CHARLES LARMORE (CHICAGO)

Die normative Struktur des Selbst

I. An einer berühmten Stelle in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie versichert uns Hegel, daß wir dann, wenn wir endlich bei Descartes ankommen und seiner Einsicht begegnen, „das Selbstbewußtsein [sei] wesentliches Moment des Wahren“, uns sagen werden, „hier […] sind wir zu Hause“, und „wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ‚Land‘ rufen“ können.1 Heute würde dies vermutlich nicht mehr unsere Reaktion sein. Daß das Selbstbewußtsein oder die Subjektivität eine wesentliche Dimension aller unseren Erfahrung ausmacht, ist nicht mehr die Selbstverständlichkeit, die sie einmal war. Im Gegenteil, im Gefolge einiger der bedeutendsten Denkströmungen des letzten Jahrhunderts ist es äußerst fragwürdig geworden, was es eigentlich heißen könnte, ein Subjekt zu sein. Vor zweihundert Jahren zählte „Subjektivität“, mit allen ihren Varianten, zu den Hauptbegriffen der modernen Philosophie. Heute scheint dieser Begriff einer vergangenen Epoche anzugehören, und davon losgeschnitten finden wir uns wieder auf offenem Meer. Diese weitverbreitete Ablehnung der Subjektivitätsproblematik teile ich selber nicht – obwohl es mir unbestreitbar scheint, daß die großen Subjektphilosophien der Vergangenheit oft den falschen Weg eingeschlagen haben, besonders in ihrer Tendenz, das Subjekt zu einem Wesen zu erklären, das sich selbst durchsichtig und der Welt gegenüber prinzipiell souverän und selbstbestimmend wäre. Ich trenne mich also von all denen, die heute der Ansicht sind, daß das Subjekt, einmal der unhaltbaren Eigenschaften der Selbsttransparenz und der Selbstbestimmung entkleidet, keine theoretische Zukunft habe und in der Tat nicht mehr als das Resultat begrifflicher Verwirrungen sei. Ein derartiges Urteil äußert z. B. Vincent Descombes in seinem neuen Buch Le complément de sujet. Nach einer oft scharfsinnigen Analyse der Sackgassen der großen Subjektphilosophien von Descartes bis zu Sartre kommt er zum Schluß, daß wir die herkömmliche Rede vom Subjekt durch den eher banalen Begriff eines Handelnden ersetzen sollten, der für seine Handlungen kausal verantwortlich ist.2 Darin kann ich ihm nicht folgen. Und meine Weigerung rührt davon her, wie ich spä1 2

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Frankfurt: Suhrkamp, 1971), Bd. III, 120. Descombes, Le complément de sujet (Paris: Gallimard, 2004), 8 – 15.

498

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 498

terhin erklären werde, daß gerade die Fähigkeit, aus Gründen zu handeln, die Art von Selbstbezüglichkeit impliziert, die am eigentlichen Kern des Subjektbegriffs liegt. Mit Descombes teile ich hingegen das Bemühen, nicht zuviel bei der Behandlung eines Problemkreises vorauszusetzen, der tief von den theoretischen Konstruktionen der Vergangenheit geprägt und sogar belastet ist. In meinem eigenen Buch Les pratiques du moi,3 habe ich daher versucht, die Thematik der Subjektivität in Anlehnung an den weit nüchterneren Begriff des „moi“ oder des Selbst neu anzugehen. Denn auch wenn wir nicht sicher sind, ob wir wirklich „Subjekte“ sind, zögert wahrscheinlich keiner von uns, sich als ein Selbst zu verstehen. Diese Orientierung an dem Begriff des Selbst hat außerdem den Vorteil, daß sie die bleibende Einsicht in den Vordergrund rückt, die den großen spekulativen Theorien des Subjekts trotz allem zugrunde liegt: Alle unsere Gedanken und Handlungen sind durch eine Selbstbeziehung geprägt, die wir notwendigerweise zu uns selber haben und die jeden von uns zu einem Selbst macht. Dieselbe Strategie verfolge ich in diesem Vortrag. Und weil es dabei meine Absicht ist, so weit wie möglich ohne philosophische Voreingenommenheiten die alte Frage nach der Natur der Subjektivität wiederaufzunehmen, habe ich mich entschlossen – jetzt, da ich meine Ansichten auf deutsch darlege – gerade vom „Selbst“ anstatt vom „Ich“ zu sprechen. Denn dieser letzte Ausdruck trägt fast unauslöschlich die Spuren seiner Abnutzung durch die massiven Systeme des deutschen Idealismus. „The self“ auf englisch, wie „le moi“ auf französisch, gehören seit langem zur Alltagssprache, und auf eine solche Basis zu bauen ist im folgenden meine Absicht.

II. Was heißt es eigentlich, ein Selbst zu sein? Menschen sind wir dadurch, das wir einer besonderen biologischen Spezies angehören. Bürger sind wir dadurch, daß wir den Schutz eines Systems von Grundrechten genießen. Aber jeder von uns ist dadurch ein Selbst, daß wir eine Beziehung zu uns selber unterhalten, und zwar auf eine derart konstante Weise, daß es uns nicht freisteht, sie zu vollziehen oder nicht. Sogar unsere geringsten Gedanken zeugen von diesem konstitutiven Selbstbezug, denn sie ließen sich nicht für die unseren halten, wäre es nicht der Fall, daß wir uns in ihnen ausdrückten. Auch in den Augenblicken, in denen wir der Unaufmerksamkeit oder einer hinreißenden Leidenschaft unterliegen, nicht weniger als dann, wenn wir reflektieren und explizit „ich“ sagen, kommt das 3

Larmore, Les pratiques du moi (Paris: Presses Universitaires de France, 2004).

499

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 499

Selbst, das wir sind, zum Ausdruck. Gerade in diesem fundamentalen Selbstbezug besteht, so meine ich, die Subjektivität, die alle unsere Erfahrung durchzieht. Daß jeder von uns ein Selbst ist, und daß das Selbstsein darin besteht, eine wesentliche Beziehung zu sich selber zu haben, wer könnte das wirklich verneinen? Zwar hat Hume in seinem Treatise of Human Nature die Idee des Selbst schroff abgewiesen: When I enter most intimately into what I call myself, I always stumble on some particular perception or other […] I can never catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but a perception […] [We] are nothing but a collection of different perceptions.4

Dennoch wußte Hume ohne den geringsten Zweifel, daß es seine Wahrnehmungen war, die er vor den Augen hatte, was bedeutet, daß er sich immer noch von der Idee eines Selbst, seines Selbst, leiten ließ. Zudem suchte er das Selbst am falschen Ort, als ob es ein unter dem Wechsel unserer Wahrnehmungen beharrendes Substrat wäre, während der Selbstbezug, der jeden von uns zu einem Selbst macht, gerade in diesen sogenannten „Wahrnehmungen“, d. h. im Gehalt unseres geistigen Lebens selber zu finden ist, wie ich bald verdeutlichen werde. Nein, daß jeder von uns ein Selbst ist, sollte sich von selbst verstehen. Das Problematische tritt hervor, wenn es darauf ankommt, die Natur dieser notwendigen Selbstbeziehung zu definieren, die allen unseren Gedanken und Handlungen innewohnt. Im folgenden lege ich die Lösung kurz dar, welche ich in Les pratiques du moi ausführlicher entwickelt habe.5 Zuerst lohnt es sich, daran zu erinnern, warum diese Frage so hartnäckig gewesen ist. Denn die Schwierigkeit liegt darin, daß keine der beiden gewöhnlichen Antworten wirklich haltbar ist. Bei der einen Antwort, die vermutlich sofort in den Sinn kommt, kann man nicht umhin, sich in Widersprüche zu verwickeln, während die zweite, zu der man dann regelmäßig Zuflucht nimmt, nur dann als erfolgreich gelten kann, wenn man bereit ist, unsere Grundbeziehung zu uns selber als etwas völlig Geheimnisvolles anzusehen. Ich will erklären, was ich meine. Anfangs mag man sich leicht vorstellen, daß die Beziehung zu uns selber, die jeden von uns zu einem Selbst (oder zu einem „Ich“) macht, darin besteht, daß unser Denken uns reflexiv bewußt und dadurch Gegenstand eines unmittelbaren Wissens ist. Wir können uns nicht mit der Welt befassen, so lautet die

4 5

Hume, A Treatise of Human Nature, hrsg. Selby-Bigge (Oxford: Clarendon Press, 1975), 252. Larmore, Les pratiques du moi, Kapiteln 3 – 4.

500

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 500

Annahme, ohne unseren Blick zugleich und auf ähnliche Weise auf uns selber zu richten. Ein klassischer Vertreter dieser Auffassung war John Locke: Thinking consists in being conscious that one thinks […] It [is] impossible for anyone to perceive without perceiving that he does perceive […] By this every one is to himself that which he calls self.6

Die Idee, daß die konstitutive Beziehung des Selbst zu sich selbst eine Beziehung der Reflexion sei, führt aber zu Paradoxien, die aufzudecken und zu analysieren das große Verdienst Fichtes war. Damit es sich auf sich selber zurückbiege, um sich zu erkennen, müßte das Selbst schon existieren – nicht nur, um in der Lage zu sein, diese reflexive Bewegung zu vollziehen, sondern auch, weil es als Gegenstand einer solchen Kenntnisnahme so anvisiert sein müßte, wie es schon, d. h. unabhängig von diesem Akt der Reflexion selber, besteht. Jeder Akt der Reflexion setzt eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt (Erkennendem und Erkanntem) und damit die Existenz des Selbst schon voraus. Fichtes Einsicht ist eine der großen philosophischen Entdeckungen, deren Wichtigkeit auch zu seiner Zeit nicht genügend geschätzt wurde. Hegel z. B. scheint sie seltsamerweise nie richtig verstanden zu haben. Denn er hörte nicht auf, die Sprache der Reflexion zu benutzen, als es darum ging, die Selbstbeziehung des Ichs zu bestimmen. Das „Beisichselbstsein des Ich“ beschrieb er so: „Das Ich setzt sich selbst sich gegenüber, macht sich zu seinem Gegenstande und kehrt aus diesem […] Unterschiede zur Einheit mit sich selbst zurück“.7 Die augenfällige, von Fichte schon enthüllte Zirkularität einer solchen Definition ist ihm entgangen. Fichte selber ist es aber nicht gelungen, die Natur des Selbst oder des „Ichs“ ins Reine zu bringen. An die Annahme sich haltend, daß sich das Selbst durch ein Wissen seiner selbst konstituiert, ist er zum Schluß gekommen, daß es unserem Wesen gehört, eine Erkenntnisbeziehung zu uns selber zu haben, die weit intimer als die Reflexion sein muß, die keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt herbeiführt, und die er unter dem Namen der „intellektuellen Anschauung“ dargelegt hat.8 Aber damit wird die Paradoxie durch ein Rätsel ersetzt – sicher ein fragwürdiger Tausch. Denn haben wir die geringste Ahnung, was ein derartig geheimnisvolles Erfassen seiner selbst sein könnte? Es hilft nicht viel, an die Idee eines „inneren Sinnes“ zu appellieren, der alle unsere Gedanken und Handlungen begleiten solle. Denn diese Idee ist eine bloße Metapher (buchstäblich haben wir 6 7 8

Locke, Essay concerning Human Understanding, II.i.19 et II.xxvii.9. Hegel, Enzyklopädie § 381 (Zusatz). Zu Fichtes Kritik am Reflexionsmodell und seine eigene Lösung zur Frage nach der Beziehung des Ichs zu sich selber siehe besonders seinen Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797).

501

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 501

kein drittes Auge), und ihr Gehalt bleibt völlig dunkel. In der normalen Wahrnehmung kommt es manchmal vor, daß wir den Gegenstand, der vor uns liegt, falsch identifizieren; aber solche Fehler scheinen im Fall der Grundbeziehung, die wir zu uns selber haben, ausgeschlossen zu sein, denn niemand verwechselt sich mit jemand anderem, wenn es um seine eigenen Gedanken geht. Trotz dieser nicht zu behebenden Obskurität bleibt derselbe Ansatz aber immer noch verlockend, besonders in der Form der weit verbreiteten Annahme, daß der „privilegierte Zugang“, den wir anscheinend zu den eigenen Gedanken haben, – ein Phänomen, auf das ich zurückkommen werde – uns eine Art von Selbsterkenntnis verschafft, die nicht wie unsere übrige Erkenntnis den gewöhnlichen und im Grunde öffentlichen Methoden der Beobachtung und der Argumentation entspringt. Die Situation scheint verzweifelt zu sein. Nichts ist uns näher, hätte man sich vorgestellt, als dieses Selbst, das wir sind – und trotzdem löst sich jene Vertrautheit auf, sobald wir versuchen, sie an den Begriff zu bringen. Man fühlt sich zum selben Schluß wie Schopenhauer getrieben, als er einmal schrieb, „dieses Ich [ist] sich nicht durch und durch intim, gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt daher sich selber ein Rätsel“.9 Diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn man sich von der Voraussetzung lossagt, die den beiden erwähnten Antworten zugrunde liegt und die immer in der philosophischen Tradition vorherrschend gewesen ist: daß nämlich der für das Selbst konstitutive Selbstbezug eine Erkenntnisbeziehung ist. In Wirklichkeit ist dieses Selbstverhältnis praktischer oder normativer Natur. Das Verhältnis zu uns selber, das jeden von uns zu einem Selbst macht und das daher niemand anders an unserer Stelle einnehmen kann, besteht in der Beziehung des Sich-Verpflichtens: In allem unseren Denken und Tun legen wir uns darauf fest, die Gründe zu beachten, die dadurch auftreten, so oder so weiter zu denken und zu handeln. Jede Meinung und jeder Wunsch, ehe sie durch die Reflexion zum Gegenstand unserer Erkenntnis werden, enthalten schon eine solche Beziehung zu uns selber. Denn wir können nicht etwas glauben oder wünschen, ohne darauf festgelegt zu sein, der angenommenen Wahrheit unserer Meinung oder dem angenommenen Wert des Gegenstandes gemäß zu verfahren. Wie man bald einsehen wird, hat diese Auffassung übrigens den Vorteil, daß die Art und Weise, auf die wir danach Subjekte sind, die Möglichkeit ausschließt, jene souveräne oder autonome Wesen zu sein, von denen die großen „Philosophien des Subjekts“ so oft gesprochen haben.

9

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Ergänzungen II.18 (Sämtliche Werke, hrsg. Löhneysen, Frankfurt: Suhrkamp, 1986, Bd. II, 254).

502

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 502

III. Um die Vorzüge dieser Theorie zu begreifen, fangen wir mit einer elementaren Frage an: Was heißt es genau, etwas zu glauben? Eine Meinung zu haben ist keine Empfindung, die wir erleben, noch läßt es sich durch die besondere Lebendigkeit definieren, mit der wir uns gewisse Dinge vorstellen. Es besteht auch nicht in der Zustimmung zu einem Satz, denn offenbar sind wir nicht immer dabei, unsere Zustimmung zu geben, wenn wir aufgrund unserer Meinungen handeln. Eine Meinung ist weder ein mentales Ereignis noch eine Reihe solcher Ereignisse. Sie ist eine Disposition, und zwar eine Disposition einer eigentümlichen Art. Es handelt sich nicht um die bloße Tendenz, den in Frage stehenden Satz zu billigen oder auf bestimmte Weise unter bestimmten Umständen zu reagieren. Die Löslichkeit des Salzes ist nichts anderes als dessen Fähigkeit, sich im Wasser aufzulösen, eine Fähigkeit, der es genügt, daß bestimmte Umstände vorkommen, um sich zu verwirklichen. Aber eine Disposition des Geistes, wie etwa die, eine Meinung zu haben, besitzt eine eigenartige Dimension. Ihre Verwirklichung, d. h. die Verhaltensweisen, die als der Ausdruck der Meinung gelten, müssen derart sein, daß die Meinung dem Individuum einen Grund gegeben hätte, sich so zu verhalten. Man kann z. B. die Bewegung meiner Hand nur durch die Überzeugung erklären, daß der Lichtschalter in Reichweite liegt, wenn vorausgesetzt ist, daß eine solche Meinung die Handlung in meinen Augen vernünftig macht. (Wenn ich mich dagegen für nicht fähig hielte, Dinge im Dunkeln ausfindig zu machen, wäre die Erklärung nicht mehr triftig). Das Eigentümliche an einer Meinung ist, daß sie eine Beziehung zu ihren Erscheinungsformen hat, die wesentlich normativ ist. Dasselbe gilt für den Fall der Wünsche. Erstens kommen unsere Wünsche in Handlungen nur durch die Vermittlung unserer Überzeugungen zum Ausdruck. Um jemandem in Anbetracht dessen, daß er den Wasserhahn aufdreht, den Wunsch zuzuschreiben, sich die Hände zu waschen, muß man annehmen, daß er jene Handlung vernünftig findet, da ein solcher Wunsch ihn nicht dazu bewegen würde, wenn er z. B. das Wasser nicht genügend rein glaubte. Aber zweitens läßt sich der Gehalt selber eines Wunsches von gewissen Meinungen nicht trennen. Wenn der Wunsch, sich die Hände zu waschen, eine Gewohnheit ist, beruht er auf der Annahme, daß der Gebrauch hygenisch nützlich oder einfach höflich ist; und wenn er nur ein vorübergehendes Verlangen ist, setzt er dennoch voraus, daß die Hände (wenigstens dann) mehr Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht als die anderen Teile des Körpers verdienen. Nicht als ob sich ein Wunsch der Meinung gleichsetzen ließe, daß dessen Gegenstand wünschenswert sei. Sicher nicht! Denn das Wesen eines Wunsches besteht darin, daß man sich dazu getrieben fühlt, an die scheinbaren Reize des Gegenstands zu denken. Nichtsdesto503

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 503

trotz besitzt jeder Wunsch eine normative Seite, indem er seinen Gegenstand als etwas darstellt, zu dessen Verfolgung es Gründe gibt – also als etwas, was insoweit „gut“ ist. Natürlich muß man sich nicht mit jedem seiner Wünsche identifizieren. Man kann der Ansicht sein, daß es besser ist, der Versuchung zu widerstehen. Immerhin wird vorausgesetzt, wenn wir jemandem einen Wunsch zuschreiben, daß ihm dessen Verfolgung wenigstens in gewissen Hinsichten oder in einem gewissen Maße vernünftig erscheint. Alles, was zum Geist gehört, hat daher die Natur einer Festlegung (eines „commitment“). Wenn wir etwas glauben oder wünschen, verpflichten wir uns, wenn nichts dazwischenkommt, weiter so zu denken oder zu handeln, daß wir dabei der vermeintlichen Wahrheit des Geglaubten oder der angeblichen Wichtigkeit des Gewünschten entsprechen. Darin kommt die wahre Natur des Selbst zum Vorschein. Ich habe früher bemerkt, daß Hume bei seiner Suche nach dem Selbst mit leeren Händen zurückkam, weil er am falschen Ort gesucht hat, nämlich hinter den sogenannten „Wahrnehmungen“, die vor dem Geist vorbeiziehen. Das Selbst, habe ich gesagt, ist in diesen Wahrnehmungen selber zu finden, und jetzt läßt sich einsehen, warum das so ist. Denn die Selbstbeziehung, die das Wesen des Selbst ausmacht, ist nichts anderes als die Art und Weise, auf die wir uns verpflichten, uns dem Gehalt jedes unserer Gedanken gemäß weiterhin zu verhalten. Jetzt sollte es auch klar sein, wie man nicht nur die berühmten Paradoxen des Reflexionsmodells umgehen, sondern auch den von Fichte und so vielen anderen nach ihm gewählten Ausweg vermeiden kann, der die Beziehung zu uns selber, die jeden von uns zu einem „Ich“ machen soll, als eine unmittelbare, alle Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt aufhebende, und daher unausweichlich rätselhafte Art von Selbstwissen begreifen will. Der Selbstbezug, der unser Wesen ausmacht, ist eher praktischer oder genauer normativer Natur, denn er liegt darin, daß jeder Schritt, den wir machen, die Festlegung enthält, uns so zu verhalten, wie es von unserer jeweiligen Haltung erfordert wird.

IV. Soweit eine erste Skizze der Auffassung des Selbst, die ich vorschlage. Das Selbstverhältnis, das uns erst zu einem Selbst macht, und zwar vor jedem möglichen Akt der Reflexion, besteht darin, daß wir uns in allen unseren Meinungen und Wünschen nach Gründen richten – Gründen, deren Gültigkeit als etwas schon gegebenes angesehen wird. Daher tritt eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Theorie auf: nur innerhalb eines „logischen Raumes der Gründe“ (um den berühmten Ausdruck von Wilfrid Sellars zu benutzen), der ihre Bedingung der Möglichkeit ausmacht, entsteht so etwas wie die Subjektivität. Diese norma504

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 504

tive Theorie des Selbst läßt sich also kaum mit dem für die modernen Philosophien des Subjekts so charakteristischen Ideal der Autonomie vereinbaren, nach dem es das Subjekt selber ist, das sich durch seine eigene Vernunft zum Urheber und also zur Gültigkeitsquelle der Prinzipien seines Denkens und Handelns erhebt. Sie ist auch (auf einer tieferliegenden Ebene) kaum vereinbar mit dem Spiegelmodell des Geistes, dessen Kernbegriff „die Vorstellung“ heißt, und das seit dem 17. Jahrhundert so einflußreich gewesen ist. Nach diesem Modell besteht die Grundtätigkeit des Geistes darin, Vorstellungen („ideas“ oder „représentations“) zu formen und eventuell zu billigen, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Da Wünsche nicht fähig sind, wahr oder falsch zu sein, hätten sie, vom Standpunkt des Subjekts aus gesehen, einen wesentlich passiven Charakter. Sie wären bloße Leidenschaften („passions“), die vom Geist erlebt werden, anstatt einen Modus seiner eigentümlichen Tätigkeit zu bilden. Meinungen sind ihrerseits mit der ständigen oder momentanen Zustimmung gleichgesetzt, die der Geist seinen Vorstellungen gibt. Sicher ist es zugegeben, daß der Gehalt einer Meinung Konsequenzen für unser weiteres Denken und Handeln hat. Man verneint aber, daß eine Meinung von selbst uns dazu bewegen kann, uns so zu verhalten, wie es uns damit indiziert wird. Eine Meinung wäre ein bloßes Für-wahr-Halten. Etwas zu glauben hieße nur, das Bestehen des damit beschriebenen Sachverhalts zu akzeptieren. Irgendein zusätzlicher Vorgang des Geistes – mag er vom Willen oder der Gewöhnung herrühren – müßte ins Spiel kommen, damit wir veranlaßt werden, die Implikationen unserer Überzeugungen durchzuführen. Andere vor mir, von Heidegger und Dewey bis zu Rorty, haben die Verlockungen dieses Spiegelmodells des Geistes attackiert. Mein eigener Vorschlag lautet, daß es keinen Sinn ergibt, den Vorstellungsbegriff selber zu verwerfen; es kommt eher darauf an, ihm die grundlegende Rolle abzusprechen, die zu spielen er vorher aufgefordert worden ist. Anstatt das Räsonnement als eine Tätigkeit anzusehen, die nur nachträglich auf unsere schon existierenden Meinungen angewendet wird, sollte man in jeder Meinung als solcher die Festlegung und also die sicher unvollkommene aber trotzdem vorhandene Tendenz erblicken, ihrem Gehalt entsprechend zu denken und zu handeln. Kurz, das Wesentliche ist, das Prioritätsverhältnis zwischen Vorstellung und Räsonnement umzukehren.10 Denn eine Meinung zu haben besteht nicht einfach darin, sich die Dinge so vorzustellen, wie sie angeblich sind, als ob man einen Spiegel vor die Welt hielte. Der deskriptive Charakter einer Meinung steht im Dienst ihrer präskriptiven Funktion, die darin besteht, uns in der Welt zu orientieren. Eine Meinung funk10

Man wird hier leicht erkennen, wieviel ich dem Buch von Robert Brandom, Making It Explicit (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1996), verdanke.

505

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 505

tioniert wie eine feststehende Weisung, die uns die (rationelle) Verpflichtung auferlegt, ihrer vermeintlichen Wahrheit gemäß zu denken und zu handeln. Denn wenn sie einem rein repräsentationellen Zustand gleichkäme, wäre sie nicht imstande, uns dazu zu veranlassen, die Denk- und Handlungsgründe zu beachten, die sie uns anzeigt. Ihre Wirkung auf unser Verhalten hinge von irgendeinem zusätzlichen Faktor ab. Es wäre also möglich, eine Meinung zu akzeptieren, ohne die Absicht zu haben, uns je nach ihren Implikationen zu richten. Von jemandem aber, der so vorginge, würde man zu recht sagen, daß er nicht eigentlich glaubt, was er zu glauben sagt. Wenn wir nicht unseren Meinungen entsprechend handeln, was selbstverständlich vorkommen kann, geht es um ein Versäumnis dem gegenüber, was die Natur selber einer Meinung ausmacht. Die vom Spiegelmodell des Geistes unterstellte Auffassung eines Wunsches sollte ebenfalls revidiert werden. Ein Wunsch ist kein bloßer Drang, den wir zunächst nur erleiden, und der erst in den Bereich der Vernunft eintritt, wenn wir ihn beherrschen und damit bestimmen, ob und wie er zu befriedigen wäre. Wenn der Geist nicht in erster Linie als das Vermögen begriffen wird, wahrheitsfähige Vorstellungen zu bilden, sondern als das Vermögen, zu räsonnieren und sich nach Gründen zu richten, dann kommt seine charakteristische Tätigkeit nicht weniger darin zum Ausdruck, wenn wir etwas wünschen. Denn unsere Wünsche gestalten sich nach der Art von Vernunft, die ihnen eigen ist, indem sie uns dazu disponieren, dem Attraktiven gemäß zu handeln, das sie in ihren Gegenständen finden. Wie ich es schon nahegelegt habe, macht das Spiegelmodell des Geistes eine der Voraussetzungen jenes Ideals der Autonomie aus, das seine kanonische Darlegung in der Philosophie Kants gefunden hat und das zum Leitmotiv der modernen Theorien des Subjekts geworden ist.11 Nach dieser Ethik (im breiten Sinne des Wortes) kommt es dem Subjekt selber zu, die Gültigkeit der Prinzipien herzustellen, die sein Denken und Handeln bestimmen sollten. Auch wenn wir uns auf die Überlieferung verlassen oder uns andere zum Vorbild nehmen, sind wir es letztendlich selber, die diesen Instanzen das Recht gewähren, unser Verhalten zu orientieren. Und wenn wir uns im Gegenteil auf die Vernunft berufen – wie es nötig ist, wenn die Autonomie auf völlig kohärente Weise ausgeübt

11

Ich weise darauf hin, daß sich die folgende Kritik nur mit Autonomie im Sinne der „Selbstgesetzgebung“ beschäftigt, die Kant eingeführt hat, um die Gültigkeitsquelle der Prinzipien zu erklären, nach denen sich ein rationales Wesen verhalten würde. Es geht nicht darum, andere Begriffe der „Autonomie“ abzulehnen, wie z. B. die Idee, daß jeder für sich selber denken sollte, ohne sich von der Überlieferung oder von den Pressionen anderer leiten zu lassen. Im ersten, philosophisch besonders anspruchsvollen Sinne hat Autonomie mit der Beziehung eines rationalen Wesens zur Gültigkeit seiner Prinzipien, im zweiten mit dessen Beziehung zu anderen zu tun.

506

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 506

werden soll –, dann werden uns nur jene Prinzipien akzeptabel erscheinen, die sich für solche Wesen eignen, die, soweit sie vernünftig sind, ihre Richtlinien nur von ihnen selbst bekommen dürfen (als ob sie Gesetze für ein Reich der Zwecke gäben, wie Kant bezüglich der Moral sagte). Offensichtlich hätte das Ideal der Autonomie keinen Halt, wenn das Subjekt nie imstande wäre, zuerst die Phänomene der Welt im Lichte seiner Meinungen Revue passieren zu lassen, um sich dann zu entscheiden, wie darauf zu reagieren wäre. Und das vorhergehende Argument hat gezeigt, wie unangemessen der wirklichen Natur des Geistes dieses Ideal ist, wie vernünftig wir immer auch sein mögen. Wir sind nicht zuerst Zuschauer der Welt, um uns nur danach in deren Angelegenheiten zu verwickeln. Es ist unmöglich, uns auch in groben Zügen vorzustellen, wie die Dinge sind, ohne uns schon darauf festgelegt zu haben, unser Denken und Handeln in gewissen Richtungen zu lenken. Einfach darin, daß wir etwas glauben oder wünschen, richten wir uns nach bestimmten Prinzipien, deren Gültigkeit schon anerkannt sein muß. Und wenn es tatsächlich vorkommt, was ja in gewissen Zusammenhängen möglich ist, daß wir uns entscheiden, einem Prinzip die Autorität für unser Verhalten zu gewähren, dann beruht eben diese Entscheidung auf der Annahme, daß wir gute Gründe dafür haben, so zu verfahren. Zum Wesen des Denkens selber gehört es, daß es ein Maß gibt, das das Denken zu beachten hat. Kein kohärenter Gedanke läßt sich überhaupt bilden, ohne einer schon gegebenen Ordnung von Gründen zu gehorchen. Daß die konstitutive Beziehung des Selbst zu sich selber ein praktisches Selbstverhältnis ist, sollte uns also nicht über die innere Notwendigkeit dieses wesentlich rezeptiven Moments hinwegtäuschen. Es ist die Angewiesenheit auf Gründe, deren Gültigkeit schon angenommen sein muß, die die Festlegungen des Selbst zu dem macht, was sie sind. Gerade wegen seiner normativen Strukturierung ist das Selbst daher nicht imstande, sich zum souveränen Subjekt zu machen, von dem die moderne Philosophie so oft geträumt hat. Übrigens ergibt sich diese Unfähigkeit aus den Bedingungen seiner Möglichkeit selber und nicht, wie bei den gewöhnlichen Kritiken am Begriff der Autonomie, aus irgendeinem von außen her eintretenden Faktor, wie der Geschichtlichkeit oder dem Unbewußten – als ob es sich nur kontingenterweise herausgestellt hätte, daß das Subjekt immer „endlich“ ist. Subjekt zu sein heißt nichts anderes als sich an Gründen zu orientieren, von deren Autorität man selber nicht der Urheber ist.

507

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 507

V. Treten wir jetzt einen Schritt zurück, um tiefergehend zu erklären, wie diese Theorie von der traditionellen Auffassung unseres wesentlichen Verhältnisses zu uns selber abweicht. Wie jetzt klar ist, führt die Annahme, daß dieses Selbstverhältnis eine Beziehung der Reflexion sei, zwangsläufig zu den von Fichte aufgedeckten Paradoxien. Aber die Situation verbessert sich nicht, wenn man vorschlägt, das Selbst oder das „Ich“ sei durch ein derart intimes Selbstwissen konstituiert, daß die für solche Paradoxien verantwortliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt verschwindet. Denn in dieser Richtung liegt nur das Geheimnisvolle. Es ist in der Tat, als ob man sich immer noch auf die Reflexion als Modell beriefe und nur deren ungeeignete Züge modifizierte, während es in Wirklichkeit darum geht, eine andere Tonart anzuschlagen und sich bewußtzumachen, daß das Selbstverhältnis, das jeden von uns zu einem Selbst macht, praktischer und nicht kognitiver Natur ist. Daß die Reflexion zum Modell dient, ist meiner Meinung nach keine Überraschung, denn wenn sie ein ziemlich klares Beispiel des Selbstwissens liefert, dann einfach darum, weil es in der Tat keine andere Weise gibt, zu einer Erkenntnis unser selbst zu gelangen. Der Verteidigung dieser These wende ich mich jetzt zu und beginne mit der Bemerkung, daß die Reflexion selber zwei verschiedene Formen annehmen kann. Erstens kann es natürlich vorkommen, daß wir unsere eigenen Gedanken und Bewußtseinszustände zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen, um uns dadurch besser zu erkennen. Diese Art von Reflexion, von der allein bisher die Rede gewesen ist, werde ich „kognitive“ Reflexion nennen. Doch ehe ich deren Analyse weiter treibe, muß ich einige Worte über eine zweite Art von Reflexion sagen, die die Philosophie bislang mehr oder weniger vernachlässigt hat. Denn manchmal kehren wir in uns selber zurück, um uns eine Meinung oder Handlungsweise zu eigen zu machen, in die wir schon vielleicht verwickelt sind, aber ohne daran bisher ernsthaft gedacht zu haben. Wenn ich z. B. sage „ich liebe dich“, dann ist das normalerweise kein Bericht über den Stand meiner Gefühle. Anstatt eine Tatsache zu beschreiben, dienen diese Worte dazu, der angesprochenen Person meine Hingabe zu bekunden, was bedeutet, daß ich mich damit ausdrücklich festlege, ihr Wohl zu meinem eigenen zu machen. Das ist ein Beispiel von dem, was ich „praktische“ Reflexion nenne. In solchen Umständen treten wir vor uns immer noch unter dem Aspekt auf, der die Grundbeziehung des Selbst zu sich selber ausmacht, nämlich als das Selbst, das zu sein uns allein gehört. Sicher ist diese Grundbeziehung selber kein Akt der praktischen Reflexion. Dennoch ist die letztere ein privilegierter Ausdruck davon. Denn niemand kann sich an unsere Stelle setzen, wenn es an uns liegt, Stellung zu nehmen, und gerade in der praktischen Reflexion adoptieren wir nicht den 508

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 508

Standpunkt eines anderen uns selber gegenüber, wie es die Selbsterkenntnis immer erfordert, und unterscheiden nicht zwischen Subjekt und Objekt, Erkennendem und Erkanntem, wie es in jeder Erkenntnisbeziehung obligatorisch ist. Die Frage, auf die wir dann antworten, richtet sich vielmehr an unseren Willen: Wollen wir uns eine bestimmte Möglichkeit zu eigen machen? Diese Frage kann kein anderer an unserer Stelle beantworten. Auf ganz andere Weise verfährt die „kognitive“ Reflexion. Wenn wir uns selber zum Gegenstand der Erkenntnis machen, moduliert sich unsere Beziehung zu uns selber in einer bedeutenden Hinsicht. Unser Selbst tritt vor unseren Augen unter dem Aspekt seiner universellen Erkennbarkeit auf. Denn wir spalten uns dann in zwei Teile auf, um uns von außen her zu betrachten, gerade wie ein Anderer es im Prinzip tun könnte. Sicher sind wir es und niemand anders, die diesen abgerückten Gesichtspunkt einnehmen; aber – und darin liegt die entscheidende Modulierung – wir übernehmen ihn sozusagen nicht in eigener Person. Das, worauf es ankommt, ist: als ein unbeteiligter Zuschauer uns zu untersuchen. Deshalb ähnelt jedes Wissen, das wir von uns selber gewinnen können, in seiner Natur sowie in seiner Ermittlungsweise der Erkenntnis von unseren Zuständen und Motivationen, die ein Anderer erlangen könnte. Uns ist keine außergewöhnliche Transparenz bezüglich unserer selbst zuteil geworden. Unsere Selbsterkenntnis beruht auf denselben mühsamen und fehlbaren Verfahrensweisen, die wir anwenden, um die Gedanken anderer zu verstehen. Diese These scheint allerdings im scharfen Gegensatz zu einem wohlbekannten Phänomen zu stehen. Denn wie ist vor ihrem Hintergrund die besondere Autorität zu verstehen, über die wir anscheinend verfügen, wenn wir das bekanntgeben, was wir im Augenblick selber glauben oder wünschen? Es ist, wenn nicht unmöglich, so doch äußerst selten, daß wir uns bei solchen – wie ich sagen werde – „Bekundungen“ („avowals“) täuschen. Wenn ich sage, daß ich dies oder das glaube oder wünsche, und es sage, nicht weil ich es aus meiner bestehenden Selbsterkenntnis gefolgert oder weil ich es an meinem Verhalten beobachtet habe, sondern weil es mir auf die Weise unmittelbar evident ist, wie jeder von uns mit seinen eigenen Gedanken vertraut ist, – wie kann ich dann einen Fehler gemacht haben? Natürlich kann ich mich darin irren, das zu glauben oder zu wünschen, und andere sind imstande, mich in dieser Hinsicht zu korrigieren. Es scheint aber ausgeschlossen zu sein, daß ich in den Aussagen selber irregehen kann. Diese sogenannte Autorität „der ersten Person“, dieser privilegierte Zugang, den wir zu den eigenen Gedanken haben, besitzt kein Äquivalent in unserer Beziehung zu anderen. Wir verfügen über keinen ähnlichen Zugang zu den Gedanken unserer Bekannten. Um festzustellen, was jemand anders glaubt oder wünscht, müssen wir uns auf die Beobachtung seines Verhaltens sowie auf die Konsequenzen verlassen, die sich daraus folgern lassen. Was ist die Natur 509

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 509

dieser einzigartigen Beziehung zu uns selber, die in den Bekundungen unserer eigenen Gedanken zum Ausdruck kommt? Und handelt es sich nicht um ein Phänomen, das die vorgebrachte These widerlegt, nach der sich unser Selbstwissen in keiner Hinsicht (mit Ausnahme seines Gegenstandes) von der Erkenntnis unterscheidet, die wir von anderen gewinnen können? In der Tat gibt es eine mächtige, auf Descartes wenn nicht über ihn hinaus zurückgehende Tradition, die in dieser Autorität eine ganz besondere Art von Selbsterkenntnis hat erblicken wollen. Nach dieser Tradition besteht sie nämlich in der Fähigkeit, unseren aktuellen Geisteszustand auf eine derart unmittelbare Weise zur Kenntnis zu nehmen und zu beschreiben, daß aller Irrtum ausgeschlossen ist. Außerdem folgt dann, wenn diese Autorität als ein Ausüben der kognitiven Reflexion begriffen wird, auch der Schluß, daß das Selbstverhältnis selber, das das Wesen des Selbst ausmacht, eine Beziehung der Erkenntnis sein muß. Denn wie könnte der privilegierte Zugang zu unseren eigenen Gedanken ein reflexives Selbstwissen sein, wenn er sich nicht auf eine tieferliegende, präreflexive Bekanntschaft mit uns selber stützte, in der wir dieser mentalen Zustände gerade dadurch gewahr werden, daß sie überhaupt unsere sind – eine Intimität, die uns dann im Falle der Selbstreflexion gegen jeden möglichen Fehler immunisieren und alle Selbstbeobachtung und alles Räsonnement überflüssig machen würde? Der Schluß scheint also unausweichlich zu sein: Wir müssen im Grunde genommen uns selber transparent sein, gerade wegen der kognitiven Selbstbeziehung, die jeden von uns erst zu einem Selbst macht. Offensichtlich bin ich dazu genötigt, die Plausibilität dieser idées reçues zu zerstören. Nun stößt die Annahme, daß unser privilegierter Zugang zu unseren eigenen Meinungen und Wünschen ein Phänomen kognitiver Natur ist, auf genau die Schwierigkeiten, die wir schon erörtert haben. Die Art von Selbstwissen, um das es dann ginge, müßte durch ein von Grund auf geheimnisvolles Vermögen entstehen – weder durch die Beobachtung noch durch das Räsonnement, sondern durch eine Art von Autotelepathie. Statt dessen sollte man in jeder Bekundung, in der wir das bekanntmachen, was wir eben glauben oder wünschen, eine Ausübung der praktischen Reflexion sehen: In solchen Fällen beziehen wir Stellung, nicht aber geben wir Bericht über unser inneres Leben ab, ebensowenig wie Martin Luther es tat, als er sagte, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Ich leugne dabei nicht, daß solche Bekundungen einen privilegierten Zugang bezeugen, den wir zu den eigenen Meinungen und Wünschen haben. Ganz im Gegenteil. Aber diese Vertrautheit mit uns selber besteht darin, daß wir allein, niemand anders an unserer Stelle, imstande sind, uns festzulegen, wie wir es tatsächlich in solchen Akten der praktischen Reflexion tun. Dadurch erklärt sich die besondere Autorität dieser Aussagen, die eher persönlicher als epistemischer 510

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 510

Natur ist. Anderen Personen gelingt es oft besser, unseren Geisteszustand zu erkennen. Allein, sie können sich nie an unseren Platz setzen, wenn es uns darauf ankommt, eine Festlegung zu machen. Wenn wir erklären „ich glaube, daß es 13 Uhr ist“ oder „ich möchte diese Rede bald zu Ende bringen“, dann vermitteln wir nicht, was wir über unser aktuelles Denken entdeckt haben. Wir geben vielmehr zu verstehen, mit welcher Absicht wir uns von nun an verhalten werden, nämlich daß wir der vermeintlichen Wahrheit der Meinung („es ist 13 Uhr“) oder der Attraktivität des Ziels (die Rede zu beenden) gemäß weitermachen werden. Dadurch verschwindet alles Rätselhafte. Wenn andere nicht imstande sind, Bekundungen dieser Art zu bestreiten (obwohl sie natürlich leugnen können, daß es tatsächlich 13 Uhr oder daß es gut sei, die Rede bald zu beenden), dann nicht deshalb, weil wir über eine Selbsttransparenz verfügen, die gegen alle Möglichkeiten des Irrtums immunisiert ist und die sich von den immer indirekten und konjekturalen Verfahrensweisen abhebt, zu denen unsere Interpreten gezwungen sind. Vielmehr sind wir gegen jedes Dementi geschützt, weil unsere Aussage ganz einfach keine Tatsachenbeschreibung vornimmt. Sie dient eher dazu, eine Festlegung bekanntzugeben, die sich als solche nicht bestreiten läßt. Das einzig Zweifelhafte daran kann nur die Entschlossenheit sein, mit der wir tatsächlich die darin enthaltene Absicht durchführen werden. Sicherlich: sollten wir entscheiden, über unsere Äußerung zu reflektieren, könnten wir nachträglich behaupten „ich weiß, daß ich glaube, daß es 13 Uhr ist“. Aber die letztere Aussage besitzt keine besondere Autorität; denn die darin beanspruchte Selbsterkenntnis entspringt derselben Art von Beobachtung, welche andere in bezug auf mich gleichfalls ausüben können. Unser Selbstwissen ähnelt also in jeder Hinsicht der Erkenntnis, die andere von unsern mentalen Zuständen gewinnen können. Es gibt keine außergewöhnliche Weise, unsere Meinungen und Wünsche zu erkennen, die – weder observationell noch inferentiell – uns allein gehörte und uns eine Autorität gewährte, die kein anderer beanspruchen kann. Im Gegenteil: alles, was wir über uns selber wissen, beruht auf den wesentlich öffentlichen Verfahrensweisen der Beobachtung und des Räsonnements. In dieser Angelegenheit erweisen sich unsere Freunde, und manchmal auch Unbekannte, viel scharfsinniger als wir selber. Das sollte evident sein. Hinsichtlich der Selbsterkenntnis sind wir weit davon entfernt, Experten zu sein. Es ist einfach nur der Fall, daß wir auf die Erforschung des „lieben Ichs“ mehr Zeit und Energie als andere verwenden und dadurch zu Spezialisten werden. Die Selbsttransparenz, soweit sie eine Erkenntnis unserer selbst ermöglichen soll, die nichts gemeinsames mit unserer Erkenntnis anderer hat, ist daher ein Mythos, von dem wir uns befreien müssen. Wir sind ja mit uns selber auf eine 511

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 511

ganz besondere Weise vertraut, und wegen dieser Selbstpräsenz können wir in der praktischen Reflexion eine Rückkehr zu uns selber vollziehen, die kein Äquivalent in unseren Beziehungen zu anderen findet. Aber diese ursprüngliche Selbstpräsenz besteht darin, daß wir normative Wesen sind, die nur existieren, soweit wir uns festlegen. Die „Innerlichkeit“ des Ichs, wenn man diesen Ausdruck um jeden Preis bewahren will, bedeutet einfach, daß wir allein, niemand anders an unserer Stelle, imstande sind, uns festzulegen.

VI. Natürlich müßte diese Theorie des Selbst in vielen Hinsichten weiterentwickelt werden. Ich habe z. B. bisher nichts über die heikle Frage gesagt, was die Identität des Selbst durch die Zeit ausmacht, obwohl sich schon ahnen läßt, daß sie meines Erachtens nicht im Beharren irgendeines Substrats bestehen kann. In der Tat definiert sich die Kontinuität unseres Selbst, wie ich in meinem Buch dargelegt habe, durch das ständige Überschneiden der verschiedenen durch unsere Festlegungen bestimmten Tätigkeiten, in die wir uns jeweils verwickelt finden.12 Eine andere hier vernachlässigte Frage betrifft den Umstand, daß, soweit wir aus der Erfahrung wissen, das Selbst immer inkarniert ist: was ist dann die Beziehung des Selbst zu seinem Körper?13 Keine dieser beiden Fragen werde ich hier aufnehmen können. Statt dessen möchte ich zum Abschluß einige Worte sagen zur Verteidigung dieser Theorie gegen einige zeitgenössische Ansätze, in deren Augen sie als der vergebliche Versuch aussehen muß, eine erschöpfte Problematik wiederzubeleben. Ich denke erstens an die Ansicht, derzufolge es gar nicht der Fall ist, daß so etwas wie „Subjektivität“ zur Konstitution unserer Erfahrung gehört. Vincent Descombes vertritt eine Position dieser Art, indem er in der Unhaltbarkeit der traditionellen Prädikate der Selbsttransparenz und der Souveränität nur ein Anzeichen der begrifflichen Verwirrungen sieht, die seines Erachtens der ganzen Rede vom Subjekt zugrunde liegen. Ihm zufolge sollte der Subjektbegriff durch den solideren Begriff eines Handelnden ersetzt werden, der für seine Handlungen kausal verantwortlich ist. Zu diesem Schluß scheint er deshalb zu kommen, weil er „das Subjekt der Philosophen“ einer „kognitiven Egologie“ gleichsetzt, nach der das Bewußtsein erst dadurch seiner selbst bewußt wird, daß es vor sich als ein Gegenstand der Erkenntnis auftritt.14 Daß eine solche Auffassung nicht aufrecht12 13

14

S. Les pratiques du moi, Kapitel VII, § 7. Dieser Frage bin ich in meinem Aufsatz, „Le moi et ses raisons d’être“ (im Erscheinen), nachgegangen. Siehe Descombes, Le complément de sujet, 120, 165, und auch 98, 107, 113, 172 f, 191.

512

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 512

erhalten werden kann, gebe ich bereitwillig zu; aber es bleibt bestehen, daß wir nicht umhin können, uns zu uns selber auf eine ganz andere und tiefere Weise zu verhalten, die den unausweichlichen Kern unserer Subjektivität ausmacht – nämlich darin, daß all unser Denken und Tun Festlegungen verkörpert, in denen wir uns verpflichten, die damit angezeigten Gründe zu beachten. Übrigens läßt sich leicht beweisen, daß der Handlungsbegriff, den Descombes an die Stelle des Subjektbegriffs setzen will, an genau diese Art von Selbstbeziehung appellieren muß. Denn wie kann man als kausal verantwortlich für seine Handlungen angesehen werden, wenn nicht deswegen, daß man nach Gründen handelt, anstatt von bloßen, durch sein eigenes Denken nicht vermittelten Ursachen bewegt zu werden? Und was heißt es, nach Gründen zu handeln, wenn nicht das, daß man sich nach dem richtet, was in den gegebenen Umständen angebracht ist oder nicht? Ohne die Bezugnahme auf ein derartiges Selbstverhältnis läßt sich nicht verstehen, was es heißt, ein Handelnder zu sein. Nach Descombes kommt es darauf an, einzusehen, daß „die von Wittgenstein aufgeworfenen Fragen über die Möglichkeit, einer Regel zu folgen, das Programm einer durch die linguistische Wende neugestalteten Philosophie des Geistes definieren“.15 Ohne das Gewicht dieser Fragen bestreiten zu wollen, bestehe ich trotzdem darauf, daß es genau diese Fähigkeit ist, einer Regel zu folgen und d. h. nach Gründen zu handeln, die uns auf die Notwendigkeit hinweist, die alten Fragen nach dem Wesen der Subjektivität wieder aufzunehmen. Zudem ist es mir nicht klar, wieviel die sogenannte „linguistische Wende“ – ein anderer Ansatz, von dem ich Abstand nehmen will – in diesem Zusammenhang leisten kann. Denn wenn mein eigener Vorschlag auf der richtigen Spur ist, dann hat Subjektivität nichts Wesentliches mit Sprache zu tun. Als Selbste oder Subjekte müssen alle jene Wesen gelten, die Meinungen oder Wünsche haben können, denn gerade darin besteht die Art von Selbstverhältnis, die die Natur der Subjektivität ausmacht. Auch die höheren Tiere müssen daher als Subjekte gelten, obwohl natürlich auf beschränkte Weise, und zwar ebenso beschränkt wie ihr Vermögen, Meinungen und Wünsche zu entwickeln. Diese Implikation finde ich keineswegs beunruhigend. Sie bedeutet aber, daß ich zufriedener wäre, wenn der Titel unseres Kongresses „von der Sprache zur Logik“ hieße. Denn der Ursprung der Subjektivität liegt nicht so sehr in der Sprache als in der Fähigkeit, sich nach Gründen zu richten, was auch die anderen Tiere tun, soweit sie denkend mit ihrer Umwelt zurechtkommen. Und schließlich: wenn die Subjektivität in dem von mir vorgeschlagenen Sinne begriffen wird, kann sie nicht in Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung bestehen – im Gegensatz zu der Auffassung einer Denktradition, die sich 15

Descombes, Le complément de sujet, 22.

513

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 513

oft, mit welchem Recht auch immer, auf einige Schriften von Fichte und Hegel berufen hat. Subjektivität läßt sich nicht durch Intersubjektivität erklären; eine solche Erklärung schiene mir eine grobe petitio principii zu begehen. Es ist wahr, daß ich mich nicht nach Gründen richten kann, ohne davon auszugehen, daß diese Gründe auch für andere unter ähnlichen Umständen gelten müssen. Ich kann also kein Subjekt sein, ohne die Fähigkeit, mich mit den Augen eines Anderen anzusehen. Aber daraus folgt nicht, daß ich nur durch die Einstellungen Anderer mir gegenüber zu einem Subjekt werde. Jemanden wirklich als ein Subjekt oder Selbst anzuerkennen, läuft darauf hinaus, das Bestehen eines aller Anerkennung unabhängigen Gesichtspunktes ernstzunehmen, von dem aus ebenfalls die Welt Gestalt annimmt.16

16

Weiteres dazu in meinem Aufsatz, „Person und Anerkennung“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 1998, 459 – 464.

514

#1371956 klett_cotta/bubner_hindrichs_logik

Seite 514