Leseprobe aus:

Detlef B. Linke

Die Freiheit und das Gehirn

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© 2005 by C. H. Beck, München

Inhalt I. Einleitung: Die Freiheit und das Gehirn 13 II. Kreativität, Ausdauer und Querdenken 19 Freiheit und Kreativität 19 Was ist Kreativität? 20 Das fraktale Gehirn 29 Der Umgang mit den eigenen Besonderheiten 34 Das Durchhaltevermögen: Am Beispiel van Goghs 39 Kein isoliertes Zentrum für Kreativität 40 Frauen haben mehr Möglichkeiten 41 Der Mozart-Effekt und Edisons Kugeln 43 Kreativität und Gehirnausnutzung 50 Praktische Hinweise für Kreativität und Ausdauer 54 Politik und Kreativität 57 Kreativität und Freiheit 59 Kreativität und Unendlichkeit 60 Kreativität und Kollision 61

III. Der Kehlkopfverschlusslaut singt 64 Das vierstufige Handlungsmodell 64 Freiheit: Lücke im Bewusstsein? 66 Die Kreativität und das Neue 71 Das neurowissenschaftliche Argument für die Clash-Theorie der Vorstellungen 71 Die verschlungenen Wege des Explizierens 72 7

Warum halten uns Bilder gefangen? 75 Die Frage der Isomorphie 75 Mentale Räume 78 Territoriales Denken 81 Clash der Vorstellungen 82 «Höheres» Bewusstsein 85 Neurophysiologie jenseits von Moderne und Postmoderne 86 Wie werden Vorstellungen explizit? 88 Auswege: Urteile, Nichtwissen, Leitmotive und Moderatoren 91 Der unmögliche Gesang 103 Die Competition und die virtuellen Maschinen 110

IV. Freiheit und Codierung 112 Freiheit, Logik und Gehirn 112 Hirnprozesse tragen immer schon Bedeutungen 118 Unschärfe der Codierung? 120 Innen-Außen-Beziehung und Neurosemantik 121 Das Leib-Seele-Problem und die Parallelität 122 Freiheit und Selbstbezüglichkeit 124 Logik und Mythos 126

V. Ethik des Denkens 128 Die Ethik des Denkens und die Vernunft 128 Freiheit und Gerechtigkeit 129 Ethik des Denkens 130 Das implizite Ich 135 Seltsam, manche sprechen sich selber mit Du an 137 Strafrecht und Verantwortung 138 8

Ethik des Denkens angesichts des kaum kalkulierbaren Verhältnisses von Explizitheit und Implizitheit 140 Einverleibungen des Ich 141 Rationalität als Ausschlusskriterium 142 Die Kreativität und die vermeintlichen «Loser» 146 Das Überleben des Menschen 147 Der Wohlstand und die Evolution 149 Keine Chance für klammheimliche Freude 151 Wirtschaftliche Prosperität 153 Ethik und Gehirn 155 Übersetzerfunktion der Neurotheologie für den öffentlichen Diskurs? 158 Unendlichkeit und Regel 161 Die Computerbrille projiziert ethische Regeln ins Sichtglas 161 Der chinesische Weise und die hundert Tage 163

VI. Freiheit durch Auswählen 167 Vernunft und Freiheit 167 Auswählen 168 Das Ich und die Auswahl 171 Auswahl und Totalität 172 Toleranz für Auserwähltheit 173 Rationalität und Auserwähltheit 177 Zirkel, Widerspruch und neue Phönixe 180 Evolutionäre Wahrheit 181 Zirkel und Ungewissheit 182

VII. Stört nur nie den Frieden der Liebenden! 183 Freiheit und Liebe 183 9

Stört nur nie den Frieden der Liebenden! 186 Der Tintenfisch und die Öffentlichkeit 188 Kritikfähigkeit und Sexualinteresse 190 Kann man Feindschaften durch Liebe überwinden? 191 Emotionen als neue Kampfesfront? 192 Der Rechtsstaat schützt vor Erniedrigung! 193

VIII. Abbau, Identität und Wandel 195 Freiheit und Würde 195 Identität und Klischee 196 Der Geist verbirgt seinen Abbau: Er wechselt das Thema 197 Pause machen 201 Perestroika mit neuen Zellen 203 Steuerung ohne Copilot 205 Sind Emotionen für eine Parallelmaschine ein guter Regelungsparameter? 206 Dasselbe und die Gruppenselektion 211 Die Identität des Oklahoma-Bombers 214 Patchwork-Identität: Wer flickt? 215 Das Ich und die Negativ-Mystik 217 Zur Genese des Subjekts 219 Die Lücke in der Systemanalyse 220 Biophysik des Bewusstseins 222

IX. Über eine mentale Brücke kann man sogar mental nur schwer gehen 224 Verrückte sind Verliebte 224 Das Aushalten des Streits 225 Entschuldigung als Gefahr 227 Problemlösen als Problem 228 10

Wenn in jedem Satz ein Problem steckt 230 Vernunft und Wahrscheinlichkeit 232 Tod durch Grammatik 235 «Und wie geht es ihm?» 235 Streit und Verletzbarkeit 236 Die Dialektik und die Abwehr von Nähe 237 Kein Urteil über den Geisteszustand des anderen! 238 Die tragische Verwicklung bei Schizophrenie 239 Folie à deux 240 Zur Irrelevanz psychiatrischer Diagnosen 242 Wo psychiatrische Diagnosen nicht hingehören 243 Medientheorie und Psychose: «Na, du Weichei!» 243 Personale Identität: Künstlicher Ausschnitt aus einer Geste 245 Über eine mentale Brücke kann man sogar mental nur schwer gehen 246 Zur Physiologie des Zorns 247 «Jawohl und Gomorrha» 250

X. Neuroökonomie 252 Was ist Neuroökonomie? 252 Das Gehirn: Eine Formel, ein Ich oder ein Geldsystem? 258 Neuroökonomie und Freiheit 260 Sicherheit und Wahrscheinlichkeit 262 Die Suche nach Sicherheit kann verändert werden 264 Wahrscheinlichkeit und Regel 264 Informationen als vorgeformte Erwartungshäppchen? 266

XI. Diagnose, Therapie und Prognose in Medizin und Politik 269 11

XII. Plädoyer für Freiheit und Rationalität 272 Freiheit und Hirnforschung 272 Keine Freiheit: Mehr Demut oder Würde-Demontage? 279 Demut und Exzentrik 283 Der Sog der Freiheit 285 Die Rationalität und das Implizite 285 Projektionshimmel im Gehirn 287 Weltethos und emotionale Intelligenz 290 Das Gehirn als Über-Ich 294 Damasio und Buddha 298 Plädoyer für Freiheit und Rationalität 299 Freiheit und Handlung 304 Freiheit und Verantwortung 306 Ausblick: Hochkonjunktur für Freiheit! 309

XIII. Die Freiheit und das Gehirn – ein Nachwort 313

Literaturverzeichnis 325

I. EINLEITUNG

Die Freiheit und das Gehirn Unsere entscheidende Orientierung finden wir im Konzept der Freiheit. Auch wenn dieses Konzept von Gehirnen getragen wird, so bedeutet dies nicht, dass Freiheit nur eine Angelegenheit des Gehirns ist. Es gilt jedoch, die Ergebnisse der Hirnforschung beim Freiheitskonzept zu berücksichtigen. Lange Zeit verstand man Freiheit als die Fähigkeit, bewegen zu können, ohne selbst bewegt zu werden. Dies konnte man sich allerdings nur für ein nichtmaterielles Wesen vorstellen, denn Materie ist den Einwirkungen anderer Dinge und Gegebenheiten ausgesetzt. Der Mensch wurde daher in vielen Freiheitstheorien als eine Art «gehirnloser Gott» konzipiert und auf diese Weise als von Natur und Welt unabhängig gedacht. Die explosionsartige Entwicklung der Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten hat nun diese Intuition von der absoluten Freiheit etwas ins Wanken gebracht. Aber es gibt auch zahlreiche Gründe, die uns kulturell lieb gewordene und für die Politik unentbehrliche Freiheit als Konzept nicht nur von einigen Laborexperimenten abhängig zu machen. Es gilt daher zu einer realistischen Einschätzung der Einwände der Hirnforschung gegenüber dem Konzept der Freiheit zu gelangen und eine Skizze des Menschen zu entwerfen, die gleichwohl Befunde und Hinweise der Hirnforschung benutzt. Genauso wichtig ist es aber, herauszuarbeiten, auf welche Weise der Freiheitsbegriff gegenüber den Einwürfen der Experimentatoren und den Na13

turalisierungsvorhaben der Neurowissenschaften immunisiert werden könnte. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Etablierung solch eines begrifflichen Immunsystems selber Konsequenzen für die Gestaltung der menschlichen Freiheit hat, die für eine auf Technologie und Naturwissenschaft angewiesene Nation und Gesellschaft sowie für Impetus und Motivation nachteilig sein kann. Ich bin der Ansicht, dass Freiheitstheorie und Hirnforschung durchaus nebeneinander bestehen können und bei der Frage, wie Freiheit zu verwirklichen sei (was kann der Mensch leisten, was soll er tun, woran soll er sich orientieren), sogar eine fruchtbare Interaktion möglich ist, sodass eine weitere Teilung der Gesellschaft in die zwei Kulturen (Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft) als überholt angesehen werden kann. Die Befunde der Hirnforschung, auf die sich einige der Hirnforscher berufen, die das Konzept der Freiheit zurückweisen, sind für solch weitreichende Folgerungen keineswegs ausreichend. Zentrale Experimente, z. B. das von Libet und Nachfolgern, haben keine «Freiheit aus Gründen» zum Thema, sondern lediglich die Ausführung instruierter Fingerbewegungen, bei denen der Zeitpunkt der Bewegung und zum Teil auch die zu wählende Hand willkürlich bestimmt werden konnte. Keinesfalls ging es hier um Entscheidungsprozesse im Sinne des Abwägens von Gründen. Freiheit im klassischen Sinne, als Entscheidungsfähigkeit aus Gründen (Vernunftgründen), wäre eher dann Thema gewesen, wenn die Hirnforscher, bereits während sie die Versuchspersonen fragten, ob sie an dem Experiment teilnehmen möchten, schon ihre Messungen hätten durchführen können. Es lässt sich jedoch nicht leicht standardisieren, Messungen der Hirntätigkeit durchzuführen, während die Versuchspersonen überlegen und die Gründe des Für und Wider der Teilnahme am Experiment abwägen (könnte das gefährlich 14

sein, lohnt sich das überhaupt, ist es interessant usw.). Insofern reichen die in der Debatte um Freiheit und Gehirn angeführten Experimente kaum an einen starken Freiheitsbegriff heran. Die Beschränkung der experimentellen Wissenschaft auf einfache und übersichtliche und wiederholbare Situationen ist dabei keinesfalls zu kritisieren. Es ist durchaus anzunehmen, dass aus verschiedenen Bereichen der Neurowissenschaften und Psychologie sowie Kognitionswissenschaften und selbst aus der Spieltheorie (Neuroökonomie) stammende Untersuchungen zu einem komplexeren Bild des menschlichen Verhaltens konvergieren können. Auf solche Experimente soll in diesem Buch zumindest hingewiesen werden, da sie bislang in der Debatte um Freiheit und Gehirn nur teilweise Berücksichtigung fanden. Wichtig ist dabei vor allem, auf die größere zeitliche Dimension menschlichen Verhaltens einzugehen, dessen Eigentümlichkeiten in einem Versuch, bei dem nur wenige Millisekunden für eine Entscheidung zur Verfügung stehen, kaum zum Ausdruck kommen können. «Lass dir Zeit», solle der Gruß der Philosophen sein, meinte Wittgenstein. Dies gilt nicht nur für die Untersuchung des menschlichen Verhaltens, sondern auch für die Entwicklung der dazugehörigen Theorien. Die kleinen Schritte, mit denen experimentelle Befunde bisweilen vorausschreiten, sollten natürlich dennoch dankbar entgegengenommen werden. Übereilte Folgerungen, die schließlich in einer Abschaffung des Freiheitskonzeptes münden, sind jedoch zurückzuweisen. Wenn man aus den Experimenten von Libet folgert, dass der Mensch nicht frei sei, weil der Subcortex eine Bewegung schon vorbereitet, bevor unser Bewusstsein davon weiß, so bedeutet dies keinesfalls, dass das Bewusstsein nur eine Nebenrolle spielt. In diesem Buch soll dargestellt werden, dass eine derartige Annahme einer Nebenrolle ein Artefakt des zu kleinen Zeitfensters bei der Beobachtung ist. Das Bewusstsein eröffnet die Szenerie, 15

auf der sich Korrekturprozesse entfalten können. Gerade um dies zu verstehen, sind auch wieder Befunde der Hirnforschung (siehe z. B. Münte und andere) hilfreich. Die Äußerung von Wolf Singer, man solle von Freiheit nicht mehr reden, halte ich deshalb für überzogen und weise ich zurück. Was nichts an der Tatsache ändert, dass die Untersuchungen von Singer und Mitarbeitern für das Verständnis des Gehirns von großer Bedeutung sind. Die von Gray und Singer entdeckte Kohärenz von Neuronenimpulsen im visuellen Cortex von Nagetieren, die sich bei Wahrnehmungsprozessen über einige Millimeter der Hirnrinde erstreckt und als Korrelat der Gegenstandskonstitution von großer Bedeutung ist, stellt eine für die weitere Entwicklung der Hirnforschung bedeutsame Entdeckung dar. Die zeitliche Kohärenz aller Neuronenimpulse des ganzen Gehirns würde jedoch nur einen epileptischen Anfall darstellen. Insofern ist es von großer Bedeutung, die zeitliche Verschränkung und Dispersion der Impulse im Gehirn genauer zu analysieren und zu verstehen und zu einem Konzept des Menschen zu kommen, das sein Verhalten nicht nur in ausgewählten Zeitfenstern, sondern in größeren Zeitspannen zu verstehen erlaubt, auch wenn damit der Schritt zu einer als zeitlos verstandenen Vernunft natürlich noch nicht getan ist. Gerade die Realisierung einer am Modell z. B. der Mathematik (oder anderer dauerhafter Gesetzlichkeiten) mehr oder weniger zeitlos gedeuteten Vernunft in der Zeitlichkeit der Hirntätigkeit stellt eine der interessantesten Herausforderungen dar. Die Äußerung, dass alle Hirntätigkeit deterministisch sei, ist in diesem Zusammenhang unzureichend, da ja gerade die Frage, wie notwendige Regeln des Zusammenlebens von uns zu realisieren sind, auch wenn wir noch so sehr von Interessen und Umständen determiniert werden, für das individuelle Wohl wie auch das der Weltgesellschaft von entscheidender Bedeutung 16

ist. Die ungeprüfte Verabschiedung von Freiheitskonzeptionen aufgrund allein deterministischer Argumente erscheint mir also höchst gefährlich zu sein und muss scharf zurückgewiesen werden. Insbesondere sollte von den Neurowissenschaften nicht übersehen werden, dass die großen Freiheitskonzeptionen die Dimension der Determiniertheit bereits berücksichtigen, indem sie Freiheit zum Teil als Selbstverhältnis zur Notwendigkeit zu charakterisieren versuchen (siehe z. B. Krings). Nun lässt sich das Freiheitskonzept durchaus so formulieren, dass man sagt, es gebe ein Reich der Vernunftgründe, das unabhängig von allen Determiniertheiten und Ursachen der Natur zu denken sei. Will man nun zeigen, dass alle Realisationen von Vernunft selber im Reich der Ursachen und Determiniertheiten zu Hause sind, dann muss man dafür Sorge tragen, dass wichtige Diskurse der Freiheit rekonstruierbar bleiben. Die wichtige Konzeption der Freiheit als Selbstverhältnis zur Notwendigkeit, die z. B. auch bei der politischen Begründung eines freien Staates als Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat von größter Bedeutung ist, müsste in einem Diskurs der Determiniertheit wieder auftreten. Hier kann die Hirnforschung durchaus zeigen, dass Selbstverhältnisse auch als Hirnprozesse denkbar sind. Solche Selbstverhältnisse können dabei von der Hirnforschung als ein Vorgang gezeigt werden, bei dem alle Prozesse (z. B. Gruppenselektion von Neuronenaktivität) wieder in dasselbe, nämlich dasselbe des ganzen Gehirns verweisen. Insofern könnte man – bei genügendem Mut – sogar damit zu Rande kommen, dass diesen Selbstbezügen kein eigenes Zentrum (z. B. in Form eines isolierbaren Ich) zugewiesen werden kann. In dieser Situation eröffnet sich die kreative Chance, die Brüche und Verwerfungen, die innerhalb der Geistesgeschichte selber zu verzeichnen sind, und das Aufbrechen neuer Konzeptionen in der Hirnforschung als Gelegenheit zu nehmen, das Anliegen der Freiheit 17

und die Konzeption der Natürlichkeit des Menschen auf eine neue Art zusammenzuführen, wobei auf eine unendliche Weise die Prozesse des Gehirns stets wieder in dasselbe weisen, das zugleich auch immer etwas Neues ist.