Die Mafia und die Macht Ein Kronzeuge sagt aus

1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Die Mafia und die Macht Ein Kronzeuge sagt aus Autor: Aureliana Sorrento Redaktion: Udo Zindel Regi...
Author: Christoph Amsel
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1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

Die Mafia und die Macht Ein Kronzeuge sagt aus

Autor: Aureliana Sorrento Redaktion: Udo Zindel Regie: Carola Preuß SWR2 Wissen am 19. April 2011, 8.30 Uhr

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030

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2 Autorin: Ich hatte mit Massimo Ciancimino ein Treffen vereinbart. Doch unser erster Versuch platzte. Kurz vor dem verabredeten Termin musste der Mafia-Kronzeuge seine Fahrtroute ändern. Kein Lebenszeichen mehr von ihm. Sein Handy – tot. Er habe es ausgeschaltet, sagt er am nächsten Tag und sei, statt zum vereinbarten Treffpunkt in Rom zu fahren, nach Florenz abgebogen. „Um das Unvermeidliche zu vermeiden“, fügt er hinzu. In der gewundenen Sprache der Sizilianer, die es gewohnt sind, in Andeutungen zu reden, bedeutet das: Um zu vermeiden, ermordet zu werden. Massimo Ciancimino weiß zu viel. Ansage: Die Mafia und die Macht – ein Kronzeuge sagt aus. Eine Sendung von Aureliana Sorrento. Autorin: Zwei Tage später müssen wir uns im letzten Moment auf einen anderen Treffpunkt als den zunächst gewählten einigen. Eine Vorsichtsmaßnahme. Endlich findet sich, nach einigen Runden im römischen Viertel Trastevere, eine leere Bar mit einem langgestreckten schummrigen Innenraum. Von der Türschwelle aus kann Cianciminos Leibwächter das ganze Lokal überblicken. Massimo Ciancimino kennt die innersten Zirkel der sizilianischen Mafia-Organisation Cosa Nostra und ihre Verbindungen zur politischen Elite Italiens. Er weiß, dass christdemokratische Politiker in den Nachkriegsjahren ein Bündnis mit der Mafia schmiedeten – und dass der ruchlose Pakt vor zwei Jahrzehnten erneuert wurde. Über die zweifelhaften Anfänge des Unternehmers und Politikers Silvio Berlusconi kennt er Details, die den Verdacht bestätigen, Berlusconi habe seine politische Karriere mit Schützenhilfe der Mafia begonnen. Massimo Ciancimino ist ein kleiner Mann mit dunklen Augen, die aussehen, als hätten sie schon dem Blick des Teufels standgehalten. Jeder Mafia-Aussteiger, der mit der Justiz zusammenarbeitet, hat gute Gründe, sich vorzusehen. Aber Massimo Ciancimino ist kein gewöhnlicher Mafia-Kronzeuge. Er ist der Sohn von Vito Ciancimino – jenem christdemokratischen Politiker und zeitweiligen Bürgermeister von Palermo, der dreißig Jahre lang für gute Beziehungen zwischen dem italienischen Staat und der Cosa Nostra sorgte. Als Mafioso will ihn sein Sohn immer noch nicht bezeichnen. OT Ciancimino Lui è stato riconosciuto mafioso da una sentenza... Übersetzer: Er wurde als Mafioso verurteilt, aber viele Mafia-Aussteiger sagten, er habe keinem Clan angehört. Er war ein Mittelsmann zwischen der Cosa Nostra, den italienischen Geheimdiensten und Kreisen der politischen Elite. Dabei gab er zwar den Großen Puppenspieler, der alle Interessen vertrat und miteinander versöhnte, aber er war sicherlich nicht der Urheber dieses Machtsystems. Das ging weit über ihn hinaus. Und zwar so weit, dass er, als er nicht mehr nützlich war, ausgebootet wurde. Autorin: Vito Ciancimino ist im November 2002 in seinem Hause an der Spanischen Treppe in Rom gestorben; Ursache und Umstände seines Todes wurden nie geklärt. Massimo, sein Sohn hat den Staatsanwaltschaften von Palermo, Florenz und der sizilianischen Stadt Caltanissetta Dokumente und Notizen seines Vaters übergeben. Und er hat den Staatsanwälten von Geschehnissen erzählt, die Licht in bislang obskure Episoden der jüngeren italienischen Geschichte bringen könnten. Im Februar 1945 hatten Churchill, Stalin und Roosevelt in der Yalta-Konferenz Europa in zwei Blöcke aufgeteilt. Italien wurde dem Westblock zugeschlagen; da aber die PCI, die

3 Kommunistische Partei Italiens, die stärkste kommunistische Partei der westlichen Welt war, fürchteten die USA bis 1989, sie könnte auf dem parlamentarischem Weg an die Macht gelangen. Um eine Regierungsbeteiligung der PCI zu verhindern war jedes Mittel recht – sowohl Italiens Christdemokraten als auch der CIA und den italienischen Geheimdiensten. Im Bündnis mit der Mafia sahen sie ein notwendiges Übel, um die Kommunisten im Zaum zu halten. OT Ciancimino Fondamentalmente diceva mio padre noi avevamo la missione... voti alla democrazia cristiana. Übersetzer: Mein Vater sagte, dass wir Sizilianer die Mission hätten, ein politisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Vor dem Fall der Berliner Mauer hieß es, in Italien lauere die kommunistische Gefahr. Wir sizilianischen Christdemokraten mussten also dafür sorgen, dass möglichst viele Sizilianer die Democrazia Cristiana – unsere Partei – wählten, damit das Land nicht nach links abdriftete. Sizilien war das größte Wählerreservoir der DC. Also begriff sich mein Vater als Opfer eines Systems, das gemäß den geheimen Übereinkünften mit den USA ein politisches Gleichgewicht bewahren musste. Autorin: Dieses „Gleichgewicht“ – gemeint ist die fast fünfzig Jahre dauernde Regierungszeit der Christdemokratischen Partei Italiens – ließ sich durch die so genannten „voti di scambio“, „Tauschstimmen“, am besten sichern. Mafia-Bosse, die das sizilianische Territorium und seine Bevölkerung fest im Griff hatten, zwangen die Bürger durch Einschüchterung und Gewalt, bei Wahlen für die DC zu stimmen. Im Gegenzug erhielten sie von den regierenden Politikern Schmiergelder, Gefälligkeiten verschiedener Art und Rückendeckung bei illegalen Geschäften. Eine Praxis, die sich bis heute bewährt. OT Ciancimino Fondamentalmente diceva che e facile operare a Milano... non è colpa nostra. Übersetzer: Mein Vater sagte, dass es leicht sei, in Mailand als Politiker zu agieren. Aber sizilianische Politiker seien leider dazu berufen, die Drecksarbeit zu machen. In Mailand kocht man Haute Cuisine, aber die Sizilianer hat man in die Frittenbude geschickt, und wenn sie nach Frittierfett stinken, ist das nicht ihre Schuld. Autorin: Vito Ciancimino, der Vater des Kronzeugen, war von 1959 bis 1964 Stadtbaurat Palermos, der größten Stadt und Hauptstadt der autonomen Region Sizilien. Er stammte aus Corleone, einer Mafia-Hochburg, 60 Km südlich von Palermo. Die Corleoneser Clans galten als die gewalttätigsten der Cosa Nostra und strebten die Vorherrschaft über die Organisation an. 1970 wurde Vito Ciancimino auf Betreiben der Mafia-Bosse seiner Heimatstadt zum Bürgermeister Palermos gewählt. Es sind die Jahre der so genannten „Plünderung Palermos“, der ungehemmten Bauspekulation, die das Zentrum der Stadt verunstaltete und Unsummen an Steuergeldern in die Taschen von Mafiosi und korrupten Politikern spülte. Der Bürgermeister sorgte dafür, dass Politiker und Mafiosi beim Geschäft mit öffentlichen Bauaufträgen den Reibach machten. Das korrupte Verteilungs-Netzwerk, das sich damals etablierte, hat nicht von ungefähr den Namen „Ciancimino-System“ erhalten. In den Versammlungen, bei denen die Vergabe öffentlicher Bauprojekte und die Verteilung der Gewinne besprochen wurden, kamen Politiker, Unternehmer und Mafiosi zusammen. Unter ihnen: Bernardo Provenzano, ein Cosa-Nostra-Boss, mit dem Vito Ciancimino eine echte Freundschaft verband.

4 OT Ciancimino Un rapporto che risale da bambino, lo ha conosciuto a bambino... condivisione di tante situazioni. Übersetzer: Er kannte Provenzano, seit er ein Kind war. Als Jugendlicher hatte er Bernardo Nachhilfestunden in Mathe gegeben, manchmal hatte er ihm auch eine Ohrfeige verpasst. Sie hatten ein sehr respektvolles Verhältnis. Mein Vater duzte Provenzano, weil er der Ältere von beiden war, während der ihn siezte. Autorin: Obwohl Bernardo Provenzano seit 1963 steckbrieflich gesucht wurde, ging er im Hause Ciancimino unter dem Decknamen Ingenieur Lo Verde ein und aus. Erst im Alter von 18 Jahren will Massimo Ciancimino begriffen haben, wer sich hinter dem netten Familienfreund verbarg. Als er in einer Zeitschrift ein rekonstruiertes Fahndungsbild des längst untergetauchten Cosa-Nostra-Bosses sah, erkannte er die Züge Lo Verdes. OT Ciancimino Ho detto: ma sbaglio o è uguale a Lo Verde? ... era una risposta affermativa. Übersetzer: Ich habe meinen Vater gefragt: Irre ich mich, oder ähnelt er Lo Verde? Vaters Miene verdüsterte sich und er sagte: „Achte darauf, worüber du sprichst und mit wem. Denn im Zweifelsfall kann dich niemand schützen, nicht einmal ich.“ Diese Antwort war eindeutig eine Bestätigung meines Verdachts. Autorin: Massimo wurde später der Bote, der seinem Vater Provenzanos „Pizzini“ überbrachte: Zettelchen, auf denen der untergetauchte Boss chiffrierte Anweisungen erteilte, die nur für die Adressaten verständlich waren. Natürlich musste Massimo dem Boss auch die Antworten seines Vaters übergeben. Das wurde vor allem ab 1984 notwendig, nachdem Vito Ciancimino wegen Zugehörigkeit zur Mafia verhaftet worden war. Obwohl die Richter seine Haftstrafe immer wieder in Hausarrest umwandelten, konnte er nicht mehr ungehindert Besuch empfangen, schon gar nicht den Besuch eines untergetauchten Cosa-Nostra-Bosses. Dennoch blieb Ingenieur Lo Verde, alias Bernardo Provenzano, bis zuletzt der erste und wichtigste Berater von Vito Ciancimino. Der zweite war: Signor Franco, ein Geheimdienstagent, der großen Einfluss auf den Politiker ausübte und während seiner gesamten Wirkungszeit im Verborgenen die Fäden zog. Wahrscheinlich kamen sie um 1969 in Kontakt, als Bernardo Provenzano mit einem Blutbad die Vorherrschaft der Corleoneser Clans über Palermo und die gesamte Cosa Nostra erkämpfte. Es kam zu einem regelrechten Feuergefecht mitten in Palermo, dabei wurde auch ein Corleoneser Boss erschossen. In seinem Buch „Don Vito“ schreibt Massimo Ciancimino: Zitat: Der Vorfall zwang die für die öffentliche Ordnung Verantwortlichen zu handeln, und wie so oft in der Geschichte Italiens war ihnen jedes Mittel recht, um das Problem zu lösen und ihre Position zu sichern. Mein Vater wurde deshalb zu einem ranghohen Treffen mit den Ministern Restivo und Ruffini nach Rom gerufen und dazu ermuntert, sich um einen dauerhaften Kontakt zur neuen Corleoneser Mafiaführung zu bemühen. Das war der Beginn der Verbindung zum Geheimdienst. Autorin: Das Italien, das aus den Schilderungen Massimo Cianciminos hervorgeht, ist ein Land, in dem die Mafia zum politischen System gehört. Sie ist ein unentbehrliches Rad in der Maschinerie der Macht. Und bisweilen, so scheint es, Vollstrecker von Drecksarbeiten, mit denen sie der staatliche Geheimdienst beauftragt.

5 Das macht den Kronzeugen Ciancimino für etliche Vertreter der politischen Elite Italiens höchst gefährlich. Sein Vater Vito hatte ihm u.a. Parteiinterna anvertraut, die zur Aufklärung mancher so genannten „Geheimnisse Italiens“ durchaus nützlich sein könnten. Ein solches Geheimnis ist bis heute der „Fall Moro“. Der Christdemokrat Aldo Moro war von 1963 bis 1968 und von 1974 bis 1976 Ministerpräsident Italiens. In den 70er Jahren setzte er sich für den „Historischen Kompromiss“ ein: einen Solidaritätspakt zwischen der DC und der kommunistischen PCI, um die Wirtschaftskrise gemeinsam zu bewältigen. Außerdem befürwortete er den Austritt Italiens aus der NATO. Verständlich, dass er den Amerikanern und den konservativeren DC-Kadern ein Dorn im Auge war. 1978 wurde er von den Roten Brigaden entführt und nach 55 Tagen Geiselhaft im Kofferraum eines Autos tot aufgefunden. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die Geheimdienste an der Entführung Moros beteiligt waren. Was Massimo Ciancimino über Moros Ermordung von seinem Vater erfuhr, erhärtet diese Annahme. OT Ciancimino Mio padre mi racconta che in quel momento una parte di Cosa Nostra...che ho raccontato ai giudici. Übersetzer: Einige Mafiosi dachten, damit auftrumpfen zu können, dass sie der DC Hinweise über das Versteck gaben, in dem Moro gefangen gehalten wurde. Diese Initiative der Mafia wurde von meinem Vater nach einer Aussprache mit der Parteispitze gestoppt. Sie sagten, die Entführung Moros sei eine interne Angelegenheit der Partei und niemand dürfe sich da einmischen. Das ist zumindest das, was mein Vater mir erzählt und auch aufgeschrieben hat. Autorin: Vito Ciancimino ließ u.a. Sätze fallen, die General Dalla Chiesa und seinen ominösen Tod betrafen. Carlo Alberto Dalla Chiesa war ein verdienter und pflichttreuer General der polizeilichen Sondereinheit der Carabinieri. Ab 1978 koordinierte er alle italienischen Polizeikräfte im Kampf gegen den Terrorismus. Er hatte sowohl gegen die Mafia als auch gegen die Roten Brigaden höchst erfolgreich ermittelt. Aber während der Ermittlungen über Moros Ermordung waren ihm Dokumente in die Hände gefallen, die Staatsgeheimnisse enthielten und den damaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti belasteten – so sagten später Zeugen aus, denen sich Dalla Chiesa anvertraut hatte. 1982 wurde der General unerwartet nach Palermo berufen, um gegen die Cosa Nostra vorzugehen. Am 3. September, hundert Tage nach seiner Ankunft auf Sizilien, wurde er im Auto, zusammen mit seiner Frau, mit einer Salve aus AK-47-Maschinenpistolen ermordet. Sicher ist, dass die damalige Regierung unter Ministerpräsidenten Spadolini General Dalla Chiesa politisch isoliert und ihm die Sondervollmachten verweigert hatte, um die er für den Kampf gegen die Mafia ersucht hatte. Sicher ist auch, dass Beweismaterial über die Ermordung Moros, das Dalla Chiesa gesammelt hatte, nach seinem Tod spurlos verschwand. OT Ciancimino Non lo so. Mio padre scriveva che Dalla Chiesa ...non voglio arrivare a conclusioni o a sentenze. Übersetzer: Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Aber mein Vater schrieb in seinen Notizen, dass der Mord an General Dalla Chiesa von der römischen Parteizentrale der DC in Auftrag gegeben worden war. Ich habe diese Notizen der Staatsanwaltschaft übergeben und will keine eigenmächtigen Schlüsse ziehen. Autorin: In den Achtziger Jahren kam auf Sizilien einiges in Bewegung. Wegen seiner Verbindung zur Cosa Nostra wurde Vito Ciancimino nach Attacken der Presse und der Antimafia-Kommission

6 von der eigenen Partei allmählich ins Abseits gedrängt. Die alten Komplizen gingen auf Distanz und wuschen ihre Hände in Unschuld. Neue Politiker traten auf den Plan und Staatsanwälte, die sich nicht mehr korrumpieren ließen und den Kampf gegen die Mafia aufnahmen. Am 3. November 1984 wurde Vito Ciancimino wegen Zugehörigkeit zur Mafia verhaftet. 1985 trat Leoluca Orlando das Amt des Bürgermeisters von Palermo an. Er brach entschieden mit den bisherigen politischen Praktiken der DC und wurde zum Vorkämpfer der Antimafia-Bewegung. Heute ist Orlando EU-Abgeordneter für die Partei Italia dei valori, Italien der Werte, die Silvio Berlusconis Rechtsbrüche laut und unbeirrt anprangert. OT Leoluca Orlando Per tanto tempo mafia e stato si identificavano in Italia ...organizazione criminale ad un sistema di potere Übersetzer: Lange sind Mafia und Staat in Italien eins gewesen. Vito Ciancimino war das Symbol dieser Allianz. Er war zugleich Bürgermeister von Palermo und Mafia-Boss. Die Allianz ist dank des Einsatzes mutiger Richter und Staatsanwälte, dank des Antimafia-Pools von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, dank einer Verwandlung der Politik zerbröselt. Und auch dank der Worte des damaligen Erzbischofs von Palermo Salvatore Pappalardo, der das lange Schweigen der Kirche über die Mafia brach. Bislang hatte die Kirche vor der Mafia Augen, Ohren und Mund verschlossen. Sie konnte zwar nicht verleugnen, dass es Morde gab, aber sie verleugnete, dass diese Morde mit einem kriminellen Machtsystem zu tun hatten. Autorin: Von 1978 bis 1983 wurden in einem Mafia-Krieg, bei dem die Corleoneser und die Palermitaner Clans um die Vorherrschaft kämpften, mehr als tausend Menschen umgebracht. Dann schreckte die Cosa Nostra, nun vom Corleoneser Boss Toto Riina angeführt, nicht einmal davor zurück, den italienischen Staat direkt herauszufordern. Sie gab ihre traditionelle Politik des Untertauchens und der Infiltration staatlicher Stellen durch Korruption auf und überzog Italien mit einer beispiellosen Serie von Attentaten. Dutzende kritische Politiker, Beamte, Unternehmer und Journalisten wurden mit Maschinenpistolen niedergemäht und durch Sprengstoffanschläge zerfetzt. Ein Zeichen, dass die friedliche Koexistenz von Mafia und Staat Vergangenheit war. Gleichzeitig schien der italienische Staat endlich hart gegen die Mafia vorgehen zu wollen. Der Richter Rocco Chinnici stellte einen Pool von Richtern und Staatsanwälten zusammen, die sich ausschließlich mit Ermittlungen und Prozessen gegen die Mafia befassten. Nachdem er 1983 von der Mafia mit einer Autobombe ermordet worden war, übernahm Antonio Caponnetto die Leitung des Antimafia-Pools. Zu seinen engsten Mitarbeitern gehörten Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Der von Falcone geleitete „Maxi-Prozess“, bei dem 400 Mitglieder der Cosa Nostra auf der Anklagebank saßen, endete mit unzähligen Verurteilungen zu mehreren Jahren Haft. Im Januar 1992 bestätigte die Cassazione, das Oberste Gericht Italiens, 19 Verurteilungen zu mehreren hundert Jahren Gefängnis gegen Kader der Cosa Nostra – anstatt, wie bislang, Urteile untergeordneter Gerichte aufzuheben. Daraufhin holte Riina zur endgültigen Strafaktion gegen den „vertragsbrüchigen“ Staat aus. Am 23. Mai 1992 wird Giovanni Falcone mit seiner Frau und drei Leibwächtern durch eine ferngesteuerte Bombe in die Luft gesprengt. 500 Kilogramm Sprengstoff hatten die Killer unter die Autobahn gelegt, die vom Flughafen Palermo in die Stadt führt. Die Explosion hinterließ einen enormen Krater und versetzte ganz Italien in Schock. Dem Entsetzen folgte eine Welle der Empörung. Vito Ciancimino, indessen aus dem Gefängnis entlassen, konnte sich aus dieser „Strategie der Massaker“ keinen Reim machen, erzählt sein Sohn. OT Ciancimino Si capisce benissimo come una contraposizione ... qualcosa che verra dopo.

7 Übersetzer: Es versteht sich von selbst, dass eine direkte Konfrontation mit dem Staat der Mafia nichts nützen konnte. In der Tat wurden nach dem Mord an Falcone die härtesten Antimafia-Gesetze verabschiedet. Mein Vater dachte sich: Was hat die Cosa Nostra davon, den Staat so direkt herauszufordern? Sie beging schreckliche Verbrechen, die nicht in ihrem Interesse waren. Das bedeutete, dass jemand ihr etwas für die Zukunft versprochen hatte. Autorin: Währenddessen geschieht etwas, womit auch der gewiefte Politiker Ciancimino nicht gerechnet hatte: ein General und ein Hauptmann der Carabinieri wenden sich an Massimo Ciancimino, um zu seinem Vater vorgelassen zu werden. Sie wollen mit der Cosa Nostra verhandeln, damit die das Schlachten einstellt. Vito Ciancimino soll als Unterhändler auftreten. Die „trattativa“ beginnt. OT Ciancimino La trattativa e un tentativo da parte die carabinieri ....alle istituzioni, la Mafia della convivenza. Übersetzer: Diese berühmt gewordene Verhandlung, ist ein Versuch der Carabinieri, den Massakern ein Ende zu setzen. Das Ergebnis war die Verhaftung von Toto Riina, der damals der Oberboss der Cosa Nostra war und für die Strategie der Massaker verantwortlich zeichnete. Er wurde durch Bernardo Provenzano ersetzt, einem Mafioso der leisen Schritte, mit dem die Cosa Nostra zum alten Stil zurückkehrte: untertauchen, direkte Konfrontation mit staatlichen Stellen vermeiden, auf „friedliche“ Koexistenz setzen. Autorin: In der Tat wird Toto Riina dank der Hinweise, die Provenzano den Carabinieri zukommen lässt, am 15. Januar 1993 in Palermo festgenommen. Das Haus, in dem er sich aufhält, wird – wie Provenzano und Ciancimino zugesagt – 18 Tage lang nicht durchsucht, so dass Riinas Frau in aller Ruhe kompromittierende Dokumente aus dem Safe räumen kann, u.a. das Beweisstück der zwischen Carabinieri und Mafia erfolgten Verhandlung. Davor, am 19. Dezember 1993, wurde völlig unerwartet Vito Ciancimino verhaftet. Die Oberstaatsanwaltschaft hatte die vorläufige Haftentlassung aufgehoben, die ihm bis zum endgültigen Urteilsspruch durch das Kassationsgericht gewährt worden war. Ciancimino ist sich sicher, verraten worden zu sein. Er nimmt an, dass andere jetzt zwischen Mafia und Politik vermitteln. Indessen sprechen mehrere Indizien dafür, dass es nach der ersten Verhandlung, in der Vito Ciancimino als Unterhändler agierte, eine zweite gegeben hat. Leoluca Orlando hegt daran keinen Zweifel. OT Orlando La seconda trattativa che e quella successiva ... poi il voto della mafia nei confronti di Forza Italia . Übersetzer: Die zweite Verhandlung fand zwischen 1993 und 1994 statt. Es ist jene Phase, in der die Mafia begreift, dass sie durch Gespräche mit Carabinieri und korrupten Staatsdienern nichts erreichen kann, und dass sie einen politischen Gesprächspartner braucht. Auf diese Zeit geht Silvio Berlusconis Kontakt mit der Mafia zurück – und dann der durchschlagende Wahlerfolg von Berlusconis Partei Forza Italia auf Sizilien mit Hilfe der Mafia. Autorin: In der Tat hatte die Cosa Nostra um 1992 ihre politischen Mitspieler verloren. In einer Reihe juristischer Untersuchungen, die man „Saubere Hände“ nannte, deckten Mailänder Staatsanwälte den Filz von Parteien und Wirtschaft, illegalen Parteifinanzierungen und Schmiergeldaffären auf, in denen die wichtigsten Politiker Italiens verwickelt waren. Unter den Skandalen brachen die Christdemokratische Partei und die Sozialistische Partei zusammen.

8 OT Ciancimino Nel momento in cui c e questa ricerca spasmodica ... bisognava creare una nuova entita e su quell entita si e puntato. Übersetzer: Da die Christdemokratische Partei offensichtlich den Bach hinunterging, suchte die Cosa Nostra verzweifelt nach einem neuen Unterstützer. Jeden Tag Ermittlungsbenachrichtigungen, Geständnisse, sämtliche Parteioberen auf der Anklagebank. Es war offensichtlich, dass eine Ära zu Ende ging, und dass man ein neues Kapitel aufschlagen musste. Aber wie? Die einzige Alternative wäre die Linke gewesen. Also musste man eine neue politische Kraft gründen. Und auf diese neue politische Kraft hat man dann gesetzt. Autorin: Die politische Kraft, die 1993 die politische Bühne betrat, hieß Forza Italia: eine Neugründung von Silvio Berlusconi und seinem Adlatus Marcello Dell’Utri. Über das Verhältnis der beiden zu seinem Vater hat sich Massimo Ciancimino vor den Richtern explizit geäußert. Bei einer Gerichtsverhandlung in Palermo im Februar 2010 erklärte er, Bernardo Provenzano habe ihm 1994 einen Brief übergeben, der an Marcello Dell’Utri und Silvio Berlusconi adressiert war. Er erhielt den Auftrag, den Brief seinem Vater Vito zu überbringen, der in Haft saß, damit der den Text überarbeiten konnte. Bei dieser Gelegenheit, sagt Massimo Ciancimino, habe ihm sein Vater anvertraut, mit dem Brief sollten Marcello Dell’Utri und Silvio Berlusconi an ihre Verpflichtungen gegenüber der Cosa Nostra erinnert werden. Schließlich war die von ihnen gegründete Partei Forza Italia aus Verhandlungen mit der Mafia hervorgegangen. Ist der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein Herrscher von Cosa Nostras Gnaden, wie manche schon lange munkeln? OT Ciancimino Non lo so, questo lasciamolo stabilire ai giudici...senno mi calunniano Übersetzer: Ich weiß es nicht, das sollen die Richter feststellen. Ich bin niemandes Ankläger. Ich glaube, dass ich bislang einige Wahrheiten erzählt habe, die bislang nur mir geschadet haben. Gegen mich wird wegen Mafiazugehörigkeit ermittelt. Und das aufgrund der Aussagen, die ich selbst gemacht habe. Also ist es nun die Aufgabe der Richter, die Ermittlungen weiter zu führen. Wenn sie mir glauben, müssen sie gegen mich ermitteln, wenn sie mir nicht glauben, verleumden sie mich. Autorin: Marcello Dell’Utri, Berlusconis langjähriger Weggefährte, hat freilich geleugnet, Vito Ciancimino jemals getroffen zu haben. Dell’Utri, bis heute Senator im italienischen Parlament für Berlusconis Partei, die jetzt Popolo della liberta` heißt, ist wegen Mafia-Zugehörigkeit in zweiter Instanz zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Doch bewahrt ihn die parlamentarische Immunität davor, seine Strafe tatsächlich absitzen zu müssen. Ihm wird angelastet, als Mittelsmann zwischen der Cosa Nostra und norditalienischen Unternehmern, u.a. Silvio Berlusconi, fungiert zu haben. Autorin: Massimo Cianciminos Glaubwürdigkeit ist von manchen in Frage gestellt worden. Mögen andere die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen anzweifeln – für Leoluca Orlando, in Palermo geboren und von 1985 bis 1990 Bürgermeister der Stadt, sind sie nur die Öffentlichmachung dessen, was auf Sizilien sogar die Steine wissen. OT Leoluca Orlando Quello che lui dice non so se e vero, ma e assolutamente verosimile. E per questo che i magistrati devono indagare sulle cose che lui afferma ...

9 Übersetzer: Ich weiß nicht, ob das, was er sagt, wahr oder falsch ist. Aber es ist absolut wahrscheinlich. Deshalb müssen die Staatsanwälte in den Angelegenheiten ermitteln, von denen er erzählt. OT Leoluca Orlando Ma c era bisogno di apettare le dichiarazioni di Massimo Ciancimino? ...accordi scellerati con la mafia? Übersetzer: Aber war es wirklich nötig, die Aussagen Massimo Cianciminos abzuwarten? Waren die Aussagen des Sohnes eines Mafioso nötig, um die Frage zu stellen, ob korrupte Vertreter des Staates versucht haben, mit der Mafia kriminelle Vereinbarungen zu treffen? ***