DIE LEGENDE VOM HIRTEN

DIE LEGENDE VOM HIRTEN ❁❁❁ Wie ein einfaches Gebet die Welt veränderte Aufgezeichnet von einem unbekannten Schreiber Entdeckt von Joann Davis Ins De...
Author: Harry Feld
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DIE LEGENDE VOM HIRTEN ❁❁❁

Wie ein einfaches Gebet die Welt veränderte

Aufgezeichnet von einem unbekannten Schreiber Entdeckt von Joann Davis Ins Deutsche übertragen von Johanna Fierlings



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Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Book of the Shepherd Originally published by HarperStudio, New York Deutsche Erstausgabe genehmigt durch HarperStudio, einem Imprint von HarperCollins, LLC.

Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 by Joann Davis Deutsche Erstausgabe © 2009 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Satz und Gestaltung: Hartmut Czauderna Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-629-02244-8

Bitte besuchen Sie uns im Internet: www.pattloch.de

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Den leichtfertig Großzügigen gewidmet. Und den unermüdlich Freundlichen. ❁❁❁



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Für Kenny, Jenny und Colin ❁❁❁



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Vorwort der Herausgeberin an ihre Leser ie Entstehungsgeschichte dieses Buches, das ich »Die Legende vom Hirten« nenne, ist seltsam und geheimnisvoll. Ihren Anfang nahm sie am Ende des Jahres 2007, als ich ein altes Bauernhaus in Dorset in Vermont kaufte, und zwar aus dem Nachlass von Professor Orlando Roberts, den man im Dorf zärtlich »Old Orly« nannte. Der Professor war ein angesehener Lehrer für klassische Literatur am nahe gelegenen Bennington College gewesen. Er war zeit seines Lebens Junggeselle geblieben und hatte fünfzig Jahre lang allein in diesem Haus gelebt. Bei der Unterzeichnung des Kaufvertrags erfuhr ich, dass er ohne Erben war und deshalb verfügt hatte, mit der Immobilie solle die gesamte Einrichtung seines Hauses in den Besitz des Käufers übergehen. Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, was ich mir damit aufhalste. In der beschönigenden Sprache der Immobilienmakler würde man wohl von einem Objekt mit einem gewissen Renovierungsbedarf sprechen – tatsächlich handelte es sich schlicht und einfach um eine Ruine. Die Wasserhähne tropften, und die Türen quietschten, vor allem aber war das Haus voller Akten, Truhen, Bücher und Listen, die in jedem Zimmer herumlagen und herumstanden. Schon das Arbeitszimmer sah so aus, als würde das Aufräumen mehrere Tage in Anspruch nehmen. Und dort, im Arbeitszimmer, fand ich es: ein Buch, in dessen ledernen Einband das Abbild eines Hirten geprägt war.

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Später fand ich heraus, dass der Text in einer ungewöhnlichen Mischung aus Mittelenglisch und Niederländisch verfasst war. Zwischen den Seiten steckte eine der Karteikarten des Professors mit der Aufschrift »Gekauft in der Buchhandlung Old Barn Bookshop an der Route 7. Müsste übersetzt werden.« Diese Notiz datierte vom 25. Dezember 2007, was, wie ich bald darauf erfuhr, ein bedeutsames Weihnachtsfest in dem alten Dorf Dorset gewesen war. Denn genau an diesem Tag war »Old Orly« gestorben. Er war an seinem Schreibtisch eingeschlafen, während er ein paar Weihnachtskarten betrachtete. Als man ihn fand, brannte das Feuer im Kamin noch. Fast ein wenig romantisch … Sein Herz, das so bekannt gewesen war für seine Wärme und Großzügigkeit, hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ich muss wohl nicht eigens erwähnen, dass ich verblüfft und verwirrt war, als ich das alles erfuhr. Und irgendwie fühlte ich die Verpflichtung in mir, Professor Roberts’ Plan zu Ende zu führen. Nach einem Jahr hatte ich das Buch – mit der Unterstützung einiger Sprachexperten von den bedeutendsten Universitäten – so weit, dass es veröffentlicht werden konnte. Ob das Ergebnis den Aufwand wert ist? Das müssen meine Leser entscheiden. Joann Davis Dorset, Vermont, 2009



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Dem Gesetz Genüge tun r war ein kleiner Junge mit sanftem Herzen, so unschuldig wie ein Lamm im Frühling. Er war ein braver Junge, der seine Gebete sprach und die Älteren ehrte. Aber an diesem Tag war er vor allem ein ängstlicher Junge, denn in wenigen Sekunden würde er das glühend heiße Brennen des Rohrstocks auf der Rückseite seiner Beine spüren. »Bitte Vater!«, rief er. »Hab doch Erbarmen mit mir!« Aber der Mann war zornig. Er hatte dem Jungen befohlen, in aller Frühe aufzustehen, um den Marktstand mit frischen Früchten und Gemüse zu bestücken. Der Junge war stets eifrig bemüht, den Wünschen seines Vaters nachzukommen, aber an diesem Morgen hatte er verschlafen. Jetzt wimmelte der Markt von Kunden, und sie hatten keine Ware anzubieten. »Keine Oliven? Keine Feigen?«, fragte eine Frau mit einem Korb auf dem Rücken. Ihre Stimme klang enttäuscht. »Keine Rosinen und kein Honig? Was soll denn das?« Der Händler versuchte die Frau zu beschwichtigen und bat sie, später wiederzukommen. Dann würde sie an seinem Stand die süßesten Genüsse zu den besten Preisen vorfinden. Als sie aber ihr Geld am Nachbarstand ausgab, riss dem Händler der Geduldsfaden. »Du fauler Strick!«, herrschte er seinen Sohn an, griff ihm an die Kehle und schüttelte ihn. »Du bist das Brot nicht wert, das du in meinem Haus zu essen bekommst. Nun gut, so muss ich dir wohl eine Lektion erteilen, die du deiner Lebtag nicht vergisst.«

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Während die Sonne höher stieg und heiß herunterbrannte, wurde es immer lebendiger auf dem Marktplatz. Die Weber schacherten mit ihren Kunden, die Töpfer ließen die Scheibe surren, und hier und da spazierten Freunde durch die Reihen der Stände, Arm in Arm, lachend und plaudernd. Nur der Händler konnte sich nicht freuen. Blinde Wut raste in seinem Herzen, als er vom hinteren Teil seines Wagens den Rohrstock nahm, der normalerweise für den störrischen Esel bestimmt war. »Du dummer Bengel!«, rief er und war schon drauf und dran, zuzuschlagen. »Was ich dir auftrage, ist Gesetz, und dem Gesetz muss Genüge getan werden!« Wie bei einem Sturm auf dem Meer, der immer stärker wird, geriet der Zorn des Mannes außer Kontrolle. Er schlug zu, so dass der Junge zu Boden stürzte, er schlug ihn blau und blutig. Das Kind versuchte sich wegzurollen, versuchte dem Stock zu entkommen, aber immer wieder traf ihn ein neuer Hieb, eine unerbittliche Folge von Schlägen ging auf seinem Rücken nieder. Der Aufruhr weckte den schläfrigen Markt wie ein greller Hahnenschrei. Die Menschen wurden aufmerksam und strömten vor dem Stand zusammen, wo der Junge verprügelt wurde. Einige riefen sogar: »Schlag zu! Er hat es mit Sicherheit verdient!« Nur einer in der Menge schien Erbarmen mit dem Jungen zu haben. Ein Hirte, der am Marktbrunnen seine Schafe getränkt hatte, ließ alles stehen und liegen und eilte herzu, als er das Wehklagen des Kindes hörte. Seine Tiere ließ er an der Tränke stehen, um dem Jungen zu helfen. Auf dem Weg jedoch wurde der Hirte in der Menge eingezwängt, von achtlosen Gaffern, johlenden Zuschauern und Neugierigen am Weiterkommen gehindert. Während er versuchte, sich mit den Ellbogen einen Weg durch das Gedränge 

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verschwitzter Leiber zu bahnen, hörte er einen alten Mann, der unablässig wiederholte, was das Gesetz über ungehorsame Kinder zu sagen hatte: »Wehe dem Kind, das seinem Vater nicht gehorcht!« Als der Hirte endlich am Schauplatz des Geschehens angekommen war, sah er, was er sich gar nicht hatte vorstellen wollen: Der Junge lag im Staub vor dem Händler. Dieser hatte offenbar immer noch nicht genug, traktierte das Kind weiter und schlug auf es ein, während die johlende Menge ihn mit blutrünstigen Rufen anfeuerte. »Schlag zu!«, brüllte jemand. »Los, gib ihm noch eins!« Der Junge verzog das Gesicht vor Schmerz und Furcht, versuchte sich herauszuwinden, aber vor dem grausamen Stock gab es kein Entrinnen. Er sauste durch die Luft, knallte auf das Kind hernieder, zerriss die zarte Haut, wie die dornigen Brombeerranken oft die Haut der Lämmer zerrissen, wenn diese ahnungslos im Freien herumsprangen. Der erste Impuls des Hirten war, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, nach vorn zu springen, um den Jungen zu schützen. Am liebsten hätte er dem Mann den Stock aus der Hand gerissen und der Grausamkeit ein rasches Ende bereitet. Aber dann zögerte er einen Augenblick und fragte sich, wie seine Chancen in dieser Angelegenheit stünden. War nicht das Gesetz auf der Seite des strafenden Vaters? Was würden die Ältesten sagen? Die Gedanken zuckten durch seinen Kopf wie Blitze über einen schweren Sommerhimmel. Doch dann hörte er die Stimme des Jungen, die ihn aus seiner Starre weckte: »Hab Gnade, Vater!« Der Schrei durchfuhr sowohl die heiße Luft über dem Marktplatz als auch das Herz des Hirten. Jetzt wusste er, was zu tun war. Niemand hatte das Recht, diesem Jungen so viel Leid zuzufügen. 

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Kein Gesetz erlaubte, dass man einem Kind so viel Schmerz aufbürdete. Der Hirte bemühte sich, ruhig und beherrscht zu bleiben. Er trat in die Mitte und wollte dem Jungen helfen. Aber es war zu spät. Von einem Moment zum anderen hatte der Händler den Stock sinken lassen. Er war es schlicht und einfach müde, den Jungen noch weiter zu schlagen. Erhitzt und erschöpft legte er den Stock hin und ging, um sich etwas zu trinken zu holen. Die Menge zerstreute sich, enttäuscht, dass das Spektakel zu Ende war. Der Hirte eilte zu dem Jungen, der immer noch am Boden lag und sich nun auf die Unterlippe biss, um die Tränen zurückzudrängen und stark zu sein, wie es ihm sein Vater beigebracht hatte. Er nahm sich zusammen, stand auf und ließ sich aus dem Wasserbeutel des Hirten einen Schluck zu trinken geben. Dann gestattete er dem freundlichen Mann, seine Wunden zu versorgen. Sie sprachen nicht viel, aber die Verbindung zwischen ihnen war eng und tief, als der Junge sich auf den Heimweg machte. Als der Händler an diesem Abend das Brot brach, fragte ihn sein Bruder, wie der Tag gewesen sei. »Ein ganz gewöhnlicher Tag«, antwortete der Mann. »Nicht anders als die anderen.«



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Eine ruhige, leise Stimme Steinigt den Baumeister, wenn er ein Haus errichtet, das zusammenfällt. Hackt dem Dieb die Hand ab, der Vieh oder Getreide oder die Kleider eines anderen stiehlt. Schlagt das Kind, das seinen Eltern widerspricht. Denn so ist das Gesetz, und dem Gesetz muss Genüge getan werden.

ber viele Generationen hinweg hatten diese eisernen Regeln gegolten. Niemand stellte die Frage, ob es richtig war, ein Kind zu demütigen oder einen Mörder hinzurichten. Auge um Auge, Zahn um Zahn – so war der Lauf der Dinge. »Gibt es denn keinen anderen Weg?«, fragte sich der Hirte. Als er auf dem Rücken ausgestreckt auf freiem Feld lag, unter einer Decke funkelnder Sterne, bedachte er noch einmal seinen Tag. Angefangen hatte es damit, dass in einer Nachbarstadt ein Bauer gesteinigt worden war, weil er eine kranke Kuh verkauft hatte. Und jedes Mal, wenn ihn ein Stein traf, hatte die blutrünstige Menge laut und begeistert aufgejubelt. Später am Vormittag war der Hirte durch ein Dorf gekommen, in dem sich zwei Familien wegen eines zerbrochenen Wasserkruges bekriegten. Der Töpfer, der den Krug verkauft hatte, beteuerte, er habe den Riss vor dem Verkauf nicht bemerkt. Und doch wurde er zum Schandpfahl geführt und bekam vierzig Peitschenhiebe, während die Zuschauer böse zischten und ihn anspuckten.

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Und schließlich hatte der Hirte dem kleinen Jungen geholfen, der von seinem erbarmungslosen Vater verprügelt worden war. All diese Geschehnisse hatten vollkommen mit dem Gesetz im Einklang gestanden. Und doch mochte sich ein gottesfürchtiger Mensch wohl fragen, wo Gott an diesem Tag gewesen war. Warum hatte Gott niemanden geschickt, der dem Kind half? Der Hirte schloss die Augen und war schon fast eingeschlummert, als er eine ruhige, leise Stimme hörte, die ihm ins Ohr flüsterte. »Aber ich habe doch Hilfe geschickt. Ich habe dich geschickt.«



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So leicht wie eine Feder er Hirte schlief. In seinem Traum befand er sich weit weg an einem Ort mit grünen Weiden. Dort gab es keine Dornbüsche, die seinen Schafen die Haut aufritzten, keine Gräben, in die sie hineinstürzen konnten. Aber vor allem war ein runzliger alter Mann dort, der auf einer Holztruhe saß. Die Truhe stand an einer Weggabelung, und der alte Mann zeigte den Wanderern die Richtung an. »Sei gegrüßt«, sagte der alte Mann. »Suchst du etwas?« »Wie kommst du darauf?«, fragte der Hirte. »Das sehe ich dir an deinem Gesicht an. Viele Menschen, die hierherkommen, sind auf der Suche nach dem neuen Weg. Nun, ich kann ihn dir wohl zeigen. Aber zuerst musst du dein Herz wiegen lassen.« Und der Hirte sah zu, wie der alte Mann eine Waage aus der Truhe nahm. »Na«, murmelte der alte Mann und kratzte sich am Kopf. »Wo ist denn bloß die Feder?« Und unbekümmert wie ein Kind im Spielzeugladen legte er die Feder auf die eine Waagschale. Dann griff er in die Brust des Hirten und nahm das Herz heraus, das in einem gleichmäßigen, gesunden Rhythmus schlug. »Was machst du da?«, fragte der Hirte. »Keine Sorge«, antwortete der alte Mann. »Dein Herz ist durch einen unsichtbaren goldenen Faden mit dir verbunden; es kann gar nichts passieren.« Dann hielt er inne und trat ein wenig zurück. »Gut, jetzt wollen wir es wiegen«, sagte er und legte das Herz auf die zweite Waagschale.

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Staunend sah der Hirte zu. Es war schon seltsam, dem eigenen Herzen beim Schlagen zuzuschauen, doch in seinem Traum schien es ihm ganz natürlich zu sein. Sofort senkte sich die Waagschale, auf der das Herz lag, ein wenig. »Hmmm«, machte der alte Mann. »Es ist schwerer als die Feder. Hat man dich entmutigt?« »Spielt das eine Rolle?«, fragte der Hirte. »O ja, allerdings«, gab ihm der alte Mann zur Antwort. »Es ist doch viel besser, leicht unterwegs zu sein, ohne Traurigkeit, Zorn oder Furcht. Ohne Eifersucht, Vorurteil oder Bosheit.« »Was kann ich dafür tun?«, fragte der Hirte. »Jeden Morgen, wenn du erwachst, sollst du der Morgendämmerung versprechen, dass du dein Herz leicht wie eine Feder erhalten wirst. Und dem Sonnenuntergang versprichst du es wieder.« »Und was geschieht, wenn ich das tue?«, fragte der Hirte. Aber da war der alte Mann bereits verschwunden. Der Traum war vorüber.



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Die Schatzkarte ls die Nacht zu Ende ging, versprach der Hirte der Morgendämmerung, dass er sein Herz leicht wie eine Feder bewahren werde. Dann zog er seine Sandalen an, fütterte und tränkte seine Schafe und machte sich auf den Weg, immer die Hauptstraße entlang, die sich zum Dorfausgang wand. Er wollte den Jungen suchen, um sich zu vergewissern, dass das väterliche Unwetter sich verzogen hatte. »Wie geht es dir?«, rief er ihm zu, als er ihn mit seinem Esel vor einem kleinen Haus stehen sah, das aus Lehmziegeln gebaut war. Der Junge war kaum größer als ein Sack mit Weizen. Er hatte schwarzes Haar und blaue Augen, und eines seiner Beine war mit einem weißen Tuch verbunden. »Es geht ihm gut!«, hörte man eine freundliche, hohe Stimme. Sie gehörte zu einer Frau, jung und mit olivfarbener Haut, vielleicht Anfang zwanzig. Die Frau kam aus dem Haus und fragte sich wohl, ob der unerwartete Besucher der Mann war, der dem Jungen am Vortag auf dem Markt geholfen hatte. Er war hochgewachsen, schlank und muskulös. In der Hand hielt er einen Stab, über der Schulter trug er sein Bündel, und rund um ihn grasten seine Schafe. Die Frau war vorsichtig Fremden gegenüber, so dass sie zuerst ein wenig Abstand hielt, bis sie sah, dass der Hirte seine Schafe kraulte, während er ihr Fell sorgfältig nach Kletten und Dornen absuchte. »Wie gut du für deine Tiere sorgst«, sagte sie und konnte den Blick kaum von der freundlichen Hand wenden, die das Schaf liebkoste.

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»Sie sorgen ja auch für mich«, erwiderte der Hirte. »Sie leisten mir Gesellschaft, wenn ich einsam bin. Und sie wärmen mich bei Nacht, wenn mir kalt ist.« Er stellte sich als Joshua vor, der Sohn des Isaak, und berichtete, er sei auf Reisen. Dann streckte er die Hand nach dem Jungen aus, David, und zauste ihm zärtlich das Haar, als hätte er ein Lamm vor sich. Vertrauensvoll schmiegte der Junge sich an ihn. »Wohin gehst du?«, fragte die Frau, die sich als Elisabeth vorstellte. Ihre blauen Augen funkelten, und sie strich ihr rabenschwarzes Haar zurück, so dass die feinen Züge ihres kleinen runden Gesichts zum Vorschein kamen. »Das weiß ich noch nicht genau. Aber ich habe das Gefühl, dass ich einen neuen Weg suchen muss«, antwortete der Hirte. »Davon habe ich geträumt.« »Mein Großvater hat von einem neuen Weg gesprochen, als er im Sterben lag«, sagte die Frau. »Er hat ein Zeitalter der Wunder vorausgesagt, sobald dieser neue Weg gefunden würde.« Staunend riss der Hirte die Augen auf. Sie waren dunkelbraun wie sein schulterlanges Haar, das sein freundliches, offenes Gesicht einrahmte. »Mein Großvater wollte sich auf die Reise machen, um den neuen Weg selbst zu finden«, erzählte die Frau weiter. »Aber er war schon blind und schwer krank, als er die Karte bekam.« »Diese Karte«, sagte der Hirte erregt. »Wo befindet sie sich jetzt?« »Bei mir«, erwiderte die Frau. »Seit seinem Tod verstecke ich sie in meinem Brunnen.« »Warum machst du dir so viel Mühe damit?«, wollte der Hirte wissen. »Der neue Weg ist ein machtvoller Weg«, erklärte sie. »Deshalb fürchten ihn die Herrschenden. Er könnte alles verändern.« 

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Die Worte der Frau erfüllten den Hirten mit einem inneren Drängen, wie er es noch nie vernommen hatte. Wer war diese Frau? Sie hatte ein besonderes Leuchten um sich, und er fühlte sich bei ihr, als wäre er zu Hause. So ruhig und ohne Sorge. Während sie miteinander sprachen, spürte er, wie winzige Keime der Freundschaft zwischen ihnen aufsprangen. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, führte ihn die Frau zu einem kleinen Tisch, der neben dem Haus im Freien stand. Die Sonne stand hoch und brannte heiß herunter, aber der Tisch war im Schatten eines alten Olivenbaumes aufgestellt, der in voller Blüte stand. Zwischen den Ästen schossen die Vögel hin und her; sie bauten Nester aus Zweigen und Blättern. Die Frau zeigte dem Hirten ein Gericht aus Feigen, Datteln, Käse und Milch, das sie vorbereitet hatte, und lud ihn ein, sich zu setzen. Joshua nahm die Einladung an, aber er blickte zum Haus. Es schien dunkel und leer. Vielleicht war Davids Vater ja auf dem Feld und würde bald nach Hause zurückkehren. »Der Händler«, sagte Joshua, als der Junge sich außer Hörweite entfernt hatte. »Erwartest du ihn bald zurück?« »Nein, so bald nicht«, erwiderte Elisabeth. »Er war immer noch schrecklich wütend wegen der Sache auf dem Markt, und deshalb hat er den Jungen verstoßen. Ich kümmere mich jetzt um ihn.« Und dann erklärte sie, dass sie und der Junge sich eine neue Bleibe suchen mussten. Überwältigt von Traurigkeit, schüttelte der Hirte den Kopf. Er konnte nicht verstehen, wie das Herz des Händlers sich so sehr hatte in Feindseligkeit verhärten können. Wie war das möglich, dass es so verkrümmt und versteinert war? Elisabeth bemerkte den Kummer in Joshuas Augen. Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, schickte sie David ins Haus, damit er seine Flöte und ihr Tamburin holte. Dann schlug sie einen lebhaften Rhythmus, und sie tanzten und lachten, bis ihnen die Bäuche weh taten. 

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Als die Nachmittagssonne nach Westen weitergezogen war, bat Joshua um Erlaubnis, im Heu schlafen zu dürfen, das in der Scheune lag. Früh am nächsten Tag wollte er weiterziehen. Elisabeth erlaubte es ihm freudig – und dann überraschte sie ihn. »Dürfen wir dich auf deiner Reise begleiten?«, fragte sie.



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