Die Exponentialfunktion - Herleitung und einige Eigenschaften

Die Exponentialfunktion - Herleitung und einige Eigenschaften Klaus-R. L¨offler Inhaltsverzeichnis 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 0.10 0.11 Di...
Author: Ludo Baumann
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Die Exponentialfunktion - Herleitung und einige Eigenschaften

Klaus-R. L¨offler

Inhaltsverzeichnis 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 0.10 0.11

Die Funktionalgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Differentialgleichung zur Funktionalgleichung Eigenschaften der Eulerschen Funktion . . . . . . . . . Eine Berechnung von e . . . . . . . . . . . . . . . . . N¨aherung der Eulerschen Funktion durch ein Polynom Die Irrationalit¨ at von e . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umkehrung der Eulerschen Funktion . . . . . . . . Die Funktion mit der Gleichung y = xx . . . . . . . . Die hyperbolischen Funktionen . . . . . . . . . . . . . Die allgemeine (exponentielle) Wachstumsfunktion . .

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1 2 2 3 3 4 5 5 6 7 8

0.1 Die Funktionalgleichung ¨ Ausgangspunkt f¨ ur die nachfolgenden Uberlegungen ist das Wachstum (oder der Zerfall als negatives Wachstum) einer Masse, wobei der Zuwachs (bzw. die durch Zerfall verschwundene Masse) in einem bestimmten Zeitraum proportional zur Anfangsmasse ist. Bezeichnet man also die Masse zum Zeitpunkt t mit f (t) und betrachtet ein Zeitintervall der L¨ ange h, so gilt (1)

f (t + h) − f (t) f (h) − f (0) = . f (t) f (0)

Zur Vereinfachung kann man die Einheit f¨ ur die Masse so w¨ahlen, dass die zerfallende bzw. wachsende Substanz zum Zeitpunkt t = 0 bez¨ uglich dieser Einheit die Maßzahl 1 hat. Es darf also vorausgesetzt werden (2)

f (0) = 1 .

Durch Einsetzen von f (0) = 1 und Multiplizieren von (1) mit f (t) · f (0) ergibt sich (3)

f (t + h) − f (t) = f (h) · f (t) − f (t),

also

f (t + h) = f (h) · f (t) .

Die Gleichung wird auch als Funktionalgleichung der Exponentialfunktion bezeichnet: ^ (4) f (a + b) = f (a) · f (b) . a,b∈R

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Inhaltsverzeichnis

0.2 Die Ableitung Die Funktion f wird nachfolgend als differenzierbar vorausgesetzt. Ihre Ableitung erh¨alt man als (t) Grenzwert des Differenzenquotienten f (t+h)−f an der Stelle 0. Aufgrund der Funktionalgleichung h und wegen f (0) = 1 gilt (5)

f (t + h) − f (t) = f (t) · f (h) − f (t) = (f (h) − f (0)) · f (t),

also f (t + h) − f (t) f (h) − f (0) = f (t) · . h h Wenn h gegen 0 strebt, strebt der linke Teil der Gleichung (6) gegen die Ableitung von f an der Stelle t, w¨ahrend die rechte Seite gegen f (t) · f 0 (0) strebt. Daraus folgt, dass an jeder Stelle t ∈ R die Ableitung von f den Wert f 0 (0) · f (t) hat. Die Maßzahl f¨ ur die Zerfallsgeschwindigkeit h¨angt von der gew¨ahlten Zeiteinheit ab; diese sei zur Vereinfachung nun so gew¨ ahlt, dass zu f 0 (0) die Maßzahl 1 geh¨ort. Nachfolgend wird also der Spezialfall der Wachstums- bzw. Zerfallsfunktion f betrachtet, f¨ ur welche die folgende Differentialgleichung gilt: ^ (7) f 0 (x) = f (x) ∧ f (0) = f 0 (0) = 1. (6)

x∈R

Diese Funktion wird zu Ehren des Mathematikers Leonhard Euler als Eulersche Funktion bezeichnet. Ihr Funktionswert an der Stelle 1 wird mit dem Buchstaben e bezeichnet. An sp¨aterer Stelle wird ein N¨aherungswert f¨ ur diese Eulersche Zahl e bestimmt.

0.3 Von der Differentialgleichung zur Funktionalgleichung In der bisherigen Darstellung war der Ausgangspunkt f¨ ur die Untersuchung der Eulerschen Funktion die konkrete Aufgabe des gleichm¨ aßigen Wachstums und seiner Beschreibung durch eine an der Stelle 0 differenzierbare Funktion. In umgekehrter Richtung wird hier als Startpunkt die Differentialgleichung gew¨ahlt, aus der dann die Funktionalgleichung erschlossen wird. Denn ist f eine auf R differenzierbare Funktion mit (8)

f (0) = 1 ∧ f 0 = f

,

so ist nach Ketten- und Produktregel der Differentialrechnung auch die f¨ ur a ∈ R definierte Funktion h mit ^ h(x) := f (a − x) · f (x) x∈R

differenzierbar. Da sich an jeder Stelle x die Ableitung h0 (x) = f 0 (a − x) · (−1) · f (x) + f (a − x) · f 0 (x) = −f (a − x) · f (x) + f (a − x) · f (x) = 0 ergibt, ist die Funktion h konstant; ihr Funktionswert errechnet sich als h(a) = f (0) · f (a) = f (a). Aus dem Ergebnis ^ ^ (9) f (a − x) · f (x) = f (a) a∈R x∈R

folgt mit a = 0 die Identit¨ at (10) f (−x) · f (x) = f (0)

(= 1)

Die Funktion hat also keine Nullstellen und nimmt somit wegen f (0) > 0 nur positive Werte an. Mit der Substitution a := y + x ergibt sich aus (19) die Funktionalgleichung der Eulerschen Funktion: f (y) · f (x) = f (y + x) .

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0.4 Eigenschaften der Eulerschen Funktion Die Eulersche Funktion wird nachfolgend mit E bezeichnet1 . F¨ ur jede reelle Zahl x gilt E(x)·E(−x) = E(0) = 1, also E(x) 6= 0. Also hat die Eulersche Funktion keine Nullstellen, und da zusammen mit (8) folgt E(x) = E(2 · x2 ) = E( x2 )2 ≥ 0, sind alle Funktionswerte positive Zahlen: ^ (11) E(x) > 0 . x∈R

Aus der (vorausgesetzten) Differenzierbarkeit von E an der Stelle 0 folgte nicht nur die Differenzierbarkeit auf V ganz R, sondern wegen E 0 = E auch die Existenz der Ableitungen beliebig hoher Ordnung. Aus x∈R E(x) > 0 ∧ E 00 = E 0 = E folgt, dass der Graph der Eulerschen Funktion linksdrehend ist, streng monoton steigt und ganz oberhalb der x-Achse verl¨auft . Aus der Funktionalgleichung ergibt sich f¨ ur reelles x und nat¨ urliches n durch vollst¨andige Induktion mit der Rekursion E((n + 1)x) = E(nx + x) = E(nx) · E(x) : ^ ^ (12) E(nx) = (E(x))n . x∈R n∈N

Die Gleichung (8) gilt nicht nur f¨ ur nat¨ urliche Zahlen, sondern f¨ ur alle ganzen Zahlen n, denn f¨ ur n = 0 ist sie wegen E(0x) = E(0) = 1 = E(x)0 erf¨ ullt, und ist n negativ, so hat man (13) E(nx) =

E(nx) · E(−nx) E(0) 1 = = = E(x)n E(−nx) E(−nx) E(x)n

.

Und schließlich folgt f¨ ur p ∈ Z, q ∈ N p p (14) E(p) = E(q · ) = E( )q , q q

also

p p p p E( ) = q E(p) = q E(1)p = e q q

.

Da die Eulersche Funktion stetig ist, folgt aus (13), dass f¨ ur alle reellen Zahlen gilt: E(x) = ex . Als Folgerung aus der entsprechenden Potenzregel erh¨alt man (E(x))y = E(x · y), denn (15) (E(x))y = (ex )y = ex·y = E(x · y) .

0.5 Eine Berechnung von e F¨ ur jede positive ganze Zahl n liefert Mittelwertsatz der Differentialrechnung u ¨ber dem Intervall 1 1 [− n+1 ; 0], angewendet auf die Eulersche Funktion, die Existenz einer Stelle ξ ∈] − n+1 ; 0[ mit (16)

1 E(0) − E(− n+1 ) 1 n+1

= E 0 (ξ) = E(ξ) < E(0) = 1,

1 − E(−

also

1 1 )< n+1 n+1

Elementare Umformung ergibt 1 1 n (17) E(− )>1− = , n+1 n+1 n+1 1 (18) e = E(1) = < E(−1)



n+1 n

n+1

 also E(−1) >   1 n+1 = 1+ n

n n+1

n+1 und somit

.

Mit n = 1 erh¨ alt man daraus als erste grobe Absch¨atzung nach oben e < 4. 1¨

Ublicherweise wird ihr Wert an einer Stelle x als ex oder exp(x) notiert.

3

.

Inhaltsverzeichnis Erneute Anwendung des Mittelwertsatzes, diesmal u ¨ber [0; n1 ], liefert die Existenz eines ξ ∈]0; n1 [ mit   E( n1 ) − E(0) 1 1 1 n 0 = E (ξ) = E(ξ) > E(0) = 1, also E( ) > 1+ (19) und somit e > 1 + . 1 n n n n Mit (14) und (15) hat man    ^  1 n 1 n+1 1+ (20) q + 1 dann durch vollst¨ andige Induktion wegen Pq

i! = i · (i − 1)! ≥ (q + 1) · 3i−1−q · q! ≥ 3i−q · q! Daher ist ∞ ∞ ∞ X X X q! 1 1 1 ≤ = = i−q i i! 3 3 2 i=q+1

i=q+1

.

.

i=1

Damit ist die Annahme, dass die Eulersche Zahl rational ist, zum Widerspruch gef¨ uhrt.

0.8 Die Umkehrung der Eulerschen Funktion Als streng isotone Funktion ist die Eulersche Funktion injektiv und somit umkehrbar. Da die Funktion nach oben nicht beschr¨ ankt ist5 , hat sie u ¨ber der positiven x-Achse die Wertemenge [1; ∞[ und nimmt 1 wegen E(−x) = E(x) u ¨ber R als Werte alle positiven reellen Zahlen an. Die Umkehrfunktion liefert an jeder Stelle x als Funktionswert den sogenannten nat¨ urlichen Logarithmus von x an. In dieser Darstellung wird die Funktion nachfolgend mit L bezeichnet6 . Folgerungen aus den Eigenschaften der Eulerschen Funktion: (1) Argumentmenge von L ist die Menge der positiven reellen Zahlen, Wertemenge ist ganz R. (2) L ist differenzierbar; die Ableitung an der Stelle x ∈ R+ ist L0 (x) = x1 , denn mit der Kettenregel erh¨alt man f¨ ur jedes x ∈ R+: E(L(x)) = x ⇒ E 0 (L(x)) · L0 (x) = 1 ⇒ E(L(x)) · L0 (x) = 1 ⇒ x · L0 (x) = 1 ⇒ L0 (x) =

1 x

(3) F¨ ur alle positiven Zahlen a, b gilt: L(a · b) = L(a) + L(b), denn mit α := L(a), β = L(b) hat man L(a · b) = L(E(α) · E(β)) = L(E(α + β)) = α + β = L(a) + L(b). (4) Wegen L0 (x) = x1 und L(1) = 0 lassen sich die Werte der Logarithmusfunktion auch f¨ ur alle x ∈ R+ erhalten als Z x 1 (23) L(x) = dt. 1 t Der nat¨ urliche Logarithmus einer positiven Zahl x l¨asst sich also auch deuten als Maßzahl der Fl¨ache, die im Koordinatensystem von der positiven x-Achse, dem Graphen der Kehrwertfunktion u (u(x) = x1 ), Funktion L und den beiden vertikalen Geraden durch die Punkte A(1; 0), B(x; 0) berandet wird. 5

z.B., weil unter ihren Werten alle Glieder der nach oben nicht beschr¨ ankten Folge (en ) vorkommen. Ubliche Bezeichnungen der Funktion sind log oder ln.



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Inhaltsverzeichnis

Mit dieser Darstellung als Integral einer einfachen isotonen Funktion kann man N¨aherungswerte der Logarithmusfunktion mit wenig Aufwand bestimmen; f¨ ur das Integral einer solchen isotonen Funktion f u ¨ber einem Intervall [a; b] gilt ja allgemein Z b n−1 n b−a X b−a X i · (b − a) i · (b − a) f (t) dt ≤ · )≤ · ), f (a + f (a + n n n n a i=0

also z.B. mit a = 1, b = 2, f (x) =

i=1

1 x

:

Pn−1

1 i=0 n+i

≤ L(2) ≤

Pn

1 i=1 n+i

.

Nach (15) gilt f¨ ur a ∈ R+ , b ∈ Q : eb·L(a) = (eL(a) )b = (E(L(a))b = ab . Als Ableitung der allgemeinen Exponentialfunktion f mit f (x) = ax (mit a ∈ R+ erh¨alt man daher wegen ax = E(x · L(a)) unter Verwendung der Kettenregel f 0 (x) = L(a) · ax .

0.9 Die Funktion mit der Gleichung y = xx Bei der Frage, wie die Potenzdefinition auf den Ausdruck 00 sinnvoll auszudehnen ist, gibt es die Varianten 00 := 0 bzw. 00 := 1, je nachdem, ob man die Variable x in dem Ausdruck x0 |(= 1) oder im Ausdruck 0x (= 0) gegen 0 streben l¨ asst. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Existenz und (im Falle der Existenz) dem Wert von limx→0 xx . Die Funktion f mit f (x) = xx (= E(x · L(x)) hat die Argumentmenge R+ und ist - als Ergebnis der Verkettung differenzierbarer Funktionen - differenzierbar.

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Inhaltsverzeichnis Die Ableitung von f ergibt sich nach Ketten- und Produktregel als (24) f 0 (x) = xx · (1 · L(x) + 1) = (1 + L(x)) · xx , ist also negativ u ¨ber ] 0; E(-1) [ und positiv u ¨ber ] E(-1); ∞ [ . Nach der L’Hospitalschen Regel hat x · L(x) = L(x) wegen 1 x

lim

x→0

L(x) 1 x

= lim

x→0

1x = lim x = 0 x→0 − x12

aus der Stetigkeit von Logarithmus und Exponentialfunktion (25)

lim xx = lim E(x · L(x)) = E( lim x · L(x)) = E(0) = 1 .

x→0

x→0

x→0

0.10 Die hyperbolischen Funktionen Jede auf ganz R (oder einem zu symmetrischen Intervall) definierte Funktion f l¨asst sich auf genau eine Weise als Summe einer ungeraden 7 Funktion g und einer geraden8 Funktion h durh folgende Funktionsdefinitionen darstellen: (26) g(x) =

f (x) − f (−x) , 2

h(x) =

f (x) + f (−x) 2

.

Bei der Eulerschen Funktion wird der ungerade Bestandteil als hyperbolischer Sinus 9 und der gerade Bestandteil als hyperbolischer Kosinus 10 bezeichnet: (27) sinh(x) =

E(x) − E(−x) , 2

cosh(x) =

E(x) + E(−x) 2

.

Im Gegensatz zu den trigonometrischen Funktionen sind die hyperbolischen Funktionen zwar nicht periodisch, haben aber ganz ¨ ahnliche Differentialgleichungen: • sin’ = cos, cos’ = -sin, sin(0) = 0, cos(0) = 1 • sinh’ = cosh, cosh’ = sinh, sinh(0) = 0, cosh(0) = 1

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Eine Funktion g heißt ungerade, wenn f¨ ur alle Stellen x der Argumentmenge g(−x) = −g(x) gilt. Eine Funktion h heißt gerade, wenn f¨ ur alle Stellen x der Argumentmenge h(−x) = h(x) gilt. 9 Sinus hyperbolicus 10 Cosinus hyperbolicus 8

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0.11 Die allgemeine (exponentielle) Wachstumsfunktion Geht man bei einer allgemeinen Wachstumsfunktion f davon aus, dass die Masse proportional zur Wachstumsgeschwindigkeit ist (- das Wachstum also nicht linear, beschr¨ankt oder logistisch11 ist - ) , dass es also eine Konstante k gibt, so dass die Differentialgleichung f 0 = k · f gilt, so kann man wegen  ^ f 0 (x) f (x) > 0 ∧ =k f (x) x∈R

durch Integration u ur alle x ∈ R die ¨ber [1; x] folgern, dass es eine Konstante c ∈ R gibt, welche f¨ Gleichung L(f (x)) = kx + c,

also f (x) = E(kx + c)

erf¨ ullt. Der Wert f (0) (= E(c)) wird auch als Anfangsbestand bezeichnet. Stand 2015-07-07

11

¨ Ein Wachstum heißt logistisch mit der Schranke S, wenn die Anderungsrate f (t + 1) − f (t) bzw. f 0 (t) nicht konstant, sondern proportional zum Produkt aus Bestand f (t) und S¨ attigungsmanko f (t) · (S − f (t)) ist.

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