DIE LEGENDEN VON CONAN Erstes Buch: Zweites Buch: Drittes Buch:

Das Blut der Wölfe Die Rache der Cimmerier Das Lied der Sieger

Loren Coleman

Das Lied der Sieger Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe Age of Conan: Songs of Victory Deutsche Übersetzung von Andreas Decker Das Umschlagbild schuf Arndt Drechsler

SGS-COC-1940

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Heyne-Verlag liefert Mochenwangen Papier.

Deutsche Erstausgabe 02/2008 Redaktion: Joern Rauser Copyright © 2005 by Conan Properties International, LLC Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2008 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Andreas Hancock Satz: Leingärtner, Nabburg Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-453-52164-3 www.heyne.de

Dieser Roman ist meiner neuesten Lektorin gewidmet: Ginjer Buchanan Mit Dankbarkeit und den besten Wünschen

1 er Morgen brach mit einer unheilschwangeren Stille an, die den Murroghwald verstummen ließ. Vogelgezwitscher und das Blöken des Viehs, das man schon lange zum frühmorgendlichen Grasen hätte herauslassen müssen, wurde von den langgezogenen, schleifenden Geräuschen ersetzt, die entstehen, wenn Eisen über Stein gleitet. Ein trockenes Schaben – wie über die Schneide eines Breitschwertes, das mit einem schnellen, harten Knirschen endete. Und wieder von vorn anfing, nun jeden Augenblick mit dem gleichen rauen Flüstern in die Länge zu ziehen. Schnickt. Kearn Wolfsauge legte die Finger um den Griff seines Kurzschwertes, das noch immer in der Scheide an seiner Seite steckte, und trat hinter dem kleinen Zaun aus Schösslingen hervor, die er gegen einen einzelnen Baumstamm aufgeschichtet hatte. Die grauen Wolken in der Höhe zogen eine dichte Decke über den Himmel und ließen die Morgendämmerung allein zu Zwielicht und Schatten werden. Misstrauisch musterte er die Bewölkung: noch nicht schwer genug, um ausreichend Regen zu bringen. Ein weiterer Tag grauer Frühlingswolkenbrüche. Sein langes, frostblondes Haar hing durchnässt von einem früheren Schauer in verfilzten Zöpfen seitlich an seinem Kopf herunter. Er trug ein Kettenhemd aus angelaufenen

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Eisenringen und Armschienen; an den sonst nackten Oberarmen steckte jeweils noch ein silberner Armreif. An beiden Armen war eine Gänsehaut entstanden; seine Nackenhaare sträubten sich ebenfalls. Nichts davon hatte mit der Nässe oder Kälte zu tun. Kearn stand auf einem der schmalen Viehpfade, die den Hang unterhalb von Gorram entlangführten, und betrachtete den Wald. Oder zumindest das, was er davon sehen konnte. Dichter, tief liegender Nebel schwebte zwischen Kiefern und Birken und Zedern und verbarg die noch tiefer gelegenen Wege. Der Nebel bewegte sich, als wäre er lebendig, wogte an den dicken Ästen vorbei. Atmete. Stemmte sich gegen den Fuß des Hangs, als würde er für den kurzen, steilen Aufstieg Kräfte sammeln. Die alles einhüllende, graue Masse türmte sich nur einen Steinwurf unter der ersten Mauer des Dorfes empor, hinter der sich ein halbes Dutzend Männer mit gezückten Schwertern duckte: bereit. Es würde nicht mehr lange dauern. Das war ihm klar. Dort draußen wartete etwas. Ein Geruch wie kalter Stahl und dann der kupferne Geschmack von Blut, der auf seiner Zunge brannte. Schnickt. Ein paar scharfe Blicke trafen ihn. Krieger, die er größtenteils nicht erkannte, die hinter Felsen oder kleinen Steinhaufen oder einem anderen jener Zäune kauerten, die man schnell errichtet hatte, um einem Mann Deckung zu geben. Oder einer Frau. Die genauso wie er auf das Kommende warteten. Es waren Clansleute, kleiner als normale Cimmerier. Stämmiger. Mit braunen Augen und starken, eckigen Kiefern. Leute aus dem Osten. 10

Nur einer von Kearns Wölfen kauerte in der Nähe. Aodh. Er hockte am Rand einer niedrigen Steinmauer auf den Fersen. Die Reisen und Kämpfe eines harten Winters hatten ihm eine schlanke und muskulöse Gestalt verliehen. Er war ein Veteran mit mehr als vierzig Sommern, und das Grau in seinen kurz geschnittenen Haaren kündete genauso von seinem Alter wie jenes Grau, das sich in seinem langen Schnurrbart zeigte. Aodh hatte das Breitschwert quer über den Oberschenkeln liegen und hielt einen Schleifstein in der rechten Hand. Er zog den Stein über die Länge der Klinge, schärfte die Schneide mit langen, gleichmäßigen Zügen, ohne auch nur einmal den Blick von seiner Arbeit zu heben. Schnickt. Kearn ignorierte das wütende Zischen eines von Gorrams Kriegern in der Nähe, so wie er Aodh seinen konzentrierten Vorbereitungen überließ. Früher oder später ging jedem die Ruhe und Stille vor einer Schlacht auf die Nerven. Er vertraute darauf, dass jeder Mann und jede Frau auf sich selbst aufpassten. Schließlich war das Dorf so gut vorbereitet, wie es in der kurzen Zeit, die ihnen zur Verfügung gestanden hatte, nur möglich gewesen war. Steinmauern waren geflickt worden. Büsche, die einen Sturm den Hang hinauf möglicherweise als Haltegriffe erleichtert hätten, waren gerodet worden. Kearns Krieger hatten Hunderte von Schösslingen gefällt und den Wald ausgedünnt, ihre oberen Enden angespitzt, um primitive Speere aus ihnen zu machen, die man im Hang eingegraben hatte. Ihre Spitzen zeigten schräg in die Tiefe, in das Gesicht eines jeden Angreifers, der versuchen sollte, zu dem Dorf hochzusteigen. 11

Zwei Dutzend Hütten gab es, eine Schlachtergrube und ein paar Unterstände. Das Dorf Gorram war klein, aber der Häuptling von Clan Murrogh hatte versprochen, es würde reich an Vieh und starken Armen sein. Kearn hatte das nicht geglaubt, als er am Vortag das Hügeldorf betreten hatte. Kein Platz für Getreidefelder. Schlechtes Weideland. Doch die Gorramer hatten ihn überrascht; vierzig gut bewaffnete Krieger und zwei Dutzend Stück Vieh, die man in eine Spalte im Berg getrieben hatte. Die Länder des östlichen Cimmeriens zeigten Kearn ständig neue Seiten. Wie zum Beispiel den Jungen, der in der Nähe von Kearns linker Schulter plötzlich den Kopf über die Mauer schob. Er trug ein ärmelloses Wams und einen schlichten braunen Kilt. Honigbraune Locken rahmten ein junges, noch unfertiges Gesicht ein. An der Nasenseite und Wange klebten Schmutz. Er hatte dünne Arme und schlanke Hände, noch nicht groß genug für ein Schwert. Zwölf Sommer alt, höchstens. Kearn schluckte einen Fluch herunter und rammte die schon zur Hälfte gezogene Klinge zurück in die Scheide. Mit der Hand rieb er sich über das Gesicht und fühlte frische Bartstoppeln. »Dumme Idee, Junge, sich so an einen Mann ranzuschleichen.« Er warf dem Jungen einen finsteren Blick zu und sah zufrieden, wie er einen Satz zurücktat, als hätte ihn etwas gebissen. »Es ist die Wahrheit«, flüsterte der Junge. »Du hast Wolfsaugen. Die anderen Jungen, sie haben gesagt, das wäre bloß Gerede.« So viel zur Zufriedenheit. 12

Er fühlte, wie sich in seinem Inneren etwas verfinsterte, wie eine Tür, die sich in einem fensterlosen Raum schloss, gefolgt von einem warmen Aufwallen von Wut, die er schnell mit einer kalten, dunklen Decke erstickte. Sie war immer da, diese Wut – diese Macht –, die in seinem Hinterkopf lauerte. Sie lockte ihn bei jeder Gelegenheit. Er hätte nur nach innen schauen und sie umarmen müssen. Und natürlich hatte der Junge den wunden Punkt von Kearns dunkler Vergangenheit zielsicher getroffen. Man musste bloß in seine Richtung schauen. Nicht alle Gorramer mochten wie typische Cimmerier aussehen, ein Volk, das für gewöhnlich Haare so schwarz wie Kohle und blaue Augen in der Farbe eines Sommerhimmels aufwies. Verglichen mit Kearn aber waren sie Croms direkte Abkömmlinge. Sein frostblondes Haar und die blass wächserne Haut markierten ihn überall als Außenseiter. Doch es waren seine goldenen Augen, die an den wilden Blick eines Wolfes denken ließen, an die sich alle erinnerten und die so viele fürchteten. Es ist bloß ein Junge, rief er sich ins Gedächtnis zurück. »Warum bist du nicht in einem Zimmer eingeschlossen?«, fragte er. »Bin aus dem Fenster geklettert. Wollte dich mit eigenen Augen sehen.« »Das hast du ja jetzt getan. Also geh zurück zur Hütte.« Der Junge stemmte sich mit den dünnen Armen über die Mauer. »Willst du mich dazu zwingen?« Ein Hauch von Trotz, der Kearn recht bekannt vorkam. Er hatte ihn selbst gehabt, als er in Gaud aufgewachsen war. Vielleicht sogar etwas ausgeprägter als andere, da er bei seinem eigenen Clan ein Außenseiter gewesen war. Es waren 13

keine ganz und gar unglücklichen Erinnerungen. Vielleicht waren sie sogar besser als manch andere in diesen Tagen. Anstatt sich also herumzustreiten oder bei den Gorramern Ärger zu machen, weil er den Jungen den Berg hinaufjagte, zuckte er bloß die Achseln. Wandte sich ab, hielt inne und zog einen langen Dolch aus der Scheide an seinem breiten Ledergürtel, den er dem Jungen zuwarf. »Wenn du schon draußen bist, dann wenigstens bewaffnet.« Der Junge starrte den Dolch an, dann Kearn. »Vater hat mir verboten, jetzt schon zu kämpfen.« Kearn sparte sich die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass ihm sein Vater vermutlich auch verboten hatte, die Nase aus der Hütte zu stecken. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Nebel zu, als ein schwarzer Blitz in seinem Hinterkopf aufzuckte. »Wenn es unser Feind bis hierher schafft, dann werden die Verbote deines Vaters keine Rolle mehr spielen, Junge.« Der Junge wog den Dolch auf der ausgestreckten Handfläche. »Vielleicht kommen sie ja gar nicht.« Er klang enttäuscht. Aber Kearn wusste es besser. Seine Nackenhaare sträubten sich. »Sie sind schon da«, sagte er und ging hinter dem Holzzaun in Deckung, als ein Pfeil aus der Nebelwand schoss und direkt unterhalb des Jungengesichts an der Steinmauer zerbrach. »Angreifer!« Mehrere Stimmen brüllten Alarm. Pfeile zischten aus der Deckung des hereinbrechenden Morgens. Dunkle Schatten, die sich im Nebel abzeichneten, verfestigten sich zu Män14

nern, die Pfeile abschossen, weiterliefen und dabei nach dem nächsten Pfeil griffen. Ein zweiter Pfeil bohrte sich in den Zaun, hinter dem sich Kearn Wolfsauge verbarg. Er ließ die Deckung mit einem hammerähnlichen Schlag erzittern, die Spitze bahnte sich ihren Weg durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Schösslingen. Ein drittes und viertes Geschoss zersplitterten an der Steinmauer. Der Junge riss die Augen vor Furcht und Aufregung weit auf. »Runter mit deinem dummen Kopf!« Kearn packte einen Stein und warf ihn dem Jungen an den Kopf. Er traf ein Ohr und überzeugte ihn endlich, dass es wohl klüger war, hinter der Mauer in Deckung zu gehen. In der Nähe kroch Aodh hinter seinem Steinhaufen hervor und rollte sich zurück in Deckung, während sich eine neue Salve genau an der Stelle in den Boden bohrte, an der er gerade eben noch gelegen hatte. Er gab Kearn ein Signal, wackelte mit den Fingern. Zweimal, dreimal … viermal. Zwanzig. Zwanzig Krieger hätten Gorram niemals erobern können, nicht einmal bevor Kearns Truppe eingetroffen war, um dem Dorf zu helfen, sich auf eine Belagerung vorzubereiten. Zwanzig Krieger hätten Ärger bereiten und ein paar Männer töten können. Ein paar Kühe stehlen können, falls sie die Überraschung auf ihrer Seite gehabt hätten. Gegen ein vorbereitetes und bewaffnetes Dorf hatten sie keine Chance. Sie hatten es nur noch nicht begriffen. Kearns Wölfe wollten ihnen ihren Irrtum begreiflich machen. Gleich. Er hatte gut geschätzt, schob sich hinter dem kleinen Zaun hervor, hob seinen Schild auf, der in der Nähe auf dem Boden lag, und machte sich bereit. Er spähte am Schildrand 15

vorbei, sah, dass die ersten Schatten die niedrigste Steinmauer fast erreicht hatten. Vanir! So leicht zu erkennen mit ihrem feuerroten Haar und den Helmen, die mit allen möglichen Tierhörnern geschmückt waren. Sie stürmten aus dem Nebel und ignorierten die zickzackförmigen Viehpfade. Krieger mit Schwertern und Schilden kämpften sich die schlammige Anhöhe hinauf, gedeckt von den Bogenschützen mit den schweren Kriegsbögen hinter ihnen. Sie brüllten aus vollem Hals ihre Schlachtrufe, und Kearn hörte mehr als nur eine erbitterte Stimme, die »Ymir-egh« schrie. Von Ymir verflucht. Diese Krieger waren wegen ihm gekommen. Blitzende Funken tanzten hinter Kearns Lidern, zerplatzten in seinen Gedanken. Bald. Irgendwo erscholl im Schutz des Nebels ein Horn und ließ ein langes, düsteres Signal ertönen: trieb die Vanir an. Kearn brauchte ein solches Instrument nicht. Seine Männer kannten ihre Aufgabe und hatten sie in den vielen Monaten, die sie zusammengelebt, gekämpft und geblutet hatten, zu einer wahren Meisterschaft verfeinert, auf Schlachtfeldern, die vom Conall-Tal über das Land der Gebrochenen Beine bis zu den östlichen Pässen der Schwarzen Berge reichten. Bald … jetzt! Ein Stück unterhalb von Kearn sprangen plötzlich vier Männer mit Bögen hinter ihrer Deckung hervor und schlugen wie Felsskorpione aus dem Hinterhalt zu. Sie schossen auf die angreifenden Vanir, ließen Pfeile auf ihre erhobenen Schilde regnen und verlangsamten den Sturmangriff. Eine zweite Salve folgte auf der Stelle. 16

Ein Pfeil raste an der Deckung vorbei, die breite Spitze grub sich in die Schulter des Mannes. Sie riss ihn herum und brachte ihn auf dem trügerischen Untergrund aus dem Gleichgewicht. Er rutschte aus, stürzte und rollte den Hügel hinunter, bis er gegen einen Felsbrocken knallte. Sein Schmerzensschrei brach ab, als sein Kopf von einer scharfen Steinkante gespalten wurde. Trotz der Salven schafften es zwei Vanir bis zu der untersten Mauer: ein Mann und eine Frau. Sie zogen sich hinauf. Der Mann zuckte mit einem gepeinigten Aufschrei zurück, als ein Schwert hinter der Mauer aufblitzte, auf sein Handgelenk niederraste und ihm die Hand abschlug. Blut spritzte in heißen Stößen aus dem Stumpf, und Desagrena erhob sich aus ihrem Versteck. Selbst von hinten erkannte Kearn sie an ihrer geschmeidigen Gestalt und den schnellen Bewegungen. Sie rammte dem Mann das Breitschwert in die Brust … dann noch einmal … und er kippte zurück und war schon tot, bevor er auf dem Boden aufschlug. Der zweiten Kriegerin erging es nicht viel besser. Sie schaffte es, sich über die Mauer zu rollen und sicher auf die Füße zu kommen. Und sah sich einem der größten Cimmerier gegenüber, den sie vermutlich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Reave hatte die Kraft und Größe eines Schwarzbären, und mit seinem wild wuchernden Bart sah er auch nicht viel anders aus. Er schwang ein cimmerisches Langschwert, ein scharfes Stück Stahl von beeindruckender Länge, mit dem er weit ausholte und der Kriegerin Schulter und Brustkorb spaltete. Sie sackte blutend und tot zusammen. Drei Angreifer lagen bereits am Boden. Kearn hatte noch 17

immer vier Krieger, die hinter der niedrigen Mauer kauerten und bis jetzt verborgen geblieben waren. Er hätte den unteren Teil des Hanges mühelos halten können. Den Angriff abwehren, die Invasoren für die Vergewaltigung Cimmeriens mit Tod und Qualen bestrafen können. Der Blutdurst, der in ihm aufstieg, verlangte danach. Verlangte nach Schmerzen, nach ihrem Tod. Ihrer Verdammnis! Aber bei der Verteidigung von Gorram ging es nicht ums Töten, so sehr es ihn auch danach verlangte. Es ging darum, dem örtlichen Häuptling zu beweisen, dass Kearns Vorgehen solide und verlässlich war, und zwar in jeder Hinsicht. Ein Pfeil schlug gegen den Bronzebeschlag von Kearns Schild, prallte ab und grub sich in den schmalen Viehpfad neben ihm. In diesem Augenblick hätte er beinahe das Schwert gezogen und wäre den Hang hinuntergestürmt, mitten in den Angriff hinein. »Nein«, flüsterte er. Das durfte er nicht. Noch nicht. »Zurück, zurück, zurück!«, brüllte er den Hügel hinunter. Dann sah er hinter dem Schildrand zu, wie Reave und Desagrena die Steinmauer hielten, während die vier anderen Krieger aus der Deckung hervorbrachen und den Hang hinaufeilten. Ossian führte den Rückzug an, sein kahl geschorener Kopf war leicht zu erkennen. Garret Schwarzklappe und Mogh. Gard Feindhammer schwankte, bereit, wieder hinunterzustürmen, sollten Reave oder Desa zögern, oder falls es Ärger gab. Aber das geschah nicht. Pfeile regneten auf die Vanir nieder, als Daol und Hydallan von der nächsten Ebene ein Stück höher hinauf eine wilde Salve nach der anderen abschossen. »Einspannen«, rief Daol mit einer so ruhigen und 18

beruhigenden Stimme, dass sie die anderen zu noch größerer Schnelligkeit anspornte. Aber es war sein Vater, der noch einen zusätzlichen Augenblick wartete, um sicherzugehen, dass Brig Baum und Ehmisch ebenfalls bereit waren, bevor er dann brüllte: »Schießen!« Vier weitere Pfeile aus Eschenholz rasten in die Tiefe. Wieder ein Schmerzensschrei, dann sackte ein Krieger auf die Knie. Ein grauer Pfeil ragte aus seinem Oberschenkel. Es verschaffte Reave und Desagrena genug Zeit, um hinter den anderen herzueilen, geduckt, um der Erwiderung der Vanir zu entgehen. Desa hielt ihren Schild zwischen sich und die Angreifer, und das war auch gut so, denn zwei weitere schwere Pfeile schlugen mit ausreichend Wucht ein, um den dünnen Eisenbeschlag zu durchbohren. Reave hatte weniger Glück und heulte auf, als sich ein Pfeil in seinen Hintern bohrte. Kearn sprang in die Höhe, bereit, einen Angriff nach unten zu führen, um seinem Freund beizustehen, aber Reave brach den Schaft einfach durch und ließ die Spitze im Fleisch stecken. Für den Augenblick. Das würde zwar schmerzhaft werden, aber kaum lebensbedrohend. Lass sie kommen, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Das war der Plan. Die Angreifer sollten zu Kearn und seinen Wölfen kommen. Und das taten sie auch und nahmen die erste Ebene des Hanges mit wildem Triumphgeheul in Beschlag. Acht Krieger erreichten die Mauer und hoben schnell die Schilde, um die Geschosse abzuwehren, die auf sie herabregneten, erschufen damit ein großes Bollwerk, hinter das weitere Männer eilten. Vier Krieger. Dann kamen die Bogenschützen, 19

von denen einige die Bögen wegwarfen, um blitzenden Stahl aus den Scheiden zu ziehen. Dann kam der Anführer, der die Deckung des Nebels nun endlich verließ. Kearn hatte gewusst, dass er ein Vanir wäre. Keiner von Grimnirs frosthaarigen Dienern. Heute nicht. Keiner der Ymirisch, die Kearns Leben im vergangenen Winter auf den Kopf gestellt hatten, als er erfuhr, dass das Blut dieser seltsamen Nordmänner auch in seinen Adern floss. Und was noch schlimmer gewesen war: als es alle anderen auch erfahren hatten. Dieser Mann verkörperte das grobknochige Aussehen eines typischen Vanir: dichter Bart, flammendrotes Haar, in das goldene Ringe geflochten waren, eine Eisenkappe mit langen Stierhörnern. Sein Harnisch aus hart gekochtem Leder war mit Eisenstreifen verstärkt, der Kettenrock mit dicken Bronzeplatten. In der einen Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen langen Schild, und er schritt den steilen Hang so mühelos herauf wie Kearn einen trockenen Waldpfad entlangspaziert wäre. An seinem breiten Gürtel baumelte ein Vanirhorn und schlug gegen einen muskulösen Oberschenkel. Er wurde sofort von Pfeilen getroffen: sie hämmerten gegen seinen Schild, und einige schlugen mit genug Durchschlagskraft gegen den Eisenbeschlag, um sich in das darunterliegende Holz zu bohren. Der Hordenführer führte sein Schwert mit energischen Bewegungen über den Schild und schnitt die Geschosse ab. Dabei entblößte er seine Deckung so, als wollte er die Schützen herausfordern, ihm einen Pfeil in die Brust zu jagen. Keiner schaffte es. 20

Kearn hatte die Vanir so weit herankommen lassen. Bis hierher, aber nicht weiter, gelobte er sich und sah zu, wie sich die feindlichen Krieger bereitmachten und dabei nur noch einen Mann durch die cimmerischen Bogenschützen verloren. Dann stürzten sie sich förmlich mit Berserkergebrüll und blindwütiger Rücksichtlosigkeit das nächste Stück des Hanges hinauf. Füße gruben sich in den schlammigen Untergrund. Schwerter wurden in die Erde gerammt, um als Kletterpfosten benutzt zu werden; Schilde wurden nach oben gehalten, um wenigstens für etwas Deckung zu sorgen. Sie schwärmten schneller als gedacht in die Höhe, krallten sich ihren Weg den Hang hinauf, um an die Verteidiger heranzukommen: ihren Feind. Bögen wurden zur Seite geworfen, als die Vanir an der zweiten Mauer nach Halt suchten, der letzten Ebene unterhalb von Kearn. Schwerter zischten aus den Scheiden, als sich alle bereitmachten, die Dorfhänge zu verteidigen. Zehn von Kearns besten Leuten, die wieder einmal doppelt so viele Gegner aufhielten. Sie kämpften Seite an Seite, falls nötig Rücken an Rücken. Schwerter hoben und senkten sich, stachen zu und parierten und teilten aus. Blut spritzte zu Boden, die Schreie verwundeter Männer und Frauen lösten den letzten Rest Entschlossenheit auf, den Kearn noch zurückgehalten hatte. Er riss das Schwert heraus und stürmte den oberen Pfad entlang, suchte nach einer Lücke in den angespitzten Pfählen, wo er mühelos zu dem Kampf herunterrutschen konnte. Aodh war auch auf den Beinen, aber wie verabredet hatte keiner der Gorramer sein Versteck verlassen. Ihre Aufgabe bestand darin, die dritte und letzte Ebene und das 21

Dorf zu verteidigen, das sich auf dem Hang über ihnen befand. So lautete die Vereinbarung und auch die Wette, die Kearn Wolfsauge eingegangen war. Eine Wette, die er in Gefahr schwebte zu verlieren, als sich weitere Vanir den unteren Hang hinaufkrallten. Zwei Krieger mit Schwertern drängten Daol in einen felsigen Einschnitt; er konnte seine Klinge gerade noch so eben herumreißen, um einen tödlichen Stich auf seine Brust abzuwehren. Der zweite Vanir holte über den Kopf hinweg aus, und Daol konnte gerade rechtzeitig ausweichen. Die Klinge prallte einen Fingerbreit von Daols Auge entfernt auf den Stein und ließ Funken aufsprühen. Der Krieger hieb wieder zu, Daol duckte sich in die andere Richtung und wich dem Tod aus. »Nein!« Kearns Aufschrei war ein lautstarkes Brüllen voller Wut und Stärke. Er konzentrierte sich, erreichte den Rand des Pfades und sprang über die Pfähle an der Seite hinweg. Mit erhobenem Schwert und Schild prallte er gegen einen Mann, traf mit den Füßen die Schultern des Nordmannes, der seinen Freund bedrohte. Er fühlte, wie sich Knochen verschoben und brachen, krachte selbst neben dem Vanir zu Boden, da es ihm die Füße weggerissen hatte. Dann landete er hart auf einer Schulter und Seite, rutschte am Schild des Mannes ab, und der Schildbuckel fuhr seinen Arm entlang und bohrte sich in seine vom Kettenhemd bedeckte Brust. Sein Kopf schlug gegen den Rand der Felskante, gegen die Daol gedrängt worden war. Violette Funken und Schmerz vernebelten seine Sicht und sein Bewusstsein. 22