beruhigend. Hatte die gleichbleibend rasante Fahrt, das Summen der Klimaanlage die Stimmung besänftigt? War es eine von den geheimen Übereinkünften, auf denen das Leben in diesem Land beruhte, deren Mitteilung ohne Worte erfolgte und die nur verstand, wer längere Zeit hier lebte? Der Fremde wurde nicht müde, darüber 18

nachzusinnen. Er hatte sich vorgenommen, in diesem Land zu bleiben, er wollte alles über das Land wissen, und wie immer, wenn er darüber nachdachte, geriet er in eine Stimmung unerklärlicher Ergriffenheit, die seine Gedanken fliegen ließ, weit in den Raum, in die Unendlichkeit des goldenen Wüstenhimmels, ungehindert, frei von Angst, obwohl es bei jedem neuen Überholmanöver des Busfahrers Grund genug gab, um sein Leben zu fürchten. Die Fahrt ging durch die letzten Ausläufer der Stadt, an Supermärkten, Hallen aus Leichtmetall vorbei, an einem Schrottplatz, auf dem Hunderte, vielleicht Tausende Armeefahrzeuge standen, stumm, ausrangiert, aneinandergedrängt wie Tiere im Schlachthof, einige schon ausgeweidet, sortiert nach Typen – Jeeps, Laster, große Trucks, kleine Kombis –, alle in Reih und Glied, alle in demselben stumpfen, erdigen Grün, ein erschütterndes Bild der Verschwendung. Vorbei an einem Gebäudetrakt, der wie eine riesige Spielzeugburg im Sonnenlicht lag, aus Beton gegossen, mit Mauern, auf denen Stacheldraht glitzerte, mit Türmen und Toren, und der, genau besehen, nichts anderes sein konnte als ein Gefängnis. Auch dieser bedrückende Ort war umlagert von Zelten, Bretterbuden und Wellblechhütten der Beduinen, die sich kilometerweit am Straßenrand hinzogen, schier endlos, wirr in den Sand gesetzt, aufgehäuft, hügelan geschoben, Slums, zwischen denen Kamele weideten und Autowracks in der Sonne zerfielen. Kleine Jungen hüteten Herden aus Ziegen und Schafen. Gelegentlich war eine schwarz verhüllte Frau zu sehen, die sich mit majestätischer Langsamkeit auf einem der getrampelten Pfade ins Innere der Ansiedlung bewegte. Mit einem Lächeln sah der Fremde die Teleskop-Antennen zwischen den Hütten, die Wasserstationen, die Bushaltestellen am Straßenrand. 19