Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung Text 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung

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Author: Michaela Maus
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Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung

Text 02

Text 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung

Vertiefungstexte

Auch die Soziale Hilfe hat wie die Erziehung (siehe Text 01: Die Erziehung und ihre Verwissenschaftlichung) im Laufe der Geschichte eine Verwissenschaftlichung erfahren. Hilfe meint einen Beitrag zur Befriedigung eines Bedürfnisses (Sachdimension) eines anderen Menschen (Sozialdimension), der im Moment (Zeitdimension) nicht in der Lage ist, seine Bedürfnisse eigenständig zu befriedigen (hierzu wie zum Weiteren Luhmann 1975). Im ersten Anlauf mag man an Hilfe als reziproke Handlung unter Menschen denken, die gleiche Grundbedürfnisse haben und deren Grundbedürfnisse gleichermaßen durch unbeherrschbare äußere Einflüsse gefährdet werden können (Erkrankungen, Naturkatastrophen, Kriege etc.), so dass eine gegenseitige Unterstützung im Fall der Fälle unverzichtbar und selbstverständlich erscheint. Eine solche Selbstverständlichkeit schwindet allerdings, je ungleicher die Bedürfnisse und Möglichkeiten ihrer Befriedigung werden. Ungleichheiten lassen Reziprozität als unangebracht erscheinen. Unter Ungleichen muss die Hilfe, die unter Gleichen selbstverständlich erscheint, vertraglich geregelt oder als gute Tat moralisch nahe gelegt werden. Die Freizügigkeit unter Gleichen muss unter Ungleichen zu einer religiös-moralisch begründeten, individuellen Tugend hochstilisiert werden. Die Reichen mögen den Armen ohne Anspruch auf Gegenleistung geben, und zwar freiwillig. Die Armen bieten den Reichen die Chance, durch Almosen den himmlischen Gnadenstand aufzubessern. Im Kontext der Sozialen Hilfe wurde wissenschaftliches Wissen unverzichtbar, als man erkannte, dass Armut und Not keine natürlichen Gegebenheiten oder gottgewollten Schicksale sind, sondern Effekte gesellschaftsstruktureller Bedingungen, die es zu studieren und politisch zu beeinflussen gilt. Deren Bearbeitung wollte man nicht mehr dem Zufall oder einer unergründlichen göttlichen Güte oder einer ungewissen menschlichen Tugend überlassen. Sie wurde an den Staat bzw. die Politik delegiert. Der Staat sollte im Falle von Armut und Not für Soziale Hilfe sorgen. Als staatliche Hilfe wird Hilfe zu einem Akt der Verwaltung, finanziert aus Steuermitteln. Die Bedarfsdeckung wird zunehmend zu einem Problem der

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Geldverteilung, d. h. der Berechnung und der Kalkulation. Hilfe wird monetarisiert und organisiert. Die Bedingungen ihrer Erbringung werden verrechtlicht. Hilfe ist nicht mehr von der willkürlichen, subjektiven Hilfsbereitschaft einzelner abhängig, sondern wird als rechtlich verbürgter Anspruch institutionalisiert. Zugleich wird die in den Hilfsorganisationen zu leistende Arbeit professionalisiert. Alle genannten Prozesse, Monetarisierung, Organisierung und Verwaltung, Verrechtlichung und Professionalisierung verlangen nach solidem, geprüftem, wissenschaftlich gesichertem Wissen. Ebenso wie in der Erziehung wird nun auch die Soziale Hilfe als Beruf nur noch zu leisten sein, wenn ihre Akteure lernen, wie Wirtschaft, wie Verwaltung, wie Recht, wie Politik, wie Erziehung etc. funktionieren. Die Wissenschaften – nicht nur die Erziehungswissenschaften oder die Sozialarbeitswissenschaften im neueren Sinne, sondern auch deren Nachbardisziplinen – sorgten für die theoretische und methodisch-didaktische Fundierung der Spezialausbildung an Schulen und Hochschulen, die heute als Voraussetzung und Grundlage professioneller Hilfs- und Erziehungstätigkeiten angesehen wird. Wissenschaft liefert quasi das Curriculum, den über den Berufsverband aufgestellten Lehrplan, der alle Wissensinhalte umfasst, alle Fertigkeiten und Kompetenzen, die von allen Berufswilligen vor Berufsantritt an entsprechenden Bildungsinstitutionen gelernt und durch Prüfung nachgewiesen werden müssen. Erst diese nachgewiesene Wissensaneignung versetzt die Lernenden in den ExpertInnenstatus, in dem man im Rahmen der Stellen in Erziehungs-, Bildungs- und Hilfsorganisationen dann persönliche und sachliche Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten genießt. Der ExpertInnenstatus ist allerdings gerade im Falle von SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen aufgrund der Nähe zu den Problemen des täglichen Lebens gegenüber einem Laienpublikum oder sogar gegenüber anderen Professionellen nur schwer zu vermitteln. Im Vergleich zu LehrerInnen, ÄrztInnen, JuristInnen oder Verwaltungsfachleuten wird eine gewisse Nachrangigkeit im gesellschaftlichen Ansehen wie im beruflichen Mitspracherecht in multiprofessionellen Teams beklagt. Das mag auch daran liegen, dass Soziale Arbeit als Beruf aus den ehrenamtlichen Hilfstätigkeiten erwachsen ist und bis heute von Debatten über Bürgerarbeit und Ehrenamtlichkeit begleitet wird. Zudem ist in der Sozialen Arbeit die Hilfe häufig nicht in dem grundlegenden Schema wechselseitiger Leistungen reziproken Gebens und Nehmens eingebettet, da es häufig um nicht reziprozitätsfähige Menschen geht, die für die in Anspruch genommenen Leistungen keine Gegenleistungen erbringen können. Den eigenen Berufsstand als anerkannten ExpertInnenstatus durchzusetzen, wird Aufgabe der kommenden Jahre sein. Was für den Beruf des Lehrers bzw. der Lehrerin bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts galt, gehört heute ebenfalls zur Professionalisierung der Sozialen Hilfe: dass sie ohne staatlich kontrollierte und staatlich anerkannte, wissenschaftlich

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fundierte Ausbildung (für die Soziale Hilfe seit den 1970er Jahren an Fachhochschulen und Universitäten) und ohne wissenschaftlich fundierte Kontrollen der Einhaltung fachlicher Standards nicht mehr auskommt. Die Wissenschaften liefern lernbare Theorien, Methodiken und Didaktiken des Helfens und Erziehens. Sie steuern empirisches Wissen bei. Sie liefern Statistiken und Kasuistiken. Sie unterstützen die Falldeklaration und die Kostenkalkulation, und sie liefern das nötige Problemformulierungs- und -bearbeitungswissen. Vor allem unterstützen sie die Reflexion der professionellen Praxis. Für die Soziale Hilfe liefert die Wissenschaft vor allem: • Reflexionstheorien, die das Selbstverständnis der Profession und deren gesellschaftliche Einbettung beleuchten, • Arbeitsfeldtheorien (inklusive des dazugehörenden empirischen Faktenwissens), die gewisse Problemfelder thematisieren wie z. B. Armut, Alter, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Jugendarbeit und Jugendhilfe, interkulturelle soziale Arbeit, Streetwork, Drogen- oder Schuldnerberatung etc., • Methodenlehren, wie z. B. Schulungen zur Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Gemeinwesensarbeit etc., • Ethiken, die der Regulierung der Machtgefälle im Feld und der normativen Programmierung der sozialen und pädagogischen Arbeit dienen und die weder durch Organisationsprogramme oder Dienstanweisungen, noch nicht einmal durch anderweitiges wissenschaftliches Expertenwissen außer Kraft gesetzt werden dürfen, • Bezugs- bzw. Grundlagenwissenschaften aus den etablierten Human-, Geistesund Sozialwissenschaften, die der Sozialen Hilfe als Querschnittsdisziplinen unverzichtbares Wissen anbieten: Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Sozialmedizin, Wirtschaftswissenschaft etc.. Mit dem Wechsel von archaisch-symbiotischen über moralisch generalisierte zu organisierten Hilfsformen werden Problemstellungen identifiziert, die „Existenz- bzw. Bestandssicherungsprobleme von Individuen betreffen (leibliche und psychosoziale Integrität, Sinnkrisen, Strukturaufbau und Recht), deren Bearbeitung (…) auf der Grundlage eines kompetenten Umgangs mit diesbezüglich verfügbarem, wissenschaftlich fundiertem Wissen sowie (…) auf der Grundlage einer professionellen Ethik erfolgt“ (Bommes, Scherr 2000:237). Somit könnte eine Antwort auf die Frage „Wozu Wissenschaft?“ in Anlehnung an das Eingangszitat von Leonardo da Vinci zu Vertiefungstext 01 lauten: Sie beschäftigen sich mit der Wissenschaft, um in ihrem beruflichen Tun eine bessere Orientierung zu erlangen. Sie setzen sich

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mit wissenschaftlichen Methoden und Theorien auseinander, um ihre berufliche Praxis z. B. methodisch, ethisch, sachlich und fachlich besser begründen zu können.

Wissenschaftliches Denken und Arbeiten und berufliches Denken und Arbeiten VertreterInnen sozialer Berufe betreiben selbst in aller Regel wenig bis keine Wissenschaft. Sie bedienen sich aber ihrer. Sie benutzen sie für ihre Arbeit. Sie wenden sie an. Sie sind interessiert an anwendbare Wissenschaft. Die Wissenschaft als Wissenschaft ist ihnen weder Ziel noch Zweck. Sie ist ihnen Instrument und Hilfsmittel. Sie bedienen sich ihrer, um ihre Arbeit zu untermauern, ihre Ziele und Methoden zu schärfen, ihre Lehr- und Hilfepläne auszuformulieren. Sie greifen auf Wissenschaft zurück, um das eigene Tun nach außen hin solide zu begründen und plausibel zu rechtfertigen und nach innen hin zu verbessern und zu erleichtern. Sie erhoffen sich von der Wissenschaft, dass sie ihr berufliches Handeln begründeter, effizienter und effektiver, umsichtiger, nachhaltiger und zielorientierter, und vor allem für Dritte akzeptabler macht. Klappt das? Liefert die Wissenschaft, was sich Berufstätige wünschen? Und: Nutzen die Berufstätigen das wissenschaftliche Wissen so, wie es sich die WissenschaftlerInnen wünschen? Wie nennen wir das, was sich da zwischen Wissenschaft einerseits und den professionellen Praxen sozialer Berufe andererseits abspielt? Gibt es einen Austausch? Gibt es eine Vermittlung? Welcher Art sind die Bezüge? Die Hochschule ist ein Ort der Wissenschaft. Sie ist kein Ort der professionellen Praxis, für die die Studierenden ausgebildet werden. Ein Fachbereich Sozialwesen ist z. B. selbst kein Ort der professionellen Sozialen Hilfe. Die Hochschule repräsentiert eine professionelle Praxis eigener Art, die nicht zu verwechseln ist mit der professionellen Praxis z. B. in einem Jugendamt, einem Kulturbüro oder einer Kindertagesstätte. Studierende lernen an der Hochschule die Praxis der Hochschule kennen, die sowohl in Kontrast zur bereits erlebten Praxis der Schule wie auch zu der bevorstehenden beruflichen Praxis in den Erziehungs-, Bildungs- und Hilfeinstitutionen steht. Der Übergang von der Praxis der Schule in die Praxis der Hochschule, vor allem aber der Übergang von der Hochschulpraxis in die berufliche Praxis wird häufig als Schockerlebnis beschrieben. Allein die Bezeichnung Praxisschock sollte hellhörig machen. Sie ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass an Hochschulen anderes passiert als am späteren Arbeitsplatz. Die Praxis der Arbeitsstelle ist der Lernort, an dem das meiste des an der Hochschule Gelernten zu scheitern scheint. Was aber passiert an Hochschulen? Und was passiert im Gegensatz dazu in der beruflichen Praxis?

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Fachhochschulen bezeichnen sich selbst als Orte der angewandten Wissenschaften. Hier wird Wissenschaft nicht für die Wissenschaft, nicht Wissenschaft als Selbstzweck, Wissenschaft pur, betrieben (was man gern den Universitäten nachsagt), sondern hier wird angeblich Wissenschaft für ihre Anwendung in der professionellen Praxis betrieben. Das heißt: Fachhochschulen geben vor, den Spagat zwischen Wissenschaft und ihrer Anwendung zu leisten: Fachhochschulen rühmen sich, praxisnah auszubilden, nicht abgehoben von alltagsweltlichen Problemen, nicht losgelöst von aktuell brennenden politischen, sozialen, ethischen und menschlichen Fragen. Im Gegenteil, Fachhochschulen schreiben sich die Bearbeitung (nicht unbedingt schon die Lösung!) von drängenden praxisrelevanten Problemen und Fragen auf die Fahnen. Hier werden enge Praxiskontakte gepflegt, hier werden Praxisbörsen organisiert, zu denen die PraktikerInnen in die Hochschulen kommen, hier werden Praxisbesuche arrangiert, zu denen die an der Hochschule Lehrenden in die Praxisstellen gehen. Die Lehrenden können in aller Regel eine mindestens dreijährige Praxiserfahrung nachweisen. Hier absolvieren die Studierenden während ihres Studiums ein Praxissemester und besuchen während ihrer Praxisphase ganze Tage Veranstaltungen zur Praxisreflexion. Die gewollte und gewünschte Nähe zur Praxis führt an Fachhochschulen häufig dazu, dass eine Wissenschaft, die ihren Praxisbezug nicht sogleich zu erkennen gibt, unter den Verdacht gerät, überflüssig zu sein: Was keinen direkten praktischen Nutzen hat, sollte hier auch nicht gelehrt und gelernt werden. Eine solche Forderung würde allerdings die Wissenschaftlichkeit in der Fachhochschulausbildung arg beschneiden und das akademische Niveau auf Fachschulniveau herunterdrücken. Kann man das wollen? Ist der Preis der Praxisnähe womöglich die Absenkung der akademischen Ansprüche? Oder lassen sich Praxisnähe und akademische Ansprüche verlustfrei verbinden? Damit landen wir vor der wahrscheinlich unbeantwortbaren und deshalb immer wieder neu zu beantwortenden Grundsatzfrage: „Sollte ein Studium an der Fachhochschule eher der umfassenden humanistischen Bildung dienen oder sollte es eher auf eine spezifische Berufs- und Fachausbildung für ein engumgrenztes Gebiet konkreter beruflicher Tätigkeiten ausgerichtet sein? Ketzerisch heißt es: Ausbildung ist das Aus der Bildung. Ausbildung ziele in erster Linie auf employability und vernachlässige die Breite möglichen Wissens und Könnens. Hintergrund der Frage, ob es an unseren Schulen und Hochschulen um Ausbildung oder Bildung gehen sollte, sind meist bildungsökonomische Fragen: Wie viel sollte in Bildung zu welchem (wessen) Nutzen investiert werden? Gilt es, das wirtschaftlich verwertbare Humankapital zu steigern und das Wirtschaftswachstum zu fördern, das angeb-

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lich unseren Wohlstand steigert oder gilt es umfassend gebildete Persönlichkeiten heranzuziehen, die angeblich für eine intelligente, kritische Öffentlichkeit sorgen?1 Ebenso offen steht die Frage im Raum, ob ein Hochschulstudium überhaupt das leisten und liefern kann, was sich die Praxis bzw. der beruflich-professionelle Kontext wünscht. Was wird aus dem wissenschaftlichen Wissen, mit dem Sie sich an der Hochschule auseinandersetzen? Wird es 1:1 in die Praxis getragen, um dort zu fruchten? Leitet es in der Berufswelt wirklich das professionelle Handeln an oder wird es womöglich schnell wieder vergessen und taucht in der Praxis überhaupt nicht mehr auf? Findet womöglich gar kein Transfer, keine Vermittlung, kein Austausch statt? Oder sollten wir mit eigensinnigen Formen der Aneignung, Übersetzung und Anwendung des wissenschaftlichen Wissens in der Praxis vor Ort rechnen?2

Literatur Luhmann, N. (1975): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen, S. 134-149 Bommes, M., Scherr, A. (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe. Weinheim, München: Juventa

1 Diese Frage wird im Kapitel 3 des Buches eingehender behandelt. 2 Auf diese Fragen kommt der Vertiefungstext 04: Theorie und Praxis zurück.

Text 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung

Welche gesellschaftlichen Prozesse haben dazu geführt, dass die Soziale Hilfe professionalisiert und verwissenschaftlicht wurde?

Arbeitsblatt zu Vertiefungstext 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung

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Was leistet die Wissenschaft für die Soziale Hilfe? Welches Wissen liefert sie ihr?

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