Die Spannungen zwischen der Kirche und dem russischen Staat

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Die Spannungen zwisch...
Author: Heiko Krüger
5 downloads 2 Views 461KB Size
Dienstag, 18. April 2017 ......................................................................................................

Die Spannungen zwischen der Kirche und dem russischen Staat ..................................................................................................... Experte

Dr. Svyatoslav Kaspe

Region: Russland und Zentralasien

Die Beziehungen des Kreml zur russisch-orthodoxen Kirche hatten ihre Höhen und Tiefen, seit Wladimir Putin (re.) die Krönung des Patriarchen Kyrill im Jahr 2009 besuchte (Foto: dpa)

Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass in Russland zwischen der russisch-orthodoxen Kirche, dem Staat und der Gesellschaft perfekte Harmonie herrscht. Dieser Eindruck wurde durch den „Krim-Konsens“ verstärkt, der in der Mitte der dritten Amtszeit von Präsident Wladimir Putin zustande kam. Nach dieser Sichtweise gewährt der Staat der Kirche politische und finanzielle Unterstützung, während die Kirche für die Gesellschaft als geistige Säule fungiert (Putin erwähnte im Jahr 2012, dass Russland „spirituelle Klammern“ benötige, um das Land zusammenzuhalten). Die orthodoxe Hierarchie hilft ihrerseits, den Staat zu legitimieren, und sie spielt eine stabilisierende Rolle bei innen- oder außenpolitischen Krisen. Mit Ausnahme einiger stigmatisierter Minderheiten begrüßen die meisten russischen Bürger diese symbiotische Beziehung. www.gisreportsonline.com

SEITE 1

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Das Problem mit diesem idyllischen Bild ist, dass es weit von den Realitäten entfernt ist. Denn tatsächlich gibt es in Russland ernsthafte Spannungen zwischen der Kirche, dem Staat und der Gesellschaft. Und diese haben das Potenzial, zu einem vollausgewachsenen Konflikt auszuarten, der das ganze Land erschüttern könnte. Die Quelle dieser Spannungen ist der einzigartige Status der russisch-orthodoxen Kirche, die die einzige nationale Institution darstellt, die in der Lage ist, unabhängig davon zu agieren, wer im Kreml sitzt. Latente Macht Die vermeintliche Verbindung zwischen der orthodoxen Hierarchie und den gegenwärtigen Herrschern Russlands ist nicht so eindeutig, wie manche glauben wollen. Patriarch Kyrill trägt seinen Titel ökumenisch oder universell und die Hälfte der 30.000 Gemeinden, die ihm unterstehen, befinden sich außerhalb Russlands – darunter mehr als 11.000 in der Ukraine. Das ist ein Grund, warum er sich in der Frage der Krim-Annexion und der russisch-ukrainischen Beziehungen im Allgemeinen reserviert verhält. Kyrills Mangel an Begeisterung ist besonders auffällig, weil das russische Christentum auf der Krim entstand, in der antiken griechischen Stadt Chersones. Nach Umfragen von 2016 ist die russisch-orthodoxe Kirche die einzige nichtstaatliche Institution, die ein hohes Vertrauensniveau (43 Prozent) genießt, das nur vom Präsidenten (74 Prozent), der Armee (60 Prozent) und den staatlichen Sicherheitsbehörden (46 Prozent) übertroffen wird. Aber während die Vertrauensniveaus für diese säkularen Institutionen durch die postsowjetische Periode hindurch volatil waren, hatte sich die Kirche konsequent unter den Top Five befunden. Das ist ein mächtiges Pfund, das sich in politischen Druck verwandeln könnte. Noch ruht es, aber es könnte schon bald aktiviert werden. Die Kirche ist die einzige nichtstaatliche Institution Russlands, die im Stande ist, die Massen zu mobilisieren – im Gegensatz zu künstlich geformten Bewegungen. Als ein wichtiges christliches Relikt, das Cingulum von Theotokos (der Gürtel der heiligen Jungfrau Maria), im Jahr 2011 aus dem Kloster auf dem griechischen Berg Athos nach Russland gebracht wurde, strömten binnen 39 Tagen mehr als 3,1 Millionen www.gisreportsonline.com

SEITE 2

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Gläubige herbei, darunter waren allein eine Million Moskauer. Diese Massentauglichkeit verärgerte den Kreml, der glaubte, dass er das alleinige Vorrecht hätte, Ereignisse dieser Reichweite zu organisieren. Plötzlich demonstrierte eine andere Institution, dass sie außerhalb der Mauern des Kremls große Menschenmengen mobilisieren kann, ohne auf die üblichen Regierungs-Anreize wie Bargeldzahlungen, Gratis-Anfahrten per Bus, Medienwerbung oder psychischem Druck am Arbeitsplatz zurückzugreifen. Was könnte der nächste Vorwand für eine derartige Versammlung sein? Russland verbietet politische Parteien, die auf religiösen Interessen beruhen, obwohl dieses gesetzliche Verbot schwach ist und leicht von klugen Anwälten oder politischen Beratern umgangen werden kann. Doch angesichts des extrem niedrigen Vertrauens der einfachen Russen in die Parteien (12 Prozent) ist es unwahrscheinlich, dass die Kirche ein solches Vehikel wählen würde, um ein vollwertiger politischer Akteur zu werden. Probelauf Es gibt noch andere Möglichkeiten. Im Jahr 2010, einem politisch unsicheren Jahr in Russland, munkelte man, dass Patriarch Kyrill Ambitionen auf das Präsidentenamt habe. Doch die damaligen Umstände machten dieses Szenario äußerst unplausibel. Zu dieser Zeit gab es noch keinen „Krim-Konsens“, Putin hatte noch nicht seine Pläne für eine dritte Amtszeit verkündet und Kyrill – ein Mann des brennenden Ehrgeizes und ein talentierter Redner – besaß durchaus ausreichend Charisma, um anzutreten und zu gewinnen. Das orthodoxe kanonische Recht erlaubt, dass eine einzige Person das höchste geistliche und weltliche Amt zugleich innehat. Erzbischof Makarios III., das damalige Oberhaupt der Kirche von Zypern, diente auch als demokratisch gewählter Präsident des Landes (1959-1977). Sein dualer Status wurde von den anderen orthodoxen Kirchen, einschließlich der russischen, als legal anerkannt. So war es kein Zufall, dass der russisch-orthodoxe Bischofsrat ausgerechnet im www.gisreportsonline.com

SEITE 3

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Februar 2011 sein früheres Verbot für Hierarche und Kleriker, bei politischen Wahlen anzutreten, aufgehoben hatte. Die Bischöfe legten allerdings fest, dass dies nur „in einer Situation der extremen Notwendigkeit für die Kirche“ geschehen sollte. Dieser Vorbehalt steht einer breiten Interpretation offen. Im Dezember 2011, als es in Moskau zu Massenprotesten gegen die Ergebnisse der Parlamentswahlen und die Ankündigung Wladimir Putins, dass er erneut Präsident werden wolle, kam, gab Patriarch Kyrill ein vorsichtiges, aber eindeutiges Statement heraus, in dem er die Behörden drängte, „mehr Vertrauen in das Volk zu setzen“. Im Gegenzug bat er nie die Menschen darum, der Regierung zu vertrauen. Einen Monat später veröffentlichte Boris Beresowski, der verbannte russische Oligarch und berüchtigte politische Abenteurer, einen offenen Brief, der Kyrill aufforderte, „die Macht aus Putins Händen zu übernehmen und sie friedlich, weise und christlich dem Volk zu übergeben“. An diesem Punkt agierten die Behörden rasch, um einem Vorstoß der Kirche zur Einflussnahme auf die Staatsgeschäfte zuvorzukommen. Anfang 2012 veröffentlichten die staatlich kontrollierten Medien verschiedene kompromittierende Materialien gegen Patriarch Kyrill, und sie wiesen darauf hin, dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs handelte. Unterdessen trieb der „Pussy Riot“-Vorfall im Februar 2012 einen Keil zwischen die Protestbewegung und die Kirche. Nach dem Video der Girl-Punkband über eine unberechtigte Performance in der Erlöser-Kathedrale in Moskau war der Patriarch gezwungen, sich von den Liberalen zu distanzieren und seine unmissverständliche Unterstützung für Putin bekannt zu geben, während die Liberalen eine radikal antiklerikale Position einnahmen. Kyrills Versuch einer Kandidatur – falls es sich überhaupt darum handelte – war gescheitert, wurde aber nicht vergessen. Kampf ums Eigentum Heute befindet sich Russland wieder im Vorfeld eines nervösen PräsidentschaftsWahlkampfs, doch der Kontext unterscheidet sich. Die Strategie der Kirche hat sich www.gisreportsonline.com

SEITE 4

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... ebenfalls geändert. Nun bieten die Hierarchen dem Kreml ihre uneingeschränkte Unterstützung an, sie legitimieren seine Macht und halten sich von der Politik fern – alles im Austausch für materielle Erwägungen.

St. Petersburg, 12. Feb. 2017: Die Proteste gegen die Übertragung der Isaakskathedrale waren umfangreich und sie zogen sogar die Bürger an, die zuvor jede Form des politischen Aktivismus vermieden hatten (Foto: dpa)

In den vergangenen Monaten hat die Kirche Eigentumsansprüche auf Dutzende wichtige Objekte angemeldet, viele von ihnen gehören zu akademischen und kulturellen Institutionen. Zwei staatliche Museen – die Isaakskathedrale in St. Petersburg sowie das Chersones-Museum und die dazugehörige archäologische Stätte in Sewastopol auf der Krim – sind Beispiele für diese Ansprüche und deren wacklige juristische Grundlagen. Die Isaakskathedrale zum Beispiel wurde im 19. Jahrhundert mit Staatsgeldern gebaut und gehörte nie zur Kirche. In Chersones beansprucht die Hierarchie nicht nur das ehemalige Kloster, welches das Hauptmuseum beherbergt, sondern auch jedes andere Gebäude auf dem Gelände, einschließlich einer öffentlichen Toilette aus der sowjetischen Ära (ich war dort und ja, es ist ekelhaft). www.gisreportsonline.com

SEITE 5

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Die Behörden sorgen sich nicht um irgendeinen Eigentumsverlust – zumindest nicht, solange die Hierarchen keinen Appetit auf Öl- und Gasfelder entwickeln. Das Problem sind die politischen Spannungen, die diese Ansprüche entfesselt haben. Nach mehrjähriger Passivität und Demoralisierung sammelt sich die liberale Opposition wieder auf einer Anti-Regierungs- und Anti-Klerus-Grundlage, weil sie glaubt, dass die Behörden über die Gier der Kirche einfach hinwegsehen. Tatsächlich wurde der Plan, die Isaakskathedrale zu übergeben, von Georgi Poltawtschenko, dem Gouverneur von St. Petersburg, als Antwort auf eine persönliche Bitte von Patriarch Kyrill angekündigt, die von keiner offiziellen Erklärung oder Dokument aus der russisch-orthodoxen Hierarchie unterstützt wurde. Der Vorfall löste Massenproteste in St. Petersburg gegen die Übertragung der Kathedrale aus und Forderungen nach einem städtischen Referendum darüber wurden laut. Die Proteste waren breit gefächert und vereinten verschiedene Meinungsführer und Oppositionsgruppen, die sich des Themas annahmen, aber auch solche Bürger, die bisher jede Form des politischen Aktivismus vermieden hatten. Geringere Spannungen gibt es um das Chersones-Museum, das ein beliebter Treffpunkt für die Einwohner Sewastopols ist. Doch anti-klerikale Proteste, meist im kleinen Maßstab, treten in immer mehr russischen Städten auf, vor allem in Jekaterinburg. Die Kirche antwortet darauf, indem sie ihre eigenen Gläubigen versammelt, oft in Form von religiösen Prozessionen. Hochrangige Kleriker weisen häufig darauf hin, dass diese Aktionen auch in größerem Maßstab organisiert werden könnten. Pater Dmitri Smirnow, der Vorsitzende einer der patriarchalischen Kommissionen, erklärte dazu: „Wir Kirchenmänner im Schatten, so nennt man uns, wir können so viele Leute zusammenrufen, wie wir wollen: Tausende, Millionen .... Sie werden aus den Regionen herbeiströmen.“ Und wer würde so einen Mob kontrollieren? Der russisch-orthodoxen Kirche fehlt die www.gisreportsonline.com

SEITE 6

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... zentralisierte Hierarchie, die für die römisch-katholische Kirche oder für Putins „vertikale Machtstruktur“ charakteristisch ist. Die stark konservativen orthodoxen Kreise haben dem Patriarchen Kyrill niemals voll und ganz vertraut, weil sie ihn für philo-katholisch halten. Diese Verdächtigungen wurden durch sein jüngstes Treffen mit Papst Franziskus nur weiter verstärkt. In seinem Bemühen, diese Vorwürfe zu widerlegen, hat sich Kyrill zur Geisel der radikalen Konservativen gemacht. Bereit für die Revolution Unruhige Massen auf den Straßen sind das letzte, was die Behörden am Vorabend einer Präsidentschaftswahl brauchen können. Die Tatsache, dass dies während der Zwillingsjubiläen der russischen Revolution (im Februar 1917 kam es zum Zusammenbruch der Monarchie, im Oktober 1917 zur bolschewistischen Machtergreifung) geschieht, befeuert die Situation nur noch mehr. Die Hundert-Jahr-Feierlichkeiten sind zu einer Zwickmühle für die russischen Behörden geworden, da man sie weder auslassen noch ungehindert in vollem Umfang begehen kann. Auf der einen Seite folgen sie der langjährigen Praxis, sich die sowjetische Symbolik zu eigen zu machen (eine der ersten bemerkenswerten Entscheidungen Putins war es, die sowjetische Nationalhymne wieder in Gebrauch zu nehmen). Auf der anderen Seite könnte es sich als peinlich erweisen, wenn man die einfachen Russen daran erinnert, wie leicht ihre Vorfahren ein despotisches Regime stürzen konnten, während sie demokratische Parolen schrien. Zumindest wäre das ein schlechtes Timing. Infolgedessen versuchen die Behörden, an 1917 so neutral wie möglich zu gedenken und jede ernsthafte Untersuchung seiner Ursachen und Täter zu vermeiden. Allerdings wurde dieser Versuch einer Balance durch den Immobilien-Zank zwischen der Kirche und der liberalen Opposition gestört, was die Bemühungen des Kreml, die Revolution zu neutralisieren, wirksam behindert. Liberale sehen 1917 als Russlands erstes Experiment mit der Demokratie an: Es war erfolglos, aber es ist noch immer inspirierend. Zu jener Zeit war die traditionelle Bindung zwischen Kirche und Staat in Russland zerbrochen. Heute sehen die www.gisreportsonline.com

SEITE 7

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Liberalen eine zunehmende Bedrohung durch deren Wiederherstellung. Orthodoxe Radikale hingegen fordern, dass die Behörden die Fehler der Vergangenheit vermeiden und die Verbindung zur Kirche wiederbeleben sollen. Sie drängen auf ein umfassendes Vorgehen gegen die anti-klerikalen Kräfte, die auch gegen die Regierung und pro-westlich eingestellt sind. Oder wie Pater Smirnow es formuliert: „Es ist Zeit, die Macht zu nutzen. Wenn die demokratische Öffentlichkeit die Freiheit erhält, könnte sie zu einer weiteren Revolution aufwiegeln.“ Eine ausführliche Version dieses Arguments wurde von Pater Dmitri Wasilenkow, einem Priester aus St. Petersburg, im Kommentar für eine radikal-nationalistische Website präsentiert: „Feinde ziehen auf die Straße unter Anti-Regierungs- und anti-klerikalen Bannern und versuchen, so viele normale Menschen wie möglich durch verschiedene Informationstechnologien und eklatante Lügen aufzuhetzen. Wir könnten Zeuge einer Generalprobe für einen Maidan in Russland sein... Entweder sehen die Behörden dies nicht als große Sache an oder vielleicht begreifen sie nicht die Ernsthaftigkeit dieser drohenden Katastrophe... Heute ist es die Isaakskathedrale, morgen die Präsidentschaftswahl... Die Februar-Revolution stürzte unser Vaterland in den schrecklichen Abgrund des Bürgerkrieges und führte zu umfassenden Verfolgungen gegen die Kirche und ihre Anhänger. Hundert Jahre später treten die gleichen Prozesse auf und die gleichen Ziele werden verfolgt.“ Angesichts einer solchen Rhetorik scheint die Hoffnung des Patriarchen Kyrill, dass die Übergabe der Isaakskathedrale an die Kirche zum Symbol der Versöhnung werden würde – „die Verkörperung der Zustimmung und der gegenseitigen Vergebung zwischen den Weißen und den Roten, den Gläubigen und den Ungläubigen, den Reichen und den Armen“ – unbegründet. Widerstand des Staates Die Behörden müssen erfinderisch sein, um die Kontrolle über die Situation zu behalten. Sie versuchen, die Begeisterung der orthodoxen Radikalen und den Appetit www.gisreportsonline.com

SEITE 8

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... der Kirche auf Eigentum zu dämmen, aber dafür können sie sich nicht auf die antiklerikalen und pro-westlichen Liberalen verlassen, die eine ernste Bedrohung für das Regime darstellen. Das Kulturministerium, das zuvor das Isaakskathedralen-Projekt unterstützt hatte, äußert sich nun dazu in einem eher skeptischen Ton. Ein nicht verbürgter Bericht aus dem Kreml besagt, dass Putin nie zur Eigentumsübertragung konsultiert wurde; der allmächtige staatliche Untersuchungsausschuss hat sich geweigert, sich mit Strafverfahren gegen die Demonstranten zu befassen, die angeblich die religiösen Gefühle der Gläubigen beleidigt haben. Und ein Amtsgericht in St. Petersburg konnte keine juristische Rechtfertigung für die Übergabe staatlichen Eigentums finden. Nach einer Reihe von Hooligan-artigen Angriffen auf zeitgenössische Kunstausstellungen, die von den orthodoxen Radikalen organisiert wurden, stellte der Filmemacher und Staatsduma-Abgeordnete Stanislaw Goworuchin, ein glühender Anhänger und Vertrauter Putins, einen Gesetzentwurf vor, um Kunstwerke vor Vandalismus und Entweihung (sic!) zu schützen. Die klerikalen Kreise schwiegen dazu. Mentale Krise Ein weiterer wichtiger Akteur ist die russisch-orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA), einer der konservativsten Zweige des Moskauer Patriarchats. Die Kirche wanderte aus Protest gegen die sowjetische Herrschaft in den Westen aus und verlegte ihr Verwaltungszentrum in die Vereinigten Staaten. Sie ist zum Teil nur dank des aktiven persönlichen Engagements von Präsident Putin mit der russisch-orthodoxen Kirche im Jahr 2007 wiedervereinigt worden, doch sie behält sich immer noch eine größere Autonomie vor. Die ROKA-Synode verlangt, dass die Überreste von Wladimir Lenin, „dem größten Verfolger und Peiniger des 20. Jahrhunderts“, vom Roten Platz entfernt und dass alle Denkmäler des bolschewistischen Führers abgebaut werden. Gleichzeitig verurteilt sie „das heutige unerbittliche Mobbing Russlands durch die westliche Zivilisation“ und durch deren Anhänger in der gebildeten Klasse, „die mit einer nahezu suizidalen www.gisreportsonline.com

SEITE 9

Dienstag, 18. April 2017 ...................................................................................................... Beharrlichkeit Russland in Richtung des Abgrunds drängen, indem sie ihr Volk auffordern, auf ihren Glauben, ihren Zaren und ihr Vaterland zu verzichten“. Diese Sprache hinterlässt im Denken der politischen Elite Russlands Eindruck. Sergej Aksjonow, der Gouverneur der Krim, erklärte kürzlich, dass Russland im Einklang mit den „traditionellen orthodoxen Werten“ die Demokratie zugunsten einer Monarchie oder Diktatur fallenlasse müsse (scheinbar kennt er den Unterschied nicht). Für ihn ist es kein Widerspruch, dass dies der Verfassung widerspräche, auf die er einen Eid geschworen hat. Aksjonow wurde sofort vom Kreml zum Schweigen gebracht, aber die wachsende mentale Krise, die eine solch verwirrte Denkweise offenbart, kann nicht so leicht behoben werden. Die Behörden können nicht einfach die russische Verfassung als demokratischen, föderativen und säkularen Staat abschaffen. Zunächst einmal beruht ihre eigene Legitimität auf dieser Verfassung. Zweitens könnte deren Aburteilung unvorhersehbare Reaktionen aus den islamischen Regionen hervorbringen, vor allem aus Tatarstan und Tschetschenien. Aber sie können es sich auch nicht leisten, die Verfassung prinzipiell zu verteidigen, aus Angst, damit ihre ideologischen Verbündeten und ihre Gegner weiter zu befremden. Für den Kreml gibt es hier keine einfache Lösung. Und die Anfälligkeit des politischen Regimes wird in naher Zukunft nur zunehmen. Das ist nicht besonders überraschend – die Neudefinition der Beziehungen zwischen Staat und Kirche war in der gesamten christlichen Welt ein langer und schmerzhafter Prozess. Sie ist eine der vier grundlegenden Spaltungen, die Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan zur Ausgestaltung der westlichen politischen Systeme beschrieben. Russland scheint den gleichen Weg zu beschreiten, was auf politische Turbulenzen in der nahen und fernen Zukunft hindeutet.

www.gisreportsonline.com

SEITE 10

Suggest Documents