Die ersten Schritte der Wahrnehmung

19 Die ersten Schritte der Wahrnehmung 2.1 Am Anfang steht der Reiz  –  20 2.2 Licht und Fokussierung  –  20 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2...
Author: Nele Eberhardt
7 downloads 6 Views 6MB Size
19

Die ersten Schritte der Wahrnehmung 2.1

Am Anfang steht der Reiz  –  20

2.2

Licht und Fokussierung  –  20

2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6

Licht – der Stimulus für das Sehen  –  20 Das Auge – 20 Licht wird im Auge fokussiert  –  21 Zunehmende Akkommodationsschwäche im Alter  –  22 Myopie – 22 Hyperopie  – 24

2.3

Rezeptoren und Wahrnehmung – 24

2.3.1 2.3.2 2.3.3

Die Transformation von Lichtenergie in elektrische Energie  –  24 Dunkeladaptation – 25 Spektrale Empfindlichkeit – 32

2.4

Elektrische Signale in Neuronen  –  34

2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

Die Aufzeichnung elektrischer Signale von Neuronen  –  34 Grundlegende Eigenschaften von Aktionspotenzialen  –  36 Die chemische Grundlage von Aktionspotenzialen  –  37 Informationsübertragung am synaptischen Spalt  –  37

2.5

Neuronale Konvergenz und Wahrnehmung  –  40

2.5.1

Konvergenz verleiht den Stäbchen eine höhere Lichtempfindlichkeit als den Zapfen  –  41 Fehlende Konvergenz verleiht den Zapfenrezeptoren eine höhere Detailwahrnehmung als den Stäbchen  –  42

2.5.2

2.6

Zum Nachdenken: Frühe Prozesse haben starken Einfluss  –  44

2.7

Der Entwicklungsaspekt: Sehschärfe im Säuglingsalter  –  45

2.8

Zum weiteren Nachdenken  –  47

2.9

Weiterführende Literatur – 48

2.10

Schlüsselbegriffe – 48

K.R. Gegenfurtner (Hrsg.), Wahrnehmungspsychologie, DOI 10.1007/978-3-642-55074-4_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

2

Kapitel 2  •  Die ersten Schritte der Wahrnehmung

20

-

Einige der in diesem Kapitel behandelten Fragen

2

Wie beeinflusst der optische Apparat auf der Vorderseite des Auges die Wahrnehmung? Wie beeinflussen die Sehpigmente im Auge unsere Wahrnehmung? Wie kann die Verschaltung der Neuronen die Wahrnehmung beeinflussen?

Wenn die Person aus ▶ Kap. 1 ihre Augen aufmacht, um den Baum zu betrachten, setzt sie eine Reihe von Vorgängen in Gang, die wir in . Abb. 1.1 für den Wahrnehmungsprozess eingeführt haben. In diesem Kapitel beginnen wir mit den ersten Schritten dieses Wahrnehmungsprozesses. 2.1

Am Anfang steht der Reiz

Die Vorstellung, dass die Wahrnehmung mit dem Anfang des Wahrnehmungsprozesses beginnt, scheint offensichtlich. Aber es passiert gleich zu Beginn des Wahrnehmungsprozesses so viel, dass man damit ganze Bücher füllen könnte, und das meiste davon kann die Wahrnehmung unmittelbar beeinflussen. Deshalb besteht der erste Schritt zum Verstehen der Wahrnehmung darin, die Vorgänge am Anfang näher zu betrachten – im Falle des Sehens also das Licht, das von einem Objekt ins Auge des Betrachters reflektiert wird. In diesem Kapitel sollen diese Anfangsschritte im Wahrnehmungsprozess betrachtet werden. Wir werden dabei Beispiele aus der visuellen Wahrnehmung heranziehen, aber viele grundlegende Prinzipien, die wir dabei beschreiben, sind auch für andere Sinnesmodalitäten gültig. Die Person aus ▶ Kap. 1, die den Baum sieht, weil von dort Licht in ihr Auge reflektiert wird, hört auch das Rascheln der Blätter, weil von ihnen Schallenergie in Form von Druckwellen in der Luft ins Ohr gelangt. In beiden Fällen lösen die Reize einen Prozess aus, der mit Gehirnaktivität einhergeht und in Wahrnehmung mündet. Ähnliche Vorgänge spielen sich ab, wenn wir die Baumrinde des Baumes betasten, seine Blüten riechen oder Früchte schmecken. Am Ende dieses Buches werden Sie verstehen, dass die verschiedenen Sinne ungeachtet ihrer enormen Unterschiede alle nach ähnlichen Grundprinzipien arbeiten. . Abbildung  2.1 zeigt die Anfangsschritte im visuellen Wahrnehmungsprozess, in denen das reflektierte Licht ins Auge fällt und dort transformiert wird. Wir starten in Schritt 1 mit dem verfügbaren Stimulus, dem Baum, gehen dann weiter zu Schritt 2, der Transformation des reflektierten Lichts auf dem Weg zu den visuellen Rezeptoren, um in Schritt 3 zu Rezeptoren zu kommen, aufgrund deren Eigenschaften das Licht in elektrische Energie umgewandelt wird, und die bestimmen, wie empfindlich wir für Licht sind und welchen Anteil des reflektierten Lichts wir sehen. Schließlich kommen wir in Schritt 4 dazu, wie die elektrischen Signale auf ihrem Weg durch das Nervensystem „verarbeitet“ werden. Beachten Sie, dass die physikalischen Vorgänge in . Abb. 2.1 in schwarzer Beschriftung dargestellt sind. Diese Prozesse interessieren uns hier nur deshalb, weil sie eine entscheidende Rolle

beim Zustandekommen von Wahrnehmungen spielen, die in blauer Schrift beschrieben sind. So betreffen die physikalischen Schritte 1 und 2 die Sichtbarkeit des Baums (ohne Licht sehen wir nichts) und die Sehschärfe (die Eigenschaften der Luft und des optischen Systems unserer Augen bestimmen, ob wir den Baum scharf oder verschwommen sehen). Wann immer wir auf physische Zusammenhänge zu sprechen kommen, geht es uns darum, ihren Einfluss auf die Wahrnehmung zu untersuchen. Wir beginnen unsere Beschreibung der Zusammenhänge zwischen physischen und perzeptuellen Ereignissen mit einer Erläuterung zur Natur des Lichts und seiner Fokussierung im Auge. 2.2

Licht und Fokussierung

Unsere Fähigkeit, einen Baum oder andere Objekte in unserer Umwelt zu sehen, hängt von der Information ab, die im Licht enthalten ist, das von diesen Objekten ins Auge reflektiert wird. 2.2.1

Licht – der Stimulus für das Sehen

Das Sehen basiert auf sichtbarem Licht, einem Frequenzband innerhalb des elektromagnetischen Spektrums. Das elektromagnetische Spektrum ist ein Kontinuum elektromagnetischer Energie; dabei handelt es sich um von elektrischen Ladungen erzeugte Energie, die sich wellenförmig ausbreitet (. Abb. 2.2). Die Energie innerhalb dieses Spektrums kann über die Wellenlänge beschrieben werden – den Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Maxima der elektromagnetischen Wellen. Die Wellenlängen im elektromagnetischen Spektrum reichen von extrem kurzwelligen Gammastrahlen (mit einer Wellenlänge im Bereich von 10−12 m oder einem Billionstel Meter) bis hin zu langwelligen Radiowellen (mit einer Wellenlänge von etwa 104 m, also 10 km). Licht, die von Menschen wahrnehmbare Energie innerhalb des elektromagnetischen Spektrums, besitzt Wellenlängen zwischen 400 und 700 Nanometern (nm); 1 nm entspricht 10−9 m. Die größte sichtbare Wellenlänge ist also knapp ein tausendstel Millimeter lang. Bei Menschen und einigen anderen Spezies steht die Wellenlänge des Lichts mit den verschiedenen Farben des Spektrums im Zusammenhang. Kurze sichtbare Wellenlängen sehen blau aus, mittlere grün und lange gelb, orange oder rot. Obwohl wir Licht üblicherweise anhand seiner Wellenlänge beschreiben werden, kann Licht auch als aus kleinen Energiepaketen namens Photonen bestehend beschrieben werden, wobei ein Photon dem kleinstmöglichen Paket von Lichtenergie entspricht. 2.2.2

Das Auge

Die Augen enthalten die Rezeptoren für das Sehen. Die ersten Augen waren Punktaugen, die vor 570 bis 500 Millionen Jahren während des Kambriums entstanden sind. Diese Tiere konnten Hell und Dunkel unterscheiden, aber keine Merkmale ihrer Umgebung entdecken. Erst die Evolution höher entwickelter Augen

2

21 2.2  •  Licht und Fokussierung

Stäbchen

Detailsehen

Schritt 4 neuronale Verarbeitung: Signale breiten sich im Netzwerk der Neuronen aus.

Zapfen

Dämmerungssehen

fokussierendes Sehen

Schritt 3 Transduktion in den Rezeptoren: Die Rezeptoren wandeln Licht in Elektrizität um.

Schritt 2 Licht wird reflektiert und transformiert, um auf der Netzhaut ein Bild des Baumes zu erzeugen.

Schritt 1 der Umgebungsreiz: der Baum.

.. Abb. 2.1  Zur Übersicht über dieses Kapitel, in dem die ersten drei Schritte des Wahrnehmungsprozesses beschrieben und Schritt 4 eingeführt werden. Physikalische Prozesse sind in schwarzer Schrift beschrieben, die zugehörigen Wahrnehmungsleistungen jeweils in blauer Schrift. © Cengage Learning 2014

400

500

600 sichtbares Licht

ultraviolett

Gammastrahlung 10 –3

ultraRöntgen- violette strahlung Strahlung 10 –1

10 1

infrarotes Licht

infrarote Strahlung 10 3

700

Radar

Radiowellen (UKW)

TV

10 7

10 9

10 11

10 5

Radiowellen (MW)

Wechselstrom

10 13

10 15

Wellenlänge (nm) .. Abb. 2.2  Das elektromagnetische Spektrum zeigt die gesamte Energiebandbreite in der Umwelt. Wir können nur den unten dargestellten schmalen Ausschnitt, der als Licht bezeichnet wird, visuell wahrnehmen. © Cengage Learning 2014

mit optischen Systemen, die optische Bilder erzeugen und damit Information über Formen und Merkmale von Objekten und deren Anordnung in der visuellen Umgebung lieferten, eröffnete die Möglichkeit, Objekte im Detail wahrzunehmen (Fernald, 2006). Licht, das von Objekten der Umgebung reflektiert wird, tritt durch die Pupille ins Auge und wird von der durchsichtigen Hornhaut, der Cornea, und von der Linse fokussiert, sodass auf der Retina – der Netzhaut aus Neuronen auf der Rückseite des Auges, die die Rezeptoren für das Sehen enthält – ein scharfes Bild der Objekte erzeugt wird (. Abb. 2.3a). Die visuellen Rezeptoren, die Stäbchen und Zapfen, enthalten lichtempfindliche Substanzen, die als Sehpigmente bezeichnet werden. Diese Sehpigmente verändern sich durch einfallendes Licht und können damit elektrische Signale auslösen. Diese Signale der Rezeptoren durchlaufen das Netzwerk der Neuronen in der Retina (. Abb. 2.3b) und verlassen das Auge an seiner Rückseite mit dem Sehnerv (Nervus opticus), über den sie zum

Gehirn weitergeleitet werden. Cornea und Linse auf der Vorderseite des Auges sowie Rezeptoren und Neuronen der Retina auf der Rückseite bestimmen, was wir sehen – indem dort zwei Transformationen stattfinden: (1) die Transformation des Lichts, das von Objekten ins Auge reflektiert wird, in ein Bild dieser Objekte, und (2) die Transformation des Bildes der Objekte in elektrische Signale. 2.2.3

Licht wird im Auge fokussiert

Wenn Licht von einem Objekt ins Auge reflektiert wird, wird es durch ein optisches System fokussiert, das von Cornea und Linse gebildet wird. Die Cornea, die transparente Hornhaut an der Vorderseite des Auges, macht 80 % der Brechkraft der Augenoptik aus. Sie ist jedoch starr, sodass sie ihre Brechkraft nicht verändern kann. Die Linse, die die restlichen 20 % der Brechkraft erbringt, kann ihre Form verändern, um die Brennweite des Au-

22

Kapitel 2  •  Die ersten Schritte der Wahrnehmung

Ner venfaser des Sehnervs

Rezeptoren (Stäbchen und Zapfen)

Rückseite des Auges

2 Licht

Stäbchen

P Pupille Zapfen

Fovea (Bereich des schärfsten Sehens) H Hornhaut (Cornea) Linse

a

Retina Pigmentepithel

Sehnerv Retina (Netzhaut)

b

.. Abb. 2.3  a Der Baum wird auf der Retina fokussiert, die die Rückseite des Auges auskleidet. b Die Vergrößerung der Retina zeigt die Rezeptoren und andere Neuronen, die in ihrer Gesamtheit diese Netzhaut bilden. © Cengage Learning

ges an Reize in verschiedenen Entfernungen anzupassen. Diese Formanpassung wird durch die Ziliarmuskeln erreicht, die die Brechkraft der Linse erhöhen, indem sie diese in eine dickere Form mit höherer Krümmung bringen. Wir können die Arbeitsweise der Linse verstehen, indem wir zunächst betrachten, was im normalsichtigen Auge geschieht, wenn wir ein mehr als 6 m entferntes Objekt betrachten. Lichtstrahlen, die das Auge aus dieser Distanz erreichen, sind praktisch parallel (. Abb. 2.4a), und diese parallelen Lichtstrahlen werden vom optischen System auf der Retina im Punkt A fokussiert. Wenn wir das Objekt jedoch näher an das Auge heranbewegen, so sind die Lichtstrahlen nicht länger parallel, und die Bildebene verlagert sich bis hinter die Retina in den Punkt B zurück (. Abb. 2.4b). Das Licht gelangt in dieser Situation natürlich nicht zur Bildebene, da es zuvor von der Retina aufgehalten wird, und wenn nun alles so bleibt, werden sowohl das Bild des Objekts auf der Retina als auch unsere Wahrnehmung unscharf sein. Um das Objekt scharf darzustellen, erhöht das Auge die eigene Brechkraft durch einen Prozess namens Akkommodation, bei dem eine Kontraktion der Ziliarmuskeln an der Vorderseite des Auges die Krümmung der Linse erhöht (. Abb. 2.4c). Diese erhöhte Krümmung führt zu einer stärkeren Brechung des durch die Linse hindurchtretenden Lichts, sodass die Bildebene nach vorn verlagert wird und ein scharfes Bild auf der Retina erzeugt. Das bedeutet, dass Ihre Augen, während Sie die Umgebung betrachten, ständig den Fokus anpassen, indem sie insbesondere bei nahen Objekten akkommodieren. Wie ▶ Demonstration 2.1 zeigt, ist das auch nötig, weil nicht alles gleichzeitig im Fokus ist. Wenn Sie Ihre optische Bildebene während der ▶ Demonstration  2.1 verlagern, so verändern Sie Ihre Akkommodation. Akkommodation ermöglicht es Ihnen, sowohl nahe als auch ferne Objekte zu fokussieren, wobei Objekte in unterschiedlichen Entfernungen nicht zur gleichen Zeit im Fokus sind. Akkommodation ist jedoch begrenzt. Wenn der Bleistift zu nahe ist, können Sie ihn trotz Ihrer Bemühungen um Akkommodation nicht scharf sehen. Die Entfernung, unterhalb derer Ihre Linse nicht länger akkommodieren kann, um nahe Objekte zu fokussieren, wird als Nahpunkt bezeichnet.

2.2.4 Zunehmende

Akkommodationsschwäche im Alter

Die Entfernung des Nahpunkts vom Auge nimmt mit dem Alter zu; dies wird als Presbyopie (Altersweitsichtigkeit) bezeichnet (vom Griechischen für „altes Auge“). Der Nahpunkt der meisten 20-Jährigen liegt bei etwa 10 cm, steigt jedoch mit 30 Jahren auf 14 cm, mit 40 Jahren auf 22 und mit 60 Jahren auf 100 cm (. Abb. 2.5). Dieser Verlust der Akkommodationsfähigkeit tritt auf, weil die Augenlinse sich mit dem Alter verhärtet. Diese Veränderung erschwert es der Linse, ihre Form für das Sehen auf kurze Distanzen anzupassen. Obwohl diese allmähliche Abnahme der Akkommodationsfähigkeit den meisten Menschen unter 45 Jahren keine Probleme bereitet, nimmt die Akkommodationsfähigkeit von diesem Alter an immer schneller ab, und der Nahpunkt verlagert sich aus einer bequemen Leseentfernung heraus. Es gibt zwei Lösungen für dieses Problem. Die eine besteht darin, das zu lesende Material weiter weg zu halten, eventuell sogar auf Armeslänge, und die andere, eine Brille zu tragen, um die für das Fokussieren auf der Retina nötige Brechkraft zu erhalten. 2.2.5 Myopie

Natürlich gibt es auch viele Menschen unter 45, die eine Brille brauchen, um scharf sehen zu können. Die meisten von ihnen sind kurzsichtig. Kurzsichtigkeit oder Myopie ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, Objekte in der Ferne scharf zu sehen. Die Ursache verdeutlicht . Abb. 2.6a. Beim kurzsichtigen Auge fokussiert das optische System das Bild eines fernen Objekts, von dem das Licht parallel einfällt, in einem Punkt vor der Retina, sodass das Bild auf der Retina unscharf ist. Das kann an zwei Ursachen liegen: (1) Bei der refraktiven Myopie ist die Lichtbrechung durch Hornhaut und Linse zu stark; (2) bei der axialen Myopie ist der Augapfel zu lang. Wie auch immer, in beiden Fällen werden Objekte in der Ferne nicht scharf abgebildet. Wie lässt sich dieses Problem behandeln? Eine Möglichkeit besteht darin, die Objekte nah heranzuholen – dadurch verlagert sich der Fokussierungspunkt zurück in Richtung Retina

23 2.2  •  Licht und Fokussierung

.. Abb. 2.4  Das Auge fokussiert Lichtstrahlen. a Parallele Lichtstrahlen von einer Lichtquelle in mehr als 6 m Entfernung. Das Bild wird im Punkt A auf der Retina fokussiert. b Nichtparallele Lichtstrahlen von einer Lichtquelle, die näher beim Auge liegt. Das Auge ist entspannt, der Fokus des Bildes befindet sich hinter der Retina im Punkt B. c Nichtparallele Lichtstrahlen. Das Auge erreicht im akkommodierten Zustand (erkennbar an der dickeren Linse) eine höhere Brechkraft, wodurch das Bild im Punkt A auf der Retina fokussiert wird. © Cengage Learning

Linse Retina Hornhaut (Cornea) A

a entferntes Objekt – Auge entspannt

Bildebene auf der Retina Kommt das Objekt näher heran, verschiebt sich der Fokussierungspunkt nach hinten … B

b nahes Objekt – Auge entspannt

Bildebene hinter der Retina und wird durch Akkommodation wieder vorverschoben.

A

c nahes Objekt – Auge akkommodiert

Demonstration 2.1 

Bildebene auf der Retina

|       | 

Die Entfernungseinstellung des Auges bewusst machen Da die Akkommodation unbewusst abläuft, merken Sie normalerweise nicht, wie die Linse ständig ihre Brechkraft ändert, damit Sie auf unterschiedliche Entfernungen scharf sehen können. Diese nicht bewusste Anpassung funktioniert sogar so effizient, dass die meisten Menschen glauben, dass alles, ob nah oder fern, immer scharf abgebildet würde. Sie können sich selbst beweisen, dass dem nicht so ist, wenn Sie einen Bleistift mit der Spitze nach oben mit dem ausgestreckten Arm halten und

ein weit (mindestens 6 m) entferntes Objekt anschauen. Bewegen Sie dann, während Sie das entfernte Objekt weiterhin fixieren, die Spitze des Bleistifts auf sich zu, ohne diese direkt anzuschauen (behalten Sie das entfernte Objekt im Fokus). Der Bleistift wird unscharf erscheinen. Bewegen Sie den Bleistift dann noch näher heran, während sie nach wie vor das entfernte Objekt fixieren. Sie sehen die Spitze nun unscharf und doppelt. Wenn der Bleistift etwa

(. Abb. 2.6b), und wenn das Objekt nah genug ist, liegt er auf der Retina. Der Abstand, in dem ein Objekt gerade noch auf der Retina fokussiert wird, heißt Fernpunkt. Ein Objekt im Fernpunkt kann eine kurzsichtige Person scharf sehen. Eine kurzsichtige Person kann zwar nahe Objekte scharf sehen – deshalb der Name Kurzsichtigkeit –, aber Objekte jenseits des Fernpunkts werden unscharf auf der Retina abgebildet. Die Lösung dieses Problems sind bekanntlich eine Brille oder Kontaktlinsen. Diese Korrekturlinsen streuen das einfallende Licht so, dass es wie Licht vom Fernpunkt beim Auge eintrifft (. Abb. 2.6c) – hinter der Korrekturlinse verlaufen die Strahlen so, als kämen sie vom Fernpunkt.

30 cm entfernt ist, fixieren Sie die Spitze. Jetzt sehen Sie die Spitze scharf, doch der weit entfernte Gegenstand, den Sie zuvor scharf gesehen haben, ist jetzt unscharf. Bringen Sie den Bleistift jetzt noch dichter heran, bis Sie die Spitze, trotz aller Bemühungen, überhaupt nicht mehr scharf sehen können. Achten Sie auf die Anspannung in Ihren Augen, wenn Sie sich vergeblich bemühen, die Spitze zu fokussieren.

Brillen und Kontaktlinsen sind die häufigsten Mittel, um kurzsichtigen Menschen zu scharfem Sehen zu verhelfen, aber es gibt auch operative Methoden, mit denen die Brechkraft der Cornea so angepasst werden kann, dass auch ohne Brille scharfes Sehen möglich wird. So wird bei der LASIK-Behandlung (LASIK = Laser-in-situ-Keratomileusis) die Hornhaut in Form „gelasert“, meist mit einem Excimerlaser, der das Gewebe nicht verbrennt. Dabei wird ein hauchdünnes Stück Hornhaut (dünner als ein menschliches Haar) abgelöst und weggeklappt und die darunter liegende Hornhaut mit dem Laser so in Form gebracht, dass ein scharfes Bild auf die Netzhaut fokussiert wird; zum Schluss wird die abgelöste oberste Schicht wieder zurückgeklappt. Das Ergebnis ist, wenn denn alles gut verläuft, scharfes Sehen.

2

Kapitel 2  •  Die ersten Schritte der Wahrnehmung

24

bequeme Leseentfernung

Alter in Jahren

2

70

60

400

100

40

50

75

50

25

30 20 10

10

Entfernung des Nahpunkts (cm) .. Abb. 2.5  Die vertikalen Linien zeigen, wie sich die Entfernung des Nahpunkts vom Auge mit zunehmendem Alter (grüne Zahlen) vergrößert. Wenn sich der Nahpunkt aus der bequemen Leseentfernung heraus verlagert, werden Korrekturlinsen (eine Lesebrille) notwendig. © Cengage Learning

Fokus vor der Retina

a

A

b

2.3

Fernpunkt

A

c

meist weil der Augapfel zu kurz ist. Für junge Menschen ist das meist kein Problem, weil sie den Fokus durch Akkommodation nach vorn auf die Retina verschieben können. Mit zunehmendem Alter wird die ständige Akkommodation bei relativ nahen Objekten in Lese- oder Arbeitsentfernung zunehmend schwierig. Es kommt durch die übermäßige Akkommodation zur Anspannung der Augen und zu Kopfschmerzen, die mit Korrekturlinsen behoben werden können, die den Fokus nach vorn in die Retina verlagern. Die Fokussierung eines scharfen Bilds auf der Retina ist der erste Schritt im visuellen Wahrnehmungsprozess. So wichtig das Netzhautbild für das scharfe Sehen ist, es ist damit noch keine Wahrnehmung erreicht. Die visuelle Wahrnehmung geschieht nicht im Auge, sondern im Gehirn. Damit das Gehirn eine visuelle Wahrnehmung erzeugen kann, muss das Licht, das auf die Retina fällt, die visuellen Rezeptoren in der Retina aktivieren.

korrigierende Linse

.. Abb. 2.6  Die Fokussierung im myopischen (kurzsichtigen) Auge. a Parallele Lichtstrahlen von einer entfernten Lichtquelle werden in einem Punkt vor der Retina fokussiert, sodass das Bild auf der Netzhaut unscharf erscheint. b Wird der Lichtpunkt zum Auge hin verschoben, so wandert der Fokus immer näher zur Retina hin, bis der Bildpunkt eines Lichts am Fernpunkt schließlich auf der Retina liegt. c Mit einer Korrekturlinse lässt sich das einfallende Licht so brechen, dass die Strahlen im Auge unter dem gleichen Winkel einfallen wie Licht vom Fernpunkt und ein scharfes Bild auf der Retina erzeugen. © Cengage Learning

2.2.6 Hyperopie

Bei Weitsichtigkeit oder Hyperopie können zwar die Objekte in der Ferne scharf gesehen werden, aber die nahen Objekte bereiten Schwierigkeiten. Beim weitsichtigen Auge liegt der Fokus für parallel einfallendes Licht von fernen Objekten hinter der Retina,

Rezeptoren und Wahrnehmung

Wenn Licht auf die visuellen Rezeptoren trifft, löst es dort elektrische Signale aus, sobald es von den lichtempfindlichen Sehpigmenten in den Rezeptoren absorbiert wird. Dieser Schritt ist wichtig für die visuelle Wahrnehmung, weil dabei die elektrischen Signale entstehen, die schließlich dem Gehirn die Eigenschaften des Baumes signalisieren. Die Sehpigmente lösen aber nicht nur die elektrischen Signale aus, sondern sie bestimmen zudem unsere Fähigkeiten, schwaches Licht und Licht unterschiedlicher Wellenlängen zu sehen. Bevor wir diese Einflüsse der Rezeptoren genauer beschreiben, wollen wir den alles entscheidenden Umwandlungsprozess betrachten, durch den die Lichtenergie in elektrische Energie umgewandelt wird: die Transduktion. 2.3.1

Die Transformation von Lichtenergie in elektrische Energie

▶ Kap. 1 gesehen haben, der Umwandlungsprozess von einer Energieform in eine andere. Bei der visuellen Wahrnehmung findet die Transduktion von Lichtenergie in elektrische Energie in den visuellen Rezeptoren statt, den Stäbchen und Zapfen (. Abb. 2.7a). Der Ansatzpunkt dafür, wie die Stäbchen und Zapfen aus Licht Elektrizität machen, liegt in den Millionen von Molekülen der lichtempfindlichen SehpigTransduktion ist, wie wir in

2

25 2.3 • Rezeptoren und Wahrnehmung

.. Abb. 2.7  a Elektronenmikroskopische Aufnahme der Außensegmente von Stäbchen und Zapfen. Bei den äußeren Segmenten sind die zylindrische Form der Stäbchen und die konische Form der Zapfen deutlich zu sehen. b Zeichnerische Darstellungen der Stäbchen- und Zapfenrezeptoren. (Lewis et al. 1969, S. 559–562, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung) © 1969 Elsevier Science Publishers

Stäbchen Zapfen

Außensegment

Innensegment

Stäbchen a

Molekül bei Dunkelheit

Zapfen

b

durch Licht isomerisiertes Retinal

Retinal

Opsin a

b

.. Abb. 2.8  Modell eines Sehpigmentmoleküls. Der horizontale Teil des Modells zeigt einen winzigen Ausschnitt des riesigen Opsinmoleküls nahe der Bindestelle des Retinals. Das kleinere nach oben gerichtete Molekül auf dem Opsin ist das lichtempfindliche Retinal. a Die Form des Retinalmoleküls vor der Lichtabsorption. b Das Retinal nach der Lichtabsorption. Diese Formveränderung, die als Isomerisierung bezeichnet wird, löst eine Kette von Reaktionen aus, die die Entstehung eines elektrischen Signals im Rezeptor bewirken. © Bruce Goldstein

mente, die sich jeweils im Außensegment der Rezeptoren befinden (. Abb. 2.7b) Die Sehpigmentmoleküle bestehen aus zwei Teilen: einem langen Protein namens Opsin und einem erheblich kleineren Teil namens Retinal. . Abbildung 2.8 zeigt ein Modell des an das Opsin gebundenen Retinals (Wald 1968). Beachten Sie, dass nur ein kleiner Teil des Opsinmoleküls gezeigt ist, das in Wirklichkeit einige Hundert Male größer ist als das Opsin. Trotz seiner winzigen Größe im Vergleich zum Opsin ist das Retinal der entscheidende Teil des Sehpigmentmoleküls. Wenn das Retinal an das Opsin gebunden ist, ergibt sich insgesamt ein Molekül, das sichtbares Licht (siehe . Abb. 2.2) absorbieren kann. Bei der Absorption eines Photons (Lichtquants) verändert das Sehpigmentmolekül seine Form, wie in . Abb. 2.8b gezeigt. Diese Formänderung, die als Isomerisierung bezeichnet wird, löst eine chemische Kettenreaktion aus (. Abb.  2.9), die bei Tausenden geladenen Molekülen in den Rezeptoren elektrische Signale erzeugt. (Obwohl wir im Allgemeinen Licht als Welle beschreiben, werden wir gelegentlich aus Gründen der Einfachheit wie hier auf die Teilchennatur der Lichtquanten, sprich Photonen, zurückkommen.) Wichtig an der chemischen Kettenreaktion, die auf die Isomerisierung folgt, ist die Tatsache, dass sie die Wirkung der Isomerisierung verstärkt. Wird nur ein einziges Molekül des

Sehpigments isomerisiert, so löst das über die chemische Kettenreaktion eine Freisetzung von Millionen geladenen Molekülen aus – genug, um den Rezeptor zu aktivieren (Baylor 1992; Hamer et al. 2005). Die Sehpigmente erzeugen nicht nur die elektrischen Signale in den Rezeptoren, sondern sie prägen auch bestimmte Eigenschaften unserer Wahrnehmungen. So lässt sich anhand der Eigenschaften der Sehpigmente bestimmen, wie wir uns an eine dunkle Umgebung anpassen und wie gut wir Licht in verschiedenen Bereichen des sichtbaren Spektrums sehen können. Wie die Eigenschaften der Sehpigmente unsere Wahrnehmung beeinflussen, wollen wir anhand der beiden verschiedenen visuellen Rezeptoren, der Stäbchen und Zapfen, verdeutlichen (siehe . Abb. 2.7), deren unterschiedliche Sehpigmente zu verschiedenen Wahrnehmungsleistungen führen. 2.3.2 Dunkeladaptation

Eine wichtige Eigenschaft des visuellen Systems ist die Fähigkeit, sich an Dunkelheit anzupassen, indem es die Empfindlichkeit für Licht erhöht. Stellen Sie sich einen abgedunkelten Kinosaal vor, in dem jemand die kleinen Lämpchen der Gangbeleuchtung

Kapitel 2  •  Die ersten Schritte der Wahrnehmung

26

.. Abb. 2.9  Schematische Darstellung der Kettenreaktion, die ausgelöst wird, wenn ein einziges Sehpigmentmolekül nach der Absorption eines Lichtquants isomerisiert wird. Jedes Sehpigmentmolekül aktiviert Hunderte weiterer Moleküle und diese wiederum Tausende weitere. Die Isomerisation eines einzelnen Sehpigmentmoleküls aktiviert dadurch ungefähr eine Million anderer Moleküle. © Cengage Learning

2

ein Sehpigmentmolekül

80

80

60

60 blinder Fleck

40 20

0

Fovea

40 20 Sehnerv

Anzahl der Rezeptoren pro mm2

blinder Fleck Fovea (ohne Rezeptoren) 180.000

Zapfen Stäbchen

160.000 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 70 60 50 40 30 20 10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Winkel (Grad)

.. Abb. 2.10  Die Verteilung von Stäbchen und Zapfen auf der Retina. In der Abbildung des Auges auf der linken Seite sind Orte auf der Retina anhand ihrer Entfernung von der Fovea in Grad dargestellt (dies bezeichnet den korrespondierenden Winkel im Gesichtsfeld, bezogen auf direktes foveales Sehen als Nulllinie). Der braune Balken bei etwa 20° bezeichnet den Ort auf der Retina, an dem sich keine Rezeptoren befinden, da dort die Axone der Ganglienzellen als Sehnerv (Nervus opticus) aus dem Auge austreten. (nach Lindsay und Norman 1977, S. 126., modifiziert mit freundlicher Genehmigung) © 1977 Academic Press Inc.

sieht. Nach einiger Zeit, wenn sich das visuelle System an die Dunkelheit angepasst hat, erscheinen die Lämpchen heller, so als hätte das Kinopersonal sie hochgedimmt. Tatsächlich hat sich die Leuchtkraft der Lampen nicht verändert. Sie erscheinen nicht deshalb heller, weil sich die Lichtintensität geändert hätte, sondern weil das visuelle System empfindlicher auf Licht anspricht. Diese Zunahme der Sensitivität bei Dunkelheit bezeichnet man als Dunkeladaptation. Experimente haben gezeigt, dass Stäbchen und Zapfen unterschiedlich schnell an Dunkelheit adaptieren und dass diese unterschiedlichen Anpassungsgeschwindigkeiten auf Unterschieden ihrer Sehpigmente beruhen. Bei diesen experimentellen Vergleichen liegt die erste Schwierigkeit darin, die Veränderungen in den Stäbchen und Zapfen getrennt zu messen. Glücklicherweise kommt uns das visuelle System hier entgegen, weil die Stäbchen und Zapfen sich auf unterschiedliche Weise über die Retina verteilen.

Die Verteilung der Stäbchen und Zapfen  Aus der elektronenmikroskopischen Aufnahme in . Abb. 2.7a, können Sie ersehen, dass

die Stäbchen und Zapfen in der Retina abwechseln. In dem aufgenommenen Bereich überwiegen die Stäbchen. Tatsächlich hängt das Verhältnis von Stäbchen und Zapfen davon ab, an welcher Stelle man die Retina betrachtet. . Abbildung 2.10 zeigt, wie sich die Stäbchen und Zapfen über die Retina verteilen. 1. Es existiert ein kleines Areal, die Fovea (auch: Sehgrube, Gelber Fleck), in dem nur Zapfen vorhanden sind. Wenn wir uns ein Objekt genau anschauen, fällt sein Bild auf die Fovea unserer Augen. 2. In der peripheren Retina, dem gesamten Bereich außerhalb der Fovea, sind sowohl Stäbchen als auch Zapfen vorhanden. Es ist von großer Bedeutung, dass trotz der Tatsache, dass in der Fovea ausschließlich Zapfen enthalten sind, sich die meisten Zapfen in der Peripherie befinden. Dies liegt daran, dass die Fovea so klein ist (etwa von der Größe dieses „o“),

2

27 2.3 • Rezeptoren und Wahrnehmung

a

b

.. Abb. 2.11  a Die Makuladegeneration führt zu einer Degeneration der Fovea und eines kleinen Areals um diese herum, wodurch die erkrankte Person etwas, das sie direkt anblickt, nicht mehr sehen kann. b Bei der Retinopathis pigmentosa degeneriert zuerst die periphere Retina, was zu einem Verlust des Sehvermögens in der Peripherie führt. Der hieraus resultierende Zustand wird gelegentlich als „Tunnelblick“ bezeichnet. © Bruce Goldstein

dass sie lediglich 1 % bzw. 50.000 der 5.000.000 Zapfen in der Retina enthält (Tyler 1997a, 1997b). 3. Es gibt viel mehr Stäbchen als Zapfen in der peripheren Retina, da die meisten Rezeptoren sich dort befinden und da es etwa 120 Mio. Stäbchen und nur 6 Mio. Zapfen gibt. Ein Weg, sich die unterschiedliche Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Retina zu vergegenwärtigen, besteht in der Betrachtung der Vorgänge beim Fehlen funktionsfähiger Rezeptoren in einem Areal der Retina. Die Makuladegeneration, eine Erkrankung, die vorwiegend bei älteren Menschen auftritt, zerstört die an Zapfen reiche Fovea und ein kleines Areal um diese herum. (Als Makula bezeichnet man in der Medizin die Fovea und einen kleinen Bereich um die Fovea.) Diese Degneration erzeugt einen „blinden Bereich“ im zentralen Gesichtsfeld; wenn eine betroffene Person also etwas direkt ansieht, so verliert sie es aus dem Gesichtsfeld (. Abb. 2.11a). Die Retinopathis pigmentosa ist eine Degeneration der Retina, die von Generation zu Generation vererbt wird (wobei jedoch nicht jedes Mitglied einer Familie erkrankt). Diese Erkrankung betrifft zunächst die peripheren Stäbchen und führt zu schlechtem Sehvermögen im peripheren Gesichtsfeld (. Abb. 2.11b). In schweren Fällen werden gelegentlich auch die fovealen Zapfen betroffen, was zu vollständiger Blindheit führt. Bevor wir von der Verteilung der Stäbchen und Zapfen zur Dunkeladaptation zurückkehren, wollen wir noch einen Netzhautbereich betrachten, in dem es gar keine Rezeptoren gibt (schwarzer Balken in . Abb. 2.10). . Abbildung 2.12 zeigt eine Nahaufnahme dieser Stelle, die sich dort befindet, wo der Sehnerv das Auge verlässt, und die als blinder Fleck bezeichnet wird. Obwohl Sie sich des blinden Flecks normalerweise nicht bewusst sind, können Sie ihn sich mit ▶ Demonstration 2.2 bewusst machen. Warum sind wir uns des blinden Flecks normalerweise nicht bewusst? Natürlich hat unser Sehsystem bei normaler, beidäugiger Betrachtung immer noch die Signale aus dem anderen Auge zur Verfügung, da sich die blinden Flecke im linken

Rezeptoren Nervenfasern der Ganglienzellen

blinder Fleck

Sehnerv .. Abb. 2.12  An der Stelle, wo der Sehnerv das Auge verlässt, gibt es keine Rezeptoren. Wegen dieser Rezeptorlücke können die Axone der Ganglienzellen in den Sehnerv münden. Das Fehlen von Rezeptoren an dieser Stelle erzeugt den blinden Fleck. © Cengage Learning

und rechten Augen an unterschiedlichen Orten im Gesichtsfeld befinden. Ein weiterer Grund besteht darin, dass sich der blinde Fleck seitlich in unserem Gesichtsfeld befindet, wo Objekte nicht scharf abgebildet werden. Aufgrund dieser Tatsache und weil wir nicht genau wissen, wo wir danach suchen müssen (im Gegensatz zu ▶ Demonstration 2.2, in der wir unsere Aufmerksamkeit auf den Kreis richten), ist der blinde Fleck schwer aufzufinden. Ein wichtiger Grund, dass wir den blinden Fleck nicht wahrnehmen, besteht aber auch darin, dass ein Mechanismus im Gehirn den Ort im Gesichtsfeld, an dem das Bild der Umwelt verschwindet, wieder „auffüllt“ (Churchland und Ramachandran 1996). ▶ Demonstration 2.3 verdeutlicht dieses Auffüllen.

28

Kapitel 2  •  Die ersten Schritte der Wahrnehmung

Demonstration 2.2  

2

|       | 

Demonstration 2.3 

|       | 

Den blinden Fleck „sehen“

Auffüllen des blinden Flecks

Sie können den blinden Fleck „wahrnehmen“, wenn Sie dieses Buch auf Ihren Schreibtisch legen, das rechte Auge schließen und das Kreuz in . Abb. 2.13 genau im Blick Ihres linken Auges halten. Achten Sie darauf, dass die Buchseite eben ist, schauen Sie direkt darauf und bewegen Sie sich mit dem Kopf langsam darauf zu und wieder zurück. In einem Abstand von 15–30 cm verschwindet der Kreis. Dies ist der Punkt, an dem das Bild des Kreises auf den blinden Fleck fällt.

Schließen Sie das rechte Auge und halten Sie das Kreuz in . Abb. 2.14 genau im Blick Ihres linken Auges. Schauen Sie wie in ▶ Demonstration 2.2 direkt darauf und bewegen Sie sich mit dem Kopf langsam darauf zu und wieder zurück, bis die weißen Linien sich in dem dunklen Punkt fortsetzen (Ramachandran 1992).

.. Abb. 2.13  © Cengage Learning

▶ Demonstration  2.2 und 2.3 zeigen, dass das Gehirn den blinden Fleck nicht einfach „leer“ lässt, sondern eine Wahrnehmung erzeugt, die mit dem Stimulusmuster der Umgebung übereinstimmt – der weißen Papierseite bzw. den Speichen im dunklen Rad. Messung der Dunkeladaptationskurve Wir können nun wieder

zu den visuellen Rezeptoren zurückkehren, um zu erläutern, wie Stäbchen und Zapfen eine bedeutende visuelle Wahrnehmungsleistung steuern: die Fähigkeit des visuellen Systems zur Anpassung an schwache Beleuchtungen. Der erste Schritt zur Untersuchung dieser Dunkeladaptation besteht darin, eine sogenannte Dunkeladaptationskurve auszumessen, die die Lichtempfindlichkeit in Abhängigkeit von der Zeit seit dem Verlöschen des Lichts angibt (▶ Methode 2.1). Die Dunkeladaptationskurven zeigen, dass eine Person im Verlauf der Dunkeladaptation empfindlicher für das Testlicht wird und daher nach und nach dessen Intensität herunterregelt. Beachten Sie, dass die hohe Lichtempfindlichkeit einer niedrigen Schwelle entspricht – wenn sich die Kurve also abwärts bewegt, bedeutet dies eine Zunahme der Lichtempfindlichkeit. Die rote Dunkeladaptationskurve zeigt, dass die Lichtempfindlichkeit der Person in zwei Phasen zunimmt: Sie nimmt während der ersten 3–4 min nach dem Abschalten des Umgebungslichts rasch zu und stagniert dann, bis nach etwa 7–10 min die Lichtempfindlichkeit wieder zuzunehmen beginnt, und diese Zunahme hält für weitere 20–30 min an. Die Empfindlichkeit am Ende der Dunkeladaptation, als Empfindlichkeit des dunkeladaptierten Auges bezeichnet, ist etwa 100.000-mal größer als die Lichtempfindlichkeit im helladaptierten Zustand, die vor dem Beginn der Dunkeladaptation gemessen wurde. Die Dunkeladaptation spielt in einer Episode der Mythbusters im Discovery Channel (2007) eine Rolle, bei der es um Piratenmythen ging. Einer dieser Mythen besagt, dass Piraten die schwarze Augenbinde tragen, um immer mit einem Auge bei Dunkelheit sehen zu können. Wenn sie aus dem grellen Sonnenlicht ins dunkle Unterschiff unter Deck gingen, brauchten sie demnach nur die Augenbinde abzunehmen, um im Dunkeln zu sehen.

.. Abb. 2.14  Betrachten Sie diese Abbildung wie im Text beschrieben und beobachten Sie, was passiert, wenn die Mitte des Speichenrads auf den blinden Fleck fällt. (nach Ramachandran) © 1992 Scientific American, Inc.

Um herauszufinden, ob das funktionieren würde, probierten die „Mythenknacker“ anhand von verschiedenen Aufgaben, die sie im Dunkeln ausführten, einfach aus, welche Folgen es für die Ausführung der Aufgaben hatte, wenn zuvor beide Augen bzw. nur ein Auge dem Licht ausgesetzt gewesen waren, wobei dieses Auge 30 min lang abgedeckt war. Es überrascht nicht, dass die getesteten Personen die Aufgaben mithilfe des abgedeckten Auges besser ausführen konnten. Jeder, der einen Kurs in Wahrnehmungspsychologie absolviert hat, hätte den Mythenknackern erklären können, dass die Augenbinde wegen der Dunkeladaptation funktionieren wird. (Ob die Piraten aber tatsächlich aus diesem Grund Augenbinden trugen, sei dahingestellt. Dagegen spricht zum Beispiel das Argument, dass durch die Augenbinde die Tiefenwahrnehmung verschlechtert wird, was für die Arbeit an Deck kein Vorteil gewesen sein dürfte.) Die Mythenknacker haben zwar ein schönes Beispiel dafür geliefert, wie die Dunkeladaptation bei einem Auge uns das Sehen im Dunkeln erleichtern könnte, aber wir haben ein etwas anderes Interesse: Wir wollen zeigen, dass der erste Teil der Dunkeladaptationskurve durch die Zapfen hervorgerufen wird, während der zweite Teil auf die Stäbchen zurückgeht. Wir werden das anhand von zwei Experimenten aufzeigen, von denen eines die Zapfenadaptation und das andere die Stäbchenadaptation betrifft. Die Messung der Zapfenadaptation  Die Tatsache, dass die Dunkeladaptationskurve in . Abb. 2.16 zwei Phasen aufweist, beruht

http://www.springer.com/978-3-642-55073-7