Die Kinder in Brasilien

Die Kinder in Brasilien Kinder in Brasilien Ein global beschleunigter Zwiespalt Peter Eicher In: Jahrbuch für Pädagogik 2004 1. Im Zauberkreis der Aus...
Author: Liese Böhme
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Die Kinder in Brasilien Kinder in Brasilien Ein global beschleunigter Zwiespalt Peter Eicher In: Jahrbuch für Pädagogik 2004 1. Im Zauberkreis der Ausgeschlossenen „Niemals erlebte er das Fröhliche der Kindheit. Noch bevor er zehn wurde, war er schon ein Mann, der um das elendste Leben kämpfte, um das Leben als verlassenes Kind. Er hatte noch niemals jemanden lieb gehabt - außer den kleinen Hund, der ihm folgte. Während die Herzen der meisten Kinder in ihren Gefühlen noch unschuldig waren, erfüllte Hinkebein der Hass. Er hasste die Stadt, das Leben, die Menschen. Nur seinen Hass, den liebte er, dieses Gefühl, das ihn unabhängig von seinem physischen Gebrechen stark und mutig machte.“ Jorge Amado (1912 – 2001) hat in einem realistischen Kinderroman, Capitães da Areia (Die Herren des Strandes) die kriminelle Aktivität einer Bande von Jugendlichen zwischen 8 und 15 Jahren nicht nur unter dem Blickwinkel der schockierten Bürger von Bahia und ihrer Polizei dargestellt, sondern vor allem aus der Perspektive der Kinder selbst. Jorge Amado ist durch diesen seinen frühen Roman von 1937 bis heute populär geblieben, nicht nur im Sinne der Bekanntheit, sondern auch im Sinne des öffentlichen Ausdrucks von dem, was das Volk für sein ungelöstes Problem hält. Schon mit der literarischen Form führt der unerbittliche Roman in den brasilianischen Zwiespalt ein: Die Zeitung berichtet, was polizeilich und erzieherisch mit den kriminellen Jugendlichen beabsichtigt ist. Doch die subtile Schilderung der inneren Entwicklung der Kinderbande „draußen“ in dem abgetakelten Industrieschuppen des Hafens triumphiert über diese repressive Pädagogik des Bürgertums. Die Lesenden werden – jenseits von Gut und Bös – in die anarchische Freiheit der Kinder mit hineingezogen und fangen an, die psychische, die physische und die soziale Not der missbrauchten, ausgesetzten und schlicht vergessenen Kinder der modernen Entwicklung zu verstehen. Die Herren des Strandes haben der Mentalität des brasilianischen Zwiespalts zwischen dem öffentlichen Kampf gegen die Kinder der Großstädte und der gleichzeitigen Idealisierung ihrer sozialen und psychischen Energie seit dem Ende des 2.Weltkrieges Ausdruck verschafft. Dem internationalen Publikum führen sie die bis heute wachsende Katastrophe des Ausschlusses von Kindern aus der globalen Entwicklung vor Augen. Für Brasilien bedeutet dieser Roman mehr noch, als was Die Rote Zora und ihre Bande der Generation nach dem Krieg in Europa bewusst gemacht hat. Fünf Jahre nach Jorge Amado hatte Kurt Held in seinem Schweizer Exil den Sieg von Kindern gegen ihren Ausschluss aus der Gesellschaft dargestellt. Sein Plot gleicht der brasilianischen Kinderstory: Im jugoslawischen Küstenstädtchen Senje wird der Junge Branko, dessen Vater vor Jahren verschwand, nach dem Tod seiner Mutter von der eigenen Großmutter verstoßen und gesellschaftlich verfolgt. Weil er einen Fisch aufhebt, wird er zum Stein des Anstoßes für die Wohlhabenden. Die Polizei greift ihn auf und das Drama des Ausgeschlossenen beginnt. Befreit wird er von Zora, der rothaarigen Vollwaisen, die sich mit vier anderen Jugendlichen eine eigene „Burg“ und damit – wie die Bande von Bahia – eine eigene Identität verschafft. Branko findet durch die Zugehörigkeit zu den Uskoken, der Bande der autonomen Kinder, zu seinem inneren Auftrag. Wie Jorge Amado wechselt Kurt Held als Erzähler die Perspektiven zwischen dem repressiven Blick des Kleinbürgertums und dem Erfahrungsbericht der Bandenglieder, die als Subjekte agieren und ihre Biographie entfalten. Für den damals noch kommunistischen Kurt Held, der aus dem Schweizer Exil wesentlich gegen die faschistische Auslöschung der Menschenwürde schrieb, repräsentierte die Kinderbande der Roten Zora in ihrer spielerischen und diebischen Eigenständigkeit die Zukunft der verschworenen Unterdrückten. Zwar

erinnert der Hunger nach dem Abenteuer und das Fantastische einer eigenständigen Jugendbande europäische Kinder auch im Gehäuse des Konsums noch an die Macht ihrer eigenen Welteroberung – doch die grundlegende Situation von Kindheit und Jugend in Europa ist längst nicht mehr der soziale Ausschluss, eher die forcierte Integration in die Konsumgesellschaft. Ganz anders in Brasilien. Angesichts der autoritären Gesellschaft in der Zeit der nationalen Diktatur von Getúlio Vargas hat Jorge Amado literarisch gezeigt, was die Zerstörung der Kindheit durch die repressive Gesellschaft in der Psyche eines Volkes bewirkt und wie die Revolte der ausgeschlossenen Kinder das Überleben des Traumes sichert, der einst „Kindheit“ hieß. Die europäische Kinderbande wirkt mit ihren Späßen, mit ihren Verbündeten in der Stadt und mit ihren Rachefeldzügen für Gerechtigkeit allerdings harmlos gegenüber Jorge Amados Kindersaga. Denn die verschiedenen brasilianischen Polizeiformationen agieren durchaus mit Waffengewalt und die staatlichen Erziehungsanstalten arbeiten auch mit repressiver Strafgewalt. Und der einzige Verbündete, der schlichte Pater José Pedro, der selber aus der Arbeiterschaft stammt, wird von der kirchlichen Hierarchie und vom Bürgertum verächtlich geschnitten. Die Geschichte der Kinder von Bahia repräsentierte schon vor 60 Jahren die extremen Möglichkeiten von Kindern, die öffentlich verfolgt werden: Volta Seca mordet an die 60 Polizisten; Pirulito wird religiös und später Ordensbruder; João Grande bleibt als guter Schwarzer ein dirigierter Mitläufer, der sich später der Marine verkauft; der eher depressiv sensible Professor rettet sich in die Sonderwelt des Lesens und wird Künstler; Gato erobert Frauen (undenkbar im europäischen Gleichbild); Querido-de-Deus verkauft sich für Vorstellungen der Capoeira und der Chef der Bande, Pedro Bala wird ein revolutionärer Gewerkschaftsführer, ein Ideal in der frühen Dichtung von Jorge Amado. Inzwischen haben sich die Probleme, die Amado unter der Diktatur von Getúlio Vargas literarisch aufgriff, sozial radikalisiert und für Brasilien globalisiert. Heute ist es nicht mehr eine Stadtbande von Kindern und Jugendlichen in Bahia, die nur noch im Kampf gegen die sie ausschließende Gesellschaft überleben kann. In der zu 80% in Städten lebenden Bevölkerung Brasiliens existiert an die Hälfte der Kinder im Konflikt mit der Gesellschaft und davon wiederum die Hälfte durch den Überlebenskampf gegen die besitzende Gesellschaft. Heute fallen nicht mehr zufällig und vereinzelt Schüsse durch einen sadistischen Jungen, heute ist die bewaffnete Gewalt auch von Kindern und Jugendlichen zur Wirklichkeit selbst in den öffentlichen Schulen geworden. Heute sind es nicht mehr Kinderkrankheiten, welche die Gesundheit einzelner bedrohen, jetzt ist AIDS der Schatten im Körper der Kindheit und der Jugend geworden. Heute sind es nicht mehr einzelne Kinder, die von einzelnen Erwachsenen missbraucht werden. Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen werden heute im psychischen, wirtschaftlichen und sexuellen Sinne missbraucht. Für europäische Kinder wirkt die Lektüre des Kinderromans von 1937 noch immer unerträglich hart. Gegenüber der sozialen Wirklichkeit der Kinder Brasiliens, die zum geringen Teil zu den global Privilegierten und in der Masse zu den global Ausgeschlossenen gehören, ist das, was Jorge Amado 1937 darstellte, noch vergleichsweise einfach und human. Was sind die Indikatoren der globalen Entwicklung für die Kinder und Jugendlichen von Brasilien heute? 2. Extreme, die sich nicht berühren Brasilien kam nicht erst zu Ende des 20. Jahrhunderts in die Dynamik der Globalisierung, wenn Globalisierung die Durchdringung aller Lebensbereiche durch nicht autochthone, nicht nationale und nicht regionale Kulturen, Wirtschaftsmächte und politische Gewalten meint. Diese extern angestoßene Globalisierung macht die heute bewusst wahrgenommene Geschichte dieses Landes aus, das beinahe so groß ist wie China und vierundzwanzig mal grösser als die Bundesrepublik. Nach dieser Bewusstseinslage begann das flächenmäßig fünftgrößte Land der Erde vor fünfhundert Jahren erst mit dem Prozess der Globalisierung zu existieren, wobei die Geschichte Brasiliens – mit den Ausnahmen der Isolationsphasen - durch eine immer intensivere Abhängigkeit von externen Prozessen bestimmt wird. Die einheimischen Stammeskulturen sind in dem Aneignungsprozess der Moderne vor allem durch Europa und dabei insbesondere durch Portugiesen, Franzosen, Spanier und Holländer fast vollständig vernichtet und aufgesogen worden. Von den ehemals zwei bis fünf

Millionen der Angehörigen von einheimischen Stammeskulturen existieren noch – je nach ethnischem Gesichtspunkt – 300'000-700'000. Die brasilianische Kultur kann also nicht als das Resultat einer Kolonialisierung begriffen werden, weil Kolonialisierungen die bestehenden Kulturen aufnehmen, transformieren und weiter entwickeln. Brasilien ist vielmehr das Ergebnis globaler Gewalt. Denn dieser ‚Kontinent’ entstand durch die zum großen Teil außerrechtliche Entfaltung der Kräfte, welche die Eroberer mitbrachten und ist insofern das Resultat von exportierten innereuropäischen Konflikten, die durch keine nationale Verfassung wie in USA und durch keine Gesetzgebung eines Commonwealth gemildert wurden. Diese ethnischen, politischen und wirtschaftlichen Konflikte haben sich in dem riesigen Territorium in einem quasi rechtsfreien Raum rücksichtsloser als in den Mutterländern selbst entfaltet. Brasilien besteht heute zu über 99 % aus „verpflanzten Völkern“ (Darcy Ribeiro) . Es hat als letztes Land der Erde die Sklaverei abgeschafft – erst 100 Jahre nach Haiti. Nach der späten Abschaffung der Sklaverei (1888), welche es den 800'000 ehemals versklavten Afrikanern verbot, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, rückten in wenigen Jahren die Immigrantes, die für den Arbeitsmarkt importierten Italiener (1,6 Mio), Portugiesen (1,2 Mio), Spanier ( 700'000), Deutsche (250'000) und Japaner (230'000) nach. Diese aus wirtschaftlichen Gründen Eingeschleusten verelendeten zu einem großen Teil wie die ohne jede Entschädigung entlassenen Sklaven. Diese aus wirtschaftlichen Gründen Eingeschleusten verelendeten zu einem großen Teil ebenso wie die ohne jede Entschädigung entlassenen Sklaven. Zu „Dunkeln“ vermischt sanken sie oft – besonders was Wohnung und Versorgung betrifft - unter den Lebensstandard von Sklaven. Und damit war die Grundstruktur von dem gebildet, was in den Großstädten Brasiliens heute als strukturiertes Chaos des Massenelends weiter wächst. Im Blick auf die globalisierte Wirtschaft ist aufschlussreich, dass zu Ende des 19.Jh. das Problem der in den Schiffsverkehr und in den Schiffsbau investierten Mittel eine humanere Lösung der Sklavenfrage verbot. Wenn schon der Handel mit der Verschiffung von Menschen aus Afrika nicht mehr möglich war, dann kam es für die Reeder, für die Kaffeebarone und Zuckerrohrplantagebesitzer darauf an, eine neue Klientel für den Schiffsverkehr zu werben: die neuen Arbeitskräfte aus Europa und Japan. Die Verelendung der ehemaligen Sklaven und der sie ersetzenden Immigranten erzeugte die massenhafte Verelendung von Kleinkindern und von Jugendlichen in den Großstädten. Kurz vor der Abschaffung der Sklaverei sanktionierte Prinzessin Isabel im so genannten Gesetz des freien Bauches (Lei do ventre Livre) von 1871, dass die Kinder von Sklavinnen frei seien. Das hieß konkret, dass der Sklavenhalter, wenn er das Kind einer Sklavin nach dem 8.Lebensjahr freigab, dafür 600'000 Réais Entschädigung erhielt oder aber die Dienste des Minderjährigen bis zu seinem 21.Lebensjahr kostenlos in Anspruch nehmen konnte (in der Praxis profitierte er von beidem, ohne dass sich für die Kinder etwas Wesentliches änderte). Die freigelassenen Kinder galten nicht als Subjekte, sondern als Ware oder als Dienstleistende. Weder sie selbst noch ihre Eltern erhielten eine ökonomische Chance zur Lebensgestaltung und Bildung – den Preis für ihre ‚Freilassung’ erhielten die sie Besitzenden. Bis heute nehmen die europäischen Kinder das Problem an Oliver Twist von Charles Dickens und durch Die schwarzen Brüder von Lisa Tetzner (geschrieben von Kurt Held) wahr. Ein Vergleich mit der brasilianischen Realität des Massenelends von marginalisierten Kindern und Jugendlichen ist dadurch nur sehr entfernt gegeben. Um die soziale, familiäre und schulische Situation von Brasiliens Kindern zu verstehen, ist nicht nur der Blick auf den Sklavenimport und auf die Immigration aus Europa unverzichtbar, sondern vor allem auch die Berücksichtigung der inneren Immigration. Die Folge war eine rapide Auflösung der autochthonen Familienkulturen, die das bis 1960 agrarisch geprägte Land strukturiert hatten. Sie hat zwei Gründe: Der ursprünglich durch Sklaverei und Manchester-Kapitalismus forcierte Kaffeund Zuckerrohranbau im Süden und Nordwesten und die späteren Experimente mit der Gummigewinnung im Amazonasgebiet, machte die ärmste Bevölkerung extrem abhängig vom internationalen Markt. Zu Ende 60erJahre zogen große Massen der nun landlos gemachten agrarischen Bevölkerung in die Städte. Durch die neu ausgebauten Monokulturen der Zuckerproduktion für Alkohol-Benzin waren große Teile der Landbewohner des Nordostens und des Mittelwestens zur Flucht in die städtischen Zentren der Industrialisierung gezwungen. Diese

Verstädterung hat in den letzten vierzig Jahren ein historisch einmaliges Ausmaß angenommen. Noch 1960 waren nur Rio und São Paulo Städte mit mehr als einer Million von Einwohnern. Vierzig Jahre danach gibt es nun 13 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern, wobei São Paulo - 1872 noch ein Städtchen mit 30 000 Einwohnern - zur zweitgrößten Stadt der Erde mit 18 Mio Einwohnern angewachsen ist. Das sind gigantische Ausmaße, die alle städtepolitischen Erfahrungen der Weltgeschichte bei weitem übersteigen. Ende 2002 lebten bereits 82 % der Bevölkerung in Städten und 20% der Gesamtbevölkerung in Städten mit mehr als einer Million Einwohnern und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Die Stadtbewohner Brasiliens stammen also zum größten Teil aus traditional agrarischen, feudal und extrem patriarchal geprägten Kulturen. Sie erzeugen mit großer Selbstverständlichkeit das brasilianische Paradox: Großstädte mit einem sehr hohen Kinderreichtum. Brasiliens Bevölkerung hat sich in den letzten fünfzig Jahren verdreifacht. 1957 zählte Brasilien 62 Millionen, Mitte 2003 jedoch bereits 177 Millionen an Einwohnern. Davon sind 61 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das ist mehr als ein Drittel (36 %) der Gesamtbevölkerung – in der Bundesrepublik machen Kinder und Jugendliche gerade noch einen Fünftel der Bevölkerung aus. Die Probleme von Kindheit, Schule, Familie und Jugendkultur sind für Brasilien schon rein statistisch dementsprechend immer vordringlicher geworden. Allerdings lässt der Blick auf die Statistik leicht übersehen, dass die Probleme sich nicht im Durchschnitt darstellen lassen, weil das riesige Land äußerst differenzierte Kulturen in sich vereinigt. Real existieren vor allem die Extreme. „Brasilien ist die Gesellschaft, die einem Extrakt der Welt am meisten gleicht. Im selben Augenblick, in dem Finnland existiert, wo alle Zugang zu Internet haben und Handys besitzen, existiert gleichzeitig auch Afrika mit seinen Seuchen und mit dem Hunger. Brasilien hält das alles in seinem Innern.“ (Sérgio Besserman Viana) Um die brasilianische Situation von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der sich beschleunigenden Globalisierung zu verstehen, sind allererst diese Differenzierungen im Lande selbst zur Kenntnis zu nehmen: Brasilien kennt keine offenen Rassenkonflikte wie die USA oder Südafrika. Für die Zugangsmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen zur Bildung und zur späteren Teilhabe an der wirtschaftlichen und politischen Macht spielt die Hautfarbe jedoch eine entscheidende Rolle. Rassenbestimmungen sind stets das Konstrukt einer Gruppe von Menschen, die ihre Macht vorethisch und magisch - durch Merkmale ihrer Haut bestimmen. Im Gegensatz zu den spanischen Expansionsgebieten in Lateinamerika haben sich die weißen Portugiesen mit den dunkelhäutigen Indigenas vermischt. Die Dunkeln (pretos), also die Mestizen oder Mulatten, gelten sozial dennoch als minderwertiger als Weiße, auch wenn sie selber sozial wiederum über den Schwarzen (negros) zu stehen kommen. Für die ungleiche Stellung der Kinder ist die soziologische und alltagsweltliche Einschätzung aller dunkelhäutig Geborenen als negros und afro-descendentes (auch im Pass) entscheidend. 51 % der Kinder sind Weiße (31 Mio), 48 % Dunkle und Schwarze (29 Mio) und nur 0,5 % Indigenas (287 000) sowie 0,3 Asiaten (181 000). Nach diesen sozialen Konstrukten lebt in Brasilien – nach Nigeria – die zweitgrößte Bevölkerung von schwarzen Kindern in einer Nation. Die Weltperspektive der brasilianischen Kinder ist von daher eine andere als die der europäischen Kinder, für welche Afrika eher als Reich der Tiere denn als Raum von Völkern eine Rolle spielt. Sowohl die Kinder als auch die Pädagogen der europäischen Industriewelt sind dagegen am nachhaltigsten von den Indigenas fasziniert, von den wenigen Resten der Indianer (indio wirkt in Brasilien abwertend, während indigena, also einheimisch aufwertend gebraucht wird). Diese Minderheit, die in den letzten 50 Jahren stark dezimiert wurde, befindet sich mitten in der Globalisierung in einem äußerst prekären Zustand der Marginalisierung, obwohl der menschliche und kulturelle Reichtum dieser human höchst entwickelten archaischen Stämme auch für die Menschheit unschätzbar ist. Die ethnische Differenz wirkt sich in Brasilien sozial extrem aus. Die indigenen Kinder leben zu 71 %, die dunkelhäutigen zu 58 % in wirtschaftlich elenden Verhältnissen, während „nur“ 33% der weißen und nur 24 % der gelben, also der asiatischen Kinder unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben. Mit dem Wort ‚elend’ ist gemeint, dass die Ursprungsfamilie mit weniger als einem halben gesetzlichen Mindestlohn auskommen muss. Das waren zu Beginn des Jahres 2004 also ganze 38 €

monatlich. Verglichen mit europäischen Lebenshaltungskosten ergibt das pro Familie täglich die Kaufkraft von zwei bis drei Euro. Also: 45 % der Kinder und Jugendlichen Brasiliens leben mit Eltern, die pro Tag höchstens 3 € ausgeben können. Dunkelhäutige Kinder leben dabei fast doppelt so häufig in verelendeten Familien wie weiße Kinder. Und von den indigenen Kindern sind es über 71 %. Hinter solchen Zahlen verbirgt sich nicht nur das existentielle Leiden von 27 Millionen einzelnen Kindern, sondern auch der unbeschränkte Luxus von ca. 2 Millionen weißen Kindern. Nach Ausweis aller internationalen Untersuchungen ist nicht das Bruttosozialprodukt, sondern diese soziale Schere Brasiliens Grundproblem. Wirtschaftlich gesehen, gibt der Gini-Index eine aussagekräftige Indikation für die ungleiche Verteilung des Reichtums innerhalb einer Nation. Er besteht aus der Vertikale des Reichtums und der Horizontale der Bevölkerung. Bei einer egalitären Verteilung bliebe der Index auf 0, bei maximaler Ungleichheit – wenn eine einzige Person alles besäße - stiege er auf 100. Während Schweden einen Index von 25 erreicht, weist der Index Brasiliens seit dreißig Jahren beinahe unverändert das Extrem von 61 auf (im Vergleich: Lateinamerika 49). Das bedeutet beispielsweise, dass 6 % der Bevölkerung über die Hälfte des Volkseinkommens verfügt oder dass 20 % der Begüterten über dreißig mal mehr Einkommen verfügen als die 20 % der Ärmsten. Wie die PisaStudie vom Jahr 2000 zeigt, korreliert ein hoher Gini-Index mit schlechten Bildungsdaten: Die Ungerechtigkeit wirkt sich negativer aus als die Armut (Pro-Kopfeinkommen). So konnten Länder mit vergleichsweise viel geringerem Bruttosozialprodukt als Brasilien (z B. Polen) dennoch höhere Bildungswerte erreichen. In Brasilien selber nimmt die ungleiche Verteilung und damit auch die reale Armut jedoch auch noch mit der geographischen Nord-Lage extrem zu.. Während in der Hauptstadt Brasilia ‚nur’ 24 % und ganz im Süden von San Catarina ‚nur’ 23 % der Kinder in absoluter Armut leben, sind es im Bundesstaat Maranhão über 75 % und in Bahia noch über 67 %. Das sind nackte Zahlen, historisch erzählbare Differenzen, statistische Durchschnittswerte. Was aber bedeuten solche ‚Fakten’ für die Kinder und Jugendlichen Brasiliens innerhalb der Dynamik der Globalisierung? 3. Ausgeschlossen oder privilegiert Das Leichteste ist, die Situation der Ungleichheit durch die Methode der Subtraktion zu kritisieren, indem man ausgehend von ‚unserem’ Lebensstandard alles aufzählt, was dem andern leider fehlt. Schwerer ist es, die Entwicklung zu verstehen. Am Schwersten, sie zu verändern. Zuerst die Subtraktion. Nach der populären Vorstellung ist ein Armer ein Mensch wie ein Reicher minus alledem, was ihm an Reichtum fehlt: Der Arme hat also weniger Geld, weniger Macht, er hat nicht die gleiche Bildung, kein eigenes Heim, keine sorgenden Eltern, keinen Sozialstaat, der ihm verpflichtet ist, er geht nicht zur Schule, er kann nicht lesen und nicht schreiben, er hat keine Zukunft, er wird keine Arbeit finden, er hat keine Papiere, keine Brille, keinen Zahnersatz, keine Krankenkasse, keine Sozialversicherung, keinen Anspruch auf Hilfe, keine soziale Anerkennung, keine Chance also und zum Schluss auch keinen Platz auf einem Friedhof. Nach dieser quantitativen Betrachtung ist der Arme ansonsten ein Mensch wie Du und Ich. Alle Definitionen von Armut, die vom Objekt ausgehen, müssen sie als Fehlen von etwas bestimmen. Unter dieser statistisch erfassbaren Perspektive wird festgehalten, dass 91,4 % der brasilianischen Kinder keinen Computerzugang haben, 69,4 % an einem Wohnort ohne Telefon leben, 22,4 % in einer Behausung ohne Kühlschrank und 17 % an einem Ort ohne direkten Zugang zu Leitungs- oder Brunnenwasser. Bei Kindern von Müttern, die keinerlei Bildung haben – also weniger als ein Jahr zur Schule gingen und meist Analphabetinnen sind – ist die Subtraktion noch massiver: 98,1 % ihrer Kinder haben keinen Computerzugang, 92 % kein Telefon, 52 % keinen Kühlschrank, 41 % keine sanitären Anlagen, 41 % kein fließendes Wasser. Ganz allgemein haben 98 % der Kinder auf dem Land (gegenüber 90 % in der Stadt) keinen Computerzugang. 48 % der bis zu einjährigen Kinder im Nordosten werden nirgends registriert – sie existieren statistisch nur als Fehlposten und fallen aus jedem sozialen Netz. Schlimmer noch: Während nur 12,7 % der Kinder der 20% Reichsten zwischen ihrem vierten und sechsten Lebensjahr keinerlei Schule besuchen, sind es 48,9 % bei den 20% der Ärmsten. Hat die Mutter keinerlei Bildung erhöht sich der Prozentsatz auf 56,8 %; sind es

indigene Kinder, dann steigt die Wahrscheinlichkeit der Nicht-Einschulung auf 64,2 %. Diese Zahlen fallen besonders deshalb ins Gewicht, weil spätestens seit der Pisa-Studie die Bedeutung der frühen Bildung erkannt ist. Eine volle Teilhabe an der sich globalisierenden Entwicklung ist bei diesem Ausschluss von der Schule nicht möglich. Und der Grund dafür liegt in der sozioökonomischen, ethnischen und bildungsmäßigen Ungleichheit. Bei den 7 - 14 Jährigen steigt die Ungleichheit auf das Doppelte: Während nur 1,2 % der Reichsten in Brasilien keinerlei Schule besuchen, sind es bei den Ärmsten siebeneinhalb mal mehr: 9,2% nach amtlicher Statistik. Bei den 12 - 17 Jährigen sind es schon 20,1 % der Ärmsten und 4 % der Reichsten , welche keinerlei Schule mehr besuchen. Bei Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 14 Jahren gibt es bei den Reichsten 1,5 % Analphabeten und bei den Ärmsten 23,8 % - im Durchschnitt 1999 nach der amtlichen Statistik immer noch 15 % (fünfmal mehr als in Argentinien). Zwischen 10 und 14 Jahren gehen die Ärmsten gerade noch 2,9 Jahre zur Schule, die Reichsten 4,9. Und eine letzte Zahl: 28,7 % der Kinder von analphabetischen Müttern gehen zwischen ihrem siebten und ihrem 14.Lebensjahr überhaupt nicht zur Schule. Denn Mütter, die nicht lesen können, haben im Durchschnitt 6,5 Kinder. Arme Kinder sind Kinder minus Bildung. Diese Betrachtung verführt leicht zu einer Illusion: Es scheint, dass das Subjekt von dem Subtraktionsverfahren nicht betroffen sei. Dementsprechend kann die quantitative Vorstellung, die bei Begüterten vorherrscht, auch über die Armen als Subjekte verfügen. Sie kann sie als Kinder der Freiheit, als Straßenkinder oder als Steppenwölfe verherrlichen oder fürchten. Die quantitative Betrachtung muss sich zwar mit ihrem Mangel, nicht aber mit ihnen selbst auseinandersetzen. Die ausgegrenzten Kinder und Jugendlichen kommen allerdings weniger mit dem in Berührung, was nicht da ist, sondern mit sich selbst als ausgegrenzten Subjekten. Wird Armut nicht vom Objekt, sondern vom erleidenden Subjekt her verstanden, dann zeigt sich, dass sie weniger bestimmt wird durch das, was fehlt, als vielmehr durch den Prozess des ständigen Entzugs, durch die permanente Unterdrückung also, durch die Verweigerung, die Marginalisierung, die Ausbeutung und die Verfolgung, die ein Mensch psychisch, sozial und körperlich erleidet. Der Zustand der Ungleichheit wird als Ungerechtigkeit erlebt und zwar von Armen und Reichen. Die Reichen erleben sich dementsprechend als privilegiert und von den Armen und ihrer Gegengewalt bedroht. Sie leben wesentlich in der Sorge um die Realisierung der ständig zunehmenden Möglichkeiten existentieller, informationeller, wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher und kultureller Art. Ihre Kinder und Jugendlichen stehen unter dem Stress des Realisierungszwanges unendlicher Möglichkeiten. Für die Bundesrepublik und die Schweiz ist der letzte Platz, den Brasilien im Pisa-Ranking von 2000 einnimmt, ein schlechter Trost, weil die geprüften 15 und 16jährigen in Brasilien oft mehrere Jahre weniger zur Schule gingen (späte Einschulung und Praxis der Klassen-Wiederholung). Der Mut der Bundespolitik Brasiliens, sich dem Vergleich mit den OECD-Ländern freiwillig zu stellen, hat zur verschärften Wahrnehmung der hier vorgestellten Zusammenhänge geführt. In allen drei Sektoren und für alle Schulphasen schnitt Brasilien in der Pisa-Studie trotz des relativ hohen ProKopf-Einkommens am schlechtesten ab. Die Gründe liegen – wie schon betont - in der historisch herausgebildeten Verteilungs-Ungerechtigkeit, in der sehr späten Verordnung der allgemeinen Schulpflicht. Noch 1950 waren 50 % der Brasilianerinnen und der Brasilianer Analphabeten. Kinder und Jugendliche erleben ihr Ausgeschlossen-Werden von den Möglichkeiten ihrer eigenen Entfaltung weniger als Stress, sondern erst einmal mit einer spielerischen Aggressivität, welche depressive Syndrome fast vollständig ausschließt. Es fällt schwer, auf die ganz eigene Kultur der ausgeschlossenen Kinder und Jugendlichen hinzuweisen ohne fürchten zu müssen, sozialromantisch missverstanden zu werden. Im absoluten Elend entwickeln die Kinder und Jugendlichen nicht nur einen eigenen Lebensstil mit Samba, Fussball, Diebstahl, Capoeira, traditionellen Kinderspielen und früher sexueller Praxis, sondern auch eine ganz eigene Schattenwirtschaft: Das Autowaschen, der Verkauf von Süssigkeiten an den Ampelstaus, das Bewachen von geparkten Autos, das Begleiten mit einem Schirm im Regen, das stellvertretende Warten in den Schlangen vor den Büros, die Botengänge und die Handreichungen mannigfacher Art ernähren Millionen von Kindern, oft auch deren Mütter und manchmal auch die Väter. Dazu kommt allerdings, dass der Koeffizient der Nicht-Einschulung oder des minimalen Schulbesuchs mit der illegalen

Beschäftigung für Kinderarbeit in hohem Maß korreliert. Trotz des Witzes, der Energie und der Lebenskunst dieser Kinderkultur wird der Prozess der Unterdrückung der eigenen Möglichkeiten als ein ständiges Missbraucht-Werden erlebt. Und dieser Missbrauch bewirkt eine nachhaltige Traumatisierung. Sie führt in der Ausweglosigkeit der äußeren Situation selten zu apathischen, meist jedoch zu aggressiven Formen der Überlebenskunst. Die Masse der Jugendlichen, die im Elend revoltieren und durchaus gewaltbereit existieren, reagiert auf die Gewalt, welche ein Teil der Gesellschaft der Erwachsenen gegen minderjährige Kinder praktiziert. Sie führt zum Kern des Problems, das für Kinder und für Jugendliche durch die Globalisierung bisher verschärft wird. 4. „Candelária“ Die auf offener Straße durchgeführte Ermordung von Kindern am 23.Juli 1993 in Rio hatte durch ihre mediale Wirkung die Welt erstmals auf den Kampf von führenden Gesellschaftsschichten gegen ihre eigenen Kinder aufmerksam gemacht. Damals schlief eine Gruppe von 50 Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren in notdürftige Decken gehüllt unter einem Vordach neben der Kirche der Candelária in Rio de Janeiro. In der Dunkelheit entstiegen nach einer wahrscheinlichen Version einem Auto vier Militärpolizisten, einem andern mindestens zwei Männer, griffen sich einen rothaarigen Jungen, befragten ihn kurz nach seinem Namen und feuerten zwei Pistolenschüsse auf ihn ab. Dann wurde wahllos in die Gruppe der wehrlosen Kinder geschossen, Flüchtende verfolgt und getötet. Acht Kinder starben in dem Massaker. Schon damals machte amnesty international darauf aufmerksam, dass Brasilien nicht nur die - weltweit gesehen - höchste Zahl von kriminellen Aktionen gegen Kinder zu verzeichnen hat, sondern auch die höchste Rate der Nicht-Bestrafung der Täter. Zwei später bestrafte Täter waren Militärpolizisten, fünf weitere Mitglieder der Militärpolizei waren wahrscheinlich in die planmäßige Ermordung der Kinder verstrickt. Obwohl 1993 in Brasilien bereits täglich drei Kinder erschossen wurden, lag die Zahl der Bestrafungen damals noch unter einem Prozent. Das schockierende Faktum entspricht einer verbreiteten gewalttätigen Einstellung eines Teils der Bevölkerung gegenüber verarmten Kindern und Jugendlichen. Nach einer Untersuchung der Folha de São Paulo nach dem Attentat auf die Kinder sollen über 40 % der Bevölkerung Angst vor der Gewalt der so genannten Straßenkinder empfunden und durchaus Toleranz gegenüber ihrer gewalttätigen Bekämpfung gezeigt haben. Das Paradox besteht darin, dass die mittelständische und reiche Bevölkerung aus Mitleid mit den Kindern für deren Ernährung durchaus solidarisch aufkommt; werden die Kinder älter, werden sie jedoch mehr und mehr gefürchtet, so dass die Toleranz gegenüber ihrer gewalttätigen Bekämpfung zunimmt. Da sich die Gewalt in den letzten zehn Jahren besonders in São Paulo extrem gesteigert hat , ist auch die Aggressivität gegen diese so genannten Straßenkinder gewachsen. Mit dem Ausdruck Straßenkinder werden Kinder und Jugendliche des Elends stigmatisiert. Kinder und Jugendliche, die keinerlei Lebensort als die offenen Plätze und Straßen finden, werden zusammen mit den Kindern aus den Favelas, den Cortiços und Mocos in die gefährlichste aller politischen Kategorien, in die Kategorie der Unreinen gestoßen. Den abstoßenden „Abschaum der Straße“ zu vernichten und auszurotten oder diese „Banditen“ zumindest zu vertreiben oder umzuerziehen, gilt für einen beachtlichen Teil der brasilianischen Stadtbevölkerung als ein ethisch gerechtfertigtes Unternehmen. In einem Punkt, in der magischen Vorstellung von den Unreinen, die aus der reinen Verantwortung für die Sicherheit und für die Gesundheit des Volkes ausgerottet werden müssen, trifft sich der Kampf gegen die Kinder in Brasilien im Zeitalter der Globalisierung mit den politisch magischen Vorstellungen des Rassismus und des Antijudaismus, die vor sechzig Jahren die Grundlagen des politischen Universums in Europa zerstört haben. Die politisch und medial wirksame Vorstellung von einem destruktiven Willen, der Kinder zu Diebstählen, zur Prostitution und zu aggressiven Handlungen treibe, entpuppt sich tiefenpsychologisch gesehen als eine Projektion, die von den Schuldgefühlen der Verantwortlichen entlastet. In Wirklichkeit ist das Zwischenglied zwischen der Gewalt der Gesellschaft gegen die Kinder und ihrer Situation im Massenelend der Großstädte der international organisierte Drogenmarkt und der ebenfalls globalisierte sexuelle Missbrauch. Die im Massenelend der Großstädte überlebenden Kinder

kommen praktisch alle mit Drogen in Berührung; die meisten von ihnen sind zumindest zeitweise drogenabhängig. Der Grund für diese dramatische Entwicklung liegt erst einmal darin, dass der Drogenhandel die Kleinkinder für Transporte und Verteilungen einsetzt und mit Drogen bezahlt. Leider muss auch eine zweite Erfahrung zum Verstehen der Drogenkultur der Kinder und Jugendlichen hoch eingeschätzt werden: Ohne Drogen ist das Leben in der permanenten Unterdrückung des Elends physisch und psychisch nicht aushaltbar. Die Droge ist zur Religion für Kinder im Massenelend der brasilianischen Großstädte geworden. Sie werden still gestellt. Mit der Droge verbunden ist allerdings auch die Waffengewalt. In den Schulen Brasiliens wird nichts so sehr gefürchtet wie die Waffe, die in den Favelas, Cortiços, Mocos und Straßenquartieren allgegenwärtig gehandhabt wird. Die Waffengewalt hält viele Kinder vom Weg zur Schule und vom Schulbesuch ab. Das durch die Droge still gestellte Elend eines Teils der brasilianischen Jugend ist leider ein größeres Problem als der Hunger, der im Norden eine Rolle spielt. Das Problem bleibt die strukturelle Ungerechtigkeit, die in der Gewalt erfahrbar wird. Isabel C.R.da Cunha Fontana hat in einer Untersuchung die historischen und ideologischen Voraussetzungen dieser öffentlichen Gewalt gegen Kinder herausgearbeitet Nach ihrer These hat das autoritäre Interesse der Militärdiktatur (1964-1985) an der ‚Nationalen Sicherheit’ das öffentliche Bewusstsein für die Würde der Kindheit geschwächt. Im Rahmen der Ideologie der Nationalen Sicherheit wurden 1976 die ‚Staatlichen Stiftungen für das Wohlergehen der Minderjährigen’ eingerichtet (FEBEM: Fundaçao Estadual do Bem-Estar do Menor). Sie hatten zum Ziel, mit modernen pädagogischen Methoden die inzwischen prinzipiell marginalisierten Massen von Kindern und Jugendlichen in die Dynamik des nationalen wirtschaftlichen Fortschritts zu integrieren. Die beabsichtigte Einführung von verwahrlosten und delinquenten Kindern und Jugendlichen in die liberale Marktwirtschaft wurde kombiniert mit der autoritären Vorstellung von der Umerziehung delinquenter Kinder und Jugendlicher. Die dabei angewandten Methoden sind nach unabhängigen Untersuchungsberichten nicht nur unvereinbar mit einer Pädagogik der Beteiligung, sondern auch mit den Standards der von Brasilien unterzeichneten UNKinderrechtskonvention von 1989 und der brasilianischen Gesetzgebung. Ein im angesehenen Jornal do Advogado 2003 erschienenen Bericht über die FEBEM von São Paulo trägt als Zusammenfassung seiner Resultate den Titel: „Brasiliens Folterzentren für Kids“. Die interne Gewalt von Polizei und staatlich geführten Sozialeinrichtungen schließt das Glied zwischen der autoritären Erziehungstradition und der marktwirtschaftlichen Effizienzsteigerung. Die Kinder und die Jugendlichen, die ihr Überleben oft schon ab 4 bis 5 Jahren selber sichern müssen, werden nicht als Subjekte wahrgenommen, sondern entweder als Feinde der Ordnung oder als unerschöpfliches Potential für billige Arbeitskräfte. Sie haben keine Chance zu ihrer humanen Anerkennung und zur Beteiligung an den Möglichkeiten globaler Informationen, Medien, Bildungsangeboten und Gütern zum Aufbau von so etwas wie einer menschenwürdigen Existenz. 5. Eine seltsame Liebkosung Armut und Reichtum haben viele Gesichter. Der Zufall wollte es, dass ich während der Abfassung dieses kurzen Berichts zur besonderen Situation der Kinder in der Globalisierung Brasiliens den Besuch einer jungen Brasilianerin von 14 Jahren erhielt. Ihre Mutter verstarb an AIDS; sie kennt die Adresse ihres Vaters nicht und sie weiß auch nicht, wer der Vater ihres kleinen Bruders ist. Durch den Aufenthalt der an AIDS erkrankten Mutter und ihrer zwei Kinder in einem unserer Hilfswerke kam die Adoption durch eine sehr reiche brasilianische Familie zustande. Das Mädchen lebt seit vier Jahren in der neuen Familie und war nun zu Besuch bei einer befreundeten Schweizer Familie. Ich fragte sie, ob die Kinder in den Favelas glücklicher seien als die Kinder im Reichtum. Sie antwortete spontan und differenziert, dass die Kinder in Brasilien insgesamt glücklicher seien als die Kinder in der Schweiz (wo sie seit einem Monat die Schule besuchte). Die brasilianischen Kinder lebten mit mehr alegria, mit mehr Heiterkeit und Fröhlichkeit und seien viel offener. Auch seien die armen Kinder in Brasilien glücklicher als die reichen, weil sie trotz allen Elendes mais carinhoso, viel zärtlicher und mais amoroso, viel liebevoller angenommen würden als die reichen Kinder. Ihre Adoptiveltern seien eine Ausnahme. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die alle sehr

reiche Eltern hätten, würden diese dagegen meist als duro erfahren, als hart gegen Kinder. „Reiche“, sagte sie, „haben keine Zeit für Kinder. Sie haben viel zu viel zu tun.“ Immer intensiver erzählte die junge Brasilianerin von alle dem, was die Schweizer Kinder kaum kennen würden. Sie schwärmte von den vielen, vielen Hunden in den Favelas, vom großartigen brasilianischen Fussball, vom unendlichen Strand, von Capoeira und vor allem vom Samba. „Samba“, lachte sie in der unnachahmlichen Bewegung brasilianischer Kinder, „Leben – das ist doch Samba, Samba, Samba“. Sie fand es sehr traurig, dass europäische Kinder keinen Samba tanzen. Ich fragte vorsichtig, woran denn die Kinder in der Armut litten. Sie dachte lange nach. Dann sagte sie: „Sie werden geschlagen und es geht ihnen schlecht. Aber daran leiden sie viel weniger als an dem, was man ihrer Mama antut.“ Das größte Elend von sozial ausgeschlossenen und missbrauchten Kindern besteht nicht im Bewusstsein ihrer eigenen Not, sondern im Leiden am Leiden ihrer Mama oder der sie Vertretenden. Was die Kinder und Jugendlichen erstaunlicher Weise zu allererst suchen, ist die Verbesserung der Situation ihrer Eltern. Eine Hoffnung wäre, dass die Erwachsenen in den gut entwickelten Nationen nicht nur ihre eigenen Entwicklungsprobleme wahrnehmen, sondern – wie die Kinder im Elend – das Problem der andern. Es wäre der erste Schritt zur Pädagogik der Beteiligung , die in allen Lebensformen in den Familien, Schulen, Arbeitsverhältnissen, Medien und Politik nicht über die Kinder und Jugendlichen verfügt, ohne dass die Betroffenen an den Entscheidungen selber teilnehmen können.