Von Sebastian Traub

September 2014

Die etwas andere Seite Brasiliens... Cracolândia Wie ein schlechtes Gartenhaus oder vielleicht doch eher wie eine Hundehütte, zusammengezimmert aus alten Holzplatten und großen dreckigen Planen mit vielen Löchern in dem Wesen auf halb verrotteten Matratzen schliefen oder uns einfach nur neugierig anstarrten; so präsentierte sich mir zum ersten Mal Cracolândia, die „Hölle auf Erden“ wie es der Padre auch zu nennen pflegt. Eigentlich war es ja nur der ganz normale Weg mit dem Schnellbus auf der Dutra (Stadtautobahn) gewesen und wäre ich nur wenige Minuten weiter im Bus geblieben wäre ich im schönen Zentrum von Rio de Janeiro angekommen. Dann hätte ich mit der Metro, ganz bequem an die schönen Strände fahren und dort das erfrischende tiefblaue Meer genießen können. Doch nicht dieses Mal! Dieses Mal sollte ich eine andere Seite von Brasilien kennen lernen, eine Seite die auf jeden Fall nicht so schön glänzt wie die Promenade an der Copacabana oder so märchenhaft prahlt wie die Aussicht vom Zuckerhut. Nein, an diesem Mittwoch lernte ich Cracolândia kennen.

Cracolândia

Von der Bushaltestelle, die zu der Favela Parqueuniao gehört und direkt an der Stadtautobahn liegt, ging es zunächst durch das allgemeine Gewusel von Menschen zwischen kleinen bunten Marktständen zu einer Kirche wo wir uns mit Leuten der lokalen Kirchengemeinde trafen. Zugegeben, eine richtige Kirche wie in Deutschland war es eher nicht sondern nur ein Grundstück, eingezäunt von einer baufällige Mauer, auf dem aus rostigen Metallstangen und einer blauen Plane ein Zelt aufgebaut worden war. Darunter standen viele weiße Plastikstühle die das Ganze mehr wie ein schlechtes Sommerkonzert aussehen ließen. Daneben befanden sich außerdem noch zwei große alte verrostete Bagger die für mich so aussahen als hätten sie schon seit über 50 Jahren dort gestanden. So ganz falsch lag ich mit dieser Annahme auch nicht wie mir ein Mann der lokalen Kirchengemeinde der meinen fragenden bzw. irritierten Blick bemerkt hatte erklärte, da wohl schon seit seit langem geplant und beschlossen sei an diesem Ort eine (richtige) Kirche zu erbauen. Der einzige Haken an dem Plan ist, wie so häufig hier, das liebe gute alte Geld.... Gegenüber des blauen Zeltes war noch ein Haus mit Essensausgabestand in dem schon einige Frauen der Gemeinde fleißig dabei waren viele Brötchen mit Doce de Leite (eine papsüße Milch-Karamell-Pampe) zu bestreichen und Saft in große 5L Flaschen zu füllen. Dieses Essen und Trinken schnappten wir uns schließlich und trugen es wie eine Karawane durch die Straßen Parqueuniaos bis wir das grüne große Gebäude erreichten zu dessen Füßen die Baracken von Cracolândia lagen. Dort wurden wir von den „Cracodos“ freudig begrüßt. Für uns ein billiger Snack, für die Bewohner von Cracolândia jedoch fast schon ein Festmahl, waren die Brötchen schnell verteilt und so manch einen sah ich wie er schnell ein paar Brötchen für den nächsten Tag unter einer dreckigen Decke verschwinden ließ. Ich staunte nicht schlecht als ich an den Hütten von Cracolândia vorbeischritt, wie professionell diese aus jeglichem Schrott doch zusammengezimmert worden waren und wie viele Leute doch auf so engem Raum untergebracht waren. Die Cracodos selbst

Von Sebastian Traub

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waren die meiste Zeit damit beschäftigt mit einander zu quatschen, zu zanken oder ihr Crack mit einer ganz speziellen Technik aus Wasserbechern zu rauchen. Daneben lagen viele schlafend auf zerrissenen Matratzen oder Säcken voll mit leeren Plastikflaschen und verbringen so jeden Tag. Diese Menschen sahen auch mit Abstand am mitgenommensten und am fertigsten aus. Fehlende Schneidezähne, viele Falten im Gesicht, fettiges und verfranztes Haar, kaputte bzw. sich schuppende Haut, traurige und müde Augen umrandet von großen schwarzen Ringen; so etwa sah der typische Crackodo aus. Dabei handelt es sich bei ihnen allerdings nicht nur um Erwachsene Menschen, auch viele junge Menschen sowie Jugendliche, vereinzelt auch 12jährige Kinder, nennen diesen Ort ihr zu Hause, leben hier von einem Crack-Trip nach dem anderen. Schnell kam ich mit den Leuten ins Gespräch und wurde gefragt wo ich herkomme, ob es dort denn auch solche Cracolândias gebe und welchen Fußballverein ich denn unterstütze...; ganz normale Fragen, die so auch von jedem anderen „normalen“ Brasilianer hätten kommen können. Aber im Grunde sind diese Menschen in Cracolândia auch nichts anderes als ganz normale Menschen, Menschen die eben alle eine traurige Geschichte haben die sie auf die Straße trieb. Dabei ist es egal ob es sich um den von zuhause weggelaufenen Jugendlichen, die schwangere Frau, den geschiedenen Familienvater oder den älteren arbeitslosen Herren handelt; sie alle haben die Gemeinsamkeit, dass sie sich von der Gesellschaft verstoßen und verachtet fühlen, so als seien sie keine richtigen Menschen. Und gerade darum geht es bei unserem Einsatz in Cracolândia auch mit hauptsächlich: wir wollen den Cracodos zeigen und das Gefühl geben, dass sie auch ganz normale Menschen sind und wir uns nicht zu schade sind unsere Zeit mit ihnen zu verbringen. Zu diesem Zweck verarzten wir zusammen mit unserer Krankenschwester die Wunden, bemalen die Fingernägel oder schneiden die Haare. Gerade letzteres habe ich bereits öfter gemacht und auch wenn, dank meiner umwerfenden Haarschneidekünste, zu Beginn die Frisuren hinterher fast schlimmer aussahen als vor dem Schneiden, so haben sich meine „Klienten“ immer gefreut und freudig mit mir geplaudert. Dabei wurden mir auch schon lustige Fragen gestellt wie z.B. was denn der Geschmack von Schnee sei und ob ich denn neben dem Papst wohne... Alles in allem machte mir das erste Cracolândia (zu meinem eigenen Erstaunen) zunächst reichlich wenig aus. Zwar war ich fasziniert darüber wie fettig Haare doch sein können und wie schlecht der Zustand der Haut einiger Menschen war, aber ich fühlte mich nicht unbedingt schlecht. Das änderte sich allerdings als ich beim Mittagessen am Tisch saß, meine Bohnen mit Reis aß und merkte wie gut es mir doch eigentlich geht; ich habe eine Familie, ein zu Hause, eine Perspektive... und die Cracodos leben den Tag auf der Straße und haben als einziges Lebensziel sich das Geld für das nächste Crack zu besorgen! Das hat mich dann doch ganz schön beschäftigt und mitgenommen. Seit dem war ich noch zwei weitere Male in Cracolândia und jedes Mal ist es mir weniger schwer gefallen, aber bis es mir gar nichts mehr ausmacht wird es wohl noch eine Weile dauern. Tinguá Diesen Monat habe ich auch sehr viel Zeit in Tinguá in den Häusern Casa André und Casa Jesus Meninos verbracht. Tinguá selbst ist ein kleiner schicker Ort, der als Ausläuft der Großmetropolregion Rio der Janeiros schon von allen Seiten vom Atlantischen Regenwald umgeben ist. So gibt es in das Städtchen nur eine einzige Straße und der Handyempfang existiert so gut wie nicht. Dafür ist Tinguá selbst sehr schön: Mit dem Bus kommt man im Zentrum auf dem kleinen Platz an der von vielen einladenden Bars und Läden umgeben ist. Im Hintergrund sieht man zu allen Seiten hohe grüne Berge die eine wunderbare Szenerie abgeben und direkt zum Wandern einladen. Dank des Naturschutzgebietes das den Ort von fast allen Seiten umgibt sind die zahlreichen Gebirgsbäche Tinguás total sauber und laden zum Baden ein. Deswegen, aber wohl auch wegen der frischen Luft und dem märchenhaften Ambiente haben sich in Tinguá viele „Sitios“ angesiedelt, die mit ihren vielen blauen Swimmingpools, den schönen bunten Blumengärten, den

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natürlichen Bachläufen und den plätschernden Wasserfällen zum Relaxen einladen. Früher war Tinguá anscheinend ein Umschlagplatz für Sklaven die für die Minenarbeit ins Landesinnere verfrachtet wurden, doch heute merkt man nicht mehr allzu viel davon. Abgesehen von ein paar zerfallenen Farmen ist nichts mehr von all dem übrig, nur eben ein buntes, lebhaftes und schmuckes Städtchen mitten im grünen Paradies, gerade einmal 30 Min. mit dem Bus von Miguel Couto entfernt. Und genau in diesem Paradies, wenn auch am Stadtrand, liegt ein Projekt von Casa do Menor in Form einer wunderschönen Farm. Von außen scheint die Einrichtung, umgeben von einer hohen grauen und recht dreckigen Betonmauer, eher unscheinbar. Doch wenn man erst einmal das rostige Metalltor aufgeschoben hat und in das Projekt eintritt ist es wie der Zugang zu einer Villa: ein nicht asphaltierter Weg, der links und rechts von großen früchtetragenden Kokospalmen geziert ist, führt an einem blauen Swimmingpool und einem Fußballplatz vorbei bis er schließlich auf einem großen, von Bäumen (deren Früchte ich noch nie zuvor gesehen hatte) beschatteten Platz endet. Von diesem Platz aus geht es zu den verschiedenen Teilen des Projektes. So gibt es für die Verwaltung und die Psychologen ein kleines Büro, daneben die Küche die für die Häuser kocht und daran direkt angrenzend ein Veranstaltungspavillon der auch oft für Hochzeiten vermietet wird. Zusätzlich dazu gibt es noch eine einfache aber schöne Kirche, ein Haus in dem ein Teil der Sozialeltern leben und dann natürlich noch die beiden Häuser Casa André und Casa Jesus Meninos. In der Regel bin ich zwei Mal pro Woche in Tinguá, wobei ich immer beide Häuser besuche. In Casa Jesus Meninos leben 17 geistig behinderte Jungs im Alter von 7 bis 22 Jahren. Dabei variiert der Grad der Behinderung sehr stark. So gibt es Jungs denen man beim ersten Treffen die Behinderung kaum anmerkt und lediglich ein kleiner Sprachfehler präsent zu sein scheint. Gleichzeitig gibt es andere Jungs die so stark behindert sind, dass sie gar nicht sprechen können und auch Probleme mit dem Laufen haben. Auch wenn ich zu Beginn dachte die Arbeit mit den behinderten Kindern sei nichts für mich muss ich mittlerweile sagen, dass ich sehr gerne mit den Kindern von Casa Jesus Meninos zusammen bin. So kann man mit ihnen unheimlich schön spazieren gehen, etwas malen, Armbänder knüpfen oder im Swimmingpool herumtollen. Egal was man mit ihnen macht, sie sind immer mit einer unglaublichen Herzlichkeit dabei und freuen sich schon alleine über meine Anwesenheit riesig (was sich auch durch die vielen Umarmungen und Küsschen äußert). In Casa André sieht das Ganze leider etwas anders aus. Hier wohnen Jungs die etwas mit Drogen (wenn auch teilweise nur geringfügig) zu tun hatten und von der Polizei auf der Straße aufgelesen wurden. Der Grundgedanke bei Casa André ist, dass diese Jungs hier drogenfrei leben (gegebenenfalls auch einen Entzug durchmachen) und anschließend von hieraus zur Schule bzw. zu den Ausbildungskursen unserer SEDE in Miguel Couto gehen können. Leider funktioniert das in der Realität nicht ganz so wie geplant. So herrscht in Tinguá ein

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reges Kommen und Gehen: jede Woche kommen zwei drei neue Jungs an und jede Woche gehen welche wieder (d.h. viele hauen ab um ihr altes Leben auf der Straße weiter zu leben). Und gerade mit diesem schnellen Wechsel tue ich mir teilweise schon sehr schwer; gerade wenn man es geschafft hat einen Jungen etwas besser kennen zu lernen und etwas über seine schwierige Vergangenheit zu lernen haut er ab. Auch habe ich schon eine Nacht in Casa André übernachtet um der Sozialmutter zu helfen. Denn eigentlich sind die Sozialeltern hier immer zu zweit, nur in Casa André gibt es gerade Schwierigkeiten Personal zu finden das bereit ist dort zu arbeiten. Um zu verhindern, dass die Sozialmutter ganz alleine ist (und weil diese auch früh morgens einen Arzttermin hatte) wurde ich also gebeten ob ich nicht dort übernachten könne. Ich sagte „Ja“ somal ich es als Gelegenheit ansah die Jungs etwas besser kennen zu lernen. Allerdings lief leider nicht alles ganz rund: so gab es am Abend viel Streit weil ein Junge einem anderem Kekse geklaut hatte und die ganze Nach über klopfte jemand gegen die Zimmertür der Sozialmutter, sodass diese kaum schlafen konnte. Am nächsten Morgen weigerten sich dann einige Jungs partout aufzustehen und ihre Aufgaben zu erledigen und was kann man da schon machen, vor allem wenn man bedenkt, dass der Oberarmumfang der Jungs 10mal so groß ist wie meiner... Generell war ich sehr enttäuscht darüber, dass die Jungs so wenig Respekt vor der Sozialmutter haben, das hatte ich zuvor tagsüber gar nicht so mitbekommen. Aber ich habe mir trotzdem vorgenommen weiterhin nach Casa André zu gehen und noch ein paar Versuche zu unternehmen. Ich möchte es dem nächst wagen etwas Englisch mit ihnen zu machen, vielleicht klappt das ja besser... Die Wahlen so trällert die Musik zum ungefähr 1000. Mal von den großen schwarzen Lautsprechern eines verrosteten Autos das auf der Holperstraße vor unserer Haustüre vorbeifährt. Kaum ist es an der nächsten Kreuzung um die Ecke verschwunden taucht auch schon die nächste fahrende Musikanlage, diese sogar verschmückt mit großen bunten Aufklebern auf dem der Kopf eines mafiosihaft aussehenden Mannes abgebildet ist, auf und wiederholt den gleichen Song nochmals. Eigentlich ist es nur ein ganz normaler Sonntagmorgen und ich will lediglich schnell zum Bäcker laufen um Brötchen für das Frühstück zu kaufen, doch als ich im Stadtzentrum Miguel Coutos ankomme, herrscht schon reger Trubel. Viele Leute stehen auf der Straße, gekleidet in knalligen Farben, sprechen Leute an und verteilen Flyer auf denen ebenfalls wieder das gleiche finstere Gesicht abgebildet ist. Dazu zusätzlich sind die Straßen mit vielen großen Wahlplakaten beschmückt, die jedoch zu über der Hälfte vom Winde verweht auf dem Boden liegen oder schon schon zerstochen wurden. Um zum Bäcker zu gelangen drücke ich mich auf dem schmalen Gehweg an vielen Leuten vorbei die wild mit großen Fahnen wedeln und das schon seit zwei Wochen den ganzen Tag lang. Endlich beim Bäcker kaufe ich die hellen Brötchen, die zwar nicht sonderlich gut schmecken, jedoch auch die einzigen Brötchen sind die man hier kaufen kann und dazu umgerechnet je nur 10 EURO-Cent kosten. Als ich mich auf den Rückweg machen will, bemerke ich noch eine große, knallgelbe und fahnenwedelnde Gruppe Menschen,

Von Sebastian Traub

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die die Straßen des Zentrums abmraschieren und dadurch ein herrliches Verkehrschaos verursachen. Naja, ganz normale Menschen, wie mir auffällt, sind es nicht. So sind es nur Frauen die die Fahnen wedeln, junge und gut aussehende Frauen mit enganliegenden T-Shirts und Leggins (das ist eben die brasilianische Art und Weise um auf sich aufmerksam zu machen). Auf dem Rückweg begegne ich noch einem Auto das allerdings nicht wie die anderen große Lautsprecher sondern drei große Fernseher auf das Dach montiert hat, die Videoclips eines Mannes zeigen der arme Leute einer Favela besucht. Zu meiner großen Überraschung steht dieser Mann direkt neben dem Auto und brüllt für mich unverständliche Sachen in sein Mikrofon, Sachen die wohl auf irgend eine Weise die Leute dazu bewegen sollen ihn zu wählen. Ich denke mir noch, dass dieser Kandidat wenigstens persönlich auf die Straßen kommt um den „Dialog“ mit seinen Wählern zu finden, stelle dabei allerdings ebenfalls fest, dass er trotzdem kein bisschen vertrauenswürdiger aussieht als die anderen Kandidaten und mache mich schnell auf den Weg zurück zur Pousada um dort in Ruhe mit den andern zu frühstücken. Dies funktioniert allerdings nicht ganz, da erneut ein fahrende Disko nach der anderen vor unserer Haustür verkehrt und seinen Wahlsong spielt... Ja, in Brasilien waren am 5. Oktober Wahlen für so ziemlich aller Ämter die zu vergeben waren, d.h. vom Präsidenten bis hin zu den Bürgermeistern wurden alle Posten neu vergeben. Dabei war es im Nachhinein ganz interessant zu beobachten wie der Wahlkampf hier Fest in Miguel Couto im Zuge des Wahlkampfes abläuft und mit dem zu vergleichen, was ich aus Deutschland kenne. So fingen zu meiner Überraschung die Politiker schon sehr sehr früh an –bereits Anfang August- Autos mit ihren Bildern (natürlich gegen Geld) zu bekleben, den Wahlsong von den vielen fahrenden Discos abspielen zu lassen und ihre großen Wahlplakate aufzuhängen. Bei den Wahlplakaten fand ich es im Vergleich zu Deutschland sehr interessant, dass sie nur aus einem großen Portrait des jeweiligen Kandidaten zusammen mit dessen Namen und dessen Nummer bestanden. Von einem intelligenten Wahlspruch oder irgendwelchen Hinweisen auf die Ziele der jeweiligen Partei fehlten jede Spur. Auch sehr amüsant fand ich, dass so ziemlich jeden zweiten Tag Leute durch die Straßen gingen um die Plakate wieder aufzustellen, da diese so billig und labil waren, dass sie bei jedem kleinen Windstoß zusammenklappten. Was das mafiosihafte Aussehen angeht, lag ich gar nicht einmal so falsch: So erfuhr ich, dass zum Beispiel Carlinhos Presidente, ein Kandidat aus Miguel Couto selbst der sich für einen kommunalen Posten hat aufstellen lassen, der Besitzer und Vorstand der einzigen Disco im Ort (Sports Club), einiger chinesischer Bäckereien und anderer Immobilien sowie weiterer Läden in Miguel Couto ist. Und das sicherlich nicht weil er es von seinen Eltern geerbt hatte... Aber Korruption wird hier schließlich so ziemlich allen Politikern hinterher gesagt, es gehört irgendwie dazu. Der Höhepunkt des Wahlkampfes war natürlich der letzte Abend vor dem Wahlsonntag. An diesem Abend waren alle lokalen Kandidaten erneut auf der Straße, haben sich mit dem Schreien ins Mikrofon regelrechte Wettkämpfe geliefert, Leute bezahlt um sich auf der Straße groß zu feiern, riesige Fernseher aufgestellt, Feuerwerke angezündet und die Straßen im Zentrum zeitweise vollständig blockiert. Am meisten faszinierten mich allerdings die Millionen von kleinen Flyern die verteil wurden und bewirkten, dass am nächsten Morgen in ganz Miguel Couto alle Straßen vollständig von einem Teppich aus verschiedenen Zetteln bedeckt war (Zettel, die zum Teil noch heute auf den Straßen liegen). So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein weiterer Hauptunterschied der Wahlen hier im Vergleich zu Deutschland ist, dass man hier schon ab 16 wählen darf und ab 18 Wählen muss. Wer dies nicht tut wird mit einer Geldstrafe von umgerechnet zwei EURO

Von Sebastian Traub

September 2014

bestraft. Außerdem findet hier die Wahl am Computer statt in den man jedoch nicht wie in Deutschland ankreuzt oder Namen auf eine Liste schreiben muss, sondern die jeweilige Nummer des gewünschten Kandidaten eingeben soll. Der Vorteil hiervon ist, dass das Auswerten der Stimmen auf diese Art und Weise viel schneller geht und dass das System nicht ganz so anfällig für Bestechung ist. Auf jeden Fall fanden es alle Brasilianer hier total lustig, dass wir in Deutschland so altmodisch sind und noch immer mit Stift und Papier wählen gehen müssen. Als es dann am 5. Oktober endlich soweit war und Brasilien wählen durfte dachte ich jetzt habe es mit dem Chaos ein Ende, jedoch habe ich mich damit getäuscht: Da keine Partei für die höheren Posten die absolute Mehrheit erreicht hat kommt es zur Stichwahl zwischen den zwei Erfolgreichsten, sodass das Chaos vorerst noch weitergehen wird... Freizeit Diesen Monat habe ich angefangen am Wochenende in Barra da Tijuca zu surfen, bzw. es zu versuchen. Bisher macht es mir total Spaß, was sicherlich daran liegt, dass der Strand von Barra da Tijuca sehr schön ist. Außerdem habe ich zusammen mit Annika angefangen Samstags an einem Capoeirakurs teilzunehmen, wobei ich mich hier noch ziemlich ungeschickt anstelle. Aber Hauptsache ich habe meine Freude daran. Auch habe ich natürlich meine Erkundungstouren in Rio fortgesetzt und habe noch viele weitere tolle Orte wie Lapa und Santa Theresa kennen gelernt. Es geht mir also nach wie vor gut und auch wenn der alles-ist-neu-und-aufregend-Effekt nachgelassen hat fühle ich mich hier noch immer sehr wohl und jeden Tag auch etwas heimischer!