Die Kulis der Globalisierung

Wirtschaft S C H I F F FA H R T Die Kulis der Globalisierung Keine Branche profitiert so enorm vom weltweiten Handel wie die Containerschifffahrt: F...
Author: Gert Schneider
11 downloads 2 Views 312KB Size
Wirtschaft

S C H I F F FA H R T

Die Kulis der Globalisierung Keine Branche profitiert so enorm vom weltweiten Handel wie die Containerschifffahrt: Frachtund Charterraten erreichen ungeahnte Höhen, Reedereien legen Rekordergebnisse vor. Gleichzeitig aber steigt die Abhängigkeit vom chinesischen Wirtschaftswunder. Wie lange hält der Boom?

D

ie „P&O Nedlloyd Botany“ hat Verspätung. Schon wieder. Die ganze Nacht ist sie mit voller Kraft durch die Nordsee geprescht, von Hamburg kommend elbabwärts, sich durchschlängelnd zwischen langsamen Tankern, polnischen Frachtern und holländischen Fischern. Alles umsonst. Morgens um acht Uhr kommt der unerwartete Befehl aus Rotterdam: Ankern! Der Andrang an den Kaimauern des größten europäischen Hafens ist zu groß. „Das sind die Folgen des Booms“, sagt Kapitän Hans-Georg Voskamp. „Die Liegeplätze in den Häfen werden immer knapper.“ Ihm bleibt nichts, als zu warten. Die „Botany“ ist eines der weltgrößten Kühlcontainerschiffe. Mit 281 Metern so lang wie drei Fußballfelder, mit 32,20 Meter so breit, dass sie gerade noch durch den Panamakanal passt. Auf Deck können sich

Handelsflotten Containerschiffe nach Nationalität der Eigner Schiffe insgesamt davon unter nationaler Flagge Transportkapazität in 1000 StandardContainer-Einheiten (TEU)

Deutschland 903 159 Japan

kordgewinne, die Häfen Rekordumschläge, Schiffsfinanzierer wie Banken und Fonds verchartern die Containerriesen zu Rekordpreisen, und die Auftragsbücher der gigantischen Werften in Asien sind voll wie nie zuvor. Seit Jahren schon wächst die Containerschifffahrt in einem Tempo, von der andere Branchen nur träumen können. Ihre weltweite Flotte hat sich seit 1996 fast verdoppelt. Der Containerverkehr nimmt jährlich um fünf bis sieben Prozent zu, die Transportraumnachfrage mit zuletzt elf Prozent sogar noch mehr. Und die Neubauaufträge der deutschen Schifffahrt lagen mit fast 14 Milliarden Euro deutlich über dem Investitionsvolumen der deutschen Automobilindustrie. Die Stimmung in der Branche ist geradezu euphorisch: „Das ist unglaublich, ein Allzeithoch“, jubelt Hermann Ebel, Vorstandschef des Schiffsfinanzierers Hansa Treuhand. Die jüngsten Wachstumszahlen „muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen“, schwärmt Hapag-LloydVorstandschef Michael Behrendt. Und sogar die sonst notorisch lamentierenden Verbandsvertreter sind überzeugt: „Wenn es derzeit einer Branche in Deutschland gut geht, dann ist es die Schifffahrt“, sagt Hans-Heinrich Nöll, Geschäftsführer beim Verband Deutscher Reeder. Ausgerechnet die Schifffahrt – eine Branche, die 1899

kaum jemand mehr mit Deutschland in Verbindung bringt. Tatsächlich fahren auch nur wenige Schiffe unter deutscher Flagge (siehe Grafik), und die hiesigen Werften können gegen die Kampfpreise der asiatischen Werften kaum bestehen. Die deutsche Schifffahrt lebt von einem anderen Geschäft: Sie ist weltweit führend in der Finanzierung und im Bereedern von Containerriesen. Derzeit finanzieren deutsche Banken neue Schiffe im Wert von 55 Milliarden Euro. Und die Privatanleger steckten im vergangenen Jahr sogar mit 2,33 Milliarden Euro mehr Erspartes in Schiffs- als in geschlossene Immobilienfonds. Früher machten vor allem Steuervergünstigungen die Schiffsfonds zu einem so einträglichen Geschäft in Deutschland. Anleger konnten in ihrer Steuererklärung bis zu 150 Prozent Verlust geltend machen. Inzwischen aber sind die Abschreibungsmöglichkeiten weitgehend reduziert und durch andere Vergünstigungen ersetzt worden – die „Tonnagesteuer“. Hinter der irreführenden Bezeichnung verbirgt sich jedoch keine Steuerart, sondern eine Methode zur Gewinnermittlung, die als Bemessungsgrundlage nicht das tatsächliche Ergebnis einer Schiffsgesellschaft, sondern die Größe eines Schiffes nutzt. Das Ergebnis: ein fiktiver Gewinn, der mit der tatsächlichen Rendite – bestenfalls sechs bis neun Prozent – nichts zu tun hat.

567

220

14

Griechenland 195

45

Dänemark

129

79

479

Taiwan

184

35

430

384

86

Hamburger Reeder Offen, Hapag-Lloyd-Chef Behrendt: Rekordgewinne und Rekordpreise d e r

s p i e g e l

2 4 / 2 0 0 4

ULRICH PERREY / DPA

in sieben Lagen bis zu 2419 Container stapeln, weitere 1693 im Schiffsbauch. In 70 Tagen sprintet sie einmal um die Welt, vorwiegend in West-Ost-Richtung, den großen Handelsströmen folgend. Sie ist, so Voskamp, „ein Kuli der Globalisierung“. Keine andere Industrie hat in den vergangenen Jahren von der zunehmenden Vernetzung der Weltwirtschaft so unmittelbar und trotzdem von der Öffentlichkeit so unbemerkt profitiert wie die Schifffahrt: Die Reedereien melden Re-

WILFRIED BAUER

Quelle: ILS

Containerschiffe auf der Elbe bei Hamburg: Die Stimmung in der Branche ist geradezu euphorisch

Wer etwa 100 000 Euro in die „HS Caribe“, ein Bauprojekt des Hamburger Schiffsfinanzierers Hansa Treuhand, gesteckt hat, erzielt dank Tonnagesteuer einen rechnerischen Jahresgewinn von nur 206 Euro. Tatsächlich aber wurden 7000 Euro ausgeschüttet – ein nahezu steuerfreier Gewinn für den Anleger. Und für die Schifffahrtsindustrie Hauptgarant des Booms: „Die Tonnagesteuer ist absolut überlebenswichtig für uns“, betont Reedereiverbandschef Nöll. Bei deutschen Werften landen die Anleger-Milliarden allerdings so gut wie nie: Nicht einmal 20 Prozent der Aufträge bleiben im Land, der Rest geht an die asiatischen Werften, die dank niedriger Lohnkosten und auch mit staatlichen Quersubventionen Schiffe konkurrenzlos billig bauen. Eine Milliardenindustrie hatte der amerikanische Spediteur Malcolm McLean sicher nicht vor Augen, als er vor fast 50 Jahren von New Jersey aus das erste provisorische Containerschiff auf See schickte: ein alter Frachter eigentlich, nur so umgebaut, dass irgendwie 58 Lkw-Auflieger auf Deck gequetscht werden konnten. Ausgelacht haben sie ihn damals, und gezweifelt hat auch Kapitän Voskamp, als in den sechziger Jahren die ersten richtigen Containerfrachter die Elbe hinauf nach Hamburg kamen: Das sollte die Zukunft der Seefahrt sein? 800 Container fasste damals die erste Schiffsgeneration. Die zweite jedoch schon

1500. Dann 4000, 6000, 9000. Heute passen viele der Containerriesen nicht mehr durch den Panamakanal, aber das ist nicht so schlimm, weil die Handelsströme sich ohnehin nach Asien verlagert haben. Auch die alten Hafeneinfahrten sind für die Giganten der Meere zu eng – aber es werden Milliarden in neue Häfen investiert. Investitionsgelder finden sich fast immer, wenn es um die Formel der Globalisierung geht: 20 mal 8 mal 8,5, das Standardmaß eines Containers in Fuß. Es gibt fast nichts mehr, was nicht im Container um die Welt geschickt wird: Holländische Tulpenzwiebeln werden statt ins Treibhaus nach Neuseeland zum Wachsen geschickt, Nordseekrabben werden zum Pulen nicht nur im Lkw nach Nordafrika, sondern im Kühlcontainer nach Asien verfrachtet, Holzstämme aus Russland werden im Sägewerk automatisch auf Containermaß gestutzt, südkoreanische Autos werden mit Spezialgestellen in Containern eingehängt. „Wir wundern uns immer noch, was in diese Dinger alles reinpasst“, sagt KlausDieter Peters, Vorstandschef der Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft (HHLA), die den Hamburger Hafen managt. Die deutsche Schifffahrt hat ihren Boom dabei einem schleichenden Strukturwandel zu verdanken, der mit dem ständigen Bedarf an immer neuen, immer größeren Containerschiffen einhergeht: Die tradid e r

s p i e g e l

2 4 / 2 0 0 4

WOLFGANG STECHE / VISUM

tionelle Reederei, die alle ihre Schiffe eigenständig bauen lässt, betreibt und dann auf einem Liniendienst um die Welt schickt, gibt es nicht mehr – die Schiffe sind schlicht zu teuer, um sie alle aus eigener Tasche zu finanzieren. Ein neuer Containerriese kostet bis zu 95 Millionen Dollar, und der Bedarf ist groß: Deutschlands größte Linienreederei Hapag-Lloyd erweitert ihre Flotte gerade um 7 auf insgesamt 47 Schiffe. Dabei liegt das Hamburger Traditionsunternehmen im internationalen Vergleich nur auf Platz 15 (siehe Grafik Seite 88) – entsprechend groß ist der Hunger nach neuen Schiffen bei den Riesenflotten von P&O oder Maersk Sealand. Statt also Liquidität und Eigenkapital zu belasten, lassen die Linienreeder ihre Schiffe zunehmend von Emissionshäusern oder so genannten Trampreedereien bauen, die keine eigenen Liniendienste unterhalten, sondern ihre Schiffe verchartern – inklusive Besatzung. Inzwischen besitzen und betreiben die Linienreedereien oft nur noch die Hälfte ihrer Schiffe. Auch die „Botany“ ist so ein Fall. Eingesetzt wird sie auf der „Europe to Australia-Eastabout“-Route der viertgrößten Linienreederei der Welt: „P&O Nedlloyd“ prangt in meterhohen weißen Lettern auf dem Schiff. Aber eigentlich heißt der Kühlcontainerriese „Santa Ricarda“: Auf der Brückennock flattert die Fahne des Hamburger Reeders Claus-Peter Offen im Wind, 87

Wirtschaft

Der weltweite Containerverkehr ...

72

Entwicklung in Mio. TEU

Transportkapazität in 1000 TEU 66

61 55

57

58

Quelle: Global Insight

Prognose

1999 2000 2001 2002 2003 2004 88

... und die größten Reedereien 1. Maersk-Sealand

Dänemark

2. MSC

Schweiz

513

3. Evergreen

Taiwan

440

4. P&O Nedlloyd

Großbritannien 398

5. CMA-CGM

Frankreich

302

Deutschland

164

zum Vergleich: 15. Hapag Lloyd

Quelle: MDS Transmodal d e r

s p i e g e l

2 4 / 2 0 0 4

818

Drohen bald Überkapazitäten, die der Schifffahrt nach dem größten Boom ihrer Geschichte ihre tiefste Krise bringen? Vor allem eine Kernerkenntnis der Globalisierung lässt die Schifffahrtsindustrie hoffen, dass es dieses Mal auf lange Sicht gut gehen wird: Der Welthandel wächst kräftig, selbst wenn die Weltwirtschaft lahmt. Dieses Jahr soll der globale Handel um 9,5 Prozent, die Wirtschaft dagegen gerade einmal um 3,4 Prozent zulegen. Maßgeblich angeschoben wird diese Entkoppelung durch die Containerschifffahrt selbst: Transportkosten spielen in der Kalkulation für die meisten Produkte kaum noch eine Rolle. Wenn etwa 15 000 Flaschen australisches Bier in einem Container nach Deutschland verschifft werden, kostet das pro Flasche weniger als fünf Cent. Gleiches gilt etwa für in die andere Richtung transportierten Mosel-Wein. Die Hersteller steigern aber nicht zwangsweise auch Absatz und Umsatz: Sie verkaufen oder produzieren ihre Produkte nur woanders, weil die Kosten nicht ins Gewicht fallen – im Schnitt liegt der Seetransport-Kostenanteil heute bei etwa einem Prozent gegenüber zehn Prozent vor rund 20 Jahren. „Deswegen ist der Containerverkehr nicht nur Profiteur der Globalisierung, sondern auch ihre entscheidende Triebkraft“, urteilt Seewirtschaftsexperte Berthold Volk von der Fachhochschule Oldenburg. „Sinkende Transportkosten und die hohe Zuverlässigkeit haben die internationale Arbeitsteilung in ihrer heutigen Form erst möglich gemacht.“ Unabhängig von den allgemeinen Effekten der Globalisierung gibt es aber vor allem einen klar auszumachenden Grund für den größten Boom in der Geschichte der Schifffahrt: China. Längst ist das asiatische Riesenland die Fabrikhalle der Welt, in der nicht mehr nur Großkonzerne so gut wie jede Ware preisgünstig zusammenschrauben lassen – egal, ob MotorolaHandys, Adidas-Turnschuhe oder Infineon-Halbleiter. So unterschiedlich die Produkte, haben sie doch eines gemeinsam: Transportiert werden sie im Container. Zu einem „Traum für jeden Schifffahrtsmanager“ („New York Times“) ist China aber erst durch sein eigenes enormes Wachstum geworden: Der Außenhandel wächst um 30 Prozent, die Industrieproduktion um 17 Prozent, die gesamte Wirtschaft um 8 Prozent. Das Exportvolumen hat sich in den vergangenen zehn Jahren auf 400 Milliarden Dollar verfünffacht. Vorbei sind damit die Zeiten, als die Warenströme noch eine Einbahnstraße Richtung Asien waren, „als hier mit den Frachtern aus China höchstens ein paar Reisstrohhüte ankamen“, so HHLA-Chef Peters. Heute haben sich die Ladungsströme WILFRIED BAUER

JÖRG MÜLLER / VISUM

und auf der Krawatte von Kapitän Voskamp leuchten nicht die Farben von P&O, sondern ein blaues Hanseatenkreuz. 44 Containerschiffe dirigiert Offen bereits aus einem eleganten Jugendstilbau in der Hamburger Innenstadt, 27 weitere hat er bei koreanischen Werften beauftragt. Offen ist damit weltweit einer der drei größten Anbieter so genannter Chartertonnage: Der Hamburger Reeder finanziert den Bau, stellt die Besatzung an und lässt die Schiffe an Linienreedereien wie P&O zu festen Laufzeiten verchartern. Die Nachfrage ist groß, das treibt die Kapitän Voskamp Preise: Noch Ende 2001 wurde ein Contai- Transportkosten spielen keine Rolle mehr nerschiff mit 3500 Standardcontainern für 10 000 Dollar verchartert. Anfang 2004 waren es schon 29 000 Dollar – am Tag. „Wir sind die eindeutigen Gewinner der Globalisierung“, sagt Offen. Gerade hat er die drei größten Containerschiffe der Welt mit einer Tragfähigkeit von 9200 Standardcontainern geordert und bereits vorab für zwölf Jahre an MSC, die zweitgrößte Linienreederei der Welt, vermietet. Rabatt für die lange Mietzeit gibt es nicht: Jeder der Schiffsfinanzierer Ebel Ozeanriesen kostet pro Tag 35 000 Hunger nach neuen Schiffen Dollar. Offen ist nicht der Einzige, der an ei- sich aber jeder: O Gott, wie soll das bloß nen anhaltenden Boom glaubt: Weltweit gut gehen?“ Denn wie sicher sind die positiven Proarbeiten die Werften an 740 neuen Containerschiffen – wenn das letzte 2007 vom gnosen wirklich? Was, wenn etwa die WirtStapel läuft, wird sich die Transport- schaftskraft der USA erlahmt? Was, wenn kapazität der globalen Containerflotte ge- Terroranschläge die Industrienationen an genüber heute um die Hälfte erhöht den Rand einer Rezession bringen? Was, wenn der China-Boom verebbt? Was also, haben. Der immense Zuwachs an Transport- wenn für all die neuen Schiffe kein Bedarf raum scheint auch wirklich benötigt zu ist und die Preise ins Bodenlose stürzen? Immer wieder hat die Schifffahrtsinduwerden: Allein in diesem Jahr soll der weltweite Handel von rund 66 Millio- strie in den vergangenen Jahrzehnten nen umgeschlagenen Standardcontainern Schweinezyklen durchlebt: Zu viele neue, (TEU) auf 72 Millionen wachsen. Markt- in Boomzeiten bestellte Schiffe kamen forscher versichern, dass es die kommen- nach den langen Bauzeiten genau dann auf den Jahre im gleichen Tempo weitergeht. den Markt, als die Nachfrage einbrach. Die „Am liebsten würden wir heute den Folge: ins Bodenlose stürzende Fracht- und ganzen Tag laut ausrufen: Let’s party“, sagt Charterpreise. Haben die Schifffahrtsmanager vielleicht Henning Winter, Vorstand der Deutschen Schiffsbank. „Auf der anderen Seite fragt auch dieses Mal den Markt überschätzt?

HANS BLOSSEY / DAS FOTOARCHIV

Containerterminals im Hafen von Hongkong: Zum Traum für jeden Schifffahrtsmanager geworden

umgekehrt: Vergangenes Jahr gingen zwar 320 000 Standardcontainer von Europa nach Asien – aber 544 000 in die andere Richtung. Tendenz: stark zunehmend. Das macht sich vor allem für die Linienreedereien bezahlt. Ihre Schiffe verbinden Asien, Europa und Nordamerika so regelmäßig wie ein Intercity: Die Ankunftszeiten sind Monate im Voraus bekannt, nur der Fahrplan liest sich spannender: Rotterdam, Shanghai, Osaka und zurück. Allein Hapag-Lloyd unterhält aktuell 64 solcher Liniendienste, und fast alle gehen über Asien: 2003 legte der Hamburger Konzern mit 343 Millionen Euro den höchsten Gewinn in der 157-jährigen Firmengeschichte vor – dank eines Zuwachses von 16 Prozent beim Asien-Verkehr. Zwei Drittel davon entfielen auf den Verkehr von Asien nach Europa. „An den chinesischen Häfen herrscht mitunter so ein Andrang, dass wir Container stehen lassen müssen“, sagt HapagLloyd-Chef Behrendt. Den Reedereien kann es nur recht sein, wenn sich vor allem chinesische Exporteure um Frachtraum drängeln: Die Transportraten explodierten in den vergangenen Monaten geradezu. Ein Container mit Blusen etwa konnte vor einem Jahr noch für rund 2000 Dollar von Shanghai nach Hamburg verschifft werden, heute kostet es rund 3700 Dollar. Doch trotz der großen Nachfrage sind die Containerriesen nur selten bis in den letzten Winkel beladen. Auch die „Botany“ hatte noch reichlich Platz auf dem Deck, als sie nach 20 Stunden hektischer Betriebsamkeit im Hamburger Hafen Richtung Rotterdam auslief. „Es geht nicht darum, den Dampfer voll zu machen, sondern die Container möglichst immer voll zu fah-

ren“, sagt Kapitän Voskamp. Gut ein Drittel der rund 15 Millionen Behälter, die zu jeder Zeit weltweit unterwegs sind, werden leer transportiert – und bringen entsprechend kein Geld ein. Wie bei einem Schachspiel müssen die Planer der Reedereien möglichst viele Züge vorausdenken: Lohnt es sich, den Auftrag anzunehmen, oder landen am Ende 500 Container für Wochen in einem abgelegenen Hafen? Wo kommen die nächsten 300 leeren Behälter für den Großauftrag in Hongkong her? Welche Kosten entstehen, bis die gerade nach Osaka geschickten Stahlboxen wieder beladen werden? Es reicht nicht, zu wissen, auf welchem Schiff in welche Richtung ein Container am effizientesten eingesetzt wird. Genauso muss schon vorher feststehen, welchen Platz ein Container in Hamburg auf der „Botany“ bekommt, damit er in Auckland schnell wieder ausgeladen werden kann – ohne dass vorher 25 andere Boxen zur Seite geräumt werden müssen. „Früher mussten wir dafür selbst die Nächte durchrechnen“, sagt Voskamp. Heute ist die effiziente Beladung der Schiffe ein hoch komplexes Puzzle, das ausgefeilte IT-Systeme nach einer wesentlichen Vorgabe zusammensetzen: die oft halsbrecherisch knapp kalkulierten Zeitpläne einzuhalten. Seit die „Botany“ am späten Abend am Hamburger Burchardkai angelegt hatte, waren immer zwei Brückenkräne über dem Schiff ausgeklappt. Pausenlos surrten die Kranausleger über das Schiff, schossen im Minutentakt hinter der Bordwand hervor, hinein in den Schiffsbauch und wieder heraus, nie den Rhythmus wechselnd: d e r

s p i e g e l

2 4 / 2 0 0 4

löschen, laden, löschen, laden. „Boxendrehen“ nennen es die Männer am Kai. Jede Minute zählt, Liegeplätze sind begehrt, und sobald die Kräne verstummen, gibt es keinen Grund mehr zu bleiben. Während der Bugstrahler die „Botany“ sanft von der Kaimauer drückte, hatte der Erste Offizier schon den Ladebericht fertig: 546 Container gelöscht, 543 Container geladen. Bis zu 25 Container pro Stunde schafft jede der modernen Kranbrücken am Burchardkai, das sind bis zu 1000 Tonnen Ware – und doch schon nicht mehr genug. Nur ein paar hundert Meter weiter, auf der anderen Hafenseite, wurde im Herbst 2002 der Containerterminal Altenwerder eröffnet. Wenn die Anlage im nächsten Jahr voll ausgebaut ist, sollen hier pro Kran 50 Stahlboxen pro Stunde bewegt und bis zu vier Containerriesen gleichzeitig beund entladen werden. Weltweit kommen die Häfen dem wachsenden Andrang an den Kaimauern kaum hinterher: 2003 schlug der Hamburger Hafen als Nummer neun der Welt erstmals über 100 Millionen Tonnen um – ein Wachstum um neun Prozent, wie auch schon in den Vorjahren. Im Containerumschlag hat Hamburg schon jetzt das Volumen erreicht, das bei Beginn eines mehrere hundert Millionen Euro schweren Ausbauprogramms vor rund fünf Jahren erst für 2015 geplant war. „Die Dynamik der Globalisierung ist damals bei der Planung unterschätzt worden“, sagt Hafenchef Peters. Und dabei ist Hamburg noch nicht einmal unter den Top Ten der am schnellsten wachsenden Containerhäfen der Welt. Deren Namen klingen weit exotischer: Ningbo, Xiamen und Tanjung Pelepas. Shanghai 91

Wirtschaft

Thomas Schulz

92

REFORMEN

„Den Wohlstand verteidigen“ Der Finanzmanager Leonhard Fischer fordert mehr Führung, weniger Konsens und eine massive Zuwanderung. gleich zu anderen Ländern jetzt noch sehr viel stärker wahr als früher. Im Ausland ist die Angst vor einem starken Deutschland, wie sie nach der Wiedervereinigung herrschte, längst der Angst vor einem schwachen Deutschland gewichen, weil ein wirtschaftlich schwaches Deutschland eine Belastung für Europa ist. SPIEGEL: Was muss geschehen? Fischer: Natürlich müssen die Sozialsysteme und der Arbeitsmarkt viel stärker und nachhaltiger reformiert werden als bisher. Darüber hinaus glaube ich aber, dass die Überbetonung des Konsenses in der Gesellschaft das Wachstum und den Wandel enorm behindert. SPIEGEL: Was stört Sie am Konsens? Fischer: Im Prinzip gar nichts. Das deutsche Konsenssystem war viele Jahre lang überaus erfolgreich, ihm verdanken wir den ungeheuren Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg. In den letzten 25 Jahren aber gab es mit der Globalisierung den großen Paradigmenwechsel in der Weltwirtschaft, die Karten werden vollkommen neu gemischt – zwischen Unternehmen, Branchen, ganzen Ländern. Jetzt kommt es auf die Geschwindigkeit an, mit der wir uns den veränderten Bedingungen anpassen. Und da erweist sich das zuletzt ausufernde Konsenssystem als Bremse. Wir müssen deshalb endlich die Frage diskutieren, ob wir Führung wollen. Wir müssen unser System so umbauen, dass wir mehr Führung und weniger Konsens haben. SPIEGEL: Sie wollen also ein eher angloamerikanisches System? Fischer: Nein, mehr Führung gibt es auch in anderen Ländern. Mich würde es bedrücken, wenn die Reformfrage auf die Übernahme angloamerikanischer Modelle beschränkt würde. Deutschland muss seine Strukturen verändern, nicht amerikanisieren. Es ist doch auffällig, dass im Moment gerade die Länder wirtschaftlich erfolgreich sind, die schnelle Entscheidungen erlauben. Wir müssen schneller und anpassungsfähiger werden, um gerade das zu schützen, was wir lieben. SPIEGEL: Was hat neben dem Konsenssystem noch zum Niedergang Deutschlands beigetragen? PIRMIN RÖSLI

etwa schlug im vergangenen Jahr mit 11,3 Millionen Standardcontainern 2,6 Millionen mehr um als im Vorjahr – die Bremer Häfen, als viertgrößter Umschlagplatz Europas, erreichten gerade 3,2 Millionen im Jahr insgesamt. „Diese ganze Entwicklung ist eigentlich kaum zu begreifen“, sagt Voskamp, während er das Ruder neu auf Kurs 56 Grad anlegen lässt. Geradezu leichtfüßig dreht der 50 000Tonnen-Koloss, sekundenschnell drückt das Ruderblatt von der Größe einer Zweizimmerwohnung die „Botany“ nach backbord. Es ist kurz vor Mitternacht, die Brücke abgedunkelt. Draußen zieht das Feuerschiff „Elbe 1“ vorbei, die „Botany“ hält mit 14 Knoten auf die offene Nordsee zu. Als Schiffsjunge, erzählt Voskamp, sei er schon mal in China, in Pujan, gewesen. Damals, vor 30 Jahren, hätten die Leute noch in Erdhöhlen gehaust. Heute schlagen die chinesischen Häfen im PerlflussDelta mehr Waren um als alle US-Häfen zusammen. In den vergangenen Jahren war der Kapitän regelmäßig in China, als Bauaufsicht für die neuen Schiffe seines Reeders. Noch ist China nur die drittgrößte Schiffbaunation hinter Japan und Korea. Aber kaum jemand zweifelt daran, dass das bevölkerungsreichste Land der Erde auch hier schon bald die Nummer eins sein wird. Den neuen Stauplan des Schiffsplaners für Rotterdam erhält Voskamp per E-Mail. „Funk gibt es ja nur noch für Notfälle“, sagt Voskamp, und es klingt ein wenig melancholisch, wenn er erzählt, dass er der Einzige an Bord ist, der die Schiffsposition noch mit dem Sextanten bestimmen kann. Von Seefahrtromantik ist auf der Brücke der „Botany“ nicht mehr viel zu spüren: überall Computer, blank polierte Datenterminals, schwarz genoppter Linoleumboden. Es könnte auch der Leitstand eines Atomkraftwerks sein, wären da nicht die 70 000 PS, die auch noch acht Decks über dem Maschinenraum die Brücke unablässig durchrütteln. Stoßdämpfer gibt es auf Containerschiffen nicht. Gegen Mittag kommt endlich der holländische Lotse an Bord, um die „Botany“ sicher die Maas hinauf zu ihrem Liegeplatz nach Rotterdam zu bringen. Zwei Schlepper helfen der „Botany“ durch die schmalen Hafenkanäle, es wird eng. Für die letzten Meter stehen Kapitän und Erster Offizier auf der Freibrücke, rückwärts einparken mit einem 280-MeterKoloss ist nicht einfach. Von der Kaimauer dröhnen bereits die Motoren der wartenden Containerauflieger herüber. Zentimeterweise tastet sich das Schiff an die Kaimauer heran, es dauert eine halbe Stunde, bis der Lotse endlich zum Telefon greift: „‚Botany‘ ist fest.“ Genau zwei Minuten später rauscht der erste Container unter dem lauten Jammern der Kranseilwinden von Bord.

Fischer, 41, leitet die Schweizer Winterthur Versicherungsgruppe. Bereits im Alter von 36 Jahren war er Vorstandsmitglied der Dresdner Bank, nach deren Übernahme gehörte er bis zu seinem spektakulären Ausscheiden im September 2002 auch dem Vorstand des Mutterkonzerns Allianz an. SPIEGEL: Herr Fischer, seit anderthalb Jah-

ren arbeiten Sie in der Schweiz. Wie hat sich durch die Distanz die Wahrnehmung Deutschlands und der deutschen Wirtschaft verändert? Fischer: Ich nehme den relativen Abstieg der deutschen Wirtschaftskraft im Verd e r

s p i e g e l

2 4 / 2 0 0 4