DIE SONDERBARE REISE DES HERRN TANNENBAUM

Franz Zauleck DIE SONDERBARE REISE DES HERRN TANNENBAUM Ein Stück für Kinder 1 VORBEMERKUNG Diese Geschichte kann von drei Schauspielern erzählt w...
Author: Johann Hafner
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Franz Zauleck

DIE SONDERBARE REISE DES HERRN TANNENBAUM Ein Stück für Kinder

1

VORBEMERKUNG Diese Geschichte kann von drei Schauspielern erzählt werden. Tannenbaum und Weidenbaum sind durchgehend zu besetzen. Ein/e dritte/r Schauspieler/in übernimmt die übrigen Positionen. Die Erfahrungen derUraufführung im Weiten Theater Berlin haben gezeigt, daß der Zwang zur Improvisation zur Befreiung des Spiels führt. Die Parabel von Herrn Tannenbaum als Clownspiel. F. Z.

© henschel

SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1996 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1

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1. EIN ABHANG Spätherbst, etwas Wind. Abend.

Kofferradio

(Mit geschwächten Batterien.) . . . die Verhandlungen nach dem dritten Anlauf gescheitert . . . beschlossen den erweiterten

Risikostrukturausgleich im Rahmen der flächendeckenden Körperschaftssteuerreform . . . der Börsenindex bewegt sich anhaltend abschüssig . . . Finanzexperten warnen vor Überhitzung der konjunkturellen Anleihenmärkte . . . Fichte

Dieses Kofferradio! Die Leute lassen es hier liegen und wir müssen uns das Gequake anhören! Was sagen Sie, Kiefer?

Kiefer

Einen Moment, ich glaube jetzt kommt der Wetterbericht!

Kofferradio

. . . Ausläufer eines Atlantikwirbels . . . Orkanartige Stürme aus westlicher Richtung . . . Windstärke zwölf . . . Warnung:

Achten Sie auf umstürzende Bäume. Die nächsten Nachrichten um zweiundzwanzig Uhr dreißig . . . Und nun Tanzmusik . . . Zärtliche Melodien begleiten uns in die Nacht . . . (Trällert.)

Kiefer

Haben Sie es gehört?

Fichte

Was gehört?

Kiefer

Es soll furchtbar werden.

Fichte

Furchtbar? Was reden Sie? Was soll denn furchtbar werden?

Kiefer

Ja, furchtbar! Der Wetterbericht: Achten Sie auf umstürzende Bäume. Ha, ha, ha!

Fichte

Umstürzende Bäume! Wer sagt denn sowas?

Kiefer

Das Kofferradio. Gerade eben.

Kofferradio

(Singt.) Weißer Holunder . . .

Fichte

Lassen Sie sich doch nicht von diesem Kofferradio verrückt machen.

Kofferradio

Singen Sie. Vergessen Sie alles. Singen Sie!

Kiefer

Ach, wenn ich es könnte. 3

Fichte

Hören Sie nicht hin. Wer sind wir denn, daß wir uns von einem dahergelaufenen Kofferradio verrückt machen lassen?

Kofferradio

Dumdi, dumdi, dei . . .

Kiefer

Sehen Sie nur! Die Farbe des Himmels. Dieses unheimliche Licht! Die schwarzen Wolken. Da, da, da! Es blitzt! O je! Das gibt mindestens Windstärke zwölf.

Kofferradio

Mindestens! Ich habe es gesagt. Windstärke zwölf.

Tannenbaum

O je! Windstärke zwölf.

Fichte

Da sind Sie erschrocken, was Tannenbaum?

Tannenbaum

Windstärke zwölf! Sind Sie da nicht erschrocken, Fichte?

Fichte

Aber junger Mann, wo kämen wir da hin, wenn wir bei jeder Brise erschrocken wären? Mut, Tannenbaum, Mut! Windstärke zwölf! Ha! War doch zu unserer Zeit völlig normal, was Kiefer?

Kiefer

Wir sollten nicht mit unserem Alter kokettieren, Fichte. So wie es in den letzten Jahren stürmt, das ist ja wirklich nicht mehr normal. Das halten wir hier oben auf die Dauer nicht durch, fürchte ich.

Tannenbaum

Es wird immer schlimmer. Dreimal im Frühling und jetzt schon das vierte Mal in diesem Herbst. Das ist doch langsam zum Fürchten.

Fichte

In der Ruhe liegt die Kraft.

Kofferradio

Singen Sie ein Lied, das hilft. Wir können sowieso nichts ändern.

Fichte

Sie sind reichlich taktlos, Kofferradio! Ihnen kann der Sturm nichts anhaben, Sie Kurzer. Sie machen sich klein und trällern lustige Liedchen. Wir Hochstämmigen müssen den Gewalten dieser Welt trotzen. Das ist unser Schicksal. Ist das klar?

Tannenbaum

Soll es doch singen. Ich wäre froh, wenn ich es könnte. Wie war doch dieses Regenlied? Es ging mir so zu Herzen.

Kofferradio

I’m singing in the rain . . .

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Fichte

Kofferradio, wir erörtern hier Schicksalsfragen! Zugegeben, es ist etwas hoch für Sie.

Tannenbaum

Sie sagen immer Schicksal.

Kofferradio

Schicksal, Sickschal, Sackschil. He, he, Sackschil.

Fichte

Ja Schicksal! Unsere Lage wird in der nächsten Stunde weiß Gott nicht angenehm. Ich weiß, wovon ich rede, junger Mann. Nicht angenehm. Aber ich sage Ihnen: Das werden wir ohne die richtige Haltung nicht durchstehen. Das Schicksal hat uns hierhergestellt, auf diesen schönen Abhang, mit dem weiten Blick ins Land . . .

Kiefer

Und den schönen Sonnenuntergängen.

Fichte

Und den schönen Sonnenuntergängen. Ja! Unser Schicksal stellt uns auf eine harte Probe. Wir müssen uns den Stürmen entgegenstemmen. Wir werden der Unbill des Wetters widerstehen. Was uns nicht umbringt, macht uns stark! Wir werden stolz auf uns sein.

Tannenbaum

Stolz! Ich kann bald nicht mehr.

Fichte

Ja, ja, ja! Ich kann Ihnen einen Rat geben, junger Mann: Hadern Sie nicht mit Ihrem Schicksal. Begrüßen Sie es, sehen Sie es als eine Auszeichnung an, stehen Sie die Stürme durch. Sie werden an den Aufgaben wachsen! Und werden stolz auf sich sein.

Tannenbaum

Ich kann es nicht mehr hören. Immer dasselbe.

2. DER STURM Der Himmel verfinstert sich. Es wird stürmisch. Heulen und Jaulen.

Kiefer

Sehen Sie es? Hören Sie es? Es geht los. Wie ich gesagt habe. Es geht los.

Fichte

Kräfte zusammennehmen! Kiefer, Tannenbaum! Wir werfen uns dem Sturm entgegen. Nicht zurückweichen! Greift 5

er von vorn an. stemmen wir uns ihm entgegen. Nie zurückweichen! Kommt er von der Seite, Von der Seite ihm entgegen. Alles klar? Dem Sturm entgegen! Nicht nachgeben. Keine Schwäche zeigen! Kofferradio singen Sie! Etwas, was uns Kraft gibt! Drei, vier! (Singt.) He ja ho! Dem Schicksal die Stirne geboten . . . Kofferradio singen Sie! Kofferradio

Das kann ich nicht. Sie wissen ganz genau, was jetzt losgeht. Da kann ich doch nicht singen. Jedenfalls nicht sowas. (Der Sturm wird zum Orkan. Er prügelt auf die Bäume ein.)

Tannenbaum

(Schreit.) O Scheiße! Verdammt! Tut das weh!

Fichte

Nach vorn neigen.

Tannenbaum

Nach vorn neigen. Scheiße, es geht nicht.

Fichte

Dem Sturm entgegen! Schräg entgegenstemmen!

Tannenbaum

Schräg entgegenstemmen. Scheiße! Es geht nicht! Die Wurzeln verkrampfen sich.

Fichte

(Singt verzweifelt.) He ja ho . . . dem Schicksal . . . die Stirne geboten . . . was mich . . . nicht umbringt . . . macht mich stark . . .

Kiefer

(Flennt.) Er ist so brutal! Dieser Sturm! Er ist so gemein! Ich kann nicht mehr stehen! Nein, nicht nachgeben! Ich darf nicht nachgeben. Erbarmen!

Fichte

(Brüllt.) He ja ho! Meine Wurzeln sind kräftig! Was mich

nicht umbringt, macht mich stark. Kofferradio

(Ruft.) He ja ho. He ja ho. So hat es ja noch nie gewütet!

Sickschal, Sackschil, Schicksal, He ja ho! Kiefer

(Weint.) Mir wird so komisch. Ich kann nicht geradestehen.

Alles ist verbogen! O diese grauenhaften Schmerzen! Tannenbaum

(Schreit.) Wenn ich hier heil herauskomme, werde ich gehen!

Ich schwöre es! Ich werde gehen! Kofferradio

Hallo, Tannenbaum! Ist ihnen nicht gut? Fichte! Kiefer! Alles in Ordnung da oben? (Kiefer und Fichte brechen stöhnend zusammen. Der Sturm orgelt.)

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Kiefer

Ich komme nicht mehr hoch! O, es tut weh! Ich bin völlig verbogen. Ich liege am Boden.

Fichte

Meine Wurzeln! Meine kräftigen Wurzeln. He ja, ho! O weh! Mein Stamm! Er bricht! Das ist die höhere Gerechtigkeit! Ich will das Schicksal tapfer tragen.

Tannenbaum

Ich will es nicht! Ich will es nicht! Nein, nein, nein, nein! Dieses Schicksal will ich nicht! Ich werde gehen! Gehen! Gehen! Gehen! (Der Sturm legt sich. Fichte und Kiefer liegen verwüstet am Boden. Lange Pause.)

Kofferradio

(Vorsichtig.) Hallo? Ihr Hochgewachsenen? Lebt Ihr noch?

Fichte

(Stöhnt.) Wir leben und sind nicht geschlagen.

Kiefer

(Wimmert.) Ich war die Freude des Abhangs. Nun liege ich da. Liege am Boden. Es wird mir sehr schwer fallen, mich daran zu gewöhnen.

Fichte

Das ist eine neue Erfahrung. Wir betrachten die Welt vom Boden aus. Eine harte Prüfung, gewiß. Wir müssen sie auf uns nehmen. (Stöhnt.) Und Sie, Tannenbaum? Sie stehen ja noch. Na sehen Sie! Alles in Ordnung?

Tannenbaum

Ich werde gehen.

Fichte

Was werden Sie?

Tannenbaum

Ich werde gehen.

Kiefer

Aber Tannenbaum, was reden Sie?

Tannenbaum

Ich habe es geschworen. Ich verlasse den Abhang.

Fichte

Um Himmels willen, wo wollen Sie denn hin, Tannenbaum?

Tannenbaum

Die Welt ist doch groß. Ich suche mir einen windstillen Ort. Ich werde schon etwas finden.

Kiefer

Aber es ist doch bestimmt gefährlich! So allein in der weiten Welt!

Tannenbaum

Hier bleiben ist auch gefährlich!

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