Leseprobe aus:

Wolf Serno

Die Liebe des Wanderchirurgen

Knaur Taschenbuch Verlag

Ein Tag war vergangen. Vitus hatte sich von der ungeheuren Anstrengung so weit erholt, dass er sich die Wunde des Magisters ansehen konnte. Es war ein faustgroßes Loch oberhalb des rechten Beckenknochens. Das Fleisch war durch die Musketenkugel bis zum Ansatz der unteren Rippe herausgerissen worden, die Leber war gottlob nicht verletzt. »Es ist nur ein Kratzer«, sagte der Magister, der auf der linken Seite lag, damit Vitus die Verletzung besser betrachten konnte. »Kratzer ist gut. Du musst Höllenqualen durchgestanden haben, als ich dich im Schweinsgalopp zum Beiboot trug.« »Ich habe noch ganz andere Sachen aushalten müssen.« Vitus fragte sich, was damit wohl gemeint war, beschloss aber, sich zunächst auf die Wundversorgung zu konzentrieren. »Ich sehe, jemand hat die Blessur schon behandelt. Wer war das?« »Ich selbst.« »Was, du?« Vitus wunderte sich. »Hattet ihr keinen Arzt an Bord?« »Ich würde ihn eher als Schlachter bezeichnen. Er fiel schon im Kanal. Seitdem waren wir ohne Arzt.« »Das müssen ja schlimme Zustände bei euch an Bord gewesen sein.« »Schlimm ist gar kein Ausdruck.« Vitus beschloss abermals, nicht weiter zu fragen. Die Verletzung hatte Vorrang. Er ging zum Regal des Behandlungsraums, wo er mehrere Pulver aufbewahrte, und entschied sich für eines, das die Wirkstoffe von Arnika und Beinwell enthielt. »Die Wunde ist tief, die Wundränder 583

sind entzündet. Aber am Boden hat bereits der Heilungsprozess eingesetzt.« »Ist mir auch schon aufgefallen. Habe die Wunde gewaschen und danach gut bluten lassen, um dem Wundbrand ein Schnippchen zu schlagen.« »Das scheint dir gelungen zu sein.« »Habe eben gutes Heilfleisch.« Zum ersten Mal, seit sie wieder zusammen waren, lachte der Magister. »Trotzdem wollen wir den Genesungsvorgang unterstützen. Ich werde die Wunde nicht nähen, dazu ist es zu spät, sondern nur die Ränder behandeln.« »Womit?« Wie immer wollte der kleine Gelehrte alles ganz genau wissen. Vitus erklärte es ihm. Anschließend legte er einen Verband an und verordnete Ruhe. »Am besten, du schläfst dich gesund.« »Ich will aber nicht schlafen.« Vitus musste lächeln. Der Magister begann wieder der Alte zu werden. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Ich … ich muss mit dir reden.« »Was, jetzt? Ich glaube nicht …« »Doch!« Vitus kannte den Starrsinn des kleinen Gelehrten. Wenn der sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war er durch nichts davon abzubringen. Andererseits war die Gelegenheit günstig, denn niemand sonst befand sich im Raum. »Gut, reden wir.« Er setzte sich auf die Kante der Pritsche. »Tja.« Der Magister kratzte sich an der hohen Stirn. »Jetzt, wo du einverstanden bist, fällt mir auf einmal nichts mehr ein.« 584

»Mir würde es auch schwerfallen, den Anfang zu machen.« »Habe mir in der Vergangenheit tausendmal überlegt, was ich sagen würde, wenn wir uns wieder träfen. Aber jetzt ist Ebbe in meinem Hirn.« Vitus legte die Hand auf den Arm des kleinen Gelehrten: »Sag doch einfach, dass es dir leidtut. Dann erginge es dir nämlich genau wie mir. Mir tut es auch leid, dass der verdammte Krieg uns auseinandergebracht hat. Wie leid, das kann ich dir gar nicht sagen. Es gab Tage, da hätte ich mein Leben dafür gegeben, mit dir reden zu können.« »So war’s auch bei mir.« Die Augen des Magisters leuchteten. »Ich hätte mich niemals so benehmen dürfen, als du Greenvale Castle verlassen wolltest.« »Ich hätte niemals gehen dürfen. Nicht wegen dieses Scheißkriegs.« Eine Weile sagten beide nichts. »Ist jetzt wieder alles gut?«, fragte der Magister. »Natürlich, altes Unkraut.« »Selber altes Unkraut!« Sie lachten. Und das Lachen nahm ihnen die Verlegenheit. »Weißt du«, sagte der Magister, »wovor ich am meisten Angst hatte damals, bevor ich ging? Ich malte mir aus, ein spanischer Soldat der Invasionsarmee würde nach Greenvale Castle kommen, mich verächtlich von oben bis unten anschauen und mich fragen, warum ich nicht zu den Fahnen meines Vaterlands geeilt sei. Ob ich ein Feigling sei, ein Drückeberger, ein Hasenfuß. Und das wollte ich um alles in der Welt nicht sein.« 585

»Das bist du ja auch nicht.« »Ich hätte trotzdem mit dir kommen sollen, dann wäre mir viel erspart geblieben. Bevor ich damals ging, habe ich dir auch gesagt, dass von zwei Kontrahenten nicht immer nur einer das Recht auf seiner Seite hat und dass es keinen Ausschließlichkeitsanspruch darauf gibt. Ich sagte, der Allmächtige möge entscheiden, welcher Partei er den Sieg schenkt. Nun, er hat sich entschieden – für England und gegen Spanien.« Vitus nickte. »Nie hätte ich gedacht, wie viele Intrigen, Bestechungen, lächerliche Eitelkeiten auf dem Offiziersdeck eines spanischen Kriegsschiffs zu Hause sind. Jetzt weiß ich es, denn ich habe eine entsprechende Kammer bewohnt. Ich war der persönliche Schreiber des Capitáns Don Francisco de Marcos, eines hartherzigen Mannes, der nicht den kleinsten Widerspruch duldete. Er war ein humorloser Blaustrumpf, dünkelhaft und dumm. Bei jeder Kleinigkeit ließ er die Peitsche sprechen und spielte innerhalb der Besatzung einen gegen den anderen aus – es war das Einzige, was ihm wirklich Freude bereitete. Alles andere war ihm egal. Sogar der Krieg war für ihn nur insoweit interessant, als er sich durch ihn Reichtum und Beförderung versprach. Und wie er dachten viele. Viel zu viele.« »Ist er tot?« »Ja, erschlagen von Strandräubern, wie fast alle anderen, die nicht ertrunken sind. Wenn ich mich versündigen wollte, würde ich sagen, Gott sei Dank!« »Nicht alle spanischen Schiffsführer sind so wie dieser Don Francisco de Marcos.« 586

Der Magister blickte Vitus überrascht an. »Woher willst du das wissen?« »Weil dieses englische Schiff von einem der fähigsten und ehrenhaftesten spanischen Offiziere befehligt wird.« »Willst du mir einen Bären aufbinden?« »Nein, es ist wirklich so.« »Und das mitten im Krieg?« »Du sagst es.« Vitus erzählte die außergewöhnliche Geschichte von Don Pedro, der als Gefangener an Bord gekommen war und nun als Kapitän die Camborne nach England segelte. Als er geendet hatte, sagte der kleine Gelehrte nachdenklich: »Das klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, aber wenn du sagst, dass es so ist, wird es so sein. Jedenfalls gibt es mir ein wenig den Glauben an meine Landsleute zurück. Im Übrigen bin ich ein Mann der Jurisprudenz und allein schon von daher verpflichtet, gerecht zu sein. Discite iustitiam moniti, wie es so schön bei Vergil heißt.« »Glaub mir, es gibt in jedem Volk und an jedem Ort solche und solche. Denk an die Schlagetots, die euch Wehrlose nach dem Sturm überfallen haben.« »Ja, das stimmt.« Der Magister krächzte und räusperte sich. »Möchtest du etwas trinken? Ich habe frisches Wasser.« »Wasser? Willst du mich vergiften?« Vitus lachte. Der Magister war wirklich schon wieder der Alte. Er stand auf und holte zwei Becher mit Brandy. »Prost, altes Unkraut!« »Selber altes Unkraut!«

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»Jetzt musst du mir aber erzählen, wie es dir gelang, den Überfall der Strandräuber zu überleben.« »Wenn ich bedenke, dass ich zu dem Zeitpunkt noch kaum aufstehen konnte, ist es fast ein Wunder, dass ich überlebt habe. Genau genommen habe ich meine Rettung nur dem heiligen Jakobus zu verdanken.« Der Magister trank noch einen Schluck. »Der heilige Jakobus? Meinst du den, nach dem der Jakobsweg benannt wurde? Was hat denn der mit der ganzen Sache zu tun?« Vitus folgte dem Beispiel des kleinen Gelehrten und trank ebenfalls noch einen Schluck. »Genau den meine ich. Der heilige Jakobus war aus Holz und schon ziemlich wurmstichig und altersschwach, als ich ihn in La Coruña kennenlernte. Er war die Galionsfigur der Santa Maria, die ich dort bestieg, um den Dienst für mein Vaterland aufzunehmen. Weil der heilige Jakobus so altersschwach war, brach er schon bei einem der ersten Stürme im Kanal ab. Wahrscheinlich wollte er die Bekanntschaft von Poseidon machen, vielleicht auch mit einer hübschen Meerjungfrau anbandeln, auf jeden Fall war er spurlos verschwunden. Fortan fuhren wir ohne Galionsfigur, aber jedes Mal, wenn ich in den Garten musste, fiel mir die Bruchstelle auf. Einige, die bei der Gelegenheit neben mir hockten, meinten, es brächte Unglück, dass der heilige Mann nun nicht mehr am Bug voranpilgerte, und wenn ich ehrlich bin, ging es mir auch ein wenig so. Aber du weißt, dass ich von Haus aus optimistisch bin, und deshalb machte ich mir keine weiteren Gedanken. Das erste Mal jedoch zweifelte ich, als ich den Schuss in die Hüfte bekam, ich …« 588

»Das war beim Kampf mit unserem Schiff. Einer unserer Musketenschützen traf dich, ich sah, wie du zusammenbrachst. Es war, als wäre ich selbst getroffen worden. Seitdem ist die Camborne hinter der Santa Maria her. Ich wollte dich unbedingt einholen und deine Wunde verarzten. Und wie du siehst, ist es mir gelungen.« Der Magister blinzelte. »Die ganze Zeit bist du hinter mir her? Beim Blute Christi, ich wusste gar nicht, dass du so hartnäckig sein kannst! Spätestens jetzt weiß ich, dass du mir mein Fortgehen nicht mehr krummnimmst.« Um die neuerlich aufkommende Verlegenheit zu überbrücken, fragte Vitus: »Und wie ging es nun weiter mit dem heiligen Jakobus?« »Das zweite Mal zweifelte ich an meinem Optimismus, als der Sturm uns hier an die Küste warf, und das dritte Mal, als die Strandräuber kamen. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, man sah, dass die Kerle sich von überall her zusammengerottet hatten. Sie waren mit allen nur erdenklichen Waffen ausgerüstet, vom guten Militärdegen bis hin zur gemeinen Mistgabel, aber in ihrer aller Augen stand nur eines: Mordlust und Gier. Es war in den Abendstunden. Wie die Ameisen krabbelten sie auf das Schiff, und ich überlegte verzweifelt, wo ich mich verstecken könnte. Es schien aussichtslos. Die Schandbuben durchsuchten auch den kleinsten Winkel, ihren habsüchtigen Augen entging nichts, sie schienen das Ganze nicht zum ersten Mal zu machen. Ich floh vor ihnen von Kammer zu Kammer, von Deck zu Deck. Die Situation wurde immer kitzliger, zumal ich kaum noch laufen konnte. Ich befand mich mittlerweile im Vorschiff, und da fiel mir, Deo gratias, der hei589

lige Jakobus ein, der seinen Platz schon im Kanal verlassen hatte. Ich beschloss, an seiner statt dem Schiff voranzupilgern, kletterte über den Galion nach vorn, kroch unter den Bugspriet, machte mich lang und hielt mich an einigen gespannten Seilen fest.« »Donnerwetter, darauf wäre ich nicht gekommen.« In Vitus’ Worten schwang Bewunderung mit. »Du warst sehr klug.« »Ich war der heilige Jakobus. Und ich überlebte als Einziger, denn niemand von den Schlagetots merkte, dass ich nicht aus Holz war. Irgendwann, als die Hunde fort waren, fehlte mir die Kraft, mich weiter zu halten. Ich musste loslassen und fiel in das Netz unter dem Bugspriet.« Der Magister blinzelte kurzsichtig. »Und dabei hast du wieder einmal deine Berylle verloren.« »Die habe ich schon viel früher verloren. Ein Windstoß blies mir das Gestell von der Nase.« »Wir werden dir in Worthing neue Gläser machen lassen.« »Endlich wieder besser sehen! Das ist Musik in meinen Ohren.« »Noch ist es nicht so weit. Erst einmal schläfst du.« »Aber ich …« »Keine Widerrede, oder willst du einen neuen Streit vom Zaun brechen?« »Da sei Gott vor!« »Na siehst du.« Vitus zog dem Magister die Bettdecke bis zum Hals und verließ den Raum. Er war glücklich.

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