Die Schweiz ein Nebenkrater der Reformation?

Die Schweiz – ein Nebenkrater der Reformation? Emidio Campi Der semantische Bereich der Reformation gilt als ein ausgesprochen produktiver Metaphern...
Author: Rudolf Dieter
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Die Schweiz – ein Nebenkrater der Reformation?

Emidio Campi

Der semantische Bereich der Reformation gilt als ein ausgesprochen produktiver Metaphernlieferant. Man denke beispielsweise an die alte und komplexe Lichtmetaphorik.1 Im Jahr 2009, das zugleich Darwin- und Calvinjahr war, wagte Wolfgang Reinhard eine Deutung der Reformation im Sinne einer evolutionären Anpassung von Theologie und Kirche an veränderte Lebensbedingungen.2 Geschichtlicher Wandel kann sich jedoch auch eruptiv vollziehen, in plötzlichen Entladungen und beschleunigten Prozessen. Warum sollen die Organisatoren der Tagung, die mir das Thema vorgegeben haben, dann nicht von der Vulkanmetapher Gebrauch machen? Warum soll man nicht die „Schweiz“ – hier ist der Name wohl metonymisch gebraucht für die aus Zwingli ausgehende und von Bullinger vollendete Reformation - mit einem Vulkan vergleichen dürfen? 3 Auch in der Wissenschaftssprache können Metaphern als Mittel des Verstehens dienen, in dem Sinne, dass sie oft das Unerklärbare erklärbar machen. Mit dem metaphorischen Sprachgebrauch geht freilich nicht selten eine Unschärfe einher, welche die Gefahr der inhaltlichen Verkürzung komplexer Sachverhalte birgt. In der vorliegenden Vulkanmetaphorik sind zwei Gedanken ineinander verwoben und die mühsame Aufgabe, aber auch das echte Vergnügen des Historikers besteht darin, sie in einzelnen Propositionen aufzulösen. Mit der Vulkanmetapher wird die Reformation, und das ist positiv zu vermerken, nicht als punktuelles Ereignis, sondern als prozesshaftes Geschehen erfasst. Denn bekanntlich 1

So etwa die Inschrift Post Tenebras Lux – der Wappenspruch des reformierten Genf und aller Reformierten, die in der Reformation eine Rückkehr zum Licht sahen. 2 Wolfgang Reinhard, Reformation als Mutation? Evolution und Geschichte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 37 (2010) 601-615. 3 Es ist vielleicht nützlich daran zu erinnern, dass die Schweiz im 16. Jahrhundert ein Staatenbund aus drei staatlichen Gebilden war. Die Eidgenossenschaft zählte dreizehn „Orte“, die acht „alten“ (Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus) und die fünf „neuen“ (Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen, Appenzell). Die „Alten Orte“ besassen zusammen „Gemeine Herrschaften“ (Baden und die Freien Ämter, Thurgau, Rheintal, Gaster und Rapperswil, Sargans sowie die italienischen Vogteien im Tessin). Zur Eidgenossenschaft gehörten als „Zugewandte Orte“ auch der Freistaat der Drei Bünde, das Wallis, die Abtei und die Städte St. Gallen, Mühlhausen, Rottweil, Biel. Das Waadtland (französisch: Pays de Vaud) wurde nach dem bernischen Einmarsch anfangs 1536 als französisch sprachiges Untertanengebiet in den Stadtstaat Bern eingegliedert. Genf sowie der heutige Kanton Neuenburg gehörten damals nicht zur Eidgenossenschaft.

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folgen Vulkane unvorhersehbaren Zyklen: nach einer langen Ruhepause erwachen sie und kommen in einem verheerenden Ausbruch wieder ins Leben. Es hat sich nun in der Geschichtsforschung längst herausgestellt, dass die Reformation weniger eine Zäsur bildet, als vielmehr in einer allgemeinen Entwicklungslinie liegt. Diese führt grosso modo überall in Europa von den universell verstandenen mittelalterlichen Ordnungsinstanzen Reich und Kirche zu territorial abgegrenzten souveränen Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts mit landesherrlicher Kirchengewalt im sozialpolitischen und disziplinierenden Bereich. Anders gesagt: die Vulkanmetapher baut auf der breiten Kommunalisierungs- und Konfessionalisierungsforschung der letzten dreissig Jahre auf, sie stimmt mit dem heute gängigen historiographischen Paradigmen überein.4 Nun gibt es jedoch auch eine Kehrseite der Medaille, die keinesfalls ausser Acht gelassen werden darf. Bekanntlich unterscheidet man in der Vulkanologie zwischen Zentralkrater und Nebenkrater. Während aus dem direkt mit der Magmakammer verbundenen Zentralkrater die besonders hefigsten Ausbrüche erfolgen, die bis in weit entfernte Gegenden zu spüren sind, kommen in der Regel aus dem Nebenkrater kleinere Ausstösse, räumlich begrenzte Lavaausflüsse. Sie ahnen schon, worauf ich hinaus will: kritisch zu hinterfragen, ob bei der Bezeichnung der schweizerischen Reformation als „Nebenkrater“ eine deutliche Diskrepanz zwischen res und signum besteht, weil das Epitheton fast zwangsläufig die Idee eines untergeordneten, ungleichwertigen Phänomens weckt und nährt. Man könnte die Metapher des Nebenkraters sogar als ein Rückfall in jene historiographisch überholten Vorstellungen der Reformation als „deutsches Ereignis“ ansehen, in denen Luther als der grosse Einzelne erscheint, der Geschichte macht.5 Wer diese Einsicht vertritt, der nimmt sich gewisse Freiheiten in der Interpretation der Reformation heraus, jedenfalls verkennt er die Forschungsergebnissen der letzten drei Lustren, die am Klarsten die europäische und außereuropäische Bedeutung der Schweizerischen Reformation nachgewiesen haben, deren theologische, ekklesiologische und sozialpolitische Lehren auch im Blick auf die Wahrung des reformatorischen Erbes im 21. Jahrhundert unbedingt mehr Beachtung verdienen. Es sei ausdrücklich betont, dass sich hier keine lokal-patriotische Stimme äussert. Als Waldenser von Geburt und Überzeugung stehe ich nicht nur sozusagen au-dessus de la mêlée,

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Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne, Darmstadt: Primus Verlag, 2007, bes. 22-33. 5 Vgl. meinen Beitrag „Was the Reformation a German event?“, in Peter Opitz (Hg.), The Myth oft he Reformation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, 9-31.

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sondern ich fühle mich mit beiden Flügeln des Protestantismus tief verbunden.6 Als Historiker freilich liegt mir viel daran, genau zu bestimmen: 1) welche Faktoren führten zur Beurteilung der Schweizerischen Reformation als Nebenkrater; 2) Eigenart und Tragweite der zwinglischen und bullingerischen Reformation herauszuarbeiten. Entsprechend habe ich mein Referat aufgebaut. +++

1. Die Schweizerische Reformation - ein Nebenkrater? Eigentlich wäre jetzt ein Überblick über die Bedeutung der schweizerischen Reformation für die europäische Reformationsgeschichte und im folgenden Jahrhundert vorauszuschicken, aber er würde sogar in knapper Form den Rahmen eines Aufsatzes sprengen und ein dickes Buch erfordern, das noch niemand geschrieben hat.7 So bleibt mir die Möglichkeit, sie exemplarisch durch die Ausstrahlung von Bullingers imposanter literarischer Produktion zu dokumentieren.8 Neben kontroverstheologischen Schriften verfasste er Kommentare zu sämtlichen Büchern des Neuen Testaments und zu einer Reihe von prophetischen Büchern des Alten Testaments; natürlich kamen auch seelsorgerliche und dogmatische Schriften dazu; im Alter ging er dann mit Vorliebe an historische Arbeiten heran, wie die Reformationsgeschichte, die Schweizer und die Zürcher Geschichte sowie Werke über das Papstum, die Konzilien und sogar über den Islam.9 Ein gewaltiger Nachlass von über 6000 6

Art. 33 des Glaubensbekenntnisses der Waldenserkirche (1655) betont ausdrücklich die Übereinstimmung mit der „saine doctrine“ der reformierten Kirchen Frankreichs, Englands, Deutschlands, Böhmens, Polens, Ungarns, der Niederlande und der Schweiz sowie mit der Confessio Augustana. Vgl. Brieve Confession de foy des Eglises Reformées de Piemont (1655) samt italienischer zeitgenössischer Übersetzung, in: Andreas Mühling et al. (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften, Vol. 3/2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012 (im Druck). 7 Für die grundlegenden Anfänge liegen immerhin vor: Alfred Schindler, Hans Stickelberger (Hg.), Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen. Wissenschaftliche Tagung zum hundertjährigen Bestehen des Zwinglivereins 1997, Bern: Peter Lang, 2011 und Bruce Gordon, The Swiss Reformation, Manchester, New York: Manchester University Press, 2002. 8 Joachim Staedtke, Bullingers Bedeutung für die protestantische Welt, in: Zwingliana 11(1961) 372-388 und Andreas Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik, Bern: Peter Lang, 2001; Ders., Bullingers Bedeutung für die europäische Reformationsgeschichte, in: Evangelische Theologie 64 (2004) 94-105. Einen eingehenden Überblick über Bullingers literarische Produktion bietet Fritz Büsser, Heinrich Bullinger, Leben, Werk und Wirkung, Bde. 1-2, Zürich: Theologischer Verlag, 2004-2005. 9 Die Literatur, die sich mit diesem weniger bekannten, aber wichtigen Aspekt von Bullingers Werk befasst, ist äusserst spärlich. Vgl. Aurelio A. Garcia Arcilla, The Theology of History and Apologetic Historiography in Heinrich Bullinger. Truth in History, San Francisco 1992 und Christian Moser, Die Evidenz der Historie. Zur Genese, Funktion und Bedeutung von Heinrich Bullingers Universalgeschichtsschreibung, in: Emidio Campi, Peter Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger: Life – Thought – Influence, Zurich, Aug. 25–29, 2004, International Congress Heinrich Bullinger (1504–1575), Zürich : Theologischer Verlag , 2007, 459-491.

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Predigtkonzepten und Nachschriften liegt in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt und ist ein lebendiges Zeugnis seiner unermüdlichen Predigttätigkeit. Besonders erwähnenswert ist seine Gesamtdarstellung der christlichen Lehre in Form von Lehrpredigten, die sogenannten Dekaden, die in fünf Sprachen übersetzt wurden und mit allen Sonderausgaben in 75 Jahren nicht weniger als 34 Auflagen erfuhren.10 Man bedenke zum Vergleich, dass die berühmteste Predigtsammlung Calvins, die Hiobpredigten, nicht über 8 Auflagen hinauskam. Die Dekaden sind aber keine Ausnahme. Die Summe christlicher Religion zählte 15 Auflagen und die 100 Predigten über die Apokalypse des Johannes wurden in 16 Auflagen verbreitet, und gehören somit zu den buchhändlerischen „best and long sellers“ der Frühen Neuzeit.11 Zu den rund 130 gedrückten Werken kommen zahlreiche ungedruckte Werke und vor allem ein umfangreicher Briefwechsel. Während uns zum Vergleich Zwingli eine Korrespondenz von 1300 Briefe, Luther von 4200 Briefen, Calvin von 4200 und Melanchthon von 10000 Briefen hinterlassen haben, zählt Bullingers Korrespondenz rund 12000 Briefen, von denen etwa 2000 aus seiner Hand und die anderen von einer Vielzahl von Menschen stammen, die sich ihm anvertrauten. Unter den Adressaten fehlt kaum eine bedeutende Persönlichkeit des 16. Jahrhunderts.12 Die Entwicklung der protestantischen Kirchen im 16. Jahrhundert wird sich erst vollständig erforschen lassen, wenn dieser Briefwechsel, der zurzeit bis zum Jahr 1544 ediert ist, einmal erschlossen ist. Es ist nun von besonderem Interesse, die Faktoren kurz zu analysieren, die zur mangelnden Würdigung der Bedeutung dieser Spitzenleistung für die Reformationsgeschichte

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Heinrich Bullinger, Sermonum decades quinque de potissimis Christianae religionis capitibus (1552), bearb. von Peter Opitz, Zürich: Theologischer Verlag, 2008 (deut. Übers.: Heinrich Bullinger, Schriften, hg. von Emidio Campi et al., Bd. 3-4-5, Zürich: Theologischer Verlag, 2006). 11 Heinrich Bullinger, Summa christenlicher Religion darinn uss dem Wort Gottes one alles Zancken und Schälten richtig und kurtz anzeigt wirt, was einem yetlichen Christen notwendig sye zuo wüssen, zuo glouben, zuo thuon und zuo lassen, ouch zuo lyden und säligklich abzuosterben, Zuo Zürych : by Christoffel Froschouer, 1556 (lat. Übers.: Compendium christianae religionis decem libris comprehensum […], Tiguri: apud Froschauerum, anno domini 1556); Ders., In Apocalypsim Iesu Christi, […], Conciones centum, Basileae: per Ioannem Oporinum, 1557 (deut. Übers.: Die Offenbarung Jesu Christi jetzund aber mit hundert Predigten erklärt […], Müllhausen: ohne Druckerangabe, 1558). 12 Um nur wenige Namen zu nennen: Albrecht von Preussen und Sigismund von Polen, Luther und Melanchthon, Calvin und Beza, Wolfgang Musculus und Petrus Martyr Vermigli, Bonifacius Amerbach und Berchtold Haller, Philipp von Hessen und Martin Bucer, Markgräfin Anna von Baden-Hochberg und Anna Alexandria zu Rappoltstein, Lady Jane Grey und Gräfin Justina von Lupfen, Johannes a Lasko und Gaspard de Coligny, Caspar Olevian und Zacharias Ursin, Thomas Cranmer und Eduard VI. von England. Vgl. Rainer Henrich, Bullinger’s Correspondence: An International News Network, in: Bruce Gordon, Emidio Campi (Hg.), Architect of the Reformation. An Introduction to Heinrich Bullinger, Grand Rapids, Michigan: Baker Academic, 2004, 231-241.

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geführt haben.13 Wie die Reformationsjubiläen der Jahre 1619, 1719 und 1819 zeigen, wurde Bullinger bald der zweite Platz neben Zwingli, dem der reformatorische Aufbruch zu verdanken war, zugewiesen. Gleichwohl blieb das Bewusstsein der zentralen Bedeutung des Zürcher Antistes für die schweizerische und europäische Reformationsgeschichte erhalten. Die eigentlichen Weichenstellungen seiner Verharmlosung geschahen im 19. Jahrhundert. Als die grossen Ausgaben der Werke der Reformatoren Mitte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen wurden, war neben Luther, Melanchthon und Calvin auch Zwingli im Blick und entsprechend wurden dessen Werke im Corpus Reformatorum ediert. Bullinger, von dem in der Reformationszeit deutlich mehr Werke gedruckt wurden, blieb aussen vor. Einer der wesentlichen Gründe dafür war, dass zu dieser Zeit und bis zu den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein ziemlich geschlossenes Zwinglibild herrschte. Man sah ihn vor allem als Staatsmann und Politiker, der die Umgestaltung aller Bereiche des Lebens angestrebt hatte. Man versuchte die schweizerische Reformation und insbesondere den antirömischen Kampf Zwinglis für die nationale Einigung der Eidgenossenschaft fruchtbar zu machen.14 Das 1885 angefertigte Denkmal hinter der Wasserkirche in Zürich - mit Schwert und Bibel in der Hand - verkörpert eigentlich nur jene Anschauung: Zwingli sei die „stolzeste Gestalt der schweizerischen Geschichte“ (Wilhelm Oechsli). Bullinger, der eben nur in sehr begrenzter Weise als nationaler Heros taugt, blieb im Schatten des pater patriae Zwingli. Als Theologe indes stand Zwingli in dieser Zeit nicht hoch in Kurs. Vor allem auf Grund von Albrecht Ritchls Werk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (18701874) musste Zwingli hinter Luther zurücktreten. Adolf von Harnack meinte sogar, man dürfte „innerhalb der universalgeschichtlichen Betrachtung der Dogmengeschichte von Zwingli absehen“.15 Im Einzelnen unterstrich man die starke Abhängigkeit Zwinglis einerseits vom Mittelalter (Adolf von Harnack, Friedrich Loofs, Reinhold Seeberg und Ernst Troeltsch), andererseits vom Humanismus (Wilhelm Dilthey). Allerdings beschäftigte man sich nicht eingehend mit seiner Theologie, da man sie als zu philosophisch und rationalistisch betrachtete.

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Christoph Strohm, Der Epigone – das Bild Bullingers in den letzten Jahrhunderten, in: Evangelische Theologie 64 (2004) 159-167. 14 Ausführlich dazu Franziska Metzger, Die Reformation in der Schweiz zwischen 1850 und 1950. Konkurrierende konfessionelle und nationale Geschichtskonstruktionen und Erinnerungsgemeinschaften, in Heinz Gerhard Haupt et al. (Hg.), Nation und Religion in Europa: mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main : Campus, 2004, 64-98. 15 Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd.3, Tübingen: Mohr, 41909, Nachdruck Tübingen 1990 [Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990], 897, Anm. 1.

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Der Vernachlässigung und der damit verbundenen Unkenntnis Zwinglis trat auch eine Abwertung Bullingers zur Seite, der geradezu als Inbegriff des Epigonentums galt. So schrieb Wilhelm Gass in seiner 1854 erschienenen Geschichte der protestantischen Dogmatik, dass man von ihm „keinen geistigen und wissenschaftlichen Fortschritt“ erwarten konnte.16 Alexander Schweizers 1844/1847 in Zürich gedruckte und wirkungsreiche Glaubenslehre der evangelisch-reformierten Kirche liess Bullinger weitgehend unbeachtet, erwähnte ihn nicht einmal bei der Behandlung des Consensus Tigurinus. Auch ein weiterer Autor, der im 19. Jahrhundert im Blick auf die Geschichte des reformierten Protestantismus meinungsbildend geworden ist, Heinrich Heppe, zitierte zwar gelegentlich Bullinger in seinem Werk Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche (1861), aber die Bedeutung des Zürcher Antistes für die Reformationsgeschichte und das orthodoxe Zeitalter wird überhaupt nicht sichtbar. Erst seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann sich dieses Bild der schweizerischen Reformatoren gründlich zu wandeln. Voraussetzung dafür war die umfassende Edition von Huldreich Zwinglis Sämtlichen Werken sowie viele und bahnbrechende Studien von Walther Köhler, Fritz Blanke, Oskar Farner, Arthur Rich in der Zeitschrift Zwingliana, die zeigten, dass Zwingli und Bullinger gegenüber Luther doch selbständiger waren als man gemeinhin annahm. Diese theologische Selbständigkeit arbeitete dann die Forschung der sechziger und siebziger Jahre heraus. Rudolf Pfister, Fritz Büsser und vor allem aber Gottfried Locher konnten überzeugend nachweisen, dass nicht nur die Theologie des Wittenberger Reformators, sondern auch jene der beiden Zürcher Reformatoren reformatorisch genannt zu werden verdient.17 Diese Forschungsergebnisse sind auch in die Kirchliche Dogmatik Karl Barths eingeflossen (KD I/1, II/1, II/2, IV/1). Bekanntlich hat Barth Calvin sehr viel höher geschätzt als Zwingli und jenen in stärkerem Mass als diesen aufgenommen. Die Bezüge auf Bullinger sind deutlich seltener als die auf Zwingli. Doch,

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Zitiert nach Strohm (wie Anm. 13) 163 Gottfried W. Locher, Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Zürich: Zwingli Verlag, 1969; Ders., Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979. Für die Zwingliforschung siehe Ulrich Gäbler, Huldrych Zwingli im 20. Jahrhundert. Forschungsbericht und annotierte Bibliographie, Zürich: Theologischer Verlag, 1975; für die Bullingerforschung siehe meinen Beitrag, Current State and Future Directions of Bullinger Research, in Campi, Opitz (wie Anm. 9) 1-30 sowie Luca Baschera, Christian Moser, Indexierte Bibliographie der Literatur zu Heinrich Bullinger, 1975-2004, ebd., 31-55. 17

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wenn Barth Bullinger zitiert, geschieht dies durchweg zustimmend, und als Autor der Confessio Helvetica posterior erfährt er sogar Hochschätzung.18 Zusammenfassend: Wer sich auf die verschlungenen Wege der Rezeptionsgeschichte der schweizerische Reformation begibt, kann mit Fug und Recht behaupten, dass diese ein ausgezeichnetes Beispiel posthumer Verkennung und Unausgewogenheit der Historiographie bietet. Man darf allerdings nicht unterlassen, gleichzeitig auf die aussergewöhnliche Aufmerksamkeit hinzuweisen, welche seit etwa fünfzehn Jahren und ganz besonders seit Bullingers fünfhundertstem Geburtstag im Jahr 2004 die schweizerische Reformation in der Fachwelt und in der Öffentlichkeit gefunden hat. Die mittlerweile stattliche Zahl von Editionen, Abhandlungen, Dissertationen und Habilitationsschriften ist aussagekräftig für die Wiederentdeckung des Bewusstseins ihrer Bedeutung für die europäische Kirchen-, Geistes-, und Kulturgeschichte.19 Man kann nur hoffen, dass diese Arbeit unvermindert weitergeführt wird, damit die weiterhin bestehenden, grossen Forschungslücken gefüllt und neue, wertvolle Erträge ans Licht gebracht werden können.

2. Eigenart und Tragweite der zwinglischen und bullingerischen Reformation Im zweiten Teil soll das reformatorisch-theologisches Profil der schweizerischen Reformation exemplarisch dargestellt werden anhand von drei Themen, die wichtig und typisch waren beziehungsweise sind. Es handel sich um die folgenden Fragenkomplexe: die Abendmahlstheologie, die Bundestheologie, die kollegiale Kirchenleitung und das Verhältnis der Kirche zum Gemeinwesen. a) Abendmahlstheologie Bevor wir die Abendmahlslehre ins Auge fassen, sei auf eine sehr pointierte Bemerkung von Eberhard Busch hingewiesen: „Zuweilen stellt sich die Frage, wie sich wissenschaftliches Forschen in der Theologie vollzieht. Offenbar gibt es dabei zuweilen den Vorgang, dass jemand eine These aufstellt, die in der Folgezeit ohne weitere Nachprüfung vielfach wiederholt wird, und das mit dem Resultat, dass ein Urteil aus vieler Zeugen Mund dann als

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Vgl. Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1997 und Strohm (wie Anm. 13) 166. 19 Für die neuere Bibliographie stützt man sich auf die jährlich erscheinenden Literaturnachweise der Zeitschrift Zwingliana, die für jedermann unentgeltlich elektronisch unter http://www.zwingliana.ch/ zugänglich ist.

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‚gesichert’ gilt. So geht es vielleicht auch zu mit der These: Beim Consensus Tigurinus von 1549 habe sich Calvin um des lieben Friedens willen den hartnäckigen Zürchern und ihrer Festlegung auf das Zwinglische Verständnis des Abendmahls unterworfen, wohl wegen einer Schwäche in seiner eigenen Theologie. Jedenfalls habe dabei die ‚zwinglianische’ Ansicht gesiegt: das Mahl werde gefeiert in der Erinnerung der Feiernden an den voreinst lebenden Christus oder denn in einer irgendwie spiritualistischen Glaubenshaltung. Und eben das sei die Geburtsstunde der reformierten Konfession gewesen, in Abspaltung von der demgegenüber festen evangelisch-lutherischen Konfession. Im Reformiertentum seien in der Folgezeit jene beim Verständnis des Abendmahls Ausschlag gebenden Gesichtspunkte Zwinglis überhaupt zentral gewesen.“20 Diese These hat tatsächlich 1940 Ernst Bizer aufgestellt.21 War es wirklich so? Es lohnt sich, noch einmal genau hinzuschauen. Dass Calvins Sakramentsverständnis sich im Laufe der Zeit entwickelte und nacheinander zwinglische (1536/37), lutherische (1537-1548), spiritualisierende (1549-1560) und wiederum lutherische (1561-1562) Akzente aufweist ist bekannt.22 Weniger bekannt ist hingegen, dass Bullingers Abendmahlstheologie sich trotz ihrer augenfälligen Verwandtschaft schon im Ansatz von jener Zwinglis unterschied.23 Hatte sein Amtsvorgänger zunächst eine symbolische Auffassung des Sakraments mit Erinnerung und Gemeinschaftsfeier im Mittelpunkt vertreten und dann seit 1529 zunehmend den Gabecharakter und die Gegenwart Christi betont,24 so entfaltete der junge Bullinger ein Sakramentsverständnis, das auf Grund seiner bundestheologischen Betrachtungsweise von Anfang an über eine rein symbolische Anschauung hinausging und eine starke Verbindung von Zeichen und Sache anstrebte.25 Gemäss der von ihm vorausgesetzten Einheit der beiden Testamente sind das Passahmahl und das Abendmahl Zeichenhandlungen, die den Blick auf den von Gott mit den Menschen geschlossenen Gnadenbund lenken. Somit wird ihnen Heilsbedeutung zuerkannt. Diese theologische Eigenart erklärt im wesentlichen, warum sich in dem von Bullinger massgeblich 20

Eberhard Busch, Die Tragweite von Artikel 7 im Consensus Tigurinus, in: Emidio Campi – Ruedi Reich (Hg), Consensus Tigurinus (1549): die Einigung zwischen Heinrich Bullinger und Johannes Calvin über das Abendmahl: Werden - Wertung – Bedeutung, Zürich, 2009, 284-295, hier 294. 21 Ernst Bizer, Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreits im 16. Jahrhundert (1940), Darmstadt 31972, 273274. 22 Wim Janse, Calvin’s Eucharistic Theology: Three Dogma–Historical Observations, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvinus sacrarum literarum interpres. Papers of the International Congress on Calvin Research, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, 37-69, bes. 39. 23 Joachim Staedtke, Die Theologie des jungen Bullinger, Zürich 1962, 234-254, bes. 249-251; Martin Friedrich, Heinrich Bullinger und die Wittenberger Konkordie, in: Zwingliana 24 (1997) 62-63. 24 Fritz Blanke, Einleitung zum 7. und 8. Artikel der Fidei ratio, in: Z VI/II, 767-773; Fritz Büsser, Einleitung zu Zwinglis Schrift De convitiis Eckii, in: Z VI/III, 231-247. 25 Vgl. De sacrifitio missae (1524), in: Heinrich Bullinger Theologische Schriften, Bd. 2, Zürich: Theologischer Verlag, 1991, 38-45; De institutione et genuino eucharistiae usu (1525), in: ebd., 88-107.

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mitgeprägten Ersten Helvetischen Bekenntnis von 1536 bei der Formulierung des Abendmahlsartikels eine Entwicklung zeigte, die auf eine signifikative Wirkung des Sakraments hinzielte.26 Dieser Sachverhalt gilt auch für das Wahrhafte Bekenntnis der Diener der Kirchen zu Zürich, Bullingers moderate Entgegnung auf Luthers masslose Schmähschrift von 1544 gegen die sogenannten Sakramentarier, in dem er mit gutem Gewissen die Gegenwart Christi im Abendmahl betonen, ja sogar ausdrücklich zugeben konnte. „Christi Leib und Blut werden wahrhaftig von den Gläubigen im Mahl gegessen und getrunken“, schrieb Bullinger, allerdings mit der Einschränkung, dass die Gegenwart Christi „geistlich“ gefasst und keineswegs auf das Abendmahl beschränkt ist und Christus nicht mit dem Munde, sondern „mit dem gläubigen Gemüte“ empfangen wird.27 Bullinger verharrte jedoch nicht einfach in der erarbeiteten Position, was ihm hoch anzurechnen ist. Vielmehr bewogen ihn die bedrohliche Situation des Protestantismus nach dem Augsburger Interim sowie der intensive Gedankenaustausch mit Calvin zu einer Klärung der Sakramentslehre, wie sie im Consensus Tigurinus von 1549 festgehalten ist.28 Von beiden Seiten wurden keine Mühen gescheut, um Zwinglis Erbe in der bundestheologischen Interpretation Bullingers und Calvins pneumatologisch orientierte Denkweise miteinander in Einklang zu bringen. Sie tauschten viele Briefe und Lösungsentwürfe aus und trafen sich für Beratungen dreimal in Zürich, wobei oft übersehen wird, dass auch Guillaume Farel Hilfe leistete.29 Eine gegenseitige Annährung der Hauptpartner im Hinblick auf den Zweck und Gabecharakter der Sakramente lässt sich insbesondere in den Artikeln 7 - 8 beobachten. 26

Heiner Faulenbach et al. (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. 1/2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2006, 52, 3: Die Sakramente sind „bedütliche heilige zeychen“; es wird weiter bekannt, 52, 13-14: „das die sacramennt nit allein ussere zeychen syend christenlicher gsellschaft, sonder wir bekennendts für zeichen göttlicher gnaden ...“; ebd. 53, 19: „dise heiligen zeychen und sacramennt sind helige und erwürdige ding, als die, die von Christo, dem hohen priester, ingesetzt und gebrucht sind, so tragenn sy, dermas wie oben darvon grett ist, die geystlichenn ding, die sy bedütend, für, und bietend sy an ...“ 27 E. F. Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, Leipzig 1903 (Nachdruck Waltrop 1999), 154, 21-28: „So werde in dem Nachtmal der glöubigen der waar lyb unnd bluot Christi im Nachtmal von glöubigen warlich geessen unnd truncken, aber doch nit so rouw und fleischlich, wie es bißhar die Päpstler geleert habend (namlich daß man jn ässe substantzlich, das ist lyblich und fleischlich, also daß das brot in das waar natürlich fleisch Christi verwandlet, unnd der wyn in das blut Christi keert werde, oder daß der lyb im brot sye) sonder geistlich, das ist geistlicher wyß, unnd mit dem glöubigen gemüt.“ 28 Lateinischer Text bei Müller (wie Anm. 27)159-163 sowie Faulenbach (wie Anm. 26) Bd. 1/2, 467-490 und jetzt auch in einer neuen kritischen Edition in Campi, Reich (Hg.), Consensus Tigurinus, 125-142 (deut. Übers., 227-237). Im Folgenden wird nach dieser Edition zitiert. 29 Zur Entstehungsgeschichte siehe Ulrich Gäbler, Das Zustandekommen des Konsensus Tigurinus im Jahre 1549, in Theologische Literaturzeitung 104 (1979), 321-332; Paul Rorem, Calvin and Bullinger on the Lord’s supper, Bramcotte/Nottingham 1989; zuletzt ausführlich Emidio Campi, Consensus Tigurinus: Werden, Wertung und Wirkung, in: Campi, Reich (wie Anm. 28) 9-42.

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Zwinglis Vorstellungen, die allen anderen Deutungen insofern entgegengesetzt waren, als er den anamnetischen Charakter betonte, werden zwar im Artikel 7 treu aufgezählt: Die Sakramente sind „Kennzeichen und Marken (notae ac tesserae) des christlichen Bekenntnisses und „Aufforderungen (incitamenta) zur Danksagung und Übung des Glaubens und auch eines frommen Lebens“; als „lebendige Bilder“ (vivas imagines) rufen sie Christi Wohltaten in Erinnerung, so dass der Glaube stärker eingeübt wird. Doch Bullinger und Calvin hatten selbst lange genug mit dieser Interpretation gerungen, um zu wissen, dass man sich von ihr freundlich verabschieden musste, weil damit dem Glauben das Entscheidende genommen wird, die Externität der Heilsgabe. So bestand für die beiden Reformatoren einer der Zwecke der Sakramente darin, dass Gott durch sie seine Gnade „bezeugt, vergegenwärtigt und besiegelt.“ Die Formulierung mag vermittelnd-blass klingen. Aber im folgenden Artikel 8 wird gleich präzisiert: Was die Sakramente äusserlich bezeugen, vergegenwärtigen und besiegeln, „das gewährt er selbst [Gott] uns ohne Zweifel innerlich durch seinen Geist wahrhaft“, nämlich Versöhnung mit Gott, Erneuerung des Lebens durch den Geist und Gewinn von Gerechtigkeit und Heil; dafür gebührt Gott der Dank. Bei diesen zwei Artikeln laufen alle Fäden des Consensus Tigurinus zusammen: das Mahl reicht zwar das Heil dar, aber durch den Heiligen Geist, in dem sich Christus selbst mit seinen geistlichen Gaben den Glaubenden zuteil gibt. Hält man sich den Artikel 7 über die Bedeutung der Sakramente vor Augen, dann zeigt sich, dass er aufs Engste an den Artikel 13 der Confessio Augustana angelehnt ist. Man sehe sich den Wortlaut der beiden Texte an: Confessio Augustana, Art. 13

Consensus Tigurinus, Art. 7

De usu sacramentorum docent, quod sacramenta instituta sint, non modo ut sint notæ professionis inter homines, Vom Gebrauch der Sakramente wird gelehrt, dass die Sakramente nicht nur als Zeichen eingesetzt sind, an denen man die Christen äußerlich erkennen kann,

Sunt quidem et hi sacramentorum fines, ut notae sint ac tesserae christianae professionis,

sed magis ut sint signa et testimonia voluntatis Dei erga nos,

sed hic unus inter alios praecipuus, ut per ea nobis suam gratiam testetur deus, repraesentet atque obsignet. aber der vornehmliche Zweck unter den anderen ist, dass Gott uns durch sie seine Gnade bezeugt, vergegenwärtigt und besiegelt,

sondern [mehr noch], dass sie Zeichen und Zeugnisse des göttlichen Willens gegen uns sind,

Auch dies sind Zwecke der Sakramente: dass sie Kennzeichen und Marken des christlichen Bekenntnisses sind,

ad excitandam et confirmandam fidem in his, qui utuntur, proposita.

… ut fides magis exerceatur, deinde, quod ore dei pronunciatum erat, quasi sigillis con firmari et sanciri

um dadurch unseren Glauben zu erwecken und zu

…damit der Glaube mehr gestärkt wird, und

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stärken.

schliesslich dass das aus Gottes Mund Verkündigte gleichsam durch Siegel bestätigt und bekräftigt wird.

In der Confessio Augustana und ebenso im Consensus Tigurinus wird bekannt und gelehrt: die Sakramente sind nicht nur ein Bekenntnisakt der Christen, sondern es geht in ihnen „mehr noch“ (magis) beziehungsweise „vornehmlich“ (praecipuus) darum, dass sie uns Gottes gnädige Zuwendung bezeugen und vergegenwärtigen, und zwar die Zuwendung dessen, der nicht nur einst sich den Menschen zugewendet hat, sondern der es auch heute an den Empfängern der Sakramente tut. In den Worten von Eberhard Busch: „Der Consensus zitiert wohl nicht einfach die Augustana, aber er sagt mit neuen Worten faktisch dasselbe.“ 30 Es scheint, dass manche lutherische Kritiker des Zürcher Consensus, auch Bizer, diese doch wahrhaftig erstaunliche Konvergenz der beiden Texte nicht beachtet haben, weil sie sich in der Regel bei der Ablehnung der symbolischen Deutung der Einsetzungsworte im Artikel 10 der CA aufhielten. Obwohl im Consensus Tigurinus erstmals die reformierte Abendmahlslehre erarbeitet wurde, die sich dann im Heidelberger Katechismus und im Zweiten Helvetischen Bekenntnis niedergeschlagen hat, erlangte er eigentlich nie den Rang einer Bekenntnisschrift. Seine identitätsbildende Funktion für die reformierte Konfessionsbildung ist beachtlich, sie muss allerdings nicht karikierend übertrieben werden. Man darf deshalb nicht sagen, wie oft behauptet wird, dass durch die Zürcher Übereinkunft die Abgrenzung gegen das Luthertum härter und deutlicher geworden sei. Der sogenannte Zweite Abendmahlsstreit, der den europäischen Protestantismus zwischen den späten vierziger und den frühen siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts definitiv spaltete, entbrannte nicht, oder wenigstens nicht primär, wegen des Consensus Tigurinus, sondern vielmehr wegen der theologischen Richtungskämpfe zwischen Genesiolutheranern, den genuinen Lutherschülern, und den Philippisten bzw. Kryptocalvinisten, den Anhängern Melanchthons.31 Die Gnesiolutheraner, die überall das Vordringen der Philippisten witterten, standen vor der Verlegenheit, dass diese an mehr als einem Punkt mit Bullinger und Calvin sympathisierten und vor allem zu Kompromissen in der Abendmahlsfrage bereit waren. Um dieser Gefahr begegnen zu können, veröffentlichte der Hamburger Pfarrer Joachim Westphal zwei Pamphlete gegen die Schweizer, Farrago confuseanarum et inter se dissidentium opinionum de coena Domini (1552) und Recta fides de 30

Busch (wie Anm. 20) 289. Wilhelm H. Neuser, Der Zweite Abendmahlsstreit, in: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21998, 272-285. Vgl. ausserdem Irene Dingel, Calvin im Spannungsfeld der Konsolidierung des Luthertums, in Selderhuis (wie Anm. 22) 118-140. 31

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coena Domini (1553), beide voller wüster Beschimpfungen: Calvin wurde zum „Kalb“ und Bullinger war folgerichtig der „Bulle“. Machten diese Schriften zunächst wenig Eindruck, so liegt ihre historische Bedeutung doch darin, dass sie zum ersten Mal deutlich auf den Unterschied des Luthertums und Reformiertentums hinwiesen. In dem Masse, in dem die innerlutherischen Lehrstreitigkeiten zutage traten, wuchs auch das Bewusstsein der Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten und seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555, der die Sakramentarier ausschloss, kam eine klare konfessionelle Frontbildung zustande. Beide Parteien waren zu keinen Verhandlungen mehr bereit. Alles spitze sich auf die schroffe Alternative Luthertum oder „Sakramentiererei“ zu. Hält man sich diese selbstmörderische Entwicklung des frühneuzeitlichen Protestantismus vor Augen, dann wird man Eberhard Buschs nachdrücklich bekundete theologische Hochschätzung von Artikels 13 der Augustana und von Artikel 7 des Consensus nicht nur nachvollziehen können, sondern wahrhaftig als Ermutigung verstehen, den Weg zu versöhnter Vielfalt weiterzugehen: „Die sachliche Übereinstimmung der beiden Sakramentsartikel weist vielmehr auf ein gemeinsames evangelisches Kirchentum vor der konfessionellen Spaltung hin: auf ein Kirchentum, in dem es wohl unterschiedliche Einsichten gab und geben durfte, in dem aber deren Vertreter sich nicht gegenseitig bekämpfen mussten.“ 32 Ein Beispiel für diese Interpretation ist die „Leuenberger Konkordie“ von 1973, in der die beteiligten Kirchen über die unterschiedlichen Bekenntnisgrundlagen hinweg nach dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums gesucht haben. Die Kontroversen um die Abendmahlslehre, die von der Reformationszeit an eine Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen und reformierten Kirchen unmöglich gemacht und zu gegenseitigen Verwerfungsurteilen geführt haben, werden nicht ignoriert, sondern als Ansporn für die Suche nach einem vertieften biblischen Verständnis der coena Domini erkannt. 33

b) Bundestheologie Einige Überraschungen birgt auch eine genaue Analyse des biblisch-theologischen zentralen Begriffs des Bundes Gottes, der nicht nur für den schweizerischen, sondern für den ganzen reformierten Protestantismus von zentraler Bedeutung war. Ansätze dazu sind sowohl bei

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Busch (wie Anm. 20) 292. Wenzel Lohff (Hg.), Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa: Leuenberger Konkordie: eine Einführung mit dem vollen Text, Frankfurt a. M.: O. Lembeck, 1985. Vgl. weiterführend Wilhelm H. Neuser, Die Entstehung und theologische Formung der Leuenberger Konkordie 1971 bis 1973, Münster: Lit, 2003. 33

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Zwingli wie Oekolampad zu finden – gilt doch Bullinger zu Recht als eigentlicher Begründer der Foederaltheologie. Jedenfalls hat er als erster die Bundestheologie systematisch dargestellt, und zwar 1534 in einer Schrift De testamento seu foedere Dei unico et aeterno.34 Was ist mit dieser „Bundestheologie“ gemeint und welche ist ihre Tragweite? Für unsere Zwecke ist es relevant festzuhalten, wie die neuere Forschung überzeugend nachgewiesen hat,35 dass der Begriff in Bullingers Frühschriften (Von der Taufe, De institutione eucharistiae, Antwort an Burchard) zunächst einmal als Argumentationsgrundlage in einem sakramentstheologischen Zusammenhang verwendet wurde. In den Dekaden reichte sodann die Bundesvorstellung weit über die reine Erläuterung der Sakramente hinaus und galt als umfassendes Konzept zur Veranschaulichung der Grundsituation des Menschen vor Gott. Das Thema erreichte schliesslich seine volle Ausformung, indem der christologische Charakter des Bundes hervorgehoben wurde, der die vollzogene Versöhnung in Christus und die Erneuerung des Menschen beschreibt. Das Entscheidende ist, dass der Bund zwischen Gott und Mensch einseitig von Gott allein begründet ist, ohne Mitwirkung von Menschen, denen dieses Geschehen nur eben widerfährt. Der Erkenntnisgewinn dieser sachlichen Rekonstruktion zeigt sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen hilft sie, die inhaltliche Fassung des Bundesbegriffes zu klären und somit die schillernde Apostrophierung des Reformators als „Bundestheologen“ präzise zu bestimmen. So erscheint die verbreitete Meinung, welche Bullingers eigentümliche Bundesauffassung in einem am Vertragsrecht orientierten Bundesgedanken – „mutual agreement“ zwischen Gott und den Menschen - sieht und ihn zum Vordenker der "Other Reformed Tradition" stilisiert36, als eine fable convenue, die die theologische Tragweite seines Denkens in einen unsachgemässen Blickwinkel rückt. Zum anderen dokumentiert sie eine ausgesprochene Nähe Bullingers zur theologiegeschichtlich dominant gewordenen augustinisch-lutherisch-calvinischen Theologie. Die eminente Bedeutung des Bundesgedankens, der sich aus einem theologischen Grundkonzept Bullingers zur politischen Theorie und Praxis weiterentwickelte, soll hier kurz

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Heinrich Bullinger, De testamento seu foedere dei unico & aeterno, Zürich: Christoph Froschauer, 1534. Kritische Ausgabe fehlt, deut. Übers.: Ders., Schriften, Bd. 1, 49-101. 35 Cornelis P. Venema, Heinrich Bullinger and the doctrine of predestination: author of "the other reformed tradition"?, Grand Rapids, Mich.:Baker Academic, 2002; Peter Opitz, Heinrich Bullinger als Theologe. Eine Studie zu den „Dekaden“ , Zürich: Theologischer Verlag, 2004, 317-352; Willem van’t Spijker, Bullinger als Bundestheologe, in: Campi, Opitz (wie Anm. 9) 573—592. 36 So z. B. J. Wayne Baker, Heinrich Bullinger and the Covenant: the Other Reformed Tradition, Athens, Ohio, 1980.

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angedeutet werden.37 Schon die Ausdrücke „Bund“ und „Testament“ zeigen die biblische Ableitung. Im Gegensatz zu den vielen, sicher auch interessanten, doch oft umstrittenen oder nicht unbedingt jedermann verständlichen Vorstellungen von „Gesetz und Evangelium“, „Rechtfertigung“ bei Luther, „Prädestination“ bei Calvin, ist „Bund“ ein ebenso übergreifendes wie einleuchtendes Prinzip theologischen Denkens, oder mit den Worten von Karl Barth: „das wahrhaftige Licht, das (Joh 1,9) jeden Menschen erleuchtet, auf das darum auch jeder Mensch anzusprechen ist.“38 Das erklärt auch warum, von Zürich ausgehend teils direkt, teils indirekt, auch mit vielfältigen inhaltlichen Veränderungen (vor allem der Unterscheidung von Gnaden- und Werkbund) diese Konzeption auf Calvin, auf die Heidelberger Theologen Kaspar Olevian (1536-1587) und Zacharias Ursin sowie auf den Hugenotten Franciscus Junius wirkte. In Cambridge vermittelte William Perkins (1558-1602) dem englischen Puritanismus und dem schottischen Presbyterianismus die Föderaltheologie, die von der Westminster Confession (1647) normativ fixiert wurde und seitdem erheblichen Einfluss besonders in den englischen Kolonien in Amerika entfaltete.39 Ihre eindrucksvollste Gestalt erlangte die Foederaltheologie in den Niederlanden mit Johannes Coccejus (16031669). In seiner Summa Doctrina de Foedere et Testamento (1648), einer sich an der Folge der göttlichen Bundesbeschlüsse (Werkbund und Gnadenbund) orientierenden Dogmatik, unternahm er den kühnen Versuch, die starren aristotelischen Schemata der orthodoxen Schulmetaphysik durch eine heilsgeschichtliche Methode zu ersetzen, um die foedera im göttlichen Handel mit den Menschen und die zeitliche Verschiedenheit ihrer menschlichen Wahrnehmung aufzudecken und miteinander in Einklang zu bringen. Der Coccejanismus seiner Schüler spielte eine Rolle im Übergang der Orthodoxie zu Pietismus und zum Rationalismus.40 Es gibt freilich neben dem theologischen auch einen politischen Bundesgedanken. Seine Bedeutung wird üblicherweise und zu Recht mit dem Namen der grossen Völkerrechtler Johannes Althusius (1563 - 1638), Hugo Grotius (1583-1645) und Thomas Hobbes (1588 1679) verbunden. Der Bundesgedanken steht sogar am Anfang der Geschichte der

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Fritz Büsser, Politischen Ideen der Zürcher Reformation. Ein Beitrag der Schweiz zum politischen Denken, in: Ders., Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich, Bern: Peter Lang, 1994, 151-169. 38 KD IV/1, 60. 39 Andries Raath, Shaun de Freitas, From Heinrich Bullinger to Samuel Rutherford. The Impact of Reformation Zurich on Seventeenth-Century Scottish Political Theory, in Campi, Opitz (wie Anm. 9) 853-879; David A. Weir, Early New England : a covenanted society, Grand Rapids, Michigan : W.B. Eerdmans, 2005. 40 Christian Link, Art. Föderaltheologie, in RGG 3 (42000) 172-175; Eberhard Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich: Theologischer Verlag, 2007,71-97; Ders., Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie, in: Marco Hofheinz et al.(Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, 169-181.

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Vereinigten Staaten von Amerika. Er ist der Kern des berühmten „Mayflower Compact“ von 1620 und des Model of Christian Charity von 1630, das John Winthrop an Bord der „Arabella“ entworfen hat.41 Beide, Rechtstheoretiker und Politiker, führten Gedanken weiter, realisierten konkrete Staatmodelle, die eindeutig auf die schweizerische Reformationsgeschichte zurückzuführen sind.

c) Die kollegiale Kirchenleitung und das Verhältnis der Kirche zum Gemeinwesen Nachdem unter Zwingli in den 1520er Jahren einzelne Synoden durchgeführt worden waren, regelte die 1532 erschienene, von Heinrich Bullinger unter Mithilfe von Leo Jud verfasste Zürcher Pfarr- und Synodenordnung den Modus der künftig regelmässig abzuhaltenden Kirchenversammlungen. In ihren Grundzügen blieb diese Kirchenordnung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Geltung.42 Sie enthielt drei Teile: „1. Von der waal, sendung und händuflegen der Predikanten; 2. Von der Leer und leben der Predikanten; 3. Von dem Synodo und wie der gehalten“. Es würde zu weit führen, im einzelnen den theologischen, ekklesiologischen und kirchenrechtlichen Problemen nachzugehen, die sich aus der Pfarr- und Synodenordnung ergeben; es genügt hier auf die Synodalpraxis und auf die dahinter erkennbare geistige Herkunft sowie Amtsauffassung zu verweisen. Bevor diese näher beleuchtet werden, ist ein kurzer Hinweis auf Zusammensetzung, Kompetenzen, Aufgabenfelder und Abläufe der Synode unerlässlich. Die zweimal jährlich zu immer gleichen Terminen stattfindende Synode war kein Kirchenparlament im heutigen Sinne, sondern die Versammlung der etwa 150 ordinierten Pfarrer und Theologieprofessoren im gesamten Herrschaftsgebiet Zürichs. Ihre Aufnahme in die Synode geschah durch einen einmalig zu leistenden Synodaleid. Zusätzlich zu den 41

Richard Niebuhr, The Idea of Covenant and American Democracy, in: Church History 23 (1954) 126-135; Daniel J. Elazar, John Kincaid (Hg.), The Covenant Connection: From Federal Theology to Modern Federalism. Lanham, Md: Lexington Books, 2000. 42 Text in Emidio Campi, Philipp Wälchli, Zürcher Kirchenordnungen 1520-1675, Zürich: Theologischer Verlag, 2011, 129-150. Vgl dazu Kurt Maeder, Bullinger und die Synode, in: Ulrich Gabler, Endre Zsindely (Hg.), Bullinger-Tagung 1975. Vortrage, gehalten aus Anlass von Heinrich Bullingers 400. Todestag, Zürich: Theologischer Verlag, 1977, 69-76; Fritz Büsser, Synode - Gestern und Heute, in Ders., Wurzeln der Reformation. Zum 500. Geburtstag des Reformators Huldrych Zwingli, Leiden: Brill, 1985, 231-235; Pamela Biel, Doorkeepers at the House of Righteousness: Heinrich Bullinger and the Zurich Clergy, 1535-1575, Bern: Peter Lang, 1991; Bruce Gordon, Clerical Discipline and the Rural Reformation. The Synod in Zurich, 15321580, Bern: Peter Lang, 1992; Roland Diethelm, Heinrich Bullinger und der Zürcher Synodus, in Ingolf U. Dalferth, Cla Reto Famos (Hg.), Das Recht der Kirche. Zur Revision der Zürcher Kirchenordnung., Zürich: Theologischer Verlag, 2004, 109-140.

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Pfarrern wohnten der Versammlung acht Ratsherren (vier Mitglieder des Grossen Rates, drei des Kleinen Rates sowie der Bürgermeister oder einer der ihm unmittelbar nachgeordneten Oberstzunftmeister) und der Stadtschreiber bei. Den Vorsitz der Synode führten nominell der ranghöchste obrigkeitliche Vertreter und der Antistes, faktisch der Antistes alleine. Auf der Tagesordnung der Synode standen nicht theologische Verhandlungen – wie man meinen könnte – und auch nicht Fragen und Probleme der Kirchenverwaltung oder gar –finanzierung. Die Tagesordnung umfasste folgende Teile: 1. Die invocatio, die Anrufung von Gottes Segen auf die Versammlung; 2. Der catalogus, mit dem man die Teilnahme der ministri festhielt; 3. Das sacramentum, in dem die neu installierten Prädikanten ihren Synodaleid ablegen mussten; 4. Im Teil externi wurde festgelegt, ob und welche Gäste aus anderen Kirchen oder aus Ständen zur Versammlung zuzulassen seien; 5. Im Teil senatus brachten die Vertreter der beiden Räte Anregungen oder Mahnungen aus ihrem Gremien vor, und umgekehrt konnten sich die Pfarrer an die Obrigkeit wenden; 6. Der Hauptteil der Synode war die censura der Pfarrerschaft, die sich über die Lehre und den Lebenswandel der ministri erstreckte: Hieruf stelle man zum ersten uß die Predicanten / unnd Lectores Theologie / von der Statt / einen nach dem andern. Und Censiere man die mit ernst / glych wie die andern. Fürnemlich das hiemit allerley ambition ouch argwhon der beherrschung abgethon / und sy sich als brueder und mitarbeiter im Evangelio Christi erkennind. Die nachfrag aber in der censura soll erstlich von der Leer / demnach von dem Studio liebe und flyß der gschrifft: item von dem wandel / laeben und sitten /unnd ze letst von wa gen des hußhabens und hußvolcks gehalten werden. (147,14-22) e

Nach den Stadtpfarrern waren die Dekane und die übrigen Pfarrer an der Reihe: Der gstalt soll ouch eines yeden Capittels Decanus ußgestelt werden / damit jm keiner eignen gwalt schoepffe / und den wider sine brueder gebruche: sunder / wie mencklich / dem Synodo underworffen sye. Wenn aber der Decanus widerumb heryn beruefft / unnd sinen bescheid empfangen / soll er die naamen der Pfarreren / so ettlich straefflich gehandlet / gschrifftlich ynlegen. Die soellend dannethin einer nach dem anderen ußgestelt / jro mißhandlung erkonnet / und censiert werden. (147,24-148, 3)

So wurden alle angezeigten Verfehlungen der einzelnen Pfarrer im Plenum verhandelt. Strafmassnahmen der Synode reichten von brüderlicher Ermahnung über (synodal-) öffentlichen Verweis bis zur Versetzung in eine andere Gemeinde. Die höchste mögliche Strafe bei fehlender Aussicht auf Besserung war die Entlassung aus dem Dienst. Alle Strafen sollten dennoch neben der Erhaltung der Reinheit der Lehre und der Disziplin des Klerus der Versöhnung dienen. Konnte der Fehlbare mit einem Schuldbekenntnis sowie einem Leumund seine Reue nachweisen, hatte er Aussicht auf Wiederindienststellung. Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dieser Synodalpraxis ziehen? Ich beschränke mich hier auf drei thematische Schwerpunkte. Zunächst ist die Frage der geistigen wie auch organisatorischen Einordnung der Zürcher Synode zu klären, nämlich ob 16

es bei dem zwinglianisch-bullingerischen Model eine Kontinuität mit den Diözesanssynoden des Spätmittelalters gibt, oder ob spezifisch reformierte Akzente zu erkennen sind. Die in der älteren Literatur sehr verbreitete These, die Synode stamme aus den verschiedenen Disputationen in der ersten Hälfte der 1520er Jahre und sei daher eine Erfindung Zwinglis, die Bullinger bloss geringfügig modifiziert habe (E. Egli), wird heute nur noch selten vertreten und hat sich als unhaltbar erwiesen. Man muss vielmehr den Tatbestand anerkennen, dass die Zürcher Synode keine junge Institution war, sondern dass sowohl Zwingli wie Bullinger an eine bewusste und reformwillige spätmittelalterliche synodale Tradition in der Diözese Konstanz anknüpften und darin eine Wiederherstellung der altkirchlichen Einrichtung der Provinzial- und Diözesansynode sahen. Ähnlich wie die Akten der Synoden und die Hirtenschreiben der Bischöfe von Konstanz lesen sich die Protokolle der Zürcher Synoden im 16. Jahrhundert wie ein Nachlässigkeits- oder Sündenregister bei Klerus und Volk und sie sind zugleich beeindruckendes Zeugnis der Suche nach Erneuerung. Dass mit dieser Sicht der Dinge auch die Rolle der beiden Reformatoren etwas relativiert wird, liegt auf der Hand. Die Zürcher Synode (aber das gilt ebenso für andere Institutionen der Zürcher Reformation, wie die Armenfürsorge oder das Ehegericht) ist nahezu das Paradebeispiel des von den Sozialhistorikern erarbeiteten neuen Paradigmas der Kontinuität, welches das Mittelalter und die Frühe Neuzeit als eine Epoche begreift, die von der Reformation freilich hinterfragt, dennoch nicht auseinander gerissen worden ist. Sowohl Zwingli wie Bullinger haben diese altkirchliche Institution zwar benutzt, umgeformt, auch geprägt, deren Bestand hing aber offenbar nicht ausschliesslich und auch nicht ausschlaggebend an den Personen der beiden Reformatoren. Zweitens war die Synode unbestrittenermassen das hervorragende Instrument der staatlichen Aufsicht über Pfarrerschaft und Kirche.43 Insofern hat man in Zürich ein anderes Model verfolgt als Calvin in Genf, der ein kirchliches Regiment anstrebte, das sich von dem bürgerlichen unterscheidet.44 Die Kernfrage lautet: Genügte das Zürcher Model als Sicherheitsfaktor gegen sittliche und dogmatische Willkür? Oder war für die Ausübung der disciplina ein kirchliches Amt der Aufsicht (episkopé) über die Prädikanten unerlässlich? Die Frage ist nicht rhetorisch gemeint. Denn obwohl der sogenannte Examinatorenkonvent vorhanden war, der Vorläufer des heutigen Kirchenrats, dem die Verantwortung für die Aufsicht über das gesamte Kirchenwesen übertragen wurde, scheint so zu sein, dass die

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Robert Walton, The Institutionalization of the Reformation at Zürich, in: Zwingliana 13 (1972) 497-515. Emidio Campi, Probing similarities and differences between John Calvin and Heinrich Bullinger, in: Selderhuis (wie Anm. 22) 94-117, bes. 97-105. 44

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Ausübung der disciplina nicht durch dieses Gremium, sondern erstaunlicherweise direkt durch die Synode erfolgte. Die Synode arbeitete gemäss Mt 18,15-20 als Körperschaft gleichgestellter Mitglieder, die auf kollegiale und gemeinschaftliche Weise die Aufsichtspflicht ausübte. Der Antistes leitete, die Stadtpfarrer waren seine nächsten Berater, die Dekane der Landschaft spielten eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Stadt- und Landpfarrern – doch nach ihrem Selbstverständnis entschied die Synode in corpore und die Ratsvertreter sanktionierten. So ist bekannt, dass die censura auch die höheren Geistlichen einschliesslich den Antistes umfasste: Bullinger wurde in der Synode Mai 1534 gerügt, er solle schärfer gegenüber der Obrigkeit predigen.45 Eine hierarchische Gliederung des ministerium ecclesiasticum, ein Primat eines Amtsträgers über andere mit Begründung aus dem göttlichen Recht kam nicht in Betracht. Wie kam es zu einer solchen Synodalpraxis? Ausschlaggebend war wohl die hohe Bedeutung, welche das Amt der Diener oder ministri ecclesiae in Bullingers Theologie genoss. Dies zeigt sich in voller Schärfe in der bislang leider wenig beachteten Abhandlung De Scripturae sanctae authoritate […] deque Episcoporum functione, in den Dekaden und vor allem im Kapitel 18 der Confessio Helvetica posterior.46 Das Amt der Diener ist göttlichen Ursprungs und wurde nicht von Menschen ausgedacht. In der Kirche gibt es nur ein einziges Amt, das bei Paulus bezeugte Amt der Versöhnung (officium reconciliationis) oder der Verwaltung der göttlichen Geheimnisse (administratio mysteriorum Dei). Als „Haushalter oder Verwalter der Geheimnisse Gottes“ sind die Diener „Ruderknechte, die einzig auf den Willen des Schiffsherrn sehen“, „Leibeigene, die ihrem Herrn ganz und gar verpflichtet sind“. Damit verbiete sich von selbst eine hierarchische Gliederung des ministerium ecclesiasticum. Alle Diener haben die gleiche Gewalt oder Amtsbefugnis (potestas). Die neutestamentlichen Begriffe des Bischofs und des Presbyters sind nur verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung, das Gott eingesetzt hat, um durch seine Diener die Kirche zu sammeln und zu gründen, sie zu leiten und zu erhalten. Schriftgemäss und daher wünschenswert ist, dass die Amtsausübung kollegial geschieht (communi opera gubernaverunt). Bereits als Verfallszeichen wertet die Confessio Helvetica posterior die 45

Staatsarchiv Zürich E II 1,93 (Synodalbericht vom 27.4.1535): „Heinrych Bullinger: Jst ze myllt mitt sinem predgen, soll ettwas dappfferer, rüher, herter und rässer sin, insonders das die händel desz radts antrifft.“ 46 Heinrich Bullinger, De scripturae sanctae authoritate deque episcoporum institutione et functione (1538), bearb. von Emidio Campi unter Mitwirkung von Philipp Wälchli, Zürich : Theologischer Verlag, 2009 (deut. Übers.: Bullinger, Schriften, Bd. 2, bes. Kap. 6-8, 9-10); Ders., Sermonum decades quinque V,10, S. 1058,21060,29 (deut. Übers., Ders., Schriften, Bd.5, 553-557); Confessio Helvetica posterior, Kapitel 18, in Andreas Mühling et al. (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften, Bd.. 2/2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2009, 316323, bes. 320-321.

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Errichtung des Monepiskopats und beruft sich dabei auf 2 Petr 2,1ff, Apg 20,29f, 2 Kor 11,3ff, 2 Thess 2,3ff sowie auf Cyprian und Hieronymus. Dennoch: trotz der schroffen Ablehnung des Bischofsamts in seiner hierarchischen Ausprägung bleibt die Tür für eine episkopale Lösung offen. In Fragen, die über die einzelne Gemeinde hinausgehen, gibt es den Ordo servandus, in dem einer der Diener die anderen zusammenruft und der Versammlung die strittigen Sachen vorlegt, die Meinungen sammelt und nach Kräften die Einheit der Lehre verteidigt. Rein theoretisch spräche gar nichts dagegen, dem geistlich Leitenden den Titel Bischof zu verleihen, solange damit keine „Weihehierarchie“ gemeint wird, die ihn dem Wesen nach von anderen Amtsträgern unterscheidet, sondern damit seine Berufung, Beauftragung und Segnung für den öffentliche Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung bezeichnet werden.47 Im Gegensatz zu Bullinger findet man bei Calvin eine entschiedenere Ablehnung eines jeden Bischofsamtes. Beide unterstrichen jedoch, dass der aus Ordnungsgründen notwendige Leiter der Amtsträger - sei es der Antistes oder der Moderator - stets nur primus inter pares und als solcher für eine bestimmte Zeit gewählt ist. Für beide gehörte Aufsicht, episkopé, in verschiedenen Formen zur guten Ordnung in der Kirche, und insofern nicht zu ihrem „esse“, sondern zu ihrem „bene esse“. Es gilt daher nur bedingt, dass die Reformierten kein Bischofsamt kennen, und dass für sie das Bischofsamt nicht zur Wesensstruktur der Kirche gehört. In der reformierten Auffassung von der Kirchenleitung ist dieses Amt, das in der römisch-katholischen und in der lutherischen Kirche von Bedeutung ist, berücksichtigt. Die Besonderheit der reformierten Sicht ist es, dass diese Aufsichtsfunktion nicht von einem Amtsträger allein wahrzunehmen ist, als sichtbares Zeichen dafür, dass allein „der Herr“ die Kirche leitet. Fast möchte man sagen: die kollegiale Institution der Synode, in der diese Funktion auf mehrere Personen verteilt und nicht in einer einzelnen Hand konzentriert wird, ist die eigentliche Bischöfin. Mit dem Synodalprinzip wird mit der theologischen Erkenntnis Ernst gemacht, dass allein Christus das Haupt seiner Kirche ist. Die synodale Struktur kann ihm nur dienen.48 Drittens, die bereits erwähnte eigenartige Zusammensetzung der Synode mit der hochrangigen Gesandtschaft des Stadtrates verweist darauf, dass die Synode der Ort war, an 47

CHp 18, 321,11-35. Vgl. auch die Ausführungen zum Bischofsamt in Kap. 6-8 der Schrift „De scripturae sanctae authoritate deque episcoporum institutione et functione“. Die prinzipiellste Voraussetzung für die Bejahung ist auch hier freilich, dass das Gewicht nicht auf dem ontologischen Status liegt, sondern auf der Funktion, da das Amt ausdrücklich auf die Lehre, das Gebet und den Dienst am Wort und Sakrament bezogen ist. 48 Busch (wie Anm. 40) 188.

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dem die Geistlichkeit und die Magistraten ihre gemeinsame Verantwortung für die Leitung der Kirche wahrnahmen. Bekanntlich war die Zürcher Reformation im Gegensatz zur Genfer Reformation mit dem Ausbau einer eigenen Jurisdiktion und Disziplin sehr zurückhaltend und überliess die Kirchenzucht ganz oder zumindest zu grossen Teilen der Obrigkeit. Dieser Sachverhalt spiegelt natürlich die Vorstellung einer einheitlichen kultisch und politisch organisierten Gemeinschaft wieder, für deren Aufbau weltliche und geistliche Amtsträger zwar verschiedene Aufgaben zu erfüllen, jedoch zusammen zu wirken haben.49 Anders als in Genf scheint in Zürich die Gefahr einer politischen Bevormundung der Kirche nicht erkannt worden zu sein, wobei zu präzisieren ist, dass diese besonders enge Verbindung der Kirche mit der Obrigkeit nicht an der prinzipiellen Unterscheidung der geistlichen und weltlichen Kompetenzen gehindert hat. Die sogenannten Synodalberichte und die sermones synodales50 zeigen eindrücklich, dass der Antistes genauso unbedingt an der Ausübung der cura religionis von Seiten des Magistraten festhalten wollte, wie er darauf bedacht war, die Gefahr der Fremdbestimmung der Synode durch die politischen Instanzen abzuwenden, um die Autonomie der Kirche gegenüber den „gnädigen Herren“ zu bewahren. Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein hielt sich zudem in der zürcherischen Kirche der eigenartige Brauch, dass die Pfarrer beim Rat vorsprachen, wenn sich Missstände zeigten oder sie sich mit politischen Entscheidungen nicht einverstanden erklären konnten. Die im Staatsarchiv Zürich liegenden „Fürträge“ oder Propositiones („Denkschriften“) legen davon noch lebendiges Zeugnis ab. Insbesondere zeigen die „Fürträge“, die Bullinger während vierundvierzig Jahren vor dem Rat hielt, wie schwierig seine Stellung als Antistes war, da er zum einen das Zusammenwirken zwischen Predigtamt und Obrigkeitsamt anstrebte, zum anderen die Magistrate zu tadeln hatte, wenn ihre Beschlüsse und ihr Verhalten nicht im Einklang mit dem Wort Gottes waren.51 Das Verdienst, das sich der Reformator dadurch erwarb kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn auf diese Weise ergaben sich für die

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Emidio Campi, Bullingers Rechts- und Staatsdenken, in: Evangelische Theologie 64 (2004) 116-126. Es handelt sich um eine noch längst nicht erschlossene Quellengattung (Staatsarchiv Zürich E II 1 und Zürich Zentralbibliothek MS D 220) von grossem Wert, deren Edition leider nicht so recht voranzukommen scheint. Vgl . die unpublizierte Dissertation von Jon Delmas Wood, Heinrich Bullinger’s Sermones synodales. New Light on the Transformation of Reformation Zurich, Diss. Princeton Theological Seminary, Princeton 2008. 51 Die meisten dieser Fürträge liegen heute in einer modernen deutschen Übersetzung in Bullinger, Schriften, Bd. 6 vor; vgl. dazu Hans Ulrich Bächtold, Heinrich Bullinger vor dem Rat: zur Gestaltung und Verwaltung des Zürcher Staatswesens in den Jahren 1531 bis 1575, Bern: Peter Lang, 1982; Andreas Mühling, Heinrich Bullinger als Kirchenpolitiker, in Emidio Campi (Hg.), Heinrich Bullinger und seine Zeit. Eine Vorlesungsreihe, Zürich: Theologischer Verlag 2004 ( = Zwingliana XXXI, 2004), 237-249. 50

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reformierte Kirche zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Lebens, vornehmlich im Bereich der Erziehung und der Sozialfürsorge. 3) Schlussbemerkung Damit kann ich meinen hastigen Gang durch die schweizerische Reformationsgeschichte abbrechen. Meine Antwort auf die gestellte Frage, Die Schweiz - ein Nebenkrater der Reformation?, hat versucht, mit der Vorsicht, die bei allen Schematisierungen angebracht ist und unter Vorbehalt zahlreicher Ergänzungen, ihre Komplexität zu erhellen sowie versteckte Gefahren aufzuspüren. Auch wenn ich mich gemäss der doppelten Anforderung von Tagungs- und Vortragsthema auf die schweizerische Reformation konzentrieren musste, war das Gesagte im Grunde ein Plädoyer dafür, keine monolithisch konfessionelle Erzählung der Reformation, sondern vielmehr eine geteilte Darstellung im Sinne eines gemeinsamen Bezugsrahmens als wünschbar zu erachten. Denn kein Reformationsmodell wird allein durch seine Lehre und sein Leben erfasst, und keines lebt nur in seinen Prinzipien oder in seinen Idealen. Jedes Modell hat in sich ein Stück von anderen Reformationstypen. Es darf durchaus Stolz auf Erreichtes geben – wie es selbstverständlich auch kritisches Registrieren von nicht Erreichtem geben muss. Der Umgang mit der gemeinsamen Geschichte sollte sich jedoch nicht in der Pflege konfessioneller Geschichtsbilder erschöpfen. Die Reformationsgeschichtschreibung sollte eine aufgeschlossene Vorstellung von sich selbst haben, die über die Summe der einzelnen Reformationstypen und über das Nebeneinander nationaler Teilaspekte hinausgeht. Es besteht kein Risiko, dass man dabei das Proprium, das Charisma der einzelnen Reformationstypen verliert. Ein transkonfessionelles und transnationales Narrativ der Reformationsgeschichte kann um fragmentierte Geschichtsbilder eine gemeinsame Referenzstruktur legen. Dabei sind nicht Harmonisierung und Homogenisierung anzustreben, sondern die kohärente Verknüpfung partieller Prozesse und Teilgeschichten. Ich schliesse mit einem Gedanken, der mindestens so wichtig ist wie diese letzten Ausführungen. Vulkane - egal ob sie Haupt- oder Nebenkrater haben - sind nur dann und nur insofern aktiv, solange sie mit der tief unter der Erdoberfläche liegenden Magmakammer verbunden sind, von der aus die glutflüssige Lava aufsteigt. Darin liegt m.E. die theologisch gewagteste Pointe, gewissermassen die Quintessenz der Vulkanmetapher als Sinnbild für die Reformation. Sie schärft unsere Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens, modischen Trends und jeder Form von konfessioneller Engstirnigkeit, und vielleicht werden wir dabei zur Erkenntnis geführt, dass es Reformation nie anders gibt als so, dass das 21

Magma der Gnade Menschen immer neu ergreift und in seine unaufhaltsame Bewegung mit hineinreisst.

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