Die Medien als Bestandteil der Alltagskultur

http://www.mediaculture-online.de Autor: Kottlorz, Peter. Titel: Die Medien als Bestandteil der Alltagskultur. Quelle: Karin Stipp-Hagmann: Fernseh- ...
Author: Rudolph Kuntz
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Autor: Kottlorz, Peter. Titel: Die Medien als Bestandteil der Alltagskultur. Quelle: Karin Stipp-Hagmann: Fernseh- und Radiowelt für Kinder und Jugendliche. Hrsg. von der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (Schriftenreihe der LfK Bd. 3,1). Villingen-Schwenningen 1996. S. 45-52. Verlag: Neckar-Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LfK).

Peter Kottlorz

Die Medien als Bestandteil der Alltagskultur

Man stelle sich vor: Die Zeitung steckt morgens nicht im Briefkasten, die Neuigkeiten erfährt man am Marktplatz, bei der Arbeit oder bei Bürgerversammlungen. Es gibt keine Radios, Musik hört man im Konzert und in der Kirche, oder man singt selbst. Und das Fernsehen ist auch nicht erfunden worden. Man sieht und wird gesehen beim Spaziergang oder beobachtet die nähere Umgebung vom Fenster aus (mit einem Kissen unter den Ellbogen). Zur Kurzweil geht man auf den Jahrmarkt, zur Volksbühne oder ins Theater. Man stelle sich vor: Unsere Welt ohne Medien, ohne technische Hilfsmittel in der Kommunikation der Menschen, Information, Bildung und Unterhaltung nur direkt, personal, von Angesicht zu Angesicht. Unvorstellbar - in einer Welt, die nicht nur im Bereich der Kommunikation von Technik, Rationalität und Schnelligkeit geprägt ist. Man denke nur an den Verkehr oder die Medizin, um festzustellen, wie sehr die verschiedenen Lebensbereiche von technischen Hilfsmitteln bestimmt sind. Und damit zum letzten Vorstellungsversuch, der Vorstellung

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einer Welt, in der die Medien statt immer mehr Waren anzubieten, allein dem Austausch von Wissen und dem Zuwachs an Wissenswertem dienen, die Menschen einzeln und gesellschaftlich einander näher bringen und deren Lebensverhältnisse verbessern helfen. Aber auch diese Wunschvorstellung kann nicht Wirklichkeit werden in unserem modernen Alltag. Waren herzustellen, anzubieten, zu verkaufen und zu kaufen, gehört zum Lebensalltag aller Kulturen, ganz besonders der westlichen Konsumgesellschaften mit ihren marktwirtschaftlichen Systemen. Deshalb ist die moderne Kommunikation westlicher Gesellschaften weder frei von kommerziellen Interessen noch von technischen Hilfsmitteln. Und so sind eben die Zeitungen, das Fernsehen und der Hörfunk die Marktplätze, auf denen die "Brennpunkte" und die Waren der Gesellschaft verhandelt werden; so ist es - "Sie wünschen, wir spielen" - das Radio, das die Musik macht, das Fernsehen, der Jahrmarkt, auf dem "Menschen, Tiere Sensationen" dargeboten werden, und das Kino, das zu einer Fahrt mit der Achterbahn einlädt ('Speed'): Nichts ist technisch unmöglich, und die Werbung macht dazu "den Weg" frei. Es gab aber eine Zeit in der Bundesrepublik, in der die audiovisuellen Medien recht nah an der Vorstellung eines relativ kommerzfreien Rundfunks waren.

Von der "Schule der Nation" zum "Supermarkt"

Vor der Einführung des dualen Rundfunksystems (dem Nebeneinander von öffentlichrechtlich und privat-wirtschaftlich organisiertem Rundfunk) galt das Fernsehen auch als "Schule der Nation", das die Bürgerinnen und Bürger unterhalten, informieren und bilden sollte. Mit der Öffnung des Rundfunks für private Anbieter ist aus der "Schule der Nation" ein Supermarkt geworden. Gab es früher nur drei Programme, aus denen die Zuschauer auswählen konnten, so sind es heute an die 30, und wenn es denn sein muß, morgen über 300 (- aber welche Zuschauer bitteschön, wollen 300 Kanäle?!).

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Entsprechend dem kommerziellen Warenangebot und dem Pluralismus unserer Gesellschaft wurde auch das Fernsehprogramm mehr und mehr zersplittert. Je nach Geist oder Gusto werden alle erdenklichen Sendungen vom Porno bis zur Opernpremiere angeboten und auch genutzt. Dabei sind Pornos und Opern eher die Randzonen eines Programmangebots, dessen Klientel zahlenmäßig unter der Meßbarkeitsgrenze liegt, und zwar sowohl die Zuschauer des deutsch-französischen Kulturkanals "arte", wie auch die der Pornosender, die ihr Programm per Satellit und entsprechendem Decoder empfangen. Trotz aller Technokratenvisionen von 300-500 Kanälen. bleibt die spannende Frage zunächst offen, ob das Publikum ein Mindestmaß an Überschaubarkeit gerade auch beim Fernsehen braucht. Vielleicht bleibt es bei der sich abzeichnenden Sechstelung bis Achtelung des Fernsehmarktes entsprechend den gesellschaftlichen Großgruppen. An den verschiedenen neu erscheinenden Programmzeitschriften ist die Aufteilung des Fernsehpublikums immer deutlicher abzulesen. So z.B. "TV pur“ oder "TV today" für das etwas anspruchsvollere Publikum und "TV-Spielfilm", "Hör Zu" oder "Gong" für die anderen.

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Nutzweisen und Funktionen des Fernsehens

Die zuschauerorientierte Fernseh-Wirkungsforschung hat gezeigt, daß die Fernsehzuschauerschaft keineswegs - wie früher immer wieder angenommen - eine unförmige steuerbare Masse ist, sondern daß verschiedene Zuschauergruppen ihr Fernsehprogramm entsprechend ihren Interessen und Bedürfnissen zusammenstellen. So gibt es Zuschauer, die relativ treu bestimmte Sender und Sendungen sehen, ohne dabei hin und her zu schalten. Es gibt Zuschauer, die gezielt Informationsprogramme sehen, und es gibt Zuschauer, die gerade um die Informationsprogramme einen Bogen machen und sich ausschließlich Spielfilmen, Shows oder Serien zuwenden. Und schließlich gibt es auch Zuschauer, die sich den ganzen Abend durch die verschiedenen Programme "zappen" und sich so ihr eigenes Fernsehprogramm zusammenstückeln. Das Fernsehen wird also je nach den entsprechenden sozialen, familiären, schulischen und situativen Voraussetzungen und Vorlieben komplementär, das heißt, den Alltag ergänzend genutzt. Dem einen dient es zur Entspannung, dem anderen zur Spannung, dem einen mehr zur Ablenkung und dem anderen als Ratgeber, dem einen mehr zur Wissenserweiterung und dem anderen mehr zur Unterhaltung, wobei die beiden letzteren Funktionen nicht voneinander getrennt werden können. Denn das Fernsehen ist in seiner Unterhaltungsfunktion ein eminent emotionales Medium. Weil es mit Bild und Ton zwei Sinne anspricht, weil das Fernsehen unaufhörlich Lebensgeschichten erzählt und weil es in der Privatsphäre gesehen wird, kann es so stark die Gefühle der Menschen ansprechen. Das Fernsehen kann sogar zu einer Art psychosozialen Prothese werden, die als Teilersatz für Defizite im wirklichen Leben dient. Ein Beispiel dafür könnten die zahlreichen Talk-Sendungen am Nachmittag sein, wenn Ilona Christen (Thema 9.1.95, 15.00 Uhr in RTL: „Ich bin ein Schwein" - Männer outen sich), Fliege (ARD 9.1.95, 16.00 Uhr: „Ich stehe als Frau meinen Mann") oder Hans Meiser (9.1.95, 16.00 Uhr RTL: "Weg

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mit dem Schweinkram - Moralapostel") als mediale Nachbarn zum nachmittäglichen Kaffeeklatsch einladen. Für die meist älteren und allein fernsehenden Zuschauer dieser Sendungen sind nicht nur die mehr oder minder schrillen Themen von Bedeutung, sondern das Gefühl der Verläßlichkeit, der Vertrautheit und der Zuwendung, die durch diese Sendungen vermittelt werden. Nicht umsonst werden diese Sendungen täglich ausgestrahlt und sollen mit dem Namen ihres Talk-Masters oder ihrer Talk-Masterin als Markenzeichen eine demonstrativ persönliche Note bekommen. Es ist ein interessantes Phänomen, daß sich im Zuge der Vervielfältigung und damit einhergehenden Unüberschaubarkeit der Programme und Sendungen eine immer stärkere Rhythmisierung und Wiedererkennbarkeit der Einzelprogramme einstellt. Zu dieser klaren Formatierung der Programme gehören auch die verschiedenen wöchentlichen und immer häufiger auftretenden täglichen Serien (Soap-Operas), wie zum Beispiel 'Verbotene Liebe' (ARD), 'Nachbarn' (SAT 1), 'Unter uns' (RTL) oder 'Macht der Leidenschaft' (ZDF).

Medien als die moralischen Instanzen der Moderne

Mit der Individualisierung und der Pluralisierung der Gesellschaft ging eine Distanzierung der Menschen zu den gesellschaftlichen Institutionen einher, und damit auch zu einigen der herkömmlichen Vermittlungsinstanzen von Moral. Schule, Staat, Kirche und auch die "klassische" Kernfamilie verloren an Autorität oder waren einem starken Veränderungsprozeß ausgesetzt. In dieser Situation wuchsen die Medien immer mehr in die Rollen von Sinnagenturen hinein. Nicht nur die verschiedenen Informations-, Kulturund Ratgebersendungen im Hörfunk, sondern gerade auch die zahlreichen Talk-Shows und fiktionalen Unterhaltungssendungen wie Fernsehspiele oder Serien im Fernsehen und die Spielfilme in Kinos vermitteln heute Sinn- und Wertstrukturen. 5

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Zuschauerbeteiligungen wie die der "SWF 3 – Sprechzeit“ sind nicht nur eine Form von Hörfunkdemokratie, sondern dienen auch der Meinungsbildung und Moralfindung des Publikums. Die Eheprobleme der Beimers, Dresslers oder Zieglers in der ARD-Serie "Lindenstraße", klassische ethische Problemfälle wie "Sterbehilfe" in der ZDFSchwarzwaldklinik oder das magische Dreieck Sex, Geld und Liebe im 92er Kinohit "Das unmoralische Angebot“, audiovisuelle Medien transportieren regelmäßig und in nicht unerheblichem Maße moralische Fragen und Antworten. Die Unterhaltungsfunktion der Medien, allen voran des Fernsehens, war und ist eben nicht nur eine minderwertige Berieselung der Menschen, sondern sie dient vor allem dem emotionalen Ausgleich und der ethischen Orientierung. Mit der Zersplitterung des Rundfunkmarktes seit der Einführung des dualen Systems und der damit einhergehenden kommerzialisierten Unterhaltungsorientiertheit erfuhren jedoch die einzelnen Fernseh- und Hörfunkprogramme einen Bedeutungsverlust und die Gesamtheit der Programme verloren an Niveau. Durch die Vielzahl der Programme, und durch die im Fernsehen zum Teil unterhalb der Schamgrenze liegenden Sendungen ("Schmidteinander", "Traumhochzeit", "Notruf" oder „Wa(h)re Liebe") und durch die Fragmentierung der Zuschauerschaft haben die audiovisuellen Medien insgesamt, das Fernsehen aber besonders, an Autorität verloren.

Die beschleunigten Medien

Der Medienmarkt ist seit der Einführung des dualen Rundfunksystems stark in Bewegung und bis heute noch nicht zur Ruhe gekommen. Sender, Programmkonzepte und Programme entstehen und vergehen, und mit ihnen suchen sich die Zuschauer den Weg durch den Programmdschungel. Mit den zusätzlichen Hörfunk- und Fernsehanbietern kamen neue, jüngere "beschleunigte" Rundfunkformen ins Programm. Die Konzentrationsfähigkeit für einen Hörfunkbeitrag scheint ihre Zumutbarkeitsgrenze bei

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den berühmten 1'30 zu haben. Das Fernsehen wurde beeinflußt durch eine Video-ClipÄsthetik mit schnellen, assoziativen Schnitten und der Musik als Bedeutungsträger. Die Fernsehwerbung als komprimierteste audiovisuelle Erzählform trägt wesentlich zur Beschleunigung des Programms sowie der Programmformen bei. Unterbrecherwerbung und Werbeblöcke zerreißen homogene Programmteile in kleine schnelle Stücke, und oft werden Sendungen bereits auf die Werbung hin konzipiert, mit dramatischen Höhepunkten kurz vor den Werbeeinblendungen. Um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu binden und um ihm jederzeit Einstiegsmöglichkeit in das Programm zu bieten, werden sowohl die Sequenzen der Sendungen (z.B. in Serien), wie auch die Sendungen selbst (das 30minütige Feature oder der 15minütige Brennpunkt) immer kürzer. Jüngere Zuschauer, vor allem die Gruppe der 14-19jährigen sind die Hauptnutzer der beschleunigten Sendeformen. Die Musik-Video-Kanäle wie MTV oder dessen deutschsprachiges Pendant VIVA sind auf diese Zielgruppe hin konzipiert und gelten als Ausdruck heutiger Jugendkultur. Das Nebenbeisehen oder ein auf MTV geschalteter Fernsehapparat in der Boutique gehört zur Mediensozialisation der jungen Menschen von heute. Dem entspricht das Fernsehverhalten der Jugendlichen. Sie gehören zu der Gruppe von Fernsehzuschauern, die am häufigsten die Kanäle wechselt und deren Verweildauer zwischen den Kanalwechseln die geringste ist. Dies entspricht wiederum der zu Ungeduld und Impulsivität neigenden Lebensphase Jugendlicher wie auch der Sendeform Video-Clip, die Unterbrechungen leichter zuläßt als fiktionale Sendungen, die längere Konzentrationsphasen abverlangen. Die Medienforschung hat hierbei aber gezeigt, daß Spielfilme oder Serien mit weniger Unterbrechungen und dadurch mit einem höheren Maße an Beteiligung gesehen werden.

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Die Medien als Alltagsbegleiter

Die Medien begleiten, durchdringen und bestimmen den Alltag der Menschen unserer Gesellschaft. Das Radio weckt mit Piano oder Pop, tönt im Bad, beim Frühstück oder im Auto, meldet Staus oder warnt vor Geisterfahrern. Die Zeitungen vermitteln neben aller Nah- und Fernrauminformation durch pünktliche und regelmäßige Lieferung ein Gefühl von Stabilität. Das Kino ist - vor allem für die jüngeren Altersgruppen - Treffpunkt und wurde vielleicht auch durch die entwertende Zersplitterung des Fernsehens wieder zum Erlebnisraum. Das Fernsehen hatte jahrzehntelang den Alltag der Menschen strukturiert. Allein schon die feierabendliche Hinwendung zum Gerät, aber auch das Sehen von einzelnen Sendungen, wie vor allem der Tagesschau, hatten den Charakter eines Rituals. Daß man zu Zeiten der samstäglichen Sportsendung Männer am besten nicht anruft, gehört noch immer zum common sense. Und wenn Sabine Christiansen oder Ulrich Wickert vom "Letzten Stand der Dinge" berichtet haben, werden die Zuschauer mit einem flapsigen oder augenzwinkernden Kommentar ins Bett entlassen, der ihnen das Gefühl gibt, daß die Welt trotz allem Chaos doch noch in Ordnung ist. Ordnung und Überblick sind denn auch zwei der Schlüsselworte, durch die die Anziehungskraft des Fernsehens lange Zeit erklärbar wurde. Die Welt des Mittelalters hatte noch eine Gesamtschau, in der Himmel und Erde ihren festen Platz hatten. Der Mensch im Mittelalter hatte einen Sinn für den Gesamtzusammenhang, aber kein Wissen von Details. Der moderne Mensch hingegen kennt - durch Wissenschaft und Technik vielerlei Bruchstücke, aber keinen Zusammenhang mehr. Diesen Mangel hat lange Zeit das Fernsehen gelindert. Es wurde zum Geschichtenerzähler und Weltendeuter der Moderne. Deshalb wurden und werden die sogenannten fiktionalen, das heißt erzählenden Fernsehsendungen auch am meisten von den Zuschauern gesucht. Die "Moral von der Geschicht“ erzählt kein Märchen mehr, sondern die "Schwarzwaldklinik". Und die wöchentliche oder gar tägliche "Soap-opera" vermag durch ihre regelmäßige Verläßlichkeit das Vertrauen ins Leben zu stabilisieren und durch die 8

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Darstellung gelungener Konfliktbewältigung das Vertrauen in menschliche Beziehungen zu stärken. Deswegen sind Spielfilme, Mehrteiler und Serien elementare Bestandteile des Fernsehens und haben ihren festen Platz bei den Zuschauern. Die Attraktivität dieser fiktionalen Sendeformen liegt eben nicht nur im Nervenkitzel oder in der "Berieselung“ als die die Unterhaltungsfunktion des Fernsehens so oft pauschal abqualifiziert wird, sondern in der Möglichkeit zu jener spezifischen Sehsituation, die die Medienwissenschaft "parasoziale Interaktion" nennt. Damit ist jener wohlige Zwitterzustand gemeint, der die Zuschauer dabei sein läßt, ohne wirklich dabei zu sein, sie mitfühlen läßt, ohne jemandem echt zu begegnen. Kinder zum Beispiel kämpfen oder besiegeln den Frieden mit Winnetou und Old Shatterhand, Jugendliche vergleichen ihr Leben mit den „guten und schlechten Zeiten" in RTL und Erwachsene lassen sich vielleicht mit dem "Traumschiff " in ferne Länder bringen. So bietet das Fernsehen eine Zwischenwelt, die die Lücken stopft oder Wunden pflegt (aber nicht heilt!), die der Alltag geschlagen hat. Die besondere Sehsituation der parasozialen Interaktion hält die Menschen zwischen den Lebenszuständen, wie das französische Wort für Unterhaltung - entretenir - besagt. In dieser - psychisch gesehen - offenen und entspannten Haltung können die Zuschauer sich fallen lassen, aber auch Anteil nehmen am Leben der Zeitgenossen und damit auch das eigene Leben zur Geltung bringen. Sie können Lebensentwürfe und Werte gegenlesen oder Konflikte nachverarbeiten. Deshalb stehen die fiktionalen Fernsehformen bei Jugendlichen an erster Stelle, weil sie in ihrer Lebensphase Konflikte wie auch Rückzugs- und Reflektionsmöglichkeiten notwendig brauchen. Und genau das bietet die Fernsehrezeption in ganz eigener Weise. Dabei wissen die Zuschauer normalerweise durchaus zwischen der sogenannten Realität und den fiktionalen Geschehnissen im Fernsehen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung zwischen der eigenen Weit und der der anderen ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Identitätsbildung. Auch dazu kann das Sehen fiktionaler Unterhaltungssendungen beitragen, indem es Werte und Normen präsentiert, die abgelehnt, verglichen oder als vorbildlich angesehen werden können. Zur Identität gehört ja auch die Ausbildung von Werthaltungen, nicht nur bei jungen Menschen. Und Wertvermittlung leisten (fiktionale und andere) Fernsehunterhaltungssendungen zu hauf,

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in verschiedener Weise und auf unterschiedlichen Niveaus. Um so wichtiger ist es, all die Geister scheiden zu können, die uns aus der Programmflut heraus begegnen.

Medienalltag und Langzeitwirkungen

Voraussetzung zu dieser Scheidung der Geister ist ein bewußter Umgang mit den Medien, der von klein auf erlernt werden muß. Das bedeutet unter anderem, nicht der Faszination der Medien und auch nicht der eigenen Bequemlichkeit zu erliegen, sondern sie gezielt zu nutzen. Das heißt, die Chancen und Grenzen des jeweiligen Mediums zu kennen. Das Fernsehen zum Beispiel ist nicht allzu geeignet, komplexe Zusammenhänge zu vermitteln, ein geschriebener Text ist und bleibt hier sicher das passendere Medium. Die Scheidung der Geister betrifft aber nicht nur die Inhalte der verschiedenen Sendungen in Hörfunk und Fernsehen. Je kürzer die audiovisuellen Formate werden und je länger die Fernbedienung in der Hand der Nutzer bleibt, desto mehr Gedanken sollte man sich über die Wirkungen der immer diffuseren und hektischeren Mediennutzung machen. Damit ist aber nicht die behaviouristisch angehauchte und verkürzte Frage eines ReizReaktionsmodells gemeint (also was bewirkt diese oder jene Sendung bei und kurz nach dem Sehen), sondern eher die Langzeitwirkungen der alltäglichen Mediennutzung. Es ist zu fragen, ob sich der technische Umgang mit den Medien nicht allmählich in das nichtmediale Alltagsverhalten "ablagern" und damit das Gesamtverhalten der Mediennutzer beeinflussen könnte. Könnten vielleicht nicht die Vielzahl der Programme und die Fernbedienung eine immer größere Ungeduld hervorrufen, eine Zappermentalität, die Probleme oder Unangenehmes per Knopf "wegdrücken" möchte, verbunden mit dem Gefühl, alles steuern zu können oder zu wollen. Könnte es nicht eine Sehnsucht geben, das Leben anzuhalten, vor- und zurückspulen zu können wie ein Videoband, oder eine Neigung, überall und sofort die Rosinen herauszupicken wie die Lieblingsstücke einer CD? Werden unsere medialen Enkel gar die Generation sein, für die die Technik mit 10

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Cyber-Space zur psychosozialen Vollprothese wird? Oder haben unsere Enkel ja vielleicht eine intensive Abneigung gegen Unterbrechungen jeglicher Art, nachdem sie und ihre Vorfahren jahrzehntelang mit visueller und akustischer Penetranz werbebehandelt wurden? Vielleicht bannen ja unsere Enkel die Darstellung von Gewalt, als scheinbar probates Mittel Probleme zu lösen, aus ihrer audiovisuellen Kultur, weil sie Menschen kennengelernt haben, für die Gewalt nach jahrzehntelanger Vorführung letztlich normal schien. Oder lernen ihre Großväter doch aus den Fehlern, die sie in anderen Lebensbereichen (z.B. Umweltpolitik) gemacht haben und ersparen ihren Nachkommen durch eine weitsichtige und verantwortungsvolle Medienpolitik, sich auch noch mit medialen Spätfolgen abmühen zu müssen.

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