Die Entwicklung der Kinderonkologie in Deutschland

MEDIZIN UND WISSENSCHAFT Vortrag anlässlich des 60. Geburtstages von Prof. Felix Zintl, Uni-Kinderklinik Jena Die Entwicklung der Kinderonkologie in...
Author: Ute Maus
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MEDIZIN UND WISSENSCHAFT

Vortrag anlässlich des 60. Geburtstages von Prof. Felix Zintl, Uni-Kinderklinik Jena

Die Entwicklung der Kinderonkologie in Deutschland Wenn ich hier über die Entwicklung der deutschen Kinderonkologie berichten darf, so ist mir das ein besonderes Vergnügen, denn die Kinderklinik in Jena und ihr langjähriger Direktor Professor Plenert haben bei dieser Entwicklung eine bedeutende Rolle gespielt. Und dies gilt in gleicher Weise auch für den Nachfolger von Prof. Plenert, seinem langjährigen Oberarzt Professor Felix Zintl, dessen 60. Geburtstag wir feiern und mit einem Symposium ehren dürfen. Die Entwicklung der Kinderonkologie ist ein Teil der Entwicklung der gesamten Kinderheilkunde nach dem zweiten Weltkrieg. Die rasche Zunahme des Wissens führte ab den 60er Jahren dazu, dass sich innerhalb der Kinderheilkunde Spezialdisziplinen entwickelten, die zunächst von einzelnen, damit beauftragten Oberärzten betrieben wurden. Das wohl erste Spezialgebiet, das deutlich aus dem Gesamtfach der Kinderheilkunde heraustrat, war die Kardiologie als Folge der dramatischen Entwicklung der Operationstechniken für angeborene Herzfehler in den 60er Jahren. Das Fach Kinderonkologie entstand dann wenig später, als sich herausstellte, dass Chemotherapeutika wirksam gegen Leukämien eingesetzt werden können. Die grundsätzliche Entwicklung der Kinderonkologie verlief trotz der unseligen innerdeutschen Grenze in beiden deutschen Staaten weitgehend parallel. Glücklicherweise bestanden zwischen den Kinderonkologen beider Staaten Verbindungen, die nie abgerissen sind. Wir im Westen hatten das Glück, dass es für uns viel leichter war, mit der internationalen Entwicklung der westlichen Welt in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen. Auch war 10

der Zugang zu den modernen technischen Entwicklungen für uns unendlich viel leichter. Um so eindrucksvoller war und ist es, dass die Qualität der Behandlung und die Ergebnisse kaum unterschiedlich waren, was nur auf das außerordentliche Engagement der Kinderärzte in der DDR zurückzuführen ist. Ohne Zweifel war es gelungen – und daran hatten Professor Plenert und seine Mitarbeiter sicher maßgeblichen Anteil – über die Jahre und trotz aller Schwierigkeiten die Informationen auszutauschen und gemeinsam Strategien zu planen, die den Kindern auf beiden Seiten der Grenze zugute kamen. Wenn ich mich jetzt zunächst mit der Entwicklung der Kinderonkologie in der alten Bundesrepublik befassen will, so gibt es dafür zwei Gründe: Zum einen ist mir diese natürlich vertrauter, habe ich doch während meiner gesamten Berufszeit als Kinderarzt seit 1971 direkt daran teilgenommen, zum anderen – was noch wichtiger ist – gingen von der westdeutschen Kinderonkologie über lange Zeit hinweg wichtige, international bedeutsame Impulse aus. Sydney Farber in Boston zeigte 1948 erstmals, dass bei Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie mit dem Folsäureantagonisten Aminopterin Remissionen erzielt werden können. Bald wurde Aminopterin durch das besser lösbare Amethopterin, das uns allen unter dem Namen Methotrexat vertraut ist, abgelöst. Später folgten Prednisolon und Vincristin als weitere wirksame Therapieprinzipien, mit denen letztendlich aber immer nur vorübergehende Remissionen erzielt werden konnten. Trotz allem erlagen die leukämiekranken Kinder nach Jahren und zunehmender

Dauer der Behandlung dann aber doch ihrer Erkrankung. So war es das Verdienst von Don Pinkel in Memphis, der die ersten konsequenten Therapiestudien durchführte, in die er die prophylaktische (vorbeugende) Schädelbestrahlung zur Verhinderung des ZNS-Rezidivs einbaute. Es stellte sich heraus, dass mit Hilfe von Chemotherapie plus Bestrahlung eine Heilung möglich war. Das traf Anfang der 70er Jahre auf etwa 15 bis 20% der Kinder mit ALL zu. Die Entwicklung der Chemotherapie bei der ALL in den 60er Jahren mit den immer längeren Überlebenszeiten der betroffenen Kinder gab zu der berechtigten Hoffnung Anlass, dass eines Tages die endgültige Heilung möglich sein würde. Dies führte dazu, dass sich im Dezember 1965 in Frankfurt 38 hämatologisch-onkologisch tätige Kinderärzte zu einer ersten Sitzung trafen und die DAL, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für LeukämieForschung und -Behandlung im Kindesalter e.V., gründeten. Diese hatte folgende Ziele: 1. Nach gemeinsamen diagnostischen und therapeutischen Plänen zu behandeln 2. Durch möglichst große Zahlen einheitlich behandelter Kinder rascher zu verlässlicheren Aussagen über die Wirksamkeit und Steuerung prospektiver, in der Regel nebenwirkungsreicher Therapiestudienreihen zu gelangen 3. In jedem Einzelfall einen maximal möglichen Behandlungserfolg zu erreichen 4. die Grundlagenforschung durch enge Kooperationen nach bestem Vermögen zu unterstützen.

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Wenn man die 1965 formulierten Vorsätze heute liest, ist man von den klaren Konzeptvorgaben beeindruckt, die eigentlich sehr modern klingen. Es muss uns aber auch nicht verwundern, dass diese hochgesteckten Ziele nicht so rasch zu verwirklichen waren, wie man es sich zu diesem Zeitpunkt erhofft hatte. Damals war die Behandlung krebskranker Kinder noch nicht zentralisiert, so wie es später durchgesetzt wurde – in der DDR allerdings konsequenter als im Westen. Der Standard von Diagnostik und Therapie war in den Kliniken noch sehr unterschiedlich, was auch für die ärztliche Erfahrung galt. Auch sollte nicht verschwiegen werden, dass es naturgemäß durchaus sehr unterschiedliche Meinungen über das notwendige Vorgehen gab. Dies und auch zum Beispiel die mangelnde personelle Infrastruktur führ ten dazu, dass For tschritte trotz allem guten Willen nicht so schnell erzielt werden konnten. So entschloss man sich, die halbjährlichen Arbeitstagungen in Frankfurt mehr auf planvolle spezielle Fortbildung und Information auszurichten und prospektive Therapiestudien in größerem Rahmen zunächst zurückzustellen. Statt dessen sollten aber gemeinsame Therapiereihen mit bewährten Behandlungskonzepten nach dem jeweiligen letzten Stand internationaler Erfahrung aufgenommen werden. Im Nachhinein ist zu erkennen, dass diese Entscheidung die Entwicklung eher beschleunigt hat, zumal auf diese Weise schon sehr früh die multizentrische Zusammenarbeit geübt wurde, deren wichtigstes Grundprinzip ja der Verzicht auf eigene Therapieprogramme bedeutet. Ein Vorgehen, an das Ärzte bis dahin nicht gewöhnt waren und mit dem sich ohne Zweifel manche anfangs auch schwer taten.

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Die ersten gemeinsam beschlossenen Therapiepläne – nicht Therapiestudien! – für die Behandlung der ALL wurden 1966 und 1968 beschlossen, für die AML und CML 1967, für Wilmstumoren und Neuroblastome 1969 und für den Morbus Hodgkin 1970. Die erste echte prospektive Therapiestudie für die ALL und die malignen lymphoblastischen Lymphome wurde 1971/72 in enger Anlehnung an die von Pinkel und Mitarbeiter in Memphis begonnene Therapiestudie VII gestartet. Das Ergebnis dieser ersten deutschen multizentrischen pädiatrischen Studie entsprach dem der amerikanischen Gruppe, das mit einer Heilungsrate von knapp 20% natürlich nicht sehr befriedigend war. Aber es bedeutete damals immerhin, dass ein Fünftel der an ALL erkrankten Kinder geheilt werden konnte. Die Studie machte darüber hinaus deutlich, dass so etwas in Deutschland auf multizentrischer Basis möglich war und legte damit den Grundstein für eine bis dahin beispiellose Erfolgsgeschichte, an der wir Älteren teilhaben durften. Es wurde in der Folge deutlich, dass von Hansjörg Riehm bereits 1970 in Deutschland ein Therapiekonzept entwickelt worden war, das sich gegenüber der so genannten Pinkel-Therapie als weit überlegen

herausstellen sollte. Riehm, der damals in West-Berlin an der Freien Universität tätig war, hatte mit einem Therapieprotokoll begonnen, das in seinen Fortschreibungen internationale Standards gesetzt hat und das das rezidivfreie Überleben im ersten Anlauf mit knapp 50% praktisch verdoppelt hat. Seinem Konzept lag die Vorstellung zugrunde, dass man zu Beginn der Behandlung alles daran setzen muss, die Zellen an den verschiedensten Angriffspunkten zu treffen, um damit eine Resistenzentwicklung zu verhindern, die bei den Therapieversagern letztendlich die endgültige Heilung verhinderte. Sein Protokoll mit 8 Medikamenten war für damalige Verhältnisse unglaublich aggressiv und die gefährlichen Nebenwirkungen mussten in Kauf genommen werden. Dies führte zu heftigen Diskussionen, weil man befürchtete, den Kindern mit dieser intensiven Therapie möglicherweise mehr zu schaden als zu nützen. Der Erfolg gab Riehm jedoch recht und 1975 begann die erste multizentrische Studie, als sich Bernhard Kornhuber in Frankfurt und Günther Schellong in Münster ihm anschlossen. Die BFMStudiengruppe war damit geboren. Anfang der 80er Jahre hatte sich dann die Mehrzahl der Zentren angeschlossen oder trat der von Ham-

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burg geleiteten CoALL- Gruppe bei, die das Konzept der wechselnden Therapie bei etwa gleicher Intensität verfolgte. Heute wissen wir, dass wir mit Hilfe des neuesten BFM-Protokolls über 70% der Kinder mit ALL heilen können, ein Ergebnis, von dem wir vor 30 Jahren allenfalls zu träumen wagten. Wir lernten, mit den Problemen dieser intensiven Therapieformen umzugehen und die Rate tödlicher Komplikationen auf unter 5% zu senken. Leider sterben auch heute noch immer wieder Kinder nicht an ihrer malignen Erkrankung, sondern an den Folgen der Chemotherapie, ein für jede Klinik äußerst schmerzliches Ereignis. Wir haben insbesondere gelernt, worauf man bei den schweren Knochenmarkaplasien, die die ALL-Therapie und später auch die Therapie vieler solider Tumoren auslöst, achten muss und wie schnell man auf Komplikationen reagieren muss. Die Kunst besteht nicht alleine in der korrekten zeitgerechten Gabe der Medikamente, sondern in einer möglichst protokollgerechten Therapie bei gleichzeitiger Vermeidung tödlicher Komplikationen. Dazu gehörte auch die Entwicklung von vorbeugenden und unterstützenden Maßnahmen, die inzwischen längst zum Standard in der deutschen Kinderonkologie gehören und sicher manchem Kind das Leben gerettet haben. Als Beispiele seien nur die prophylaktische Gabe von Cotrimoxazol genannt, wodurch die von uns so gefürchtete und oft letale interstitielle Pneumonie, die durch Pneumocystis carinii verursacht wird, ein für allemal verschwand, oder die Einführung von Azyclovir, das den Windpocken den Schrecken nahm.

Aber zurück zu den 70er Jahren: Es drang mehr und mehr ins Bewusstsein, dass alle bei der Behandlung der krebskranken Kinder beteiligten Fachdisziplinen zusammenarbeiten mussten. So nahmen an den Studien und deren Planung schließlich immer konsequenter auch die Kinderchirurgen und die anderen chirurgischen Disziplinen, die Pathologen, die Radiologen und Strahlentherapeuten teil. Die Interdisziplinarität und die wachsenden Aufgaben auch bei der Koordinierung der Therapie gegen solide Tumoren, die ja eigentlich nicht primäres Ziel der DAL war, rückten immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Dadurch entstand unter der Leitung des Dermatologen Köttgen aus Mainz ein Arbeitskreis für maligne Tumoren, aus dem heraus 1973 die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie gegründet wurde. Als vordringliche Aufgaben der GPO wurden definiert: 1. Einrichtung eines zentralen Tumorregisters 2. Förderung der regional zentralisierten Patientenversorgung an kompetenten, alle Fächer umfassenden, räumlich und personell hinreichend ausgestatteten Einrichtungen 3. Förderung gemeinsamer prospektiver Therapiestudien 4. Förderung der Grundlagenforschung und der pathologischanatomischen Klassifizierung der Tumoren des Kindes 5. Förderung der Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses durch Trainingsprogramme in den einzelnen Fachgebieten 6. Förderung des ärztlichen Wissensstandes auf dem Gebiet der pädiatrischen Onkologie durch stärkere Berücksichtigung in Lehre und Fortbildung.

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Auch hier handelte es sich wieder um hochgesteckte Ziele, deren Verwirklichung abermals mehr Zeit benötigte, als die Gründer es sich vorgestellt hatten. 1977 konnte mit Hilfe der Volkswagenstiftung das Tumorregister in Kiel in der Abteilung für Paidopathologie unter der Leitung von Prof. Harms eingerichtet werden. In der DDR spielte Professor Katenkamp in Jena eine ähnliche Rolle. Und 1980 wurde schließlich die zentrale Dokumentation der pädiatrischen malignen Erkrankungen in Mainz unter der Leitung von Professor Michaelis eröffnet, in der inzwischen fast alle in Deutschland erkrankten Kinder erfasst werden. Dies geschieht bis heute auf freiwilliger Basis wegen der engen Datenschutzbestimmungen. Auch hierbei hat die Kinderonkologie in der alten Bundesrepublik eine Vorreiterrolle gespielt, da sie sich mit den restriktiven Auswirkungen des Datenschutzes nicht abgeben wollte. In der DDR gab es solche Hindernisse nicht, ebenso wenig wie in den skandinavischen Ländern, die keine Probleme mit der zentralen Krankheitserfassung haben. Innerhalb der GPO entstanden Studiengruppen für alle häufigen malignen Tumoren des Kindes- und Jugendalters. Diese entwickelten ebenfalls multizentrische Therapiestudien, die in den nachfolgenden Jahren unter Berücksichtigung der eigenen Ergebnisse und der internationalen Erfahrung fortgeschrieben wurden. Heute sind es mehr als 20 Studien, die innerhalb der Kinderonkologie den Therapiestandard bestimmen. Auf die Ergebnisse bei den einzelnen Tumoren kann ich hier nicht im Detail eingehen, aber ganz grob kann man sagen, dass die Heilungsraten beim Morbus Hodgkin und beim Wilmstumor bei über 90% liegen. Bei den anderen Tumoren sind sie nicht so günstig, haben sich aber über die Jahre deutlich verbessert. Große Probleme machen uns auch heute noch die zum Zeitpunkt der Diagnose generalisier ten Osteosarkome, die meisten Hirntumoren und natürlich WIR 2/2001

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die Stadium IV Neuroblastome der Kinder, die bei Diagnosestellung älter als ein Jahr sind. Mit der Zentrumsbildung ging es nur langsam voran. Kornhuber beklagt 1978, dass nur an 6 Universitätskliniken Abteilungen für Pädiatrische Onkologie eingerichtet seien mit zum Teil noch ganz ungenügender Ausstattung. Damit hatte die Kinderonkologie aber mehr erreicht als die meisten anderen Subdisziplinen. Heute, zu Beginn des Jahres 2001, gibt es in den alten Bundesländern 10 Abteilungen für Pädiatrische Onkologie, drei weitere sind im Entstehen. In den neuen Bundesländern haben 5 der 7 Universitätsklinika eine eigene. Das belegt deutlich, welche Fortschritte die Kinderonkologie in Deutschland seitdem gemacht hat und welchen Stellenwer t sie im Rahmen der Pädiatrie einnimmt. Diese Tatsache ist ohne Zweifel erfreulich, doch der Weg bis dahin war oftmals steinig und die Fortschritte mussten har t erkämpft werden. Der Widerstand kam nicht selten aus der Pädiatrie selbst, die die für die Onkologie notwendigen Personalstellen und Betten aus dem Bestand schaffen musste, was letztendlich verlangte, Ressourcen zu teilen und abzugeben. Das fiel nicht immer leicht, es war aber auch oft nicht umsetzbar, da die vorhandenen Möglichkeiten viel zu knapp waren, um die für die aufwendigen Therapien notwendigen Ärzte, Schwestern und Betten aus den vorhandenen Mitteln bereitzustellen. Das führte innerhalb der Kliniken nicht selten zu unschönen Auseinandersetzungen, deren Folgen oft noch lange zu spüren waren. Zwei Dinge waren für die Entwicklung der Kinderonkologie außerordentlich hilfreich. Das war auf der einen Seite die Tatsache, dass seit 1980 vielerorts von den Betroffenen Elterninitiativen gegründet wurden, die die Bemühungen der Onkologen um die Verbesserung der Situation finanziell aber auch gegenüber der Politik unterstützten. Die meisten dieser Elterngruppen WIR 2/2001

schlossen sich dem Dachverband Deutsche Leukämie-Forschungshilfe an, was ein bundesweites Vorgehen ermöglichte. Anfang der 80er Jahre zeigte sich, dass die Belastungsfähigkeit der Mitglieder der meisten Arbeitsgruppen endgültig erreicht war. Erstmals beobachtete man auch bei den Diskussionen mit den Krankenkassen, den Krankenhausträgern und der Politik eine gewisse Einsicht, dass Änderungen notwendig waren. Versuche, die Behandlungseinheiten der pädiatrischen Onkologie wegen des Betreuungsaufwandes der Intensivmedizin gleichzustellen, mussten aber fehlschlagen. Zwar war der Arbeitsaufwand ähnlich hoch, aber der Einsatz von Apparaten, mit dem die Intensivmedizin definiert wird, war in dieser Form in der Onkologie nicht gegeben. Erst in einer Neufassung der Bundespflegesatzverordnung im Jahre 1985 wurde die Kinderonkologie besonders berücksichtigt. Modellmaßnahmen des damaligen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung mit dazu gehörendem Gesundheitsressor t hatten in einigen größeren Zentren wichtige Unterstützungen gebracht. Der andere wichtige Impuls kam von Politikern, die sich unserer Sache angenommen hatten. Hier ist ganz besonders die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Petra Kelly, zu nennen, die durch die Erkrankung der eigenen Schwester selbst zu den Betroffenen gehörte. Sie organisierte 1984 jene denkwürdige Veranstaltung in Bad Godesberg, die niemand vergessen wird, der damals dabei war. Neben Professor Schellong und mir als Vertreter der Kinderonkologie saßen auf dem Podium Petra Kelly und der Journalist Franz Alt als Moderator, zwei Vertreter der Wissenschaftsministerien in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen und die Schweizer Psychologin KüblerRoss. Die Stadthalle war zum Bersten gefüllt. Es kam zu einer harten Konfrontation zwischen Ministerialbeamten und betroffenen Eltern. Den Beamten wurde dabei offen-

sichtlich das erste Mal deutlich, dass Petra Kelly und wir nicht irgendein Steckenpferd ritten, sondern dass unsere Bemühungen realen Menschen galten, die sich in großer Not befinden und denen wir helfen wollen. Ich werde nie vergessen, wie wir anschließend noch im Keller der Stadthalle zusammensaßen und gemeinsam die beiden Beamten weiter in die Zange nahmen. Man muss zu ihrer Ehrenrettung sagen, dass die Betroffenheit, die sie damals zeigten, echt war, und dass sie in der Folge wesentlich dazu beigetragen haben, die notwendigen Veränderungen in Gang zu setzen. Die Folge dieser Bemühungen war dann eine weitere vom Ministerium finanzier te Modellmaßnahme zur Verbesserung der psychosozialen Betreuung, nachdem bereits 1985 zwei Zentren durch das Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit unterstützt worden waren. So lief 1986 ein durch das Bundesarbeitsministerium unterstützter Modellversuch zur psychosozialen Unterstützung krebskranker Kinder an, der durch den Vorstand der GPO beantragt worden war und in dem an 32 Kliniken mit mehr als 15 Neuaufnahmen pro Jahr ein bis vier Stellen beantragt werden konnten, wobei die Berufswahl den Vorstellungen der einzelnen Kliniken überlassen wurde. Die Krankenkassen waren in die Planung mit einbezogen und es wurde gleich zu Beginn beschlossen, eine Evaluation durchzuführen. Die abschließende Bewertung war so positiv, dass am Ende der dreijährigen Modellmaßnahme die Stellen durch die Krankenkassen in die Regelversorgung übernommen wurden. Damit wurde auch offiziell die Notwendigkeit eines derar tigen Konzeptes für die Kinderonkologie anerkannt. Nachdem sich bereits 1980 Vertreter der verschiedensten Berufsgruppen zur Studiengruppe für Pädiatrische Psychoonkologie zusammengefunden hatten, die ein Jahr später zur Gründung der Psychoso13

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zialen Studiengruppe in der Pädiatrischen Onkologie führte und deren Mitglieder sich von da an alle 6 Monate trafen, kam es 1989 zur endgültigen Gründung der Psychosozialen Arbeitsgruppe in der Pädiatrischen Onkologie (PSAPO), die heute ein wichtiger Teil unserer Infrastruktur ist. In diesem Zusammenhang ist auch noch eine andere Entwicklung erwähnenswert. So wie wir es heute für selbstverständlich halten, mit den Kindern offen zu reden und sie über ihre Krankheit und deren Konsequenzen aufzuklären, so unüblich war dies früher. Noch in den 70er Jahren und zum Teil noch sehr viel später war es Standard, die Kinder nicht zu informieren mit der Begründung, dass diese ja sowieso nicht über ihre Krankheit nachdenken. Welche Bedeutung diese Veränderung im Verhalten für die betroffenen Kinder, aber auch für die Eltern und die Betreuer hatte, kann heute nur noch derjenige ganz erfassen, der diesen Wandel selbst miterlebt hat. 1991 entstand die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, die GPOH, so wie wir sie heute kennen. Dieser Termin hat nichts mit der Wende zu tun, sondern es hatte sich gegen Ende der 80er Jahre immer deutlicher gezeigt, dass die durch die historische Entwicklung begründete parallele Existenz der beiden Gesellschaften mit praktisch identischen Mitgliedern und 2 Vorständen von außen nicht verstanden wurde und in der Öffentlichkeitsarbeit eher zu Ver wirrung und Schwierigkeiten führte.

Wie war aber nun die Entwicklung der Kinderonkologie in der DDR? Sie lief erstaunlich parallel, trotz der erschwer ten Bedingungen in diesem Teil Deutschlands. Herrn Hermann danke ich dafür, dass er mir zu diesem Themenkomplex zugearbeitet hat.

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1968 wurde von Professor Plenert in Jena die „Arbeitsgemeinschaft Leukosen im Kindesalter“ gegründet. In Rahmen dieser Arbeitsgemeinschaft wurden die ersten drei Studien in Anlehnung an amerikanische Protokolle durchgeführ t. Zwar war eine direkte Zusammenarbeit mit den Kollegen auf der anderen Seite der Grenze unmöglich, wohl aber mit Österreich. Und so kam es 1976 mit Professor Krepler, dem damaligen Direktor des St.-Anna-Kinderspitals in Wien, zu einer gemeinsamen Studie auf dem Pinkel-Schema basierend. Die nachfolgenden Studien entsprachen der österreichischen Studie A 78 und enthielten einen Hochrisiko-Arm nach einem Protokoll des Memorial Sloan Kettering Institutes in New York. Ab 1981 schloss sich dann die Arbeitsgemeinschaft im Prinzip den BFM-Studien an und seit Ende der 70er Jahre wurden auch die soliden Tumoren in der DDR zunehmend nach den GPOProtokollen behandelt. Trotz allem blieb aber die Zusammenarbeit bis zur Wende schwierig. Man traf sich eher in Wien oder in Budapest, um gemeinsam Strategien zu beraten, weil das wegen der Reisebeschränkungen in Deutschland kaum möglich war. Nur in Einzelfällen gelang es, Kollegen aus der DDR in den Westen einzuladen. Nicht selten erhielten sie kurzfristig die Ausreiseerlaubnis dann doch nicht und blieben trotz Zusage fern, was auf westlicher Seite nicht unbedingt die Motivation zur Einladung förderte. Umgekehrt war die Teilnahme von Kollegen aus der BRD an Tagungen der DDR auch nur auf Einladung möglich, und diese wurden, wenn überhaupt, nur spärlich ausgesprochen. Seit Anfang der 70er Jahre fanden in Reinhardtsbrunn alle zwei bis drei Jahre Tagungen der Kinderonkologen statt, an denen auch Kollegen aus den anderen Ostblockländern teilnahmen. Offiziell durfte dazu immer nur ein Kollege aus der BRD eingeladen werden. Prof. Plenert schaffte es aber, mit Hilfe seiner

guten Beziehungen zu dem damaligen Gesundheitsminister Mecklinger immer noch ein bis zwei weitere Kollegen einzuladen. Und so fuhren einige, allerdings naturgemäß wenige und über die Jahre hinweg auch meist immer dieselben Onkologen aus der BRD zu diesen Treffen, die außerordentlich intensiv waren und bei denen die Möglichkeit bestand, viele Informationen, besonders auch an die jüngeren Kollegen weiterzugeben. Es gehörte zu den Kuriositäten der damaligen Zeit, dass Professor Riehm, solange er in Berlin tätig war, nicht offiziell nach Reinhardtsbrunn eingeladen werden konnte, da WestBerlin aus der Sicht der DDR nicht zur Bundesrepublik gehörte. Aber Prof. Plenert fand auch hier Wege, dies möglich zu machen. Überhaupt hat Prof. Plenert wohl den größten Verdienst daran, dass die Verbindung zwischen den Kinderonkologen der beiden deutschen Staaten nicht abriss, sondern, im Gegenteil, über die Jahre eher enger wurde. Auch die Gespräche am Abend im kleinen Kreis machten uns immer wieder deutlich, dass wir – unabhängig von unserem Herkunftsort – dasselbe gemeinsame Ziel hatten, nämlich die Situation und die Überlebenschancen der krebskranken Kinder zu verbessern. Auch wenn wir manchmal nicht genau wussten, wo der Einzelne politisch steht, so war doch immer deutlich, dass dieses gemeinsame Ziel uns mehr verband als uns die Systeme trennten. Das vereinfachte auch die Situation, als nach der Wende die Zusammenarbeit innerhalb der GPOH offiziell möglich wurde, denn viele von uns kannten sich doch schon seit Jahren. Die Treffen in Reinhardtsbrunn gaben uns aber auch die Gelegenheit, besser zu verstehen, womit die Kollegen aus der DDR zu kämpfen hatten. Und wir, die wir im Westen einfach mehr Möglichkeiten hatten, bewunderten mit gutem Grund, mit welchem Engagement und Erfolg unsere Kollegen in der DDR die Kinder versorgten. WIR 2/2001

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Ein interessantes Beispiel dafür ist die Knochenmarktransplantation, die fast zur gleichen Zeit 1975 in München von Frau Bender-Götze, Herrn Wündisch zusammen mit dem Internisten Kolb und in Ulm von Herrn Haas und mir zusammen mit den Internisten um Professor Heimpel bei zwei Kindern mit aplastischer Anämie in die Therapie in Deutschland eingeführt wurde. In der DDR war es Herr Zintl zusammen mit Herrn Hermann in Jena für die Pädiatrie und Herr Hellwig in Leipzig für die Erwachsenenmedizin, die unter großen Mühen Programme für die Knochenmarktransplantation aufgebaut haben und dadurch auch den Patienten in der DDR dieses Therapieverfahren zugänglich machten. Es war schon bewundernswert, zu erfahren, wie in Jena die Isolationseinheiten durch die Handwerker der Firma Zeiss selbst gebaut wurden oder wie die Mitarbeiter der Kinderklinik die Katheter für die zentralvenösen Zugänge selbst herstellten. Während die 70er und 80er Jahre davon geprägt waren, die klinischen Ergebnisse zu verbessern und sich multizentrische Therapiestudien zur Hauptaufgabe der Kinderonkologie zu machen, so wurde in den 90er Jahren auch der Forschung immer mehr Bedeutung eingeräumt. Sicher war die Verbesserung der Personalsituation eine Basis dafür. Es war aber auch die Erkenntnis, dass bei allen Erfolgen in der Therapie weitere Fortschritte wohl am ehesten über Forschung zu erreichen sind.

Wo stehen wir also heute, 35 Jahre nach Gründung der DAL? Die deutsche Kinderonkologie hat seit den 60er Jahren eine eindrucksvolle Entwicklung durchgemacht, die international nicht nur beachtet wird, sondern auch viele wichtige Impulse gesetzt hat. Prak-

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tisch alle erkrankten Kinder werden im Rahmen der multizentrischen Studien behandelt, wobei es nicht nur Studien für die Primärerkrankungen, sondern auch solche für Rezidive gibt. Die Bereitschaft der Pädiater in Ost und West, sich den stringenten Regeln der Studien zu unterwerfen wird zu Recht als beispielhaft für die gesamte Medizin benannt. Ein zentrales Register für die Erkrankungen und ein zentrales Tumorpathologieregister, die beide praktisch flächendeckend arbeiten, belegen und unterstützen das hohe Niveau. Mindestens zwei Drittel aller an Krebs erkrankten Kinder und Jugendlichen können heute geheilt werden. Konzepte für die psychosoziale Versorgung, einschließlich der familienorientierten Nachsorge, lassen klar erkennen, dass die Kinderonkologen mehr wollen, als nur die Krankheit gut behandeln, denn sie wissen um die Folgen für die ganze Familie, die Eltern und Geschwister. Es geht ihnen um ein ganzheitliches Betreuungskonzept, das den Betroffenen ermöglichen soll, ihre Probleme zu bewältigen. Und betroffen sind nun einmal nicht nur die Kinder selbst, sondern die ganze Familie. Längst gehört auch die internationale Zusammenarbeit zu unserer Arbeit, nicht zuletzt deshalb, weil

die Patientenzahlen in manchen Fällen auch im neuen Gesamtdeutschland zu klein sind, um bestimmte Fragen zu beantwor ten. Als Beispiel sei nur die International BFM-Study-Group, die gemeinsamen Studien mit der SIOP (International Society of Pediatric Oncology) oder die Pediatric Working Party innerhalb der EBMT (European Group for Blood and Marrow Transplantation) genannt. Die Jenaer Kinderklinik und insbesondere Felix Zintl haben einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung, auf die wir gemeinsam stolz sein können und die nur durch die große Bereitschaft zur Zusammenarbeit überhaupt möglich wurde. Die Geschichte der Entwicklung der Kinderonkologie in Deutschland macht deutlich, dass die Pädiater auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze ihrer besonderen Verantwortung um die kranken Kinder seit den Anfängen der Kinderonkologie gerecht geworden sind, völlig unabhängig vom politischen System. Uns darüber zu freuen und vielleicht auch ein wenig stolz darauf zu sein, haben wir gerade auch am heutigen Tag guten Grund. Prof. Dr. Dietrich Niethammer Universitäts-Kinderklinik Tübingen

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